Und wenn es die Zeit nicht gäbe? - Carlo Rovelli - E-Book

Und wenn es die Zeit nicht gäbe? E-Book

Carlo Rovelli

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Beschreibung

Was ist Zeit? Wir messen sie immer nur im Vergleich mit etwas anderem, einem Stern oder einem Pendel, und selbst dann gehen die Uhren nicht immer gleich, wie Einstein zeigte. Brauchen wir sie also, um die Grundlagen unseres Universums zu erklären? Nein, sagt Carlo Rovelli und skizziert ein neues Modell davon, was die Welt im Innersten zusammenhält. Zugleich ist dies das bislang persönlichste Buch des weltbekannten Physikers, der uns erzählt, wie ein Grundlagenforscher zu seinen Ideen kommt und warum revolutionäres Denken immer ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang ist. «Carlo Rovelli beweist, wie verführerisch Wissenschaft sein kann.» La Repubblica

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Carlo Rovelli

Und wenn es die Zeit nicht gäbe?

Meine Suche nach den Grundlagen des Universums

Aus dem Französischen von Monika Niehaus

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Was ist Zeit? Wir messen sie immer nur im Vergleich mit etwas anderem, einem Stern oder einem Pendel, und selbst dann gehen die Uhren nicht immer gleich, wie Einstein zeigte. Brauchen wir sie also, um die Grundlagen unseres Universums zu erklären? Nein, sagt Carlo Rovelli und skizziert ein neues Modell davon, was die Welt im Innersten zusammenhält.

 

Zugleich ist dies das bislang persönlichste Buch des weltbekannten Physikers, der uns erzählt, wie ein Grundlagenforscher zu seinen Ideen kommt und warum revolutionäres Denken immer ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang ist.

 

«Carlo Rovelli beweist, wie verführerisch Wissenschaft sein kann.»

La Repubblica

Über Carlo Rovelli

Carlo Rovelli, geboren 1956 in Verona, ist Professor für Physik an der Universität Marseille. Zuvor forschte und lehrte er unter anderem am Imperial College London, den Universitäten Rom, Yale, dell’Aquila und Pittsburgh. Zusammen mit Lee Smolin entwickelte er die Theorie der Schleifenquantengravitation, die international als verheißungsvollste Theorie zur Vereinigung von Einsteins Gravitationstheorie und der Quantentheorie gilt.

Vorwort

Carlo Rovelli ist theoretischer Physiker und zählt zu den Begründern der Theorie der Schleifenquantengravitation, ein mathematisch ausgesprochen schwieriges Thema. Dennoch – als ich ihn bei einer interdisziplinären Zusammenkunft traf und ihm zuhörte, erzählte er so verständlich von seiner Arbeit, dass ihm ein Fünfzehnjähriger Schritt für Schritt hätte folgen können. Und er sprach mit so viel Begeisterung, dass der junge Zuhörer sicherlich hätte wissen wollen, wie er selbst Physiker werden könnte.

Carlo Rovelli arbeitet wissenschaftlich an vorderster Front, doch seine Forschung ist für ihn kein Selbstzweck. Die Probleme, die er lösen möchte, verliert er nicht aus dem Auge. Das macht ihn zu einem Sachbuchautor von geradezu magischer Qualität. Methodisch und klar gibt er einen knappen Überblick über die Grundlagenphysik, um ihre Lücken deutlich zu machen – die offenen Fragen, die die heutigen Physiker faszinieren.

Über die Physik hinaus sind es die Naturwissenschaften in ihrer Gesamtheit, ihre Verbindungen mit anderen Wissensgebieten und ihre Rolle in der Gesellschaft, über die er sich Gedanken macht. Physiker sind keine Techniker ohne Verbindung zur Realität – und sie können es auch nicht sein. Immerhin behaupten sie, über diese Realität zu sprechen. Die Welt, die sie mit Hilfe von Teilchenbeschleunigern erforschen, und die Welt, in der sie jeden Morgen aufwachen, sind schließlich dieselbe. Besser als alle anderen Wissenschaftler lässt uns Carlo Rovelli diese enge Verbindung zwischen forscherischer Tätigkeit und unserem quirligen Alltag spüren.

