Die Geburt der Wissenschaft - Carlo Rovelli - E-Book

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Carlo Rovelli

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Beschreibung

Carlo Rovelli setzt der griechischen Antike ein Denkmal: als Geburtsstunde der modernen Wissenschaft. Was als sorgsame Biographie des Forschers Anaximander beginnt, entwickelt sich gleichsam zu einer Biographie der Wissenschaft selbst und den großen Fragen, mit der sie sich beschäftigt. Rovelli beschreibt Anaximander von Milet als Urvater der Wissenschaft und verfolgt seinen Einfluss auf die folgende Geschichte der Naturwissenschaft. Anaximander lebte vor 2600 Jahren und war der Lehrer von Pythagoras. Er war der erste Astronom, der die Bewegung der Gestirne rational studiert und versuchte, sie in einem geometrischen Modell wiederzugeben. Auch war er der erste, von den man weiß, dass er die Erde in Bewegung durch den Raum begriff. Von ihm ging die Bezeichnung der Welt als Kosmos und ihre Erfassung als ein planvoll geordnetes Ganzes aus und damit die Idee, dass die Welt auch ohne Rückgriff auf Götter verständlich und erklärbar ist - eine Revolution des Denkens. Anaximander entwarf das Programm, aus dem sich bis heute der westliche Wissenschaftsansatz entwickelt. Rovelli reflektiert in diesem Buch über das Verhältnis des Sichtbaren und Unsichtbaren, die Naturgesetze, Wahrheit und Wirklichkeit – und darüber, was überhaupt Wissenschaft ist, ihre Möglichkeiten und Grenzen und was sie für ihn selbst bedeutet. Um die Welt zu verstehen, schreibt er, ist es möglich und notwendig zu erkennen, dass unser Bild der Welt falsch sein kann und dass wir es korrigieren können.

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Seitenzahl: 254

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Carlo Rovelli

Die Geburt der Wissenschaft

Aus dem Französischen von Monika Niehaus

Über dieses Buch

Anaximander von Milet, der im 6. Jahrhundert v. Chr. lebte, gilt als einer der Väter der Naturwissenschaften. Er war der Erste, der die Bewegung der Gestirne rational studierte und versuchte, sie in einem geometrischen Modell wiederzugeben. Er war auch der Erste, von dem man weiß, dass er die Erde in Bewegung durch den Raum begriff. Von ihm ging die Bezeichnung der Welt als Kosmos und ihre Erfassung als ein planvoll geordnetes Ganzes aus und damit die Idee, dass die Welt auch ohne Rückgriff auf Götter verständlich und erklärbar ist – eine Revolution des Denkens. Anaximander entwarf das Programm, aus dem sich bis heute der westliche Wissenschaftsansatz entwickelt.

 

Carlo Rovelli zeichnet in diesem Buch nicht nur Anaximanders Leben und Werk nach, er verfolgt auch, was im Laufe der Jahrhunderte aus diesem Ansatz wurde – bis hin zum modernen naturwissenschaftlichen Denken. Rovelli reflektiert über das Verhältnis des Sichtbaren und Unsichtbaren, die Naturgesetze, Wahrheit und Wirklichkeit – und darüber, was Wissenschaft überhaupt ist, wo ihre Möglichkeiten und Grenzen liegen und was sie für ihn selbst bedeutet. Um die Welt zu verstehen, schreibt er, ist es notwendig zu erkennen, dass unser Bild von der Welt auch falsch sein kann und dass wir es korrigieren können.

 

«Wenige Autoren erfassen die Schönheit der Natur und das Aufregende ihrer Entdeckung in solch klarer, reicher Prosa.»

New Scientist

Vita

Carlo Rovelli, geboren 1956 in Verona, ist seit 2000 Professor für Physik an der Universität Marseille. Zuvor forschte und lehrte er unter anderem am Imperial College London, der Universität Rom, der Yale University, an der Università dell'Aquila und an der University of Pittsburgh. 1998/99 war er Forschungsdirektor am Zentrum für Theoretische Physik (CPT) in Luminy. Er hat die italienische und die amerikanische Staatsbürgerschaft. Zusammen mit Lee Smolin entwickelte er die Theorie der Schleifenquantengravitation, die international als verheißungsvollster Ansatz zur Vereinigung von Einsteins Gravitationstheorie und der Quantentheorie gilt.

 

Monika Niehaus, Diplom in Biologie, Promotion in Neuro- und Sinnesphysiologie, freiberuflich als Autorin (SF, Krimi, Sachbücher), Journalistin und naturwissenschaftliche Übersetzerin (englisch/französisch) tätig. Mag Katzen, kocht und isst gern in geselliger Runde.

