Die geheimste Erinnerung der Menschen - Mohamed Mbougar Sarr - E-Book

Die geheimste Erinnerung der Menschen E-Book

Mohamed Mbougar Sarr

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Beschreibung

Ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt – Mohamed Mbougar Sarrs großer Roman über die Suche nach einem verschollenen Autor

Mohamed Mbougar Sarr erzählt virtuos von der Suche nach einem verschollenen Autor: Als dem jungen Senegalesen Diégane ein verloren geglaubtes Kultbuch in die Hände fällt, stürzt er sich auf die Spur des rätselhaften Verfassers T.C. Elimane. Dieser wurde in den dreißiger Jahren als „schwarzer Rimbaud“ gefeiert, nach rassistischen Anfeindungen und einem Skandal tauchte er jedoch unter. Wer war er? Voll Suchtpotenzial und unnachahmlicher Ironie erzählt Sarr von einer labyrinthischen Reise, die drei Kontinente umspannt. Ein meisterhafter Bildungsroman, eine radikal aktuelle Auseinandersetzung mit dem komplexen Erbe des Kolonialismus und eine soghafte Kriminalgeschichte. Ein Buch, das viel wagt – und triumphiert.

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Das ist das Cover des Buches »Die geheimste Erinnerung der Menschen« von Mohamed Mbougar Sarr

Über das Buch

Ausgezeichnet mit dem Prix Goncourt — Mohamed Mbougar Sarrs großer Roman über die Suche nach einem verschollenen AutorMohamed Mbougar Sarr erzählt virtuos von der Suche nach einem verschollenen Autor: Als dem jungen Senegalesen Diégane ein verloren geglaubtes Kultbuch in die Hände fällt, stürzt er sich auf die Spur des rätselhaften Verfassers T.C. Elimane. Dieser wurde in den dreißiger Jahren als »schwarzer Rimbaud« gefeiert, nach rassistischen Anfeindungen und einem Skandal tauchte er jedoch unter. Wer war er? Voll Suchtpotenzial und unnachahmlicher Ironie erzählt Sarr von einer labyrinthischen Reise, die drei Kontinente umspannt. Ein meisterhafter Bildungsroman, eine radikal aktuelle Auseinandersetzung mit dem komplexen Erbe des Kolonialismus und eine soghafte Kriminalgeschichte. Ein Buch, das viel wagt — und triumphiert.

Mohamed Mbougar Sarr

Die geheimste Erinnerung der Menschen

Roman

Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller

Hanser

Für Yambo Ouologuem

»Über einen gewissen Zeitraum hinweg begleitet die Kritik das Werk, ehe sie entschwindet und die Leser seine Begleiter werden. Die Reise kann von sehr langer oder sehr kurzer Dauer sein. Danach sterben die Leser einer nach dem andern, und das Werk setzt einsam seinen Weg fort, obwohl sich immer wieder neue Kritiken, neue Leser seiner Reise anschließen. Dann stirbt die Kritik ein weiteres Mal, es sterben die Leser, und auf dieser nach und nach mit von Gebeinen bedeckten Straße setzt das Werk seine Reise in die Einsamkeit fort. Sich ihm zu nähern, in seinem Kielwasser zu schwimmen bedeutet den sicheren Tod, und dennoch nähern sich ihm unermüdlich andere Kritiken, andere Leser, die allesamt von Zeit und Geschwindigkeit verschlungen werden. Am Ende reist das Werk in absoluter Einsamkeit durch die unendlichen Weiten. Und eines Tages stirbt es, so wie alle Dinge sterben, so wie die Sonne vergeht, die Erde, das Sonnensystem und die Galaxien und noch die geheimste Erinnerung der Menschen.«

Roberto Bolaño, Die wilden Detektive

Buch Eins

Erster Teil

Das Netz der Spinnenmutter

27. August 2018

Eines zumindest kann man über einen Schriftsteller und sein Werk mit Gewissheit sagen: Beide gehen zusammen durch das denkbar vollkommenste Labyrinth, ein langer Rundweg, auf dem ihr Ziel und ihr Ausgangspunkt ineinander übergehen: die Einsamkeit.

Ich reise aus Amsterdam ab. Trotz allem, was ich dort erfahren habe, weiß ich noch immer nicht, ob ich Elimane nun besser kenne oder ob das Geheimnis um ihn undurchdringlicher geworden ist. Ich könnte mich an dieser Stelle auf das Paradox jedes Wissens berufen: Je mehr wir über einen kleinen Teil der Welt erfahren, desto eher erkennen wir, wie unermesslich das Unbekannte und unsere Unwissenheit sind; diese Gleichung würde meine Gefühle gegenüber Elimane jedoch nur unvollständig wiedergeben. Hinsichtlich der Möglichkeit, eine menschliche Seele überhaupt zu kennen, erfordert sein Fall eine radikalere, das heißt pessimistischere Formel. Seine Seele ähnelt einem dunklen Stern, der alles, was sich ihm nähert, anzieht und verschlingt. Man vertieft sich eine Zeitlang in sein Leben, und hat man sich dann ernst und resigniert und alt, vielleicht sogar verzweifelt, wieder aufgerichtet, murmelt man: Über die menschliche Seele kann man nichts wissen, da gibt es nichts zu wissen.

Elimane ist in seiner tiefsten Nacht verschwunden. Die Leichtigkeit, mit der er sich von der Sonne verabschiedet hat, fasziniert mich. Die Himmelfahrt seines Schattens fasziniert mich. Das Geheimnis seiner Bestimmung lässt mir keine Ruhe. Ich weiß nicht, warum er geschwiegen hat, obwohl er noch so viel zu sagen hatte. Ich leide vor allem darunter, dass ich es ihm nicht nachmachen kann. Die Begegnung mit einem Schweiger, einem Menschen, der wirklich schweigt, stellt immer den Sinn — die Notwendigkeit — des eigenen Sprechens in Frage, weil man plötzlich nicht mehr weiß, ob es nicht ein nervtötendes Plappern ist, Sprachschlamm.