Der italienische Herausgeber Sante Di Renzo hatte die Weitsicht, Carlo Rovelli um einen Text für neugierige junge Leser zu bitten, die sich für eine wissenschaftliche Laufbahn interessieren. Aus mehreren Gesprächen über Physikvorlesungen des Physikers entstand schließlich der Text Che cos’è il tempo? Che cos’è lo spazio?

Da ich, nachdem ich Carlo Rovelli auf der Konferenz gehört hatte, selbst die Idee hatte, ihn zu publizieren, schlug er mir vor, diese Arbeit aufzugreifen und im Hinblick auf ihren wissenschaftlichen Inhalt wie auch auf ihre Gedanken über die Naturwissenschaften weiterzuentwickeln. Daraus ist nun ein pointierterer und umfangreicherer Text geworden, ein veritables «Gedankengebäude», das nun hier vorliegt. Man erfährt, in welche Richtung die Physik von morgen strebt und warum sie wieder auf Aristoteles trifft, woran ein «Körnchen» Raumzeit erinnert und welche wichtige Rolle derartige Fragen für die Entwicklung der Zivilisation spielen können.

Mehr noch als ein naturwissenschaftliches Werk ist dieses Buch eine Demonstration naturwissenschaftlichen Denkens, das für Kinder so natürlich ist, aber so schwer zu bewahren.

 

Élisa Brune

Wissenschaftsjournalistin

Einführung

Ich habe einen großen Teil meines Lebens der naturwissenschaftlichen Forschung gewidmet, doch war die Naturwissenschaft eine späte Leidenschaft für mich. In meiner Jugend interessierte ich mich weniger für die Wissenschaft als für die ganze Welt.

Ich bin in Verona aufgewachsen, in einer unauffälligen Familie. Mein Vater, ein Mann von seltener Intelligenz, unaufdringlich und reserviert, war Ingenieur und führte sein eigenes Unternehmen. Er hat mir das Vergnügen vermittelt, die Welt mit Neugier zu betrachten. Meine Mutter, eine wahre Italienerin, überschüttete ihren einzigen Sohn mit Liebe, half mir bei den «Forschungen», die ich in der Grundschule durchführte, und förderte meinen Wissensdurst.

Ich besuchte das klassische Gymnasium in Verona, wo mehr Wert auf Griechisch und Geschichte als auf Mathematik gelegt wurde. Diese Schule bot einerseits viele kulturelle Anregungen, war andererseits aber auch anmaßend und provinziell, hatte sie sich doch auf die Fahnen geschrieben, Privilegien und Identität der heimischen Bourgeoisie zu schützen. Mehrere Lehrer waren vor dem Krieg Faschisten gewesen, und sie waren es im Herzen geblieben. Man schrieb die 1960er und 1970er Jahre, und zwischen den Generationen tobte ein heftiger Konflikt. Die Welt veränderte sich rasch. Den meisten Erwachsenen in meiner Umgebung fiel es schwer, diese Entwicklung zu akzeptieren; sie verharrten in Abwehr und unproduktiven Haltungen. Ich hatte kein Vertrauen zu ihnen, und noch weniger vertraute ich meinen Lehrern. Ich lag in ständigem Streit mit ihnen und mit sämtlichen Autoritätspersonen.

Meine Jugendjahre waren von Aufbegehren geprägt. Ich konnte mich mit den Werten, die um mich herum vertreten wurden, nicht identifizieren und empfand ein Gefühl völliger Verwirrung, denn nichts erschien mir sicher. Nur eins war klar: Die Welt um mich herum unterschied sich deutlich von jener, die mir gerecht und schön erschien. Ich träumte davon, auszusteigen und dieser Wirklichkeit, die mich abstieß, zu entfliehen. Ich las Bücher, in denen von anderen Lebensweisen und neuen Ideen die Rede war. Und ich dachte, in jedem Buch, das ich noch nicht gelesen hatte, könnten wunderbare Schätze verborgen sein.

Während meines Studiums in Bologna ergriff der Konflikt mit der Welt der Erwachsenen einen Großteil meiner Generation. Wir wollten die Welt verändern, sie besser machen, weniger ungerecht, neue Wege finden, zu leben und zu lieben, mit neuen Lebensentwürfen experimentieren, alles ausprobieren. Wir verliebten uns fortwährend neu und diskutierten ohne Ende. Wir wollten lernen, die Dinge ohne Vorurteile zu sehen. Es gab Momente der Verzweiflung und andere, in denen wir glaubten, die Morgendämmerung einer neuen Welt heraufziehen zu sehen.

