Helgoland - Carlo Rovelli - E-Book

Helgoland E-Book

Carlo Rovelli

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Beschreibung

Als der junge deutsche Physiker Werner Heisenberg 1925 auf Helgoland die mathematischen Grundlagen der Quantenmechanik schuf, setzte er einen Prozess in Gang, der Mikrokosmos und Makrokosmos voneinander trennte. Hundert Jahre später verdanken wir der Quantenphysik unser Wissen um die Grundlagen der Chemie, die Funktionsweise der Sonne oder auch unseres Gehirns, sie ist die Basis moderner Hochtechnologie vom Laser bis zum Computer. Und doch gibt sie der Forschung nach wie vor Rätsel über Rätsel auf. Rovellis neues Buch führt uns ein in die Welt der physikalischen Forschung zu den allerkleinsten Teilchen, die er selbst maßgeblich betreibt. Was wissen wir und was können wir wissen über die Zustände der quantischen Welt, die Möglichkeiten ihrer Beobachtung, die Grenzen unserer materiellen Existenz und ihrer Beschreibung, aber eben auch über unser Bewusstseinsvermögen und schließlich die schwindelerregende Auffassung moderner Teilchenphysik von der Beschaffenheit unserer materiellen Welt als bloßes Geflecht von Beziehungen und Interaktionen?

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Carlo Rovelli

Helgoland

Wie die Quantentheorie unsere Welt verändert

 

 

Aus dem Italienischen von Enrico Heinemann

 

Über dieses Buch

Als der junge deutsche Physiker Werner Heisenberg 1925 auf Helgoland die mathematischen Grundlagen der Quantenmechanik schuf, setzte er einen Prozess in Gang, der Mikrokosmos und Makrokosmos voneinander trennte. Hundert Jahre später verdanken wir der Quantenphysik unser Wissen um die Grundlagen der Chemie, die Funktionsweise der Sonne oder auch unseres Gehirns, sie ist die Basis moderner Hochtechnologie vom Laser bis zum Computer. Und doch gibt sie der Forschung nach wie vor Rätsel über Rätsel auf.Rovellis neues Buch führt uns ein in die Welt der physikalischen Forschung zu den allerkleinsten Teilchen, die er selbst maßgeblich betreibt. Was wissen wir und was können wir wissen über die Zustände der quantischen Welt, die Möglichkeiten ihrer Beobachtung, die Grenzen unserer materiellen Existenz und ihrer Beschreibung, aber eben auch unser Bewusstseinsvermögen und schließlich die schwindelerregende Auffassung moderner Teilchenphysik von der Beschaffenheit unserer materiellen Welt als bloßes Geflecht von Beziehungen und Interaktionen?

Vita

Carlo Rovelli, geboren 1956 in Verona, ist seit 2000 Professor für Physik an der Universität Marseille. Zuvor forschte und lehrte er unter anderem am Imperial College London, der Universität Rom, der Yale University, an der Universita dell’Aquila und an der University of Pittsburgh. 1998/99 war er Forschungsdirektor am Zentrum für Theoretische Physik (CPT) in Luminy. Von ihm sind bei Rowohlt unter anderem die Weltbestseller «Sieben kurze Lektionen über Physik» (2015) und zuletzt «Die Ordnung der Zeit» (2018/2021) erschienen.

 

 

 

Enrico Heinemann lebt in Heidelberg und studierte unter anderem in Florenz, Lille und Mailand Romanistik und Philosophie. Er übersetzte bisher rund 250 Bücher aus dem Italienischen, Englischen und Französischen.

Inhaltsübersicht

Inhalt

Widmung

Den Blick in den Abgrund richten

Erster Teil

I

1. Die absurde Idee des blutjungen Werner Heisenberg: die «beobachtbaren Größen»

2. Erwin Schrödingers abwegiges ψ: die «Wahrscheinlichkeit»

3. Die Granularität der Welt: «die Quanten»

Zweiter Teil

II

1. Superpositionen

2. Das Ψ ernst nehmen: multiple Welten, verborgene Variable und physikalische Kollapse

3. Die Unschärfe akzeptieren

III

1. Es gab eine Zeit, in der die Welt einfach erschien

2. Relationen

3. Die luftige und leichte Welt der Quanten

IV

1. Quantenverschränkung

2. Der Tanz zu dritt, der die Beziehungen der Welt knüpft

3. Information

Dritter Teil

V

1. Alexander Bogdanow und Wladimir Lenin

2. Naturalismus ohne Substanz

3. Ohne Fundament? Nāgārjuna

VI

1. Einfache Materie?

2. Was bedeutet «Bedeutung»?

3. Die Welt, von innen gesehen

VII

Aber ist das wirklich möglich?