Ich halte jetzt die Klappe und lege dich beiseite, Tagebuch. Die Geschichten der Spinnenmutter haben mich erschöpft. Amsterdam hat mich ausgelaugt. Ich begebe mich auf den Weg der Einsamkeit.

I

T. C. Elimane ermöglichte es den afrikanischen Autoren meiner Generation, die man bald wohl nicht mehr als jung bezeichnen kann, sich in feierlichen und blutigen literarischen Wettkämpfen gegenseitig zu massakrieren. Sein Buch hatte etwas von einer Kathedrale und einer Arena; wir traten ein wie in das Grabmal eines Gottes, und am Ende knieten wir in unserem Blut, das als Trankopfer für das Meisterwerk vergossen wurde. Eine einzige Seite von ihm genügte, um uns die Gewissheit zu geben, dass wir einen Schriftsteller vor uns hatten, ein Hapaxlegomenon, einen dieser Sterne, die nur einmal am Himmel der Literatur erscheinen.

Ich erinnere mich an eines der vielen Abendessen, die wir in Gesellschaft seines Buchs verbrachten. Béatrice, die sinnliche und willensstarke Béatrice Nanga, von der ich hoffte, dass sie mich eines Tages zwischen ihren Brüsten ersticken würde, hatte mitten im Streitgespräch ihre Krallen ausgefahren und gesagt, nur die Werke echter Schriftsteller verdienten es, dass man bis aufs Messer um sie streite, nur sie erhitzten das Blut wie ein edler Schnaps, und dass wir Schande über diese Werke brächten, wenn wir der leidenschaftlichen Auseinandersetzung, die sie erforderten, auswichen, um es uns in einem rückgratlosen Konsens bequem zu machen. Ein echter Schriftsteller, hatte sie hinzugefügt, löse bei echten Lesern, die sich immer im Krieg befänden, tödliche Debatten aus. Wenn ihr nicht bereit seid, für seinen Balg in die Arena zu treten und zu kämpfen wie beim Buzkaschi, dann haut ab, ihr werdet in eurer lauwarmen Pisse sterben, die ihr für erstklassiges Bier haltet: Ihr seid alles, nur keine Leser, und erst recht keine Schriftsteller.

Ich hatte Béatrice Nanga bei ihrer feurigen Attacke unterstützt. T. C. Elimane war kein Klassiker, sondern Kult. Die literarische Legendenbildung erfolgt am Spieltisch. Elimane hatte sich dort hingesetzt und die drei stärksten Trümpfe ausgespielt, die man haben konnte: Zuerst hat er sich einen Namen mit geheimnisvollen Initialen zugelegt; dann hat er nur ein einziges Buch geschrieben; und zuletzt ist er spurlos verschwunden. Ja, es lohnte sich, die eigene Nase aufs Spiel zu setzen, um seinen Balg an sich zu reißen.

Man konnte zwar bezweifeln, dass es einen Mann namens T. C. Elimane jemals wirklich gab, oder sich fragen, ob es sich dabei nicht um ein Pseudonym handelte, das sich ein Autor ausgedacht hatte, um den Literaturbetrieb zum Narren zu halten oder ihm zu entkommen, aber die mächtige Wahrheit seines Buchs konnte niemand in Frage stellen: Schlug man es zu, strömte einem das Leben wieder gewaltig und rein in die Seele.

Ob Homer tatsächlich gelebt hat, bleibt eine spannende Frage. Letzten Endes ändert sie jedoch wenig an der Begeisterung des Lesers, denn wer oder was auch immer Homer war, der Leser ist ihm dankbar dafür, dass er die Ilias oder die Odyssee geschrieben hat. Ebenso bedeutungslos ist es, welche Person, Mystifikation oder Legende hinter T. C. Elimane steckte, denn diesem Namen verdankten wir das Werk, das unseren Blick auf die Literatur und vielleicht auch auf das Leben verändert hat. Sein Titel lautete: Das Labyrinth des Unmenschlichen, und wir suchten seine Seiten auf wie Manatis die Quelle, um zu trinken.

Am Anfang gab es eine Prophezeiung und es gab einen König; und die Prophezeiung verhieß dem König, die Erde schenke ihm die absolute Macht, doch sie verlange dafür die Asche der Alten, und der König willigte ein; er begann sogleich, die Ältesten in seinem Königreich zu verbrennen, dann verstreute er ihre Überreste um seinen Palast, wo bald ein Wald wuchs, ein schauriger Wald, der das Labyrinth des Unmenschlichen genannt wurde.

II

Wie haben wir uns gefunden, dieses Buch und ich? Durch Zufall, wie immer. Doch ich vergesse nicht, was die Spinnenmutter mir gesagt hat: Ein Zufall ist immer nur ein Schicksal, das man nicht kennt. Es ist noch nicht lange her, dass ich Das Labyrinth des Unmenschlichen gelesen habe, etwas über einen Monat. Dennoch wäre es falsch zu sagen, Elimane sei mir vor dieser Lektüre völlig unbekannt gewesen: Seinen Namen kannte ich schon auf dem Gymnasium. Er stand im Handbuch der schwarzafrikanischen Literatur, einer dieser unvergänglichen Anthologien, die den Schülern im französischsprachigen Afrika seit der Kolonialzeit als literaturgeschichtlicher Leitfaden dienten.

Es war 2008, meinem ersten Jahr in einem Militärinternat im Norden Senegals. Ich begann mich für Literatur zu interessieren und hegte den Jugendtraum, Dichter zu werden; ein ganz normales Ziel, wenn man gerade die größten unter ihnen entdeckt hatte und in einem Land lebte, in dem noch immer der lästige Geist Léopold Sédar Senghors herumspukte; einem Land also, in dem das Gedicht nach wie vor zu den zuverlässigsten Trümpfen im Spiel der Verführungen zählte. Es war die Zeit, in der man Mädchen mit auswendig gelernten oder selbst verfassten Vierzeilern anbaggern konnte.