Es war eine Zeit, in der man seine Träume auslebte. Wir reisten viel: im Kopf und auf der Straße, immer auf der Suche nach neuen Freunden und Ideen. Mit zwanzig brach ich allein zu einer langen Reise um die Welt auf. Ich war auf der Suche nach Abenteuern und wollte «die Wahrheit finden». Heute, Anfang sechzig, muss ich über meine damalige Naivität lächeln, aber ich denke noch immer, dass ich die richtige Wahl traf, und in gewisser Weise erlebe ich heute noch das Abenteuer, das damals begann. Der Weg war nicht immer leicht, doch die verrückten Hoffnungen und die grenzenlosen Träume von damals erfüllen mich noch immer; man muss nur den Mut haben, ihnen zu folgen.

Mit einer Gruppe von Freunden rief ich in Bologna einen der ersten freien Radiosender jener Zeit ins Leben, Radio Alice. Das Mikrophon stand jedem zur Verfügung, der sich per Ätherwellen ausdrücken wollte. Bei Radio Alice trafen sich Experimente und Utopien. Mit zwei Freunden aus diesem Kreis verfasste ich ein Buch über die italienische Studentenrebellion Ende der 1960er Jahre. Doch rasch wurden die Hoffnungen unserer Revolution erstickt, und die Ordnung gewann wieder die Oberhand. So leicht lässt sich die Welt nicht verändern.

Auf halbem Weg meines Studiums fühlte ich mich verlorener als je zuvor; ich hatte das bittere Gefühl, dass die Träume, die von so vielen geteilt wurden, im Begriff waren, sich schon wieder zu verflüchtigen. Ich hatte keinen Schimmer, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Den Weg des sozialen Aufstiegs einzuschlagen, Karriere zu machen, Geld zu verdienen und einen Zipfel der Macht zu ergreifen, erschien mir allzu öde. Das war nicht mein Ding. Aber es gab die ganze Welt zu erforschen, und jenseits der Wolken stellte ich mir stets einen grenzenlosen Horizont vor.

Die wissenschaftliche Forschung war damals meine Rettung – hier fand ich einen unbegrenzten Freiraum, ein Abenteuer, ebenso außergewöhnlich wie uralt. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich studiert, um meine Prüfungen zu bestehen, und vor allem, um den obligatorischen Militärdienst hinauszuzögern; doch nun interessierten mich meine Fächer wirklich und begeisterten mich schließlich sogar.

Im dritten Studienjahr Physik stand die «neue» Physik auf dem Lehrplan, die Physik des 20. Jahrhunderts: Quantenmechanik und Einsteins Relativitätstheorie. Dahinter stehen faszinierende Ideen, außergewöhnliche konzeptuelle Revolutionen, die unsere Sicht der Welt verändern und alte Ideen auf den Kopf stellen, darunter auch solche, die als gut gesichert galten. Im Zuge dieser neuen Erkenntnisse ist deutlich geworden, dass die Welt nicht so ist, wie sie scheint. Man lernt, die Dinge mit anderen Augen zu betrachten. Das ist eine bemerkenswerte Gedankenreise. So bin ich aus einer missglückten Kulturrevolution in eine gerade stattfindende Revolution des Denkens hineingeschlittert.

Mit den Naturwissenschaften entdeckte ich eine Art des Denkens, die mit dem Festlegen von Regeln beginnt, um die Welt zu verstehen, und anschließend in der Lage ist, diese Regeln zu modifizieren. Diese Freiheit auf der Suche nach Erkenntnis faszinierte mich. Angespornt von meiner Neugier und vielleicht auch von dem, was Federico Cesi, Freund Galileis und Visionär der modernen Naturwissenschaften, «den natürlichen Wunsch zu wissen» nannte, fand ich mich plötzlich, fast ohne mir dessen bewusst zu werden, mitten in den Problemen der theoretischen Physik wieder.