Dank

Bildnachweise

Register

Inhalt

Den Blick in den Abgrund richten 9

Erster Teil 15

I 15

1. Die absurde Idee des blutjungen Werner Heisenberg: die «beobachtbaren Größen» 17

2. Erwin Schrödingers abwegiges ψ: die «Wahrscheinlichkeit» 30

3. Die Granularität der Welt: «die Quanten» 38

Zweiter Teil 45

II 45

1. Superpositionen 47

2. Das Ψ ernst nehmen: multiple Welten, verborgene Variable und physikalische Kollapse 57

3. Die Unschärfe akzeptieren 66

III 71

1. Es gab eine Zeit, in der die Welt einfach erschien 73

2. Relationen 75

3. Die luftige und leichte Welt der Quanten 82

IV 89

1. Quantenverschränkung 91

2. Der Tanz zu dritt, der die Beziehungen der Welt knüpft 98

3. Information 101

Dritter Teil 111

V 111

1. Alexander Bogdanow und Wladimir Lenin 113

2. Naturalismus ohne Substanz 126

3. Ohne Fundament? Nāgārjuna 131

VI 143

1. Einfache Materie? 145

2. Was bedeutet «Bedeutung»? 150

3. Die Welt, von innen gesehen 161

VII 171

Aber ist das wirklich möglich? 173

 

Dank 183

Bildnachweise 185

Anmerkungen 187

Register 205

Für Ted Newman, der mir klargemacht hat,

dass ich die Quantenmechanik nicht verstanden habe.

Den Blick in den Abgrund richten

Časlav und ich sitzen im Sand, wenige Schritte vom Meer entfernt. Stundenlang haben wir intensiv geredet. Am Nachmittag, während der Konferenzpause, sind wir auf Lamma Island, einer von Hongkongs Inseln, angekommen. Časlav gehört zu den angesehensten Experten der Quantenmechanik. Auf der Konferenz hat er eine Analyse eines komplexen Gedankenexperiments vorgestellt. Auf dem Pfad, der am Dschungel entlang zum Strand führt, und hier am Meeresufer haben wir sie ausführlich durchdiskutiert. Wir sind praktisch zu einer Übereinstimmung gelangt. Am Strand herrscht einen langen Augenblick Stille zwischen uns. Wir blicken aufs Meer. Es ist wirklich unglaublich, flüstert Časlav, wie soll man das glauben? Es ist, als gäbe es sie nicht … die Wirklichkeit …

An diesem Punkt stehen wir bei den Quanten. Nach einem Jahrhundert aufsehenerregender Ergebnisse, nachdem uns die erfolgreichste Theorie der Wissenschaftsgeschichte die gegenwärtige Technologie und die Grundlagen für die gesamte Physik des 20. Jahrhunderts beschert hat, erfüllt sie uns bei eingehender Auseinandersetzung mit ihr mit Verblüffung, Verwirrung, Ungläubigkeit.

Es gab eine Zeit, in der die Grammatik der Welt aufgeklärt schien: An der Wurzel der gesamten Formenvielfalt der Realität gab es offenbar nur Materieteilchen, von wenigen Kräften bewegt. Die Menschheit konnte glauben, sie habe den Schleier der Göttin Maja gelüftet: den Urgrund der Realität erblickt. Aber das währte nicht lange: Viele Fakten tanzten aus der Reihe.

Bis im Sommer 1925 ein 23-jähriger Deutscher loszog, um auf einer stürmischen Nordseeinsel Tage in aufwühlender Einsamkeit zu verbringen: auf Helgoland, der «heiligen Insel». Hier kam er auf eine Idee, die es ermöglichte, alle widerspenstigen Fakten zu berücksichtigen und die mathematische Struktur der Quantenmechanik zu schaffen, die «Quantentheorie». Die wohl größte wissenschaftliche Revolution aller Zeiten. Der junge Mann war Werner Heisenberg (1901–1976). Mit ihm beginnt die Erzählung dieses Buchs.

Die Quantentheorie hat die Grundlagen der Chemie aufgeklärt, ebenso die Funktionsweise der Atome, der Festkörper, der Plasmen, die Farbe des Himmels, die Nervenzellen im Gehirn, die Bewegung der Sterne, den Ursprung der Galaxien … tausend Aspekte der Welt. Sie bildet die Grundlage der modernsten Technologien: von Computern bis zu Atomkraftwerken. Ingenieure, Astrophysiker, Kosmologen, Chemiker und Biologen wenden sie täglich an. In Teilen gehört die Theorie zum Lehrstoff an weiterführenden Schulen. Sie hat sich nie geirrt. Sie bildet das schlagende Herz der heutigen Wissenschaft. Und doch bleibt sie zutiefst rätselhaft. Irgendwie beunruhigend.