Daher verlor ich mich in Lyrikanthologien, in Wörterbüchern für Synonyme, für seltene Wörter, für Reime. Ich reimte auf Biegen und Brechen, holprige phaläkische Verse voller »überreifer Tränen«, »dehiszenten Himmeln« und »hyalinen Morgenröten«. Ich imitierte, parodierte und plagiierte. Ich blätterte frenetisch in meinem Handbuch der schwarzafrikanischen Literatur. Und dort stieß ich unter den Klassikern der Schwarzen Literatur, zwischen Tchichellé Tchivéla und Tchicaya U Tam’si, zum ersten Mal auf den mir unbekannten Namen T. C. Elimane. Der ihm gewidmete Beitrag in der Anthologie war so einzigartig, dass ich bei der Lektüre verweilte. Darin heißt es (ich habe das Lehrbuch behalten):

T. C. Elimane wurde im Senegal geboren. Er erhielt ein Stipendium, ging nach Paris und veröffentlichte dort 1938 ein Buch, dem das Schicksal einer tragischen Einzigartigkeit beschieden war: Das Labyrinth des Unmenschlichen.

Was für ein Buch! Das Meisterwerk eines jungen Schwarzafrikaners! Das hatte es in Frankreich noch nie gegeben! Das Buch löste eine jener literarischen »Querelles« aus, wie man sie nur in diesem Land kennt und so leidenschaftlich ausficht. Das Labyrinth des Unmenschlichen hatte ebenso viele Befürworter wie Kritiker. Doch als die Gerüchteküche dem Autor und seinem Buch prestigeträchtige Preise verhieß, setzte eine finstere Literaturaffäre dem Höhenflug ein Ende. Das Werk wurde geächtet, der junge Autor verschwand von der Bildfläche.

Dann brach der Krieg aus. Seit Ende 1938 hat niemand mehr etwas von diesem T. C. Elimane gehört. Sein Schicksal bleibt rätselhaft, trotz interessanter Thesen über seinen Verbleib (gut nachzulesen beispielsweise in dem kurzen Bericht der Journalistin B. Bollème, Wer war der schwarze Rimbaud wirklich? Die Odyssee eines Phantoms, Éditions de la Sonde, 1948). Von der Kontroverse um das Buch überrollt, nahm der Verlag es aus dem Handel und vernichtete alle seine Bestände. Das Labyrinth des Unmenschlichen wurde nie wieder neu aufgelegt. Heute ist das Buch unauffindbar.

Noch einmal: Der frühreife Autor hatte Talent. Vielleicht auch Genie. Zu bedauern ist nur, dass er es ganz den Bildern der Verzweiflung gewidmet hatte: Sein Buch war zu pessimistisch und nährte die koloniale Ansicht eines finsteren Afrikas, eines Afrikas der Gewalt und der Barbarei. Ein Kontinent, der schon so sehr gelitten hatte, noch immer litt und weiter leiden würde, durfte von seinen Schriftstellern zu Recht erwarten, dass sie ein positiveres Bild von ihm zeichneten.

Diese Zeilen stießen mich sogleich auf Elimanes Staubspur oder, besser gesagt, auf die Spur dieses Phantoms. Ich verbrachte die nächsten Wochen damit, seinem Schicksal nachzuforschen, aber das Internet lieferte nichts, was ich nicht schon dem Handbuch entnommen hätte. Es gab kein einziges Foto von Elimane. Die wenigen Websites, die ihn erwähnten, taten dies nur in Andeutungen, sodass mir bald klar wurde, dass sie auch nicht mehr wussten als ich. Fast alle sprachen von einem »schändlichen afrikanischen Autor der Zwischenkriegszeit«, ohne darzulegen, worin genau seine Schande bestand. Auch mir gelang es nicht, mehr über das Werk zu erfahren. Ich fand keinen einzigen Bericht, der sich mit dem Buchinhalt beschäftigte, keine Studie oder Dissertation, die ihm gewidmet war.

Ich sprach mit einem Freund meines Vaters darüber, der an der Universität afrikanische Literatur unterrichtete. Er meinte, Elimanes Werk habe aufgrund seines kurzen Lebens in der französischen Literatur (er beharrte ausdrücklich auf der »französischen«) im Senegal nicht entdeckt werden können. »Es ist das Werk eines Eunuchengottes. Manchmal war vom Labyrinth des Unmenschlichen die Rede wie von einem heiligen Buch. Die Wahrheit ist, dass es keine Religion hervorgebracht hat. Niemand glaubt mehr an dieses Buch. Vielleicht hat auch nie jemand daran geglaubt.«

Die Umstände in diesem Militärinternat irgendwo im Busch schränkten meine Nachforschungen ein. Ich beendete sie und fand mich mit der einfachen und grausamen Wahrheit ab, dass Elimane aus dem literarischen Gedächtnis gelöscht worden war, aber auch, wie es schien, aus allen menschlichen Erinnerungen, einschließlich der seiner Landsleute (bekanntlich gilt der Prophet nichts im eigenen Land). Das Labyrinth des Unmenschlichen gehörte zur anderen Literaturgeschichte (die vielleicht die wahre Geschichte der Literatur ist): zu der jener Bücher, die in einem bestimmten Zeitraum verloren gegangen sind, die nicht einmal verfemt sind, sondern einfach nur vergessen wurden, und deren Leichen, Gebeine vergessen in Gefängnissen ohne Kerkermeister auf dem Boden herumliegen und kalte Spuren in der endlosen Stille markieren.

Ich wandte mich von dieser traurigen Geschichte ab und schrieb wieder Liebesgedichte mit hinkenden Versen.

Alles in allem war meine einzige große Entdeckung in einem obskuren Webforum der lange erste Satz aus dem Labyrinth des Unmenschlichen, als wäre er der einzige Überlebende der Auslöschung dieses Werks vor siebzig Jahren: Am Anfang gab es eine Prophezeiung und es gab einen König; und die Prophezeiung verhieß dem König, die Erde schenke ihm die absolute Macht, doch sie verlange dafür die Asche der Alten, usw.