Mein Interesse für diese Disziplin erwuchs daher eher aus Zufall und Neugier denn aus einer bewussten Entscheidung. Im Gymnasium war ich gut in Mathematik, aber ich fühlte mich stets stärker zur Philosophie hingezogen. Wenn ich als Studienfach Physik statt Philosophie gewählt hatte, dann nur deshalb, weil ich in meiner Verachtung für die etablierten Institutionen philosophische Probleme für zu wichtig hielt, um sie allein an der Hochschule zu diskutieren …

In dem Moment, als mein Traum, eine neue Welt zu schaffen, an der Realität scheiterte, verliebte ich mich daher in die Wissenschaft, die die Entdeckung einer unendlichen Zahl neuer Welten bereithält und mir die Möglichkeit bot, als Forschender frei und ungehindert meinem Weg zu folgen. Die Naturwissenschaft war für mich ein Kompromiss: Sie erlaubte mir, auf meinen Wunsch nach Veränderung und Abenteuer nicht zu verzichten, meine Gedankenfreiheit zu bewahren und der zu sein, der ich bin; zugleich mied sie alle Konflikte, die aufgrund dieser Haltung mit der Umwelt auftreten können. Besser noch, ich leistete einen Beitrag zu einem Unterfangen, das die Gesellschaft schätzte.

Meines Erachtens erwächst ein großer Teil intellektueller oder künstlerischer Arbeit aus einem derartigen Manöver. Sie bietet eine Art Refugium für potenzielle Abweichler. Gleichzeitig braucht die Gesellschaft solche Menschen, denn sie lebt in einem dynamischen Gleichgewicht: Auf der einen Seite garantieren Beharrungskräfte ihre Stabilität und Fortdauer und verhindern Unordnung, die das Geschaffene zerstören würde. Auf der anderen Seite sorgt der Wunsch nach Wandel und Gerechtigkeit dafür, dass die gesellschaftlichen Zustände sich verändern und weiterentwickeln. Ohne diesen Wunsch nach Wandel hätte die Zivilisation niemals den Punkt erreicht, an dem sie sich heute befindet; wir würden noch immer die Pharaonen verehren.

Ich denke, die Neugier und das Streben nach Veränderungen, die es in jeder Generation gibt, sind die Hauptquelle für gesellschaftlichen Fortschritt. Neben den Hütern der Ordnung, die die Stabilität erhalten, die geschichtliche Entwicklung aber bremsen, muss es Menschen geben, die ihre Träume leben und sich trauen, neue Wege zu gehen, verblüffende Ideen zu entwickeln, die Realität auf bisher ungeahnte Weise zu betrachten und zu verstehen. Die heutige Welt ist von denjenigen erdacht und erbaut worden, die in der Vergangenheit fähig waren zu träumen. Nur neue Träume können unserer Zukunft Leben verleihen.

Dieses Buch beschreibt einige Etappen des Weges, den ich in meiner Neugier eingeschlagen habe, und die Träume, die ich auf diesem Weg geträumt habe. Es erzählt von meiner Begeisterung für die Ideen und von den Freunden, die mir unterwegs begegnet sind.

1 Ein außergewöhnliches Problem: die Quantengravitation

Während meines vierten Jahres auf der Universität stieß ich auf den Artikel eines englischen Physikers, Chris Isham, in dem es um Quantengravitation ging. An der Basis der modernen Physik gebe es ein ungelöstes Problem, hieß es in dem Artikel, das mit der Definition von Zeit und Raum verknüpft ist, also mit der Grundstruktur der Welt. Ich las diesen Artikel begierig, ohne viel vom Inhalt zu verstehen, doch die Frage, die er beleuchtete, schlug mich in ihren Bann. Im Folgenden möchte ich das Problem in groben Zügen skizzieren.

Der bedauernswerte Zustand der Grundlagenphysik

Die große wissenschaftliche Revolution des 20. Jahrhunderts basiert auf zwei Grundpfeilern: einerseits auf der Quantenmechanik, andererseits auf Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie. Die Quantenmechanik, die die mikroskopische Welt sehr gut beschreibt, hat all unser Wissen über Materie auf den Kopf gestellt. Die Allgemeine Relativitätstheorie, die die Gravitation (Schwerkraft) genau erklärt, hat all das radikal verändert, was wir über Zeit und Raum zu wissen meinten. Diese beiden Theorien sind weitgehend experimentell bestätigt und haben die Entwicklung eines Großteils unserer modernen Technologie ermöglicht.