Inhaltsübersicht

WidmungMottoEinleitung1 Das 6. Jahrhundert vor ChristusEin Panorama der WeltDas Wissen des 6. Jahrhunderts: die AstronomieDie GötterMilet2 Anaximanders Beiträge3 Die atmosphärischen PhänomeneDer kosmologische und biologische Naturalismus4 Die im Raum treibende Erde5 Unsichtbare Entitäten und NaturgesetzeGibt es etwas in der Natur, das wir nicht sehen?Die Idee der Naturgesetze: Anaximander, Pythagoras und Platon6 Wenn Aufstand zur Tugend wird7 Schrift, Demokratie und die wechselseitige Befruchtung der KulturenDas archaische GriechenlandDas griechische AlphabetNaturwissenschaft und DemokratieDie wechselseitige Befruchtung der Kulturen8 Was ist Naturwissenschaft? Anaximander nach Einstein und Heisenberg denkenDer Zusammenbruch der Illusionen des 19. JahrhundertsDie Naturwissenschaft lässt sich nicht auf verifizierbare Vorhersagen reduzierenDie Denkweisen der Welt erforschenDie Evolution des WeltbildsSpielregeln und VergleichbarkeitLob der Unsicherheit9 Zwischen kulturellem Relativismus und dem Denken in absoluten Kategorien10 Kann man die Welt ohne Götter verstehen?11 Vorwissenschaftliches DenkenDas Wesen mystisch-religiösen DenkensDie unterschiedlichen Funktionen des Göttlichen12 Fazit: Anaximanders ErbeDanksagungLiteraturverzeichnisRegisterAbbildungsnachweis

Für Bonnie

«Rerum fores aperuisse, Anaximander Miletus traditur primus.»

«Man sagt, dass Anaximander von Milet der Erste war, der die Tür zur Natur öffnete.»

Plinius, Naturalis Historia II

Einleitung

Alle menschlichen Zivilisationen glaubten, die Welt bestehe aus dem Himmel oben und der Erde unten (Abbildung 1, links). Unter der Erde musste sich, damit sie nicht fällt, wiederum Erde und immer noch mehr Erde befinden, ad infinitum. Doch vielleicht ruhte sie auch auf einer großen Schildkröte, die auf einem Elefanten hockt, wie in einigen asiatischen Mythen. Oder auf gewaltigen Säulen wie jene, von denen die Bibel spricht. Dieses Weltbild teilten die ägyptische, die chinesische und die Maya-Kultur, das antike Indien, Schwarzafrika, die Hebräer der Bibel, die amerikanischen Indianer, die antiken babylonischen Reiche und alle anderen Kulturen, die uns ihre Spuren hinterlassen haben.

Alle bis auf eine: die griechische Zivilisation. Seit dem Klassischen Zeitalter stellten sich die Griechen die Erde wie einen im Raum treibenden Kiesel vor (Abbildung 1, rechts): Unter der Erde gab es weder bis ins Unendliche Erde noch eine Schildkröte oder Säulen, sondern denselben Himmel, den wir über uns sehen. Wie haben die Griechen entdeckt, dass die Erde im Raum treibt? Dass der Himmel sich unter unseren Füßen fortsetzt? Wer hat das begriffen und wie kam es dazu?

Abbildung 1: Die Welt vor und nach Anaximander.

Der Mann, der diesen riesigen Schritt tat, ist der Held dieser Seiten: Ἀναξίμανδρος, Anaximander, geboren vor 26 Jahrhunderten in der griechischen Stadt Milet an der Westküste Asiens, in der heutigen Türkei. Schon allein diese Entdeckung hätte genügt, ihn als großen Denker zu würdigen. Aber sein Erbe ist viel umfangreicher. Anaximander öffnete die Tür zur Physik, zur Geographie, zum Studium meteorologischer Phänomene und zur Biologie. Über diese wichtigen Beiträge hinaus setzte er den Prozess in Gang, der zum Neudenken unseres Weltbilds führte: unsere Art und Weise des Erkenntnisgewinns, der auf dem Aufstand gegen das Offensichtliche beruht. So gesehen, kann man Anaximander zweifellos als einen der Väter des naturwissenschaftlichen Denkens bezeichnen.

Das Wesen dieses Denkens ist das zweite Thema dieses Buches. Naturwissenschaft ist vor allem eine leidenschaftliche Erforschung neuer Möglichkeiten, die Welt zu denken. Sie gewinnt ihre Kraft nicht aus den Sicherheiten, die sie liefert, sondern ganz im Gegenteil aus einem geschärften Bewusstsein für das Ausmaß unseres Nichtwissens. Es ist dieses Bewusstsein, das uns ohne Unterlass dazu antreibt, an dem zu zweifeln, was wir zu wissen glauben, und uns daher erlaubt, unablässig zu lernen. Die Suche nach Wissen nährt sich nicht aus Gewissheiten, sondern ganz im Gegenteil aus einem radikalen Fehlen von Gewissheiten.

Ein solches fluides, ständig in Entwicklung begriffenes Denken besitzt große Kraft und eine geheimnisvolle Magie: Es ist in der Lage, die Ordnung der Welt umzustürzen und die Welt immer neu zu denken.

Diese evolutionäre und subversive Konzeption des rationalen Denkens unterscheidet sich deutlich von seiner positivistischen Spielart, ebenso von dem fragmentierten und ein wenig kargen Bild gewisser zeitgenössischer philosophischer Reflexionen. Der Aspekt des naturwissenschaftlichen Denkens, den ich auf diesen Seiten ins Zentrum rücken möchte, ist seine Fähigkeit zur Kritik und zur Rebellion, zum ständigen Neuerfinden der Welt.

Wenn dieses Bemühen, die Welt neu zu erfinden, tatsächlich ein zentraler Aspekt der wissenschaftlichen Suche nach Erkenntnis ist, dann hat dieses Abenteuer nicht erst mit den Pionierexperimenten Galileis oder den ersten mathematischen Modellen der alexandrinischen Astronomie seinen Anfang genommen. Es hat vielmehr schon sehr viel früher begonnen, und zwar mit dem, was man als die erste große «wissenschaftliche Revolution» in der Geschichte der Menschheit bezeichnen kann: die von Anaximander.