III

Hier nun, wie Das Labyrinth des Unmenschlichen in mein Leben zurückkam.

Nach meiner ersten Begegnung mit T. C. Elimane auf dem Gymnasium verging einige Zeit, ohne dass ich noch einmal mit ihm zu tun hatte. Natürlich dachte ich bisweilen an ihn zurück, aber nur ab und zu und immer etwas traurig, wie man sich an unabgeschlossene oder unabschließbare Geschichten erinnert — an einen alten Freund, den man verloren hat, ein Manuskript, das bei einem Brand zerstört wurde, eine Liebe, der man entsagt hat aus Angst, am Ende glücklich zu sein. Ich machte mein Abitur, verließ den Senegal und begann mein Studium in Paris.

Dort öffnete ich kurz die Akte Elimane, aber ohne Erfolg: Selbst in den Antiquariaten, deren Bestände man mir gepriesen hatte, blieb das Buch unauffindbar. Zudem erfuhr ich, dass man das Büchlein von B. Bollème, Wer war der schwarze Rimbaud wirklich?, seit Mitte der 1970er Jahre nicht mehr neu aufgelegt hatte. Mein Studium und mein Leben als Immigrant entfernten mich bald vom Labyrinth des Unmenschlichen, diesem Phantombuch, dessen Autor offenbar nur das Aufleuchten eines Streichholzes in der tiefen literarischen Nacht gewesen war. Und allmählich vergaß ich beide.

Mein Studium in Frankreich mündete in eine literaturwissenschaftliche Doktorarbeit, die ich ziemlich schnell als Verbannung aus dem Eden des Schriftstellers erlebte. Ich wurde ein fauler Doktorand, vom rühmlichen akademischen Weg bald abgelenkt durch etwas, das keine vorübergehende Versuchung mehr war, sondern ein ebenso anmaßender wie fester Wunsch: Ich wollte Romanautor werden. Man warnte mich: Vielleicht wirst du mit der Literatur nie Erfolg haben; vielleicht endest du verbittert! enttäuscht! ausgegrenzt! gescheitert! Schon möglich, sagte ich. Das unentwegte »man« blieb beharrlich: Du könntest im Selbstmord enden! Vielleicht, wo-möglich; aber das Leben, fügte ich hinzu, ist nichts anderes als dieser Bindestrich. Ich versuche, auf diesem dünnen Bindestrich voranzugehen. Und sollte er unter meinem Gewicht nachgeben, sähe ich zumindest, was überlebt hat oder was unter ihm krepiert ist. Und so legte ich dem »man« nahe, sich zu verpissen. Ich sagte ihm: In der Literatur ist man nie erfolgreich, also nimm den Erfolgszug und steck ihn dir sonst wo hin.

Ich schrieb einen kurzen Roman, Anatomie der Leere, und veröffentlichte ihn in einem Kleinverlag. Das Buch war ein Flop (neunundsiebzig verkaufte Exemplare in den ersten beiden Monaten einschließlich derer, die ich aus eigener Tasche bezahlt hatte). Immerhin haben eintausendeinhundertzweiundachtzig Menschen den Facebook-Post geliked, mit dem ich die bevorstehende Veröffentlichung meines Buchs angekündigt hatte. Neunhundertneunzehn schrieben einen Kommentar dazu. »Herzlichen Glückwunsch!«, »Stolz!«, »Proud of you!«, »Congrats bro!«, »Bravo!«, »Inspirierend!« (und deprimierend für mich), »Danke, Bruder, du machst uns stolz«, »Freu mich aufs Lesen, Inschallah!«, »Wann kommt es raus?« (dabei hatte ich das Erscheinungsdatum in meinem Post genannt), »Wo kann man es bekommen?« (stand ebenfalls im Post), »Wie viel kostet es?« (dito), »Interessanter Titel!«, »Du bist ein Vorbild für unsere gesamte Jugend!«, »Wovon handelt es?« (diese Frage verkörpert das abgrundtief Böse in der Literatur), »Kann man es vorbestellen?«, »Gibt’s ein PDF?« usw. Neunundsiebzig Exemplare.

Nach der Veröffentlichung musste ich vier oder fünf Monate warten, bis es aus dem Fegefeuer der Anonymität geholt wurde. Ein einflussreicher Journalist, Spezialist für die sogenannten frankophonen Literaturen, besprach das Buch in Le Monde (Afrika) mit 1200 Anschlägen, Leerzeichen mitgerechnet. Er äußerte einige Vorbehalte gegen meinen Stil, aber im Schlusssatz verpasste er mir den fürchterlichen, auch gefährlichen, ja, sogar teuflischen Stempel einer »kommenden Verheißung der frankophonen afrikanischen Literatur«. Zwar blieb mir das schreckliche und tödliche »ein aufsteigender Stern« erspart, dennoch war sein Lob nichts weniger als vernichtend. Immerhin brachte es mir eine gewisse Aufmerksamkeit in den literarischen Kreisen der afrikanischen Diaspora in Paris ein — dem Ghetto, wie böse Zungen, darunter ich, sie liebevoll nannten. Von nun an wussten selbst diejenigen, die noch nichts von mir gelesen hatten und wahrscheinlich auch nie lesen würden, dank der Kurzrezension in Le Monde Afrique, dass ich der x-te junge Debütant war, der vor Talent nur so triefte. Für die Festivals, Lesungen, Veranstaltungen und Buchmessen, zu denen man mich einlud, war ich der geborene Teilnehmer jener unverwüstlichen Gesprächsrunden, die unter dem Titel »Neue Stimmen« oder »Neue Avantgarde« oder »Neue Literatur« oder was auch immer an angeblich Neuem stattfanden, in Sachen Literatur tatsächlich aber schon sehr alt und abgestanden wirkten. Dieses kleine Echo erreichte meine Heimat, den Senegal, wo man sich für mich zu interessieren begann, da Paris es getan hatte, was als Gütesiegel galt. Von diesem Moment an wurde Anatomie der Leere viel beachtet (aber nicht gelesen).