Sie hat das Bild einer Wirklichkeit zertrümmert, das aus Teilchen bestand, die sich auf festgelegten Kreisbahnen bewegen, ohne jedoch zu erklären, wie wir uns die Welt stattdessen vorzustellen haben. Ihre Mathematik beschreibt nicht die Realität, sie sagt uns nicht, «was es gibt». Ferne Objekte erscheinen auf magische Weise untereinander verbunden. An die Stelle der Materie treten phantastische Wahrscheinlichkeitswellen.

Jeder, der innehält, um sich zu fragen, was uns die Quantentheorie über die reale Welt verrät, bleibt ratlos zurück. Einstein, der doch ihre Grundgedanken vorwegnahm und Heisenberg damit auf die richtige Spur brachte, hat sie niemals richtig verdaut. Richard Feynman (1918–1988), der große theoretische Physiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, schrieb über die Quanten, dass niemand sie verstehe.

Aber das ist Wissenschaft: die Erkundung neuer Wege, die Welt zu denken. Sie ist unsere Fähigkeit, unsere Konzepte beständig in Frage zu stellen. Sie ist die visionäre Kraft eines rebellischen und kritischen Denkens, dazu befähigt, die eigenen konzeptionellen Grundlagen zu verändern und die Welt von null an neu zu entwerfen.

Auch wenn uns die Fremdartigkeit der Theorie verwirrt, eröffnet sie uns zugleich neue Perspektiven, um die Realität zu verstehen. Eine subtilere Realität als die des allzu simplen Materialismus von Teilchen im Raum. Eine Realität, die in erster Linie aus Beziehungen besteht.

Die Theorie legt neue Wege nahe, um große Fragen neu zu denken, von der Struktur der Realität bis zum Wesen der Erfahrung, von der Metaphysik bis vielleicht sogar zum Wesen des Bewusstseins. All dies ist heute Stoff für heftigste Debatten unter Wissenschaftlern und Philosophen, und all dies erörtere ich auf den nachfolgenden Seiten.

Auf dem kahlen, kargen und vom Nordwind gepeitschten Helgoland hat Werner Heisenberg den Schleier zwischen uns und der Wahrheit gelüftet – und in einen Abgrund geschaut. Die Erzählung dieses Buches beginnt auf der Insel, auf der Heisenberg den Kern seiner Idee konzipierte, und behandelt dann schrittweise die umfassenderen Fragen der Entdeckung der Quantenstruktur der Wirklichkeit.

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Ich habe dieses Buch hauptsächlich für diejenigen geschrieben, die die Quantenphysik nicht kennen, neugierig sind und, so weit wie möglich, nachvollziehen wollen, was es mit ihr auf sich hat. Ich habe mich möglichst kurz zu fassen versucht und alles Unwesentliche weggelassen, was zum Kern der Frage nichts beiträgt. Ich habe versucht, eine Theorie, die eine Dunkelzone im Zentrum der Wissenschaft abdeckt, möglichst klar darzustellen. Anstatt zu erklären, wie man die Quantenmechanik verstehen kann, erkläre ich vielleicht nur, was sie so schwer verständlich macht.

Aber gedacht ist das Buch auch für Kollegen, Wissenschaftler und Philosophen, die diese Theorie desto ratloser macht, je eingehender sie sich mit ihr auseinandersetzen – um die anhaltende Diskussion darüber voranzutreiben, was diese erstaunliche Physik zu bedeuten hat, und um zu einer Gesamtperspektive zu gelangen. Die zahlreichen Anmerkungen im Buch sind für Kenner der Quantenmechanik gedacht. Sie führen eingehender aus, was ich im Text in verständlicherer Form darlege.

Das wichtigste Ziel meiner Forschungen in theoretischer Physik bestand darin, die gequantelte Natur von Raum und Zeit zu verstehen, die Quantentheorie mit Einsteins Entdeckungen zu Raum und Zeit in Einklang zu bringen. Ich musste über die Quanten immer wieder nachdenken. Dieser Text gibt den Standpunkt wieder, zu dem ich bis heute gelangt bin. Auch wenn er verschiedene Meinungen berücksichtigt, ist er entschieden parteiisch: Im Zentrum steht die Perspektive, die ich als erfolgreich betrachte und von der ich glaube, dass sie die interessantesten Wege eröffnet: die «Relationale» Interpretation der Quantentheorie.