Indessen ist die Bedeutung Anaximanders in der Geschichte des Denkens weitgehend unterschätzt worden.[*]

 

Dafür gibt es mehrere Gründe. In der Antike konnten seine methodologischen Vorschläge noch nicht die Früchte tragen, die wir heute nach langer Reifung und zahlreichen Kursänderungen ernten. Trotz der Anerkennung mancher stärker «naturwissenschaftlich» geprägten Autoren wie Plinius wurde Anaximander nicht selten – beispielsweise von Aristoteles – als Weihrauchschwenker eines als unsicher geltenden naturalistischen Ansatzes betrachtet und von alternativen kulturellen Strömungen heftig bekämpft.

Wenn Anaximanders Denken heute noch immer kaum bekannt und kaum verstanden ist, dann liegt das an der schädlichen Dichotomie zwischen Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften. Natürlich bin ich mir der Verzerrung bewusst, die meine vor allem naturwissenschaftliche Ausbildung mit sich bringt, wenn es darum geht, die Bedeutung eines Denkers einzuschätzen, der vor 26 Jahrhunderten gelebt hat. Ich bin jedoch davon überzeugt, dass die gegenwärtige Interpretation von Anaximanders Gedanken unter der umgekehrten Verzerrung leidet: unter der Schwierigkeit, die es vielen historisch-philosophisch geprägten Intellektuellen bereitet, die Tragweite von Beiträgen abzuschätzen, die ihrem Wesen und ihrem Erbe nach im Grunde «naturwissenschaftlich» sind. Selbst die in der vorherigen Fußnote zitierten Autoren, die die Bedeutung Anaximanders würdigen, haben Mühe, die Tragweite einiger seiner Gedankengänge wirklich zu begreifen. Diese Tragweite ist es, die ich auf diesen Seiten beleuchten möchte.

Ich sehe Anaximander daher nicht mit den Augen eines Historikers oder eines Experten für griechische Philosophie, sondern mit denen eines zeitgenössischen Naturwissenschaftlers, der sich Gedanken über das Wesen des wissenschaftlichen Denkens und auch über die Rolle dieses Denkens für die Entwicklung der Zivilisation macht. Im Gegensatz zur Mehrheit der Autoren, die sich für Anaximander interessieren, habe ich nicht das Ziel, seine Gedanken und sein konzeptuelles Universum so getreu wie möglich zu rekonstruieren. Für diese Rekonstruktion habe ich mich mit den Arbeiten von Hellenisten und Historikern wie Charles Kahn (1960), Marcel Conche (1991) oder in jüngerer Zeit Dirk Couprie (2003) beschäftigt. Ich will nicht versuchen, die Schlussfolgerungen dieser Rekonstruktionen zu modifizieren oder zu vervollständigen, sondern nur die in diesem Denken liegende gedankliche Tiefe beleuchten und die Rolle, die sie in der Entwicklung des Weltwissens gespielt hat.

Der zweite Grund für die Unterschätzung der Gedanken Anaximanders wie auch anderer Aspekte des wissenschaftlichen Denkens im antiken Griechenland ist ein unterschwelliges und diffuses Unverständnis für gewisse Aspekte des wissenschaftlichen Denkens.

Der Glaube an die Naturwissenschaft, wie er typisch für das 19. Jahrhundert war, ihre positivistische Glorifizierung als ein menschliches Unterfangen, das etwas Definitives über die Welt aussagen kann, er ist heute abgebröckelt. Hauptverantwortlich für diesen Vertrauensverlust ist die Revolution der Physik im 20. Jahrhundert, die uns gezeigt hat, dass die Newton’sche Physik trotz ihrer unglaublichen Effizienz in einem ganz bestimmten Sinne falsch ist. Große Teile der darauf folgenden Wissenschaftsphilosophie lassen sich wie Versuche lesen, das Wesen der Wissenschaft auf dieser tabula rasa neu zu definieren.

Manche Strömungen haben folglich versucht, die sicheren Fundamente der Wissenschaft wiederzufinden, zum Beispiel dadurch, dass sie den Erkenntnisgehalt naturwissenschaftlicher Theorien allein auf die Fähigkeit beschränken, Zahlen oder das Verhalten von direkt beobachtbaren Phänomenen vorherzusagen. Andere Ansätze betrachten wissenschaftliche Theorien als mehr oder minder willkürliche geistige Konstrukte, die – abgesehen von ihren ganz praktischen Konsequenzen – nicht direkt einander oder der Welt gegenübergestellt werden können. Durch diese Art der Analyse verliert man jedoch jene qualitativen und kumulativen Aspekte wissenschaftlicher Erkenntnis aus dem Blick, die nicht nur unauflöslich mit den rein numerischen Daten verflochten sind, sondern vor allem den Geist und die Daseinsberechtigung der Naturwissenschaften ausmachen.