Trotz alledem war ich unzufrieden, vielleicht sogar unglücklich mit dem Roman. Bald schämte ich mich für Anatomie der Leere — das ich aus Gründen geschrieben hatte, auf die ich später noch zurückkommen werde — und begann, wie um mich von ihm zu lösen oder es zu begraben, von einem anderen großen Roman zu träumen, der anspruchsvoll und richtungsweisend sein sollte. Ich musste ihn nur noch schreiben.

IV

Es ging also darum, mein Opus magnum zu schreiben, es war Juli, und ich versuchte mich schon seit einem Monat daran, als ich mich, unfähig, den ersten Satz zu finden, eines Nachts ins Getümmel der Pariser Straßen flüchtete. Auf ein Wunder hoffend, schlenderte ich umher. Es zeigte sich mir hinter der Glasfront einer Bar, wo ich Marème Siga D. erkannte, eine senegalesische Schriftstellerin um die sechzig, die sich für manche wegen der Skandale um jedes ihrer Bücher in eine bösartige Pythia, einen Ghul oder glattweg einen Sukkubus verwandelt hatte. In meinen Augen dagegen war sie ein Engel, der schwarze Engel der senegalesischen Literatur, die ohne diesen Engel eine todlangweilige Kloake wäre, in der Bücher wie weiche Kothaufen treiben, die unvermeidlich mit Schilderungen einer altbekannten Sonne beginnen, deren »glühende Strahlen durch das Laubwerk fallen«, oder mit dem Blick auf das universelle Romangesicht mit seinen »vorspringenden« Wangenknochen, seiner »Adlernase« (oder »platten« Nase), seiner »gewölbten« oder »vorstehenden« Stirn.

Siga D. rettete die jüngste senegalesische Literaturproduktion vor ihrer verheerenden Einbalsamierung in Klischees und blutleere Phrasen, deren Nerv abgetötet ist wie der von alten, verfaulten Zähnen. Sie hatte den Senegal verlassen, um anderswo an einem Werk zu schreiben, dessen einzige Obszönität darin bestand, radikal ehrlich zu sein. Das hatte ihr einen gewissen Kultstatus eingebracht — und einige Gerichtsverfahren, zu denen sie immer ohne Anwalt ging. Sie verlor oft; doch was ich zu sagen habe, beteuerte sie, steckt dadrin, in meinem Leben, also werde ich es weiterhin aufschreiben und auf eure schäbigen Angriffe scheißen.

Ich erkannte also Siga D. Ich ging in die Bar und setzte mich neben sie. Außer uns waren noch drei oder vier andere Gäste im Raum. Der Rest schnappte frische Luft auf der Terrasse. Siga D. saß allein an ihrem Tisch, reglos. Sie sah aus wie eine Löwin, die ins hohe Gras geduckt auf Beute lauert und mit ihren großen, gelben Augen die Steppe in Stücke reißt. Die sichtlich frostige Haltung passte nicht zu dem flammenden Werk, an das ich mich erinnerte — Seiten aus Feuerstein und Diamant voll prächtiger, peleanischer Eruptionen —, und ließ mich einen Moment lang zweifeln, ob wirklich diese so unerschütterliche Frau es geschaffen hatte.

Genau in dem Moment hob Siga D. ihren Arm, um den Ärmel ihres Grand Boubou hochzuziehen. Dabei klaffte er auf, und ich erhaschte für ein paar Sekunden einen Blick auf ihre Brüste. Sie zeichneten sich ab wie am Ende eines Tunnels oder eines Wartesaals, eines Wartesaals des Begehrens. Siga D. hat unvergessliche Texte über sie geschrieben, Blasons, die der glühendsten Anthologien erotischer Texte würdig sind. Ich hatte also eine Brust vor mir, die ein literarisches Vermächtnis war. Viele Leser hatten sie im Geist gesehen, und viele von ihnen hatten sich in handfesten Fantasien über ihre Rundungen verloren. Ich frischte meine eigenen Erinnerungen auf. Der Arm fiel herunter, und die Brust sank ins Verborgene zurück.

Ich nahm all meinen Mut zusammen, leerte mein Glas in einem Zug und sprach Siga D. an. Diégane Latyr Faye, stellte ich mich vor und erzählte ihr, wie sehr ich ihr Werk liebte, und von meiner Aufregung, sie zu sehen, von der Faszination, die von ihrer Persönlichkeit ausging, von meiner Ungeduld, ihr nächstes Buch zu lesen, kurz, ich überschüttete sie mit der ganzen Soße an üblichen Lobeshymnen, die ihre Bewunderer wahrscheinlich bei jedem Treffen über ihr ausgossen, und als sich in ihrem Gesicht die genervte Höflichkeit von Leuten abzeichnete, die einen Eindringling hinausbefördern wollen, ohne es ihm ins Gesicht sagen zu müssen, setzte ich alles auf eine Karte und sprach sie auf ihren Busen an, den ich gerade gesehen hatte und gerne noch einmal sehen wollte.

Sie kniff überrascht die Augen zusammen, ein Spalt öffnete sich, und ich stürzte mich hinein: »Diese Brust hat mich so sehr zum Träumen gebracht, Madame Siga.« »Gefällt dir, was du von ihr gesehen hast?«, fragte sie ruhig. »Ja, es gefällt mir sehr, und ich will mehr.« »Mehr?« »Mehr.« »Warum?« »Weil ich einen Steifen habe.« »Ernsthaft, Diégane Latyr Faye? Du brauchst nicht viel, junger Mann!« »Ich weiß, Madame Siga, aber wenn Sie wüssten, wie lange mich Ihre Brüste schon verfolgen.« »Hör auf, mich zu siezen, hör auf, mich Madame Siga zu nennen, das ist ja lächerlich, und hör auf, einen Ständer zu haben, lass die Luft raus, mënn na la jurr; ich könnte deine Mutter sein, Diégane.« »Kone nampal ma, dann leg mich an deine Brust wie eine Mutter«, erwiderte ich wie zu Teenagerzeiten, als die Mädchen meine Annäherungsversuche zurückwiesen (oder mit meinen phaläkischen Versen nichts anfangen konnten), da sie meinten, sie könnten meine Mutter sein, nur weil sie vier oder fünf Jahre älter waren als ich.