Ein Hinweis vorab. Der Abgrund dessen, was wir nicht wissen, übt stets magische Anziehungskraft aus und macht schwindelig. Aber die Quantenmechanik ernst zu nehmen, über ihre Bedeutung nachzudenken, ist eine geradezu psychodelische Erfahrung: Sie verlangt von uns auf die eine oder andere Weise, auf etwas von dem zu verzichten, was uns in unserem Weltverständnis als solide und unangreifbar erschien. Sie fordert uns ab anzuerkennen, dass die Realität zutiefst anders ist, als wir sie uns vorstellten. Und den Blick in diesen Abgrund zu richten, ohne Angst, ins Unergründliche zu sinken.

 

Lissabon, Marseille, Verona, London, Ontario,

2019/2020

Erster Teil

I

«Auf einen tief darunter liegenden Grund von merkwürdiger innerer Schönheit zu schauen»

Wie es kam, dass ein junger Deutscher, ein Physiker, eine wahrhaft seltsame Idee hatte, die aber die Welt bestens beschrieb, und über die große daraus erwachsende Verwirrung.

1. Die absurde Idee des blutjungen Werner Heisenberg: die «beobachtbaren Größen»

«Daher wurde es fast drei Uhr nachts, bis das endgültige Ergebnis der Rechnung vor mir lag. […] Im ersten Augenblick war ich zutiefst erschrocken. […]. Ich war so erregt, dass ich an Schlaf nicht denken konnte. So verließ ich in der schon beginnenden Morgendämmerung das Haus und ging an die Südspitze des Oberlandes, wo ein alleinstehender, ins Meer vorspringender Felsturm mir immer schon die Lust zu Kletterversuchen geweckt hatte. Es gelang mir ohne größere Schwierigkeit, den Turm zu besteigen, und ich erwartete auf seiner Spitze den Sonnenaufgang.»[1]

Ich habe mich oft gefragt, welche Gedanken und Gefühle der junge Heisenberg hatte, dort oben auf diesem steil über dem Meer aufragenden Felsen, im Wind auf Helgoland, als er die Weite der Wellen betrachtete und den Sonnenaufgang erwartete. Er hatte als der Erste einen Blick in eines der schwindelerregendsten Geheimnisse der Natur geworfen, von dem die Menschheit je Ahnung erhielt. Damals war er 23 Jahre alt.

Auf der Insel hielt er sich zur Linderung seiner Pollenallergie auf. Auf Helgoland – der Name bedeutet «heilige Insel» – gibt es praktisch keine Bäume und damit auch kaum Blütenstaub. «So baumlos […] wie Helgoland mit seinem einen Strunk», heißt es bei James Joyce im Ulysses. Vor allem wollte er sich in das Problem vertiefen, von dem er wie besessen war: Niels Bohrs Ergebnisse bereiteten ihm schwerstes Kopfzerbrechen. Er schlief wenig, verbrachte seine Zeit in Einsamkeit und versuchte etwas zu berechnen, das Bohrs unverständliche Regeln rechtfertigte. Von Zeit zu Zeit unterbrach er die Arbeit, um auf Felsen zu klettern. In kurzen Pausen lernte er Gedichte aus Goethes West-östlichem Divan auswendig: aus der Sammlung, in der der deutsche Dichterfürst seine Liebe zum Islam besingt.

Niels Bohr (1885–1962) war bereits ein angesehener Wissenschaftler. Er hatte einfache, aber seltsame Formeln erstellt, mit denen sich die Eigenschaften der chemischen Elemente bestimmen ließen, noch bevor sie gemessen werden konnten. Sie sagten zum Beispiel die Frequenz des Lichts vorher, das die Elemente in erhitztem Zustand aussenden – also die Farbe, die sie annehmen. Ein beachtlicher Erfolg. Allerdings waren die Formeln unvollständig: Die Intensität des emittierten Lichts ließ sich nicht berechnen.

Aber vor allem hatten diese Formeln etwas wirklich Absurdes: Sie beinhalteten ohne ersichtlichen Grund die Annahme, dass Elektronen den Atomkern nur auf genau festgelegten Bahnen umkreisten, in Abständen und mit Energien, die ebenfalls genau festgelegt waren. Und dann «sprangen» sie wie von Zauberhand von einer Kreisbahn auf die andere. Die ersten «Quantensprünge». Warum nur diese Umlaufbahnen? Was sind diese überraschenden «Sprünge» von einer Bahn auf die andere? Welche unbekannte Kraft kann ein Elektron so lenken, dass es sich derart seltsam verhält?