Am anderen Ende des Spektrums steht ein Teil der zeitgenössischen Kultur, der das naturwissenschaftliche Wissen radikal entwertet und damit eine diffuse Wissenschaftsfeindlichkeit nährt. Nach dem 20. Jahrhundert erscheint das rationale Denken voller Unsicherheiten. In der öffentlichen Meinung wie auch in kultivierten Kreisen machen sich verschiedene Formen des Irrationalismus breit; sie speisen sich aus der Leere, die durch den Verlust der Illusion entstanden ist, die Naturwissenschaft könnte ein definitives Bild der Welt liefern – aus der Angst, unsere Unwissenheit zu akzeptieren. Falsche Sicherheiten sind besser als Unsicherheit …

Das Fehlen von Gewissheiten ist jedoch keineswegs eine Schwäche der Naturwissenschaft, sondern ganz im Gegenteil das Geheimnis ihrer Kraft und speist sich aus Neugier, Revolte und Bewegung. Naturwissenschaftliche Antworten sind nicht etwa deshalb glaubhaft, weil sie endgültig sind, sondern weil sie die besten sind, die wir beim gegenwärtigen Stand unseres Wissens geben können. Genau deshalb ist uns bewusst, dass wir sie nicht als definitiv ansehen sollten, denn sie werden sich weiter verbessern.

 

So gesehen, kann man die drei Jahrhunderte Newton’scher Physik nicht mit «der Naturwissenschaft» gleichsetzen, wie es allzu oft getan wird. Sie stellen nicht mehr als eine Verschnaufpause auf dem Weg der Wissenschaft dar, im Schatten eines großen Erfolgs. Indem Einstein die Newton’sche Physik in Frage stellte, stellte er nicht die Möglichkeit in Frage, zu verstehen, wie die Welt funktioniert. Ganz im Gegenteil machte er sich wieder auf den Weg: den Weg, den vor ihm Maxwell, Newton, Kopernikus, Ptolemäus, Hipparch und Anaximander eingeschlagen hatten. Wir müssen die Fundamente unserer Weltsicht ständig in Frage stellen, um sie zu verbessern.

Jeder Schritt, den diese wie auch unzählige andere, weniger bedeutende Denker taten, beeinflusst unser Weltbild tief und geht manchmal so weit, dass er die Art und Weise verändert, wie wir uns unsere Welt vorstellen. Dabei handelt es sich nicht um willkürliche Veränderungen des Standpunkts, sondern um kleine Bewegungen im unerschöpflichen Reichtum der Dinge, die eines nach dem anderen zutage treten. Jeder Schritt enthüllt eine neue Karte der Wirklichkeit, die uns die Welt ein wenig besser erkennen lässt. Zu versuchen, das Geflecht zu entwirren, den methodologischen oder philosophischen Fixpunkt zu suchen, mit dem dieses Abenteuer verankert ist, heißt, seine ihrem Wesen nach evolutive und kritische Natur aufzudecken.

Auch wenn es daher naiv wäre zu behaupten, aufgrund des wenigen, was wir herausgefunden haben, zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält, so wäre es doch geradezu dumm, das gering zu schätzen, was wir tatsächlich wissen, weil wir morgen vielleicht ein wenig mehr wissen. Eine Landkarte verliert nicht schon deshalb ihren kognitiven Wert, weil wir wissen, dass es eine genauere Karte geben könnte. Mit jedem Schritt korrigieren wir einen Irrtum und gewinnen ein neues Element des Wissens hinzu, das uns erlaubt, ein Stückchen weiter zu sehen.

Die Menschheit hat einen Weg eingeschlagen, der sie in Richtung Erkenntnis führt, hat dabei aber die Gewissheiten derjenigen vermieden, die sich im Besitz der absoluten Wahrheit wähnen, ohne dabei zu behaupten – was viele tun –, dass alle Wahrheiten gleich sind, und ohne dabei absolute Deutungsmacht für sich zu reklamieren. Das ist der Standpunkt, den ich im letzten Abschnitt dieses Textes artikulieren möchte.

In diesem weiteren Sinne verstanden, ist eine Rückkehr zu den antiken Wurzeln des rationalen Denkens über die Natur daher für mich ein Mittel, das in den Fokus zu rücken, was ich als zentrale Merkmale dieses Denkens betrachte. Wenn ich über Anaximander spreche, dann heißt das auch, über die Bedeutung der von Einstein in Gang gesetzten wissenschaftlichen Revolution nachzudenken, die das Thema meiner Arbeit als ein Physiker ist, der sich auf Quantengravitation spezialisiert hat.

Die Quantengravitation ist ein offenes Problem, das im Zentrum der modernen theoretischen Physik steht. Um es zu lösen, ist es wahrscheinlich nötig, unsere Konzepte von Raum und Zeit grundlegend zu ändern. Anaximander hat die Welt verwandelt: Aus einer Schachtel, die oben vom Himmel und unten von der Erde begrenzt wird, hat er einen offenen Raum gemacht, in dem die Erde treibt. Nur wenn wir stets im Gedächtnis behalten, dass derartige Paradigmenwechsel, wie außergewöhnlich sie auch sein mögen, möglich sind und warum sie «richtig» sind, können wir hoffen, die heutige Herausforderung zu bewältigen: Es gilt, die veränderten Vorstellungen von Raum und Zeit zu verstehen, die durch die Quantelung der Schwerkraft erforderlich sind.