Sie führen jedoch zu zwei sehr unterschiedlichen Beschreibungen der Welt, die auf den ersten Blick unvereinbar erscheinen. Beide Theorien sind so formuliert, als würde die andere nicht existieren. Das, was ein Professor seinen Studenten über Allgemeine Relativitätstheorie erzählt, scheint für seinen Kollegen, der im Hörsaal nebenan Quantenmechanik unterrichtet, unsinnig zu sein, und umgekehrt gilt das genauso. Die Quantenmechanik benutzt die alten Begriffe von Zeit und Raum, die im Widerspruch zur Allgemeinen Relativitätstheorie stehen. Und die Allgemeine Relativitätstheorie benutzt die alten Begriffe von Materie und Energie, die im Widerspruch zur Quantenmechanik stehen.

Es gibt momentan keine Situation in der Physik, in der die beiden Theorien gleichzeitig angewandt werden. Je nach Größenskala des untersuchten Problems ist es mal die eine, mal die andere. Die physikalischen Situationen, in denen beide Theorien gelten, beispielsweise bei sehr kleinen Abständen, im Zentrum eines Schwarzen Lochs oder in den ersten Augenblicken der Entstehung des Universums, führen zu Energieniveaus, die sich mit unseren Apparaturen kaum erzeugen lassen.

Wir wissen jedoch nicht, wie wir diese beiden großen Entdeckungen verbinden sollen: Wir haben kein umfassendes Naturbild. Wir befinden uns in einer schizophrenen Situation; unsere Informationen sind Stückwerk und inkompatibel. Das geht so weit, dass wir tatsächlich nicht mehr wissen, was Raum, Zeit und Materie eigentlich sind. Die heutige Grundlagenphysik befindet sich in einem bedauernswerten Zustand.

In der Geschichte gab es solche Situationen wiederholt, beispielsweise vor der Vereinheitlichung der Physik durch Newton. Für Kepler, der die Planeten und Sterne beobachtete, beschrieben die Objekte Ellipsen. Für Galilei, der Objekte untersuchte, die zu Boden fielen, folgten sie Parabeln. Aber Kopernikus hatte verstanden, dass die Erde ein Ort wie jeder andere ist; sie nimmt keine Sonderstellung im Universum ein. Konnte es also eine Theorie geben, die auf der Erde funktionierte, und eine andere, die am Himmel funktionierte? Newton gelang es, die beiden Sichtweisen zu einer einzigen Theorie zu vereinigen: Dieselbe Gleichung ließ sich nun auf Planeten und auf vom Baum fallende Äpfel anwenden.

 

Diese befriedigende Einheit hielt drei Jahrhunderte. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts entwickelte die Physik ein Ensemble von äußerst schlüssigen Gesetzen, das sich auf eine kleine Zahl von Schlüsselbegriffen wie Zeit, Raum, Kausalität und Materie gründete. Trotz wichtiger Verbesserungen sind diese Begriffe recht stabil geblieben. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begannen sich innere Spannungen im System aufzubauen, und im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts haben Quantenmechanik und Allgemeine Relativitätstheorie diese Fundamente buchstäblich pulverisiert. Die schöne Newton’sche Einheit war dahin.

Quantenmechanik und Allgemeine Relativitätstheorie waren ungeheuer erfolgreich und sind experimentell immer wieder bestätigt worden; sie gehören mittlerweile zum gesicherten Wissen. Jede der beiden Theorien modifiziert die konzeptuelle Basis der klassischen Physik in einer Weise, die für ihren Teil schlüssig ist, aber wir haben keinen konzeptuellen Rahmen, der in der Lage ist, beide Theorien in Einklang zu bringen. Daher können wir nicht vorhersagen, was passiert, wenn die Gravitation beginnt, Quanteneffekte zu zeigen, also in einer Größenordnung unterhalb von 10−33 Zentimeter wirksam wird. Derart kleine Dimensionen sind extrem, aber man muss sie dennoch beschreiben können. Die Welt kann nicht zwei einander widersprechenden Theorien gehorchen. Phänomene, die sich in so kleinen Maßstäben abspielen, kommen in der Natur durchaus vor, zum Beispiel kurz nach dem Urknall oder in der Nähe eines Schwarzen Lochs. Wenn wir diese Phänomene verstehen wollen, müssen wir in der Lage sein zu berechnen, was sich in solchen Dimensionen abspielt. Auf die eine oder andere Weise müssen wir beide Theorien miteinander versöhnen. Diese Mission ist das zentrale Problem der Quantengravitation.