Das Atom ist der Grundbaustein von allem. Wie funktioniert es? Wie bewegen sich die Elektronen in seinem Inneren? Seit über zehn Jahren beschäftigten sich Bohr und seine Kollegen im Kern mit diesen Fragen. Ergebnislos.

In Kopenhagen hatte Bohr die brillantesten jungen Physiker, die er hatte auftreiben können, um sich geschart, um mit ihnen – wie in der Werkstatt eines Renaissancemalers – an den Geheimnissen des Atoms zu forschen. Zu ihnen zählte auch der herausragende, hochintelligente, überhebliche und unverschämte Wolfgang Pauli (1900–1958), der ein Freund und ehemaliger Kommilitone Heisenbergs war. Trotz seiner Überheblichkeit hatte er dem großen Bohr seinen Freund mit dem Hinweis vorgestellt, wenn man weiterkommen wolle, müsse man ihn rufen. Bohr hörte auf ihn und lud auch Heisenberg, der in Göttingen als Assistent des Physikers Max Born (1882–1970) arbeitete, im Herbst 1924 nach Kopenhagen ein. Heisenberg blieb einige Monate, in denen er mit Bohr vor Tafeln voller Formeln diskutierte. Der junge Bursche und der Meister unternahmen ausgedehnte gemeinsame Spaziergänge in den Bergen und redeten über die Geheimnisse des Atoms, über Physik und Philosophie.[2]

Heisenberg hatte sich intensiv mit dem Problem auseinandergesetzt, wie die anderen alles Mögliche versucht. Nichts funktionierte. Keine vernünftige Kraft schien die Elektronen auf den seltsamen Kreisbahnen und bei Bohrs seltsamen Sprüngen leiten zu können. Und doch ermöglichten es diese Bahnen und Sprünge, die atomaren Phänomene präzise vorherzusagen. Ratlosigkeit herrschte.

Entmutigung treibt dazu an, nach äußersten Mitteln zu suchen. Heisenberg entschloss sich in der Einsamkeit auf der Nordseeinsel, radikale Ideen zu erkunden.

Radikal waren im Grunde die Ideen gewesen, mit denen Einstein (1879–1955) zwanzig Jahre zuvor die Welt verblüfft hatte. Einsteins radikales Denken hatte sich als wirksam erwiesen. Pauli und Heisenberg liebten seine Physik. Einstein war Mythos. War gar der Moment gekommen, so fragten sie sich, einen ebenso radikalen Schritt zu wagen, um aus der Sackgasse herauszufinden, in die sie in der Frage der Elektronen in den Atomen geraten waren? Würde ihnen ein solcher Schritt gelingen? Mit Anfang zwanzig gibt man sich noch zügellos Träumen hin.

Einstein hatte gezeigt, dass die am tiefsten verwurzelten Überzeugungen irrig sein können. Das offensichtlich Erscheinende ist womöglich falsch. Selbstverständliche Annahmen aufzugeben kann zu einem besseren Verständnis führen. Er hatte gelehrt, sich nur auf das zu stützen, was wir sehen, nicht auf das, von dem wir glauben, dass es existieren müsse.

Pauli äußerte diese Ideen gegenüber Heisenberg häufig. Die beiden jungen Männer hatten an einem berauschenden Honig genascht. Sie hatten die Diskussionen über die Beziehung zwischen Wirklichkeit und Erfahrung verfolgt, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die österreichische und deutsche Philosophie zogen. Ernst Mach (1838–1916), der auf Einstein entscheidenden Einfluss ausgeübt hatte, sagte die Notwendigkeit voraus, das Wissen rein auf Beobachtungen zu stützen und sich von jedweder stillschweigenden «metaphysischen» Annahme freizumachen. Dies sind die unterschiedlichen Zutaten, die sich wie die chemischen Bestandteile eines Sprengstoffs im Denken des ganz jungen Heisenberg mischen, als er sich im Sommer 1925 auf die Insel Helgoland zurückzieht.

Und dort hat er die zündende Idee, auf die man nur in der grenzenlosen Radikalität seiner Zwanziger kommt. Die Idee, die dazu bestimmt ist, die gesamte Physik, die gesamten Naturwissenschaften, unsere gesamte Konzeption von der Welt auf den Kopf zu stellen. Die Idee, die die Menschheit, wie ich glaube, nach wie vor nicht verdaut hat.