Und schließlich gibt es eine letzte, schwierigere Laufstrecke, die sich durch das Buch zieht. Wenn wir nach der ersten Manifestation rationalen Denkens über die Natur in der Antike fragen, führt dies zwangsläufig zur Frage nach der Art des Wissens, die diesem Denken historisch vorausgeht und ihm heute noch antagonistisch gegenübersteht: das Wissen, aus dem dieses Denken geboren wurde, von dem es sich gelöst und gegen das es sich aufgelehnt hat und noch immer auflehnt. Und es stellt sich auch die Frage nach der Beziehung zwischen den beiden.

 

Indem er die «Tür zur Natur» öffnete, wie Plinius schreibt, hat Anaximander tatsächlich einen titanischen Konflikt ausgelöst: den Konflikt zwischen zwei fundamental verschiedenen Formen des Wissens. Auf der einen Seite steht ein neues Wissen über die Welt, gegründet auf Neugier, auf Auflehnung gegen alte Gewissheiten und daher auf den Wandel. Auf der anderen Seite steht das damals vorherrschende prinzipiell mystisch-religiöse Wissen, das sich größtenteils auf Gewissheiten gründet, die sich ihrer Natur nach der Diskussion entziehen. Dieser Konflikt zieht sich seit Jahrhunderten durch die Geschichte unserer Zivilisation und ist geprägt von Siegen und Niederlagen mal der einen, mal der anderen Seite.

Nach einer Periode, in der die beiden rivalisierenden Denkrichtungen eine Art friedliche Koexistenz gefunden zu haben schienen, bricht dieser Konflikt heute offenbar erneut aus. Zahlreiche Stimmen aus ganz unterschiedlichen politischen und kulturellen Lagern reden erneut der Irrationalität und dem Primat religiösen Denkens das Wort. Bislang hat es Frankreich geschafft, weitgehend abseits dieser großen Woge zu bleiben, die so unterschiedliche Länder wie die Vereinigten Staaten, Indien, die Mehrzahl der arabischen Länder und Italien erfasst hat; aber auch in Frankreich verliert die Öffentlichkeit allmählich das Vertrauen in das rationale Denken, und dem Land wird es unter Umständen nicht gelingen, der Rückkehr des religiösen Denkens zu widerstehen, das überall auf der Welt im Vormarsch ist. Dafür finden sich in Frankreich bereits erste Anzeichen.

 

Diese erneute Konfrontation zwischen empirischem und mystisch-religiösem Denken versetzt uns fast wieder in die Streitigkeiten zur Zeit der Aufklärung zurück. Um die Fragen nochmals zu klären, reicht es vielleicht nicht aus, Jahrzehnte weit zurückzugehen oder das Rad um vier Jahrhunderte zurückzudrehen. Es handelt sich um eine tiefer gehende, grundsätzliche Opposition, deren Zeitskala sich eher in Jahrtausenden als in Jahrhunderten bemisst und die man vielleicht mit der langsamen Entwicklung der menschlichen Zivilisation selbst vergleichen muss, mit der konzeptuellen, sozialen und politischen Struktur ihrer Organisation. Diese Themen sind dermaßen umfangreich, dass ich nicht viel mehr tun kann, als Fragen aufzuwerfen und eine Diskussion in Gang zu setzen. Es handelt sich jedoch um zentrale Themen für unsere Welt und unsere Zukunft. Der ungewisse Ausgang dieses erbitterten Konflikts bestimmt unser alltägliches Leben und das Schicksal der Menschheit.

Ich möchte Anaximander, von dem wir im Grund nur sehr wenig wissen, nicht überbewerten. Aber an der ionischen Küste gab es vor 26 Jahrhunderten jemanden, der ein neues Tor zur Erkenntnis aufstieß und der Menschheit damit einen neuen Weg wies. Der Nebel, der das 6. Jahrhundert v. Chr. einhüllt, ist dicht, und wir wissen viel zu wenig über den Mann Anaximander, um ihm mit Sicherheit diese gigantische Revolution zuzuschreiben. Doch die Revolution, die Geburt des Denkens aus Neugier und Bewegung, hat eindeutig stattgefunden. Ob Anaximander der einzige Urheber dieser Umwälzung war oder nur sein Name dafür steht, wie einige antike Quellen vermuten lassen, interessiert uns im Grunde weniger.

Über diese außergewöhnliche Revolution, die vor 26 Jahrhunderten an der türkischen Küste ihren Ausgang nahm und mit der wir heute leben, möchte ich sprechen. Und über den Konflikt, den sie ausgelöst hat und der noch immer aktuell ist.

1 Das 6. Jahrhundert vor Christus

Ein Panorama der Welt

Im Jahr 610 v. Chr., als Anaximander von Milet geboren wurde, fehlten noch fast 200 Jahre bis zum Goldenen Zeitalter der griechischen Zivilisation, dem Zeitalter von Perikles und Platon.

In Rom regierte der Sage nach König Lucius Tarquinius Priscus. Etwa um dieselbe Zeit besiedelten Kelten das Gebiet um das heutige Mailand, und griechische Kolonisten aus dem Ionien Anaximanders gründeten Marseille. Homer (oder das, was er verkörpert) hatte die Ilias zwei Jahrhunderte zuvor verfasst, und Hesiod hatte Werke und Tage geschrieben, doch die Zeit der meisten großen griechischen Dichter, Philosophen und Dramatiker sollte erst noch kommen. Auf der Insel Lesbos, ganz in der Nähe von Milet, wuchs die junge Dichterin Sappho heran.