Siga D. sah mich eine Weile an, und zum ersten Mal lächelte sie.

»Ich sehe, Monsieur ist schlagfertig. Monsieur ist nicht auf den Mund gefallen. Du willst, dass ich dich stille? Na gut. Komm mit. Mein Hotel ist nur ein paar Minuten von hier. Monsieur bekommt die Brust, Inschallah.«

Sie wollte schon aufstehen, blieb dann aber sitzen: »Es sei denn, du möchtest lieber hier und jetzt gestillt werden? Nampal?«

Sie konkretisierte den Vorschlag und zog sogleich den Ausschnitt des weiten Boubou über ihren Busen herunter, sodass aus dem offenen Mieder eine schwere Brust sprang, die linke. »Willst du?«, fragte Siga D. »Hier hast du sie.« Die große Medaille des Warzenhofs leuchtete dunkelbraun, eine Insel inmitten eines Ozeans von lauter helleren Brauntönen. Den Kopf nach rechts geneigt, sah Siga D. mich ungerührt an, als scherte sie sich um nichts. Obwohl sie mit der ins Auge springenden und ein wenig vulgären Wirkung hätte spielen können, zeigte sie bei dieser obszönen Lust eine starke Zurückhaltung, die ich bald sogar sehr elegant fand. »Wie sieht’s aus? Willst du oder willst du nicht?« Sie griff sich an die Brust. Knetete sie langsam. Nach ein paar Sekunden erwiderte ich, dass ich es vorziehen würde, in der intimen Atmosphäre des Hotels gestillt zu werden. »Schade«, antwortete sie beunruhigend sanft und steckte ihre Brust weg; dann stand sie auf. Der Duft von Myrrhe und Zimt erfüllte die Luft. Ich zahlte. Und folgte ihr.

V

Wir kamen in das Hotel, in dem sie für die paar Tage abgestiegen war, die sie in Paris verbrachte, um an einem Kolloquium zu ihrem Werk teilzunehmen. »Aber das ist meine letzte Nacht hier«, sagte sie zu mir, während sie den Aufzug kommen ließ. »Morgen fahre ich zurück nach Hause, nach Amsterdam. Es gilt also heute Abend oder nie, Diégane Latyr Faye.«

Mit einem schrecklichen Lächeln auf den Lippen betrat sie den Fahrstuhl. Unser Aufstieg in den dreizehnten Stock war mein schmerzhafter Absturz in ein Debakel. Siga D. hatte mit ihrem Körper alles erlebt, gemacht, ausprobiert: Was konnte ich ihr da noch bieten? Wohin sie mitnehmen? Was mir ausdenken für sie? Womit spielen? Philosophen, die die unerschöpflichen Kräfte der erotischen Erfindungsgabe rühmen, haben es noch nicht mit Siga D. zu tun gehabt, die meine Erfahrungen als Liebhaber allein durch ihre Anwesenheit auslöschte. Was sollte ich tun? Schon im vierten Stock. Sie wird nichts spüren, sie wird nicht einmal merken, wie du eindringst, dein Körper wird an ihrem zerfließen, er wird davonfließen und von den Laken, der Matratze aufgesaugt werden. Siebter Stock. In ihr wirst du nicht nur untergehen: Du wirst verschwinden, dich auflösen, zerfallen, sie wird dich a.to.mi.sie.ren, und du wirst im Clinamen der antiken Materialisten landen, in dem von Leukippos, von Demokrit von Abdera (dem philosophisch nur Empedokles gleichkam), und nicht zu vergessen, in dem von Lukrez, der in De rerum natura den gesegneten Genießer Epikur so großmütig kommentiert hat. Zehnter Stock. Langeweile, tödliche Langeweile, mit nichts anderem kannst du aufwarten.

Es war heiß, ich war nass von kaltem Schweiß, und Siga D. konnte mich mit einem Fingerschnippen, einem Atemhauch wegblasen wie ein zartes Ährchen. Um neuen Mut zu schöpfen, dachte ich daran, wie ich auf Rabelais’sche Weise an der literarischen Brust liegen würde. Doch statt mir zu helfen, versetzte mir dieses Bild einen noch größeren Schlag: Meine Hände erschienen mir lächerlich hilflos und klein vor den Brüsten der Schriftstellerin, untaugliche Hände, des Begehrens unfähig, Stümpfe. Was meine Zunge betraf, so dachte ich nicht einmal daran, sie einzusetzen: Die Nippel der Dichtung hatten sie bereits verplombt. Ich war erledigt.

Dreizehnter Stock. Die Fahrstuhltür öffnete sich, Siga D. ging hinaus, ohne mich zu beachten, bog links ab, und einige Sekunden lang hörte ich ihre Schritte nicht mehr, die vom dicken Teppichboden des Korridors geschluckt wurden; kurz darauf knackte ein Schloss, das durch eine Magnetkarte entriegelt worden war, dann war es wieder still. Ich war im Fahrstuhl zurückgeblieben, wo ich endlich den Lüftchen freien Lauf ließ, die ich der Würde wegen seit dem Erdgeschoss zurückgehalten hatte. Sollte ich vielleicht Reißaus nehmen? Ich zögerte. Es wäre nicht einmal eine Flucht gewesen, denn wir wussten beide, dass ich schon verloren hatte, bevor ich überhaupt in die Schlacht gezogen war. Hätte ich mich aus dem Staub gemacht, wäre es nur das traurige, aber vorhersehbare Ende meines Debakels gewesen, die Krönung meiner unvermeidlichen Niederlage. Der Fahrstuhl wurde zum Empfang gerufen. Die Tür begann sich zu schließen. In letzter Sekunde verhinderte ich, dass sie zuschnappte, und sprang hinaus, weniger von Mut als von dem dunklen Wunsch getrieben, ein totales Fiasko zu erleben.