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Heisenbergs sprunghafter Gedanke ist so waghalsig wie einfach. Niemand schaffte es, die Kraft zu ermitteln, die die Elektronen in ihrem bizarren Verhalten leitete? Gut, dann verzichten wir auf eine neue Kraft. Nutzen wir stattdessen die, die wir schon kennen: die elektrische Kraft, die das Elektron zum Kern hinzieht. Wir finden keine neuen Bewegungsgesetze, die Bohrs Kreisbahnen und Sprünge erklären? Gut, behalten wir die uns schon bekannten Bewegungsgesetze eben unverändert bei.

Ändern wir stattdessen unsere Art, das Elektron zu denken. Verzichten wir auf die Vorstellung, dass ein Elektron ein Objekt sei, das sich auf einer Kreisbahn bewegt. Verzichten wir darauf, die Bewegung des Elektrons zu beschreiben. Beschreiben wir nur das, was wir von außen beobachten: die Intensität und Frequenz des vom Elektron abgestrahlten Lichts. Stützen wir alles nur auf die Größen, die beobachtbar sind. Das ist die Idee.

Heisenberg versucht, das Verhalten des Elektrons neu zu berechnen, indem er dazu nur die beobachteten Größen heranzieht: die Intensität und das Spektrum des emittierten Lichts. Von ihnen ausgehend, versucht er die Energie des Elektrons neu zu berechnen.

Was man beobachtet, sind die Effekte der Sprünge des Elektrons von einer Kreisbahn Bohrs zur anderen. Heisenberg ersetzt die physikalischen Variablen durch Tabellen, in denen in der Kopfzeile die jeweilige Endbahn und in der ersten Spalte die jeweilige Ausgangsbahn eingetragen ist. Jedes durch den Schnitt einer Zeile und einer Spalte gebildete Tabellenfeld beschreibt den Sprung von einer bestimmten Umlaufbahn zu einer anderen. Heisenberg bringt die Zeit auf der Insel im Versuch zu, diese Tabellen zur Berechnung von etwas zu nutzen, das die Bohr’schen Regeln erklärt. Er schläft kaum. Es gelingt ihm nicht, die Berechnungen für das Elektron im Atom durchzuführen. Sie sind zu schwierig. Er versucht es mit einem einfacheren System: einem Pendel. In diesem vereinfachten Fall sucht er nach den Bohr’schen Regeln.

Am 7. Juni werden die Dinge allmählich klar:

 

«Als sich bei den ersten Termen wirklich der Energiesatz bestätigte [sich mit den Bohr’schen Regeln zu decken schien], geriet ich in eine gewisse Erregung, sodass ich bei den folgenden Rechnungen immer wieder Rechenfehler machte. Daher wurde es fast drei Uhr nachts, bis das endgültige Ergebnis vor mir lag. [Er] hatte sich in allen Gliedern als gültig erwiesen […]

[Und] so konnte ich an der mathematischen Widerspruchsfreiheit und Geschlossenheit der damit angedeuteten Quantenmechanik nicht mehr zweifeln. Im ersten Augenblick war ich zutiefst erschrocken. Ich hatte das Gefühl, durch die Oberfläche der atomaren Erscheinungen hindurch auf einen tief darunter liegenden Grund von merkwürdiger innerer Schönheit zu schauen, und es wurde mir fast schwindlig bei dem Gedanken, da ich nun dieser Fülle von mathematischen Strukturen nachgehen sollte, die die Natur dort unten vor mir ausgebreitet hatte.»[3]

 

Worte, die einen erschauern lassen. Durch die Oberfläche der Phänomene zeigt sich ein «Grund von merkwürdiger innerer Schönheit». Sie erinnern an die Worte, die Galileo Galilei (1564–1641/42) schrieb, als er in seinen Messungen zum Fall von Objekten entlang einer schiefen Ebene eine mathematische Regelmäßigkeit entdeckte, das erste von der Menschheit entdeckte mathematische Gesetz, das die Bewegung von Objekten auf der Erde beschreibt: «Keine Erregung ist wie die, wenn man hinter der Unordnung des Anscheins das mathematische Gesetz erblickt.»

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Am 9. Juni 1925 kehrt Heisenberg von Helgoland an seine Universität zurück: Göttingen. Er schickt eine Abschrift der Ergebnisse an seinen Freund Pauli mit dem Kommentar, es sei alles noch sehr vage und ihm unklar, aber es sehe so aus, als würden sich die Elektronen nicht mehr auf Kreisbahnen bewegen.