In Athen, dessen Macht gerade zu wachsen begann, hatte Drakon seine strengen Gesetze erlassen, doch Solon, der die erste Verfassung schreiben sollte, die demokratische Elemente enthielt, war bereits geboren.

Die mediterrane Welt war keineswegs primitiv: Die Menschen lebten seit mindestens 1000 Jahren in Städten; das große ägyptische Königreich existierte seit mehr als 20 Jahrhunderten, eine Zeitspanne, fast ebenso lang wie diejenige, die uns von Anaximander trennt.

Anaximander wurde zwei Jahre nach dem Fall von Ninive geboren, ein Ereignis von überragender historischer Bedeutung, das das Ende der brutalen assyrischen Gewaltherrschaft kennzeichnete. Mit seinen 200000 Einwohnern war nun Babylon wieder die größte Stadt, wie sie es viele Dutzende Jahrhunderte zuvor gewesen war. Nabopolassar, der Bezwinger Ninives, herrschte über Babylon. Aber diese Rückkehr zu alter Größe war nur von kurzer Dauer. Schon regte sich im Osten die aufkommende persische Macht unter Führung von Cyrus I., der bald die Kontrolle über Mesopotamien übernehmen sollte. In Ägypten neigte sich die lange Regentschaft von Psammetich I. ihrem Ende zu, dem ersten Pharao der 26. Dynastie, der die ägyptische Unabhängigkeit vom stark geschwächten assyrischen Reich zurückgewonnen und Ägypten wieder Wohlstand gebracht hatte. Psammetich I. stabilisierte die engen Bindungen zur griechischen Welt, indem er zahlreiche griechische Söldner in seine Armee aufnahm und Griechen ermutigte, sich in Ägypten niederzulassen. Milet besaß bereits eine florierende Handelsniederlassung in Ägypten, Naukratis; das lässt vermuten, dass Anaximander Informationen über die ägyptische Kultur aus erster Hand zur Verfügung standen.

In Jerusalem herrschte Josua aus dem Hause David. Er profitierte von der Entwicklung der internationalen Lage – das assyrische Reich geschwächt und Babylon noch nicht zu mächtig –, um Jerusalems Stolz erneut zu bekräftigen und ausschließlich einem einzigen Gott, Jehova, zu huldigen. Er zerstörte sämtliche Kultobjekte anderer Götter, wie Baal oder Aschera, brannte deren Tempel nieder, brachte die noch lebenden heidnischen Priester um und exhumierte die Knochen derjenigen, die schon unter der Erde lagen, um sie auf ihren Altären zu verbrennen; damit führte er ein Verhalten gegenüber anderen Religionen ein, das sich später als typisch für den triumphierenden Monotheismus erweisen sollte. Noch vor Anaximanders Tod wurde das hebräische Volk erneut besiegt und nach Babylon deportiert, wo es in Knechtschaft lebte – eine Gefangenschaft, aus der es sich schließlich befreien konnte, wie Jahrhunderte zuvor unter Führung von Moses aus der ägyptischen Sklaverei.

Abbildung 2: Die Reiche des Nahen Ostens um 600 v. Chr.

Höchstwahrscheinlich erreichte der Nachhall dieser Ereignisse auch Milet. Von Ereignissen, die sich auf anderen Kontinenten abspielten, gelangte hingegen wohl kaum Kunde nach Kleinasien. Während Europa von der Bronze- zur Eisenzeit überging, neigte sich in Amerika die Jahrhunderte alte Zivilisation der Olmeken ihrem Ende zu, und im Nordosten von Indien erblühten während der nächsten zwei Jahrhunderte 16 große Stadtstaaten (Mahajanapadas). Vardhamana Jina, der Gründer des Jainismus, der allen Lebewesen gegenüber vollkommene Gewaltlosigkeit predigt, war ein Zeitgenosse von Anaximander: Schon damals konzentrierten sich die Indoeuropäer des Westens darauf, wie man die Welt denkt, und die des Ostens, wie man sein Leben besser leben kann. Kuangwang hatte vor kurzem den chinesischen Thron bestiegen, als 12. Kaiser der großen Zhou-Dynastie. Es war die Periode der Frühlings- und Herbstannalen, in der es zu einer Dezentralisierung der Macht kam; sie war gekennzeichnet durch feudalistische Auseinandersetzungen, aber auch durch eine Lebendigkeit und eine kulturelle Vielfalt, die China bald darauf für lange Zeit verlieren sollte – vielleicht im Austausch für eine gewisse innere Stabilität, die sicher nicht perfekt, aber zweifellos besser war als die kriegerischen Auseinandersetzungen des Westens.

Die menschliche Zivilisation existierte daher seit Jahrtausenden und war hochstrukturiert, als gegen Ende des 7. Jahrhunderts Anaximander von Milet geboren wurde. Genauso wie Handelsgüter reisten auch Ideen von einem Kontinent zum anderen. Vielleicht gab es in Milet schon chinesische Seide zu kaufen, wie zwei Jahrhunderte später in Athen. Die Mehrzahl der Männer war damit beschäftigt, den Boden zu beackern, Vieh zu halten, zu fischen, zu jagen und Handel zu treiben; andere häuften genau wie heute Macht und Reichtum an, indem sie Kriege gegeneinander führten.