Ich ging also den Korridor entlang. Eine Tür war offen geblieben. Aus dem Türspalt strömte, ob als Einladung oder Warnung, der bekannte Geruch nach Myrrhe und Zimt. Ich stieß sie nicht auf; einfältig und reglos blieb ich davor stehen, als wäre es der Eingang zur Unterwelt. Schließlich ging das Licht im Korridor aus. Ich machte einen Schritt vorwärts, es ging wieder an, und ich trat über die Schwelle. Ein luxuriöser und unpersönlicher, in Pastelltönen gehaltener Raum empfing mich. Durch eine große Fensterfront, die auf einen Balkon hinausging, sah ich einen Moment Paris glitzern. Wasser plätscherte: Siga D. duschte. Ich atmete auf: eine kleine Verschnaufpause vor der Stunde der Wahrheit.

Das unglaublich große Bett erstaunte mich dann weniger als das kitschige Gemälde, das über ihm prunkte. Kein Künstler sollte sein Werk überleben, nachdem er die Welt so oberflächlich verschönert, das heißt entstellt hat, dachte ich. Dann wandte ich mich ab, ließ mich auf das riesige Bett fallen und schickte meine Gedanken zur Decke hoch. Mehrere Szenarien, wie es weitergehen könnte, schienen mir möglich. Alle endeten gleich: Ich stieg über das Balkongeländer und sprang unter dem gnadenlosen Lachen von Siga D., die nichts gespürt hatte, in die Tiefe. Nach einer Viertelstunde kam sie aus der Dusche. Sie hatte ein weißes Handtuch um ihre Brust geschlungen, das ihr bis zu den Oberschenkeln reichte. Ein weiteres hatte sie wie den Turban einer Sultanin um ihr Haupt gewickelt.

»Ach, du bist noch da.«

An ihrem Tonfall konnte ich nicht erkennen, ob es sich um eine ungerührte Feststellung, eine überraschende Entdeckung, eine vernichtende ironische Bemerkung oder gar um eine Frage handelte. Hinter jeder dieser Optionen konnten schreckliche Andeutungen stecken. Ich antwortete nichts. Sie lächelte. Ich beobachtete, wie sie zwischen Schlafzimmer und Badezimmer hin und her ging. Siga D. hatte den Körper einer reifen Frau, die weder vor der Lust noch vor dem Leid jemals zurückgeschreckt war. Eine von Schmerz durchwirkte Schönheit; ein schamloser, erfahrener, geächteter Körper; ein Körper, der nichts Grobes an sich hatte, den die Grobheit der Welt aber nicht erschreckte. Man musste ihn nur richtig sehen, um ihn zu erkennen. Ich betrachtete Siga D. und wusste Bescheid: Vor mir stand kein menschliches Wesen, es war eine Spinne, die Spinnenmutter, in deren gewaltigem Werk Milliarden von Fäden aus Seide, aber auch aus Stahl und vielleicht aus Blut ineinander verschlungen waren, und ich war eine Fliege, die sich in diesem Netz verfangen hatte, eine fette, grün schillernde Fliege, gefesselt von Siga D., gefangen im Gespinst und in der Dichte ihrer Leben.

Es vergingen jene langen Minuten, in denen manche Frauen nach dem Duschen tausenderlei Dinge tun, die von größter Wichtigkeit für sie zu sein scheinen, ohne dass man genau wüsste, was. Am Ende setzte sie sich, immer noch nur mit ihrem Handtuch bekleidet, vor mir auf einen Sessel. Das Handtuch wanderte nach oben, und ich sah ihren Oberschenkelansatz, dann ihre Hüften und schließlich den Schamhügel. Ich versuchte gar nicht erst wegzuschauen und starrte einen Moment lang auf ihr Schamhaar. Suchte nach ihrem verborgenen Auge. Sie schlug die Beine übereinander, und auf einmal verblasste die Erinnerung an Sharon Stone in meinem Gedächtnis.

»Ich wette, du bist Schriftsteller. Oder angehender Schriftsteller. Wundere dich nicht: Ich habe gelernt, Leute deines Schlags mit einem Blick zu erkennen. Sie betrachten die Dinge, als bärge jedes ein tiefes Geheimnis. Sie schauen das Geschlecht einer Frau an und vermuten in ihm den Schlüssel zu ihrem Geheimnis. Sie ästhetisieren. Aber eine Muschi ist nur eine Muschi. Eure lyrischen Ergüsse oder eure Mystik braucht es nicht, wenn ihr eure Blicke darin versenkt. Man kann nicht gleichzeitig den Augenblick erleben und ihn beschreiben.«

»Und ob. Selbstverständlich kann man das. Als Schriftsteller zu leben, ist doch nichts anderes. Jeden Moment des Lebens in Schreiben verwandeln. Alles mit den Augen eines Schriftstellers sehen und …«

»Du irrst dich. Typen wie du begehen alle denselben Irrtum. Ihr meint, die Literatur könne das Leben korrigieren. Oder vervollständigen. Oder ersetzen. Das ist falsch. Schriftsteller, und ich kannte viele, gehörten schon immer zu den schlechtesten Liebhabern, denen zu begegnen mir vergönnt war. Und weißt du warum? Wenn sie mit dir schlafen, denken sie bereits an die Szene, in der sie diese Erfahrung verarbeiten. Jede ihrer Liebkosungen ist verdorben von dem, was ihre Vorstellungskraft daraus macht oder machen wird, jeder Stoß ihrer Lenden wird von einem Satz geschwächt. Wenn ich während des Liebesspiels mit ihnen rede, höre ich beinahe ihr ›murmelte sie‹. Sie leben in Kapiteln. Beginnen ihre Sätze mit Anführungsstrichen. Als het erop aankomt — das ist Niederländisch und heißt so viel wie ›wenn es drauf ankommt‹ —, sind Schriftsteller deines Schlages in ihren Fiktionen gefangen. Ihr seid rund um die Uhr Erzähler. Was zählt, ist das Leben. Das Werk kommt erst danach. Die beiden sind nicht zu verwechseln. Niemals.«