Es ist ganz offensichtlich ein schwieriges Problem. Aber mit der Kühnheit eines jungen Mannes von zwanzig Jahren entschloss ich mich, als es auf mein letztes Studienjahr zuging, mein Leben dieser Herausforderung zu widmen. Mich lockte die Vorstellung, so grundlegende Konzepte wie Zeit und Raum zu untersuchen, und auch die Tatsache, dass die Situation unlösbar erschien.

In Italien arbeitete so gut wie niemand an diesem Problem. Meine wissenschaftlichen Lehrer rieten mir strikt davon ab, diese Richtung einzuschlagen: «Das ist ein Weg, der nirgendwo hinführt», «Du wirst niemals eine Stelle finden», oder auch «Du solltest dich einem starken und schon gut etablierten Team anschließen». Das einzige Ergebnis solcher Warnungen, die Erwachsene uns zukommen lassen, besteht jedoch häufig darin, den unbeschwerten Eigensinn der Jugend zu verstärken.

Als Kind las ich die Märchen eines italienischen Schriftstellers, Gianni Rodari. Eines dieser Märchen erzählt die Geschichte von Giovannino und dem Weg, der nirgendwo hinführt. Der Held lebt in einem Dorf, in dem es eben diesen Weg gibt, der nirgendwo hinführt. Aber neugierig und dickköpfig, wie er ist, und all dem zum Trotz, was die anderen sagen, will er sich selbst ein Bild machen. Er begibt sich also auf den Weg, und natürlich findet er ein Schloss und eine Prinzessin, die ihn mit Edelsteinen überhäuft. Als er derart reich beschenkt ins Dorf zurückkehrt, machen sich alle übrigen ebenfalls auf den Weg, aber niemand findet auch nur den kleinsten Schatz. Mit der Quantengravitation hatte ich einen Weg gefunden, der nach allgemeiner Ansicht nirgendwo hinführt. Ich habe meine Prinzessin und viele Edelsteine gefunden.

2 Raum, Teilchen und Felder

Wir wollen Ursprung und Schwierigkeit des Problems der Quantengravitation etwas genauer diskutieren und mit einem Schlüsselbegriff beginnen: dem des Raumes. Denn der Raumbegriff war historisch gesehen der erste, der erschüttert wurde. Anschließend werde ich erklären, wie der Begriff der Zeit eine noch spektakulärere Wandlung durchmachen musste.

Der Raumbegriff, der die Grundlage für unsere Vorstellung von der Welt bildet und uns am besten vertraut ist, ist der eines großen «Behälters» der Welt. Eine Art große Schachtel, regelmäßig, homogen, ohne bevorzugte Richtung, in der die Euklid’sche Geometrie gilt und die Ereignisse der Welt sich abspielen. Alle uns bekannten Objekte werden von Teilchen gebildet, die sich in dieser Raum-Schachtel bewegen. In einem solchen Raum hat Newton seine universelle Gravitationstheorie angesiedelt, die auch heute noch die Grundlage für unzählige Anwendungen in allen Bereichen der Technik und der Ingenieurswissenschaften bildet.

Zweihundert Jahre nach Newton, Ende des 19. Jahrhunderts, untersuchten James Clerk Maxwell und Michael Faraday die elektrische Kraft zwischen geladenen Objekten, und das führte sie zu einer Modifikation dieser Beschreibung. Neben dem Raum und den Teilchen brachten sie eine dritte Zutat ins Spiel: das elektromagnetische «Feld», ein neues «Objekt», das für die gesamte Physik, die folgen würde, von großer Bedeutung war.

Das elektromagnetische Feld ist der Träger von elektrischen und magnetischen Kräften. Ein Feld ist eine Art diffuser Entität, die den ganzen Raum erfüllt. Faraday stellte sich ein Feld wie ein Ensemble von Linien vor, die aus positiven elektrischen Ladungen entspringen und auf negativen elektrischen Ladungen enden. Abbildung 1 zeigt einige dieser (Feld-)Linien. Tatsächlich gibt es unendlich viele von ihnen, und sie erfüllen den gesamten Raum kontinuierlich, wie die immateriellen Fäden eines dreidimensionalen Spinnennetzes.