Das Wissen des 6. Jahrhunderts: die Astronomie

Welches kulturelle Klima herrschte in dieser Welt, und wie war der Stand des Wissens? Es ist schwierig, sich davon eine genaue Vorstellung zu machen, denn es gibt relativ wenige schriftliche Zeugnisse aus dieser Zeit – ganz im Gegensatz zu den darauf folgenden Epochen, die sehr «gesprächig» waren. Schon zu Lebzeiten Anaximanders gab es einige bedeutende Bücher, deren Einfluss bis in unsere Tage reicht, wie bedeutende Teile der Bibel (das Deuteronomium, das 5. Buch Mose, wurde wahrscheinlich in dieser Zeit verfasst), das Ägyptische Totenbuch und große Epen wie Gilgamesch, Mahabharata, Ilias und Odyssee – grandiose Geschichten, in denen die Menschheit sich mit all ihren Träumen und Narreteien spiegelt.

Schreiben konnte man seit drei Jahrtausenden. Geschriebene Gesetze gab es seit mindestens zwölf Jahrhunderten, seitdem der sechste König von Babylon, Hammurabi, sie in Basaltstelen hatte einmeißeln und in jeder Stadt seines riesigen Imperiums aufstellen lassen. Im Louvre kann man eine solche Stele bewundern. Es ist schwer, beim Anblick dieses Objekts unberührt zu bleiben.

Und die naturwissenschaftlichen Kenntnisse? In Ägypten und vor allem in Babylon hatten sich die Anfänge der Mathematik entwickelt; das wissen wir aus Sammlungen von Übungsaufgaben und Antworten. So lernten junge ägyptische Schreiber beispielsweise einfache Divisionen, um Kornsäcke zu gleichen Teilen oder nach einem anderen Verhältnisschlüssel zwischen Gläubigern zu verteilen. (Ein Kaufmann hat 20 Kornsäcke, um zwei Arbeiter zu bezahlen. Er weiß, dass einer der beiden dreimal so lange gearbeitet hat wie der andere: Wie viele Säcke erhält also jeder Arbeiter?) Man kannte Verfahren, um eine Zahl durch 2, 3, 4 und 5 zu teilen, aber nicht durch 7. Wenn es zur Lösung des Problems einer Division durch 7 bedurfte, musste man das Problem umformulieren. Um den Umfang eines Kreises anhand seines Radius zu berechnen, benutzte man die Konstante, die wir heute als Pi bezeichnen (3,14 …) und der man damals den Wert 3 zumaß. Die Ägypter wussten, dass ein Dreieck, dessen Seiten im Verhältnis 3:4:5 stehen, einen rechten Winkel besitzt. Ich habe versucht, das Niveau dieser mathematischen Kenntnisse auf der Basis moderner Rekonstruktionen grob abzuschätzen, und ich denke, man kann es mit dem eines guten Schülers gegen Ende der Grundschulzeit vergleichen. Man spricht häufig von der «außerordentlichen Entwicklung der babylonischen Mathematik». Das ist sicherlich richtig, aber man sollte sich nicht täuschen: Es handelte sich um Methoden, die wir auf der Grundschule lernen. Behalten wir im Gedächtnis, dass es alles andere als einfach für die Menschheit war, sich Kenntnisse anzueignen, die ein acht- bis neunjähriges Schulkind heute problemlos erlernt.

Das Wissen in Ägypten, Babylon, Jerusalem, in Kreta und Mykene oder auch in China und Mexiko konzentrierte sich auf die großen Königs- und Kaiserhöfe. Die grundlegende politische Organisationsform der ersten großen Zivilisationen war die Monarchie, das heißt die Zentralisation der Macht. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass im 6. Jahrhundert die großen Monarchien die großen Zivilisationen waren. Gesetze, Kommerz, Schrift, Wissen, Religion, politische Struktur, all das spielte sich in königlichen und kaiserlichen Palästen ab. Es war diese monarchistische Struktur, die die Entwicklung der Zivilisation erlaubte. Sie garantierte die notwendige Stabilität und Sicherheit, die für die komplexer werdenden sozialen Beziehungen nötig waren. Eine Stabilität, die manchmal hielt und manchmal versagte, genau wie heute.

Der babylonische Hof führte Buch über wichtige oder bemerkenswerte Fakten, wie Getreidepreis, Naturkatastrophen und – entscheidend für die zukünftige Entwicklung der Naturwissenschaften – astronomische Daten wie Sonnenfinsternisse und Planetenpositionen. Acht Jahrhunderte später, unter römischer Herrschaft, hielt Ptolemäus Daten aus den alten babylonischen Archiven noch immer für zuverlässig genug, um sich darauf zu stützen. Er bedauerte, keinen Zugang zu allen babylonischen Dokumenten über die Planetenpositionen zu haben, bediente sich aber der Tabellen über Sonnenfinsternisse, die ein Jahrhundert vor Anaximander unter der Herrschaft von Nabonassar um 747 v. Chr. zusammengestellt worden waren: ein Datum, das er daher als Jahr null seiner astronomischen Berechnungen wählte.

Die Niederschrift astronomischer Daten ist jedoch noch älter. Wir sind im Besitz einer Keilschrifttafel (Abbildung 3) aus der Zeit des Herrschers Ammisaduqa um 1600 v. Chr. und rund 1000 Jahre vor Anaximander, die über einen Zeitraum von mehreren Jahren die korrekten Venuspositionen am Himmel enthält.