Interessante und fragwürdige Theorie, doch ich hörte nicht mehr zu. Das Handtuch von Siga D. war nahezu ganz aufgegangen. Sie hatte ihre Beine wieder nebeneinandergestellt. Ihr offenes Badetuch enthüllte mir fast ihren ganzen Körper: ihren Bauch, ihre Taille, die vielen Inschriften auf ihrer Haut … Nur ihre Brüste waren noch von zwei Handtuchenden verborgen. Das Auge konnte ich nun deutlich sehen, und es stand außer Frage, dass mein Auge als Erstes blinzeln würde.

»Siehst du: Selbst jetzt denkst du an Sätze. Ein schlechtes Zeichen. Wenn du einen guten Roman schreiben willst, vergiss ihn für einen Augenblick. Du willst doch ficken, oder? Ja, das willst du. Ich bin hier. Denk an nichts anderes. Nur an mich.«

Sie stand vom Sessel auf, kam näher, neigte ihr Gesicht über meines. Ihr Handtuch fiel herunter, die Brust kam zum Vorschein; sie drückte sie gegen meine.

»Sonst hau lieber ab und schreib noch einen kleinen Scheißroman.«

Ich fand diese Provokation etwas kindisch und warf Siga D. aufs Bett. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht — Triumph, Lust, Herausforderung — erfüllte mich mit rasendem Verlangen. Ich begann, ihre Brüste zu küssen. Ich strengte mich an und entlockte ihr Seufzer oder, treffender, vorzeitige Seufzer. Das zumindest wollte ich glauben. Ob real oder geträumt, sie elektrisierten mich. Ich war dem Zentrum des Netzes nahe: Ich, die Fliege, war dem geheimnisvollen und tödlichen Zentrum im Haus der Spinnenmutter nahe. Ich wollte zum Auge hinuntergleiten. Doch sie hielt mich zurück und wälzte mich, hellauf lachend, wie ein Kind mit demütigender Leichtigkeit zur Seite; dann stand sie auf und begann, sich anzuziehen.

Nachdem mich kurz ein heftiger Zorn befallen hatte, wollte ich wieder zur Sache kommen. Aber das Wissen um das lächerliche Bild, das ich in diesem Moment wohl abgab, ließ mich innehalten. Ich hielt die Klappe und blieb stumm. Siga D. stimmte ein Lied auf Serer an. Ich streckte mich aus, hörte ihr zu, und allmählich wurde das Zimmer, das bis dahin nur eisigen Komfort ausgestrahlt hatte, lebendig und traurig und von Erinnerungen bevölkert. Das Lied erzählte von einem alten Fischer, der sein Boot vorbereitete, um eine Fischgöttin herauszufordern.

Ich schloss die Augen. Siga D. zog sich vollends an und trällerte die letzte Strophe. Das Boot entfernte sich auf dem friedlichen Ozean, und der Fischer suchte mit starren und glänzenden Augen den Horizont ab, bereit, sich dem göttlichen Fabelwesen zu stellen. Er drehte sich nicht zum Ufer um, wo seine Frau und seine Kinder ihm hinterhersahen. Ganz am Ende, Sukk lé joot Kata maag, Roog soom a yooniin, Verschwand sein Einbaum hinter dem Ozean, Und Gott war sein einziger Begleiter. Siga D. verstummte, eine bohrende Traurigkeit erfüllte das Zimmer.

Sie währte einige Sekunden, und als Siga D. mich aufforderte, mit ihr auf den Balkon zu kommen, wo wir uns besser unterhalten könnten, drängte sich mir förmlich ihre Bedrückung und ihr Geruch auf. Sie hatte ein ausgezeichnetes Gras aus Amsterdam mitgebracht, drehte eigenhändig, lässig und mit routinierter Geschicklichkeit einen großen, ziemlich einschüchternden Joint, jedenfalls hatte ich noch nie eine so große Tüte gesehen, und während wir über ernste und leichte Dinge redeten, über die tausend Masken des Lebens, über die Traurigkeit im Mittelpunkt aller Schönheit, rauchten wir einen wirklich riesigen Joint und ein vorzügliches Gras. Ich fragte sie, ob sie den Rest der Geschichte vom Fischer und der Fabelgöttin kenne.

»Nein, Diégane. Ich glaube nicht, dass es eine Fortsetzung gibt. Eine meiner Stiefmütter, Ta Dib, hat mir das Lied in meiner Kindheit vorgesungen. Sie hat es immer so enden lassen.«

Nach einer kurzen Pause sagte Siga D., als het erop aankomt, sei eine Fortsetzung nicht nötig, schließlich kenne doch jeder von uns den Ausgang dieser Geschichte, die nur auf eine Art enden könne. Ich stimmte ihr zu, es konnte nur ein Ende geben. In diesem Moment erlosch der glimmende Joint zwischen meinen Fingern. In meinem ganzen Leben hatte ich mich selten so entspannt gefühlt. Ich sah zum Himmel hinauf, einem sternlosen Himmel, der von etwas verschleiert wurde — nicht von vorüberziehenden Wolken, sondern von etwas anderem, das von maßloser Weite und Tiefe war und wie der Schatten eines riesigen Geschöpfs über der Erde schwebte.

»Das ist Gott«, sagte ich und schwieg einen Moment lang, bevor ich mit ruhiger, leiser Stimme fortfuhr (ich glaube, ich hatte nie wieder das beispiellose, durch nichts zu rechtfertigende Gefühl wie