Am 9. Juli überreicht er eine Abschrift der Arbeit Max Born, dem Professor, bei dem er Assistent ist (nicht zu verwechseln mit Niels Bohr in Kopenhagen), mit dem Hinweis, er habe eine verrückte Arbeit verfasst und es fehle ihm der Mut, sie zur Veröffentlichung bei einer Fachzeitschrift einzureichen. Er bittet ihn, sie zu lesen und ihn zu empfehlen.

Am 25. Juli reicht Max Born Heisenbergs Arbeit bei der «Zeitschrift für Physik» ein.[4]

Intuitiv hat er die Bedeutung des von seinem jungen Assistenten vollzogenen Schritts erkannt. Er versucht die Dinge zu klären. Er zieht seinen Studenten Pascual Jordan (1902–1980) hinzu. Der soll versuchen, Ordnung in Heisenbergs seltsame Ergebnisse zu bringen.[5] Heisenberg möchte seinerseits Pauli einbeziehen, aber der ist wenig überzeugt: Ihm erscheinen Heisenbergs Ergebnisse als eine überabstrakte und abstruse mathematische Spielerei. Anfangs sind sie bei der Arbeit an der Theorie folglich nur zu dritt: Heisenberg, Born und Jordan.

Sie legen sich fieberhaft ins Zeug, worauf es ihnen nach wenigen Monaten gelingt, die gesamte formale Struktur einer neuen Mechanik zu erstellen. Sie ist ganz einfach: Die Kräfte sind dieselben wie in der klassischen Physik und ebenso die Gleichungen (plus einer[6], von der weiter hinten die Rede sein wird), aber Variable werden durch Zahlentabellen oder «Matrizen» ersetzt.

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Warum Zahlentabellen? Was wir an einem Elektron in einem Atom beobachten, ist das emittierte Licht, wenn es nach Bohrs Hypothese von einer Kreisbahn auf die andere springt. Ein Sprung betrifft so zwei Kreisbahnen: die des Ausgangs- und die des Endzustandes. Folglich lässt sich jede Beobachtung, wie erwähnt, in eine Tabelle eintragen, in der die Kopfzeile die jeweilige Endbahn und die erste Spalte die jeweilige Ausgangsbahn angibt.

Heisenbergs Idee besteht darin, sämtliche Größen, welche die Bewegung des Elektrons beschreiben, nicht mehr als Zahlen, sondern als Zahlentabellen darzustellen. Statt nur einer Position x für das Elektron liegt nun eine ganze Tabelle X möglicher Positionen vor: eine für jeden möglichen Sprung. Die Idee der neuen Theorie besteht darin, weiterhin die Gleichungen der herkömmlichen Physik zu verwenden und nur die üblichen Größen (Position, Geschwindigkeit, Energie und Umlauffrequenz …) durch diese Tabellen zu ersetzen. So werden zum Beispiel die Intensität und Frequenz des bei einem Sprung abgestrahlten Lichts in das entsprechende Feld in der Tabelle eingetragen. In der Tabelle für die Energie stehen dann nur in der Diagonale Zahlen, nämlich die Energiemengen von Bohrs Kreisbahnen.

Eine Matrix Heisenbergs: Die Zahlentabelle, die die Position des Elektrons «darstellt». Die Zahl X23 steht beispielsweise für den Sprung von der zweiten auf die dritte Kreisbahn.

Alles klar? Mitnichten. Absolutes Dunkel herrscht.

Und doch führt dieses absurde Rezept, Variable durch Tabellen auszutauschen, bei Berechnungen zu den richtigen Ergebnissen: Es nimmt genau das vorweg, was man in Experimenten beobachtet.

Zur großen Verwunderung der drei Göttinger Musketiere erhält Born noch vor Jahresende per Post den kurzen Artikel eines unbekannten jungen Engländers. Darin wird im Kern die gleiche Theorie aufgebaut, in einer mathematischen Sprache, die noch abstrakter als die der Göttinger Matrizen ist.[7] Der Absender heißt Paul Dirac (1902–1984). Heisenberg hat im Juni in England einen Vortrag gehalten und am Ende auf seine Ideen hingewiesen. Dirac saß im Publikum, war aber müde und konnte nicht folgen. Später bekam er Heisenbergs Arbeit von seinem Professor überreicht, der sie seinerseits per Post erhalten und von ihr ebenfalls nichts begriffen hatte. Dirac las sie, kam zu dem Schluss, dass sie unsinnig sei, und legte sie beiseite. Aber als er einige Wochen später auf einem Spaziergang in freier Natur über sie nachgrübelte, wurde ihm bewusst, dass Heisenbergs Tabellen Dingen ähnelten, mit denen er sich zuvor in einem Seminar auseinandergesetzt hatte. Da er sich nicht mehr genau erinnerte, musste er warten, bis am Montag die Bibliothek wieder öffnete, um an ein Buch zu kommen und seine Erinnerung aufzufrischen …[8] Von da an erstellt auch er – unabhängig – in Kürze die gleiche vollständige Theorie wie die drei Weisen aus Göttingen.