Abbildung 3: Keilschrifttafel aus der Bibliothek in Ninive, 7. Jahrhundert v. Chr. (Britisches Museum). Sie enthält Daten über die Position der Venus am Himmel, aufgezeichnet ein Jahrtausend zuvor, unter Ammisaduqa.

Wir sollten uns einen Moment mit dieser antiken Astronomie beschäftigen, denn sie steht in engem Zusammenhang mit der späteren Naturwissenschaft. Welche Bedeutung hatten diese Daten für die Babylonier? Warum zeichneten sie sie auf? Warum beschäftigten sie sich mit dem Himmel?

Es ist nicht schwer, diese Fragen zu beantworten: Die Erklärung findet sich auf zehntausenden antiken Täfelchen, die bis in unsere Zeit überdauert haben. Auf der einen Seite waren sich die Menschen der Regelmäßigkeiten gewisser himmlischer Phänomene bewusst, und man machte sie sich zunutze. Auf der anderen Seite versuchten sie schon bald, eine Beziehung zwischen himmlischen Phänomenen und irdischen Geschehnissen herzustellen. Diese beiden Aspekte müssen wir unterscheiden.

Die Relativbewegungen zwischen der Sonne und den Sternen am Himmel wurden seit Jahrhunderten mit einer Klarheit verstanden, die manch einem gebildeten Mitteleuropäer heute abgeht. So macht Hesiod beispielsweise eindeutig klar, dass man, um zu wissen, an welchem Punkt des Jahres man sich befindet – also um das Datum zu bestimmen –, nur zum Himmel blicken und schauen muss, welches Sternbild morgens im Osten auftaucht. Das Mittelmeerklima verlangt von der bäuerlichen Bevölkerung, den Jahresrhythmen höchst gewissenhaft zu folgen, aber in einer Welt ohne Kalender und Zeitungen ist das keine einfache Aufgabe. Der Himmel und die Sterne bieten eine einfache Lösung für dieses Problem; dessen waren sich die Menschen schon seit Jahrhunderten bewusst, und dieses Wissen war weit verbreitet. Und so finden sich in Hesiods Lehrgedicht Werke und Tage diese wunderbaren Zeilen:[*]

Wenn von den frostigen Tagen jedoch nach des Helios Wendung Zeus nun den sechzigsten endlich heraufführt, strahlt des Arkturos Stern alsbald aus der heiligen Flut des Okeanos wieder tauchend in leuchtendem Glanze zuerst am dunkelnden Himmel. Drauf kommt bald auch die Schwalbe, die Pandionide, den Menschen neu zu Gesicht, früh klagend, sobald sich erhoben der Frühling. Reben schneide, noch ehe sie naht; so ist es das Beste.

Und:

Wenn jetzt mitten am Himmel Orion und Sirios aufsteigt, die rosenfingrige Eos zugleich den Arkturos anschaut, dann lies sämtliche Trauben, o Perses, bring sie nach Hause, setze sie aus zehn Tage und Nächte der wärmenden Sonne, leg in den Schatten sie noch fünf Tage und fülle, was huldvoll dir Dionysos geschenkt, in die Fässer darauf an dem sechsten. Aber sobald die Pleiaden nun sinken, die Macht des Orion und die Hyaden, gedenk, rechtzeitig das Saatland zu pflügen. So nun dürfte das Jahr für den Landbau passend benützt sein.

(Der im Gedicht erwähnte Perses ist Hesiods Bruder.) Und weiter:

Hat dich jedoch Verlangen erfasst nach stürmischer Seefahrt, – wisse: Sobald die Pleiaden die schreckliche Macht des Orion scheuend, hinab jetzt sinken zur blaudurchdunkelten Meerflut, dann rast sämtlicher Stürme Geheul aus jeglicher Richtung. Nimmer belass dann in dunkelfarbenen Wogen das Schifflein.

Kurz gesagt, ist für Hesiod klar, dass es ausreicht, die Sterne zu beobachten, um zu wissen, in welchem Monat des Jahres man sich befindet: Das abendliche Auftauchen des Sterns Arcturus oder Arktur über dem Meer (Frühling), die Position des Sternbilds Orion und des Sirius im Zenit (Anfang des Sommers), der Untergang der Plejaden (Ende des Sommers, Beginn des Winters). Wie es in der biblischen Schöpfungsgeschichte, der Genesis, heißt, schuf Jehova die Sterne am vierten Tag, damit sie «als Zeichen» dienten.

Gelegentlich scheint Hesiod in den Sternen selbst die Ursache für menschliche Empfindungen zu sehen, wie in diesen bewunderungswürdigen Versen über die Hitze des Sommers:

Wenn zur Blüte die Distel nun kommt, und die schwirrende Grille aus dem Verstecke des Baums nie lässig das tönende Liedchen unter den Schwingen zur Zeit des erschlaffenden Sommers herabgießt, dann sind Ziegen bei weitem am fettesten, Trauben am besten, Weiber verlangender dann, obschon am schwächsten die Männer, da ja Sirios ihnen das Haupt und die Kniee versenget, dass von der Hitze der Leib ganz ausdörrt.

Es ist schwer zu sagen, ob diese Schwäche, die den Männern zugeschrieben wird, wenn Sirius am Himmel steht, im wörtlichen