Bleibt nur noch, die neue Theorie auf das Elektron im Atom anzuwenden und zu überprüfen, ob sie tatsächlich funktioniert. Ermöglicht sie es wirklich, sämtliche Kreisbahnen Bohrs zu berechnen?

Die Berechnung erweist sich als schwierig, und es gelingt dem Trio nicht, sie zu Ende zu führen. Sie bitten Pauli[9] um Hilfe, den brillantesten (und arrogantesten). Pauli antwortet: «Das ist wahrlich eine zu schwierige Rechnung … für euch.» Binnen weniger Wochen stellt er sie mit akrobatischen Techniken fertig.[10]

Das Ergebnis ist perfekt: Die Werte, die mit Hilfe der Theorie der Matrizen von Heisenberg, Born und Jordan errechnet werden, decken sich exakt mit den von Bohr vermuteten. Bohrs seltsame Regeln für die Atome folgen dem neuen Schema. Und mehr noch. Die Theorie ermöglicht es, die Intensität des emittierten Lichts zu berechnen, was mit den Bohr’schen Regeln nicht gelang. Und auch dies bestätigen die Experimente!

Es ist ein Triumph.

Einstein schreibt Borns Ehefrau Hedi einen Brief: «Die Heisenberg-Bornschen Gedanken halten alle in Atem, das Sinnen und Denken aller theoretisch interessierten Menschen.»[11] Und in einem Brief an seinen lieben alten Freund Michele Besso (1873–1955): «Die interessanteste theoretische Arbeit, die in der letzten Zeit geleistet wurde, ist die Heisenberg-Born-Jordan-Theorie zu den Quanten-Zuständen. Es ist eine wahre Hexenrechnerei mit unendlichen Determinanten (Matrizen), welche die Stelle der kartesischen Koordinaten einnehmen.»[12]

Bohr, der Meister, wird sich Jahre später erinnern: «Damals bestand nur eine vage Hoffnung, [zu] einer Umformulierung der Theorie [zu gelangen], in der jeder ungeeignete Gebrauch der klassischen Anschauungen nach und nach eliminiert würde. Beeindruckt von der Schwierigkeit eines ähnlichen Programms empfanden wir alle größte Bewunderung für Heisenberg, als er mit kaum 23 Jahren das Ziel mit nur einem Schlag erreichte.»[13]

Außer dem vierzigjährigen Born sind Heisenberg, Jordan, Dirac und Pauli alle in den Zwanzigern. In Göttingen nennt man ihre Arbeit «Knabenphysik».

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Sechzehn Jahre später. Der Zweite Weltkrieg erschüttert Europa. Heisenberg ist inzwischen ein berühmter Physiker. Hitler hat ihm die Aufgabe übertragen, seine Erkenntnisse über das Atom zu nutzen, um eine Bombe zu bauen, die ihm den Sieg im Krieg sichern soll. Heisenberg nimmt den Zug nach Kopenhagen ins von der deutschen Wehrmacht besetzte Dänemark und besucht den alten Meister. Der Alte und der Junge reden. Sie gehen auseinander, ohne sich zu verstehen. Heisenberg wird sagen, er sei zu Bohr gegangen, um über das moralische Problem zu reden, das die Aussicht auf eine vernichtende Bombe aufwirft. Nicht alle glauben ihm. Kurz darauf wird Bohr mit seinem Einverständnis von einem englischen Kommando aus Dänemark ins Ausland entführt, nach England, wo ihn Churchill persönlich empfängt, und anschließend in die Vereinigten Staaten gebracht. Dort wird sein Wissen umgesetzt, von einer Generation junger Physiker, die dank der Quantenmechanik jetzt das Atom beherrschen. Hiroshima und Nagasaki werden zerstört, zweihunderttausend Menschen, Männer, Frauen und Kinder, sterben im Bruchteil einer Sekunde. Heute leben wir mit zigtausend Atomsprengköpfen, die auf unsere Städte zielen. Wenn jemand den Kopf verliert, kann dies zur Auslöschung des Lebens auf der Erde führen. Die tödliche Macht der «Knabenphysik» liegt vor aller Augen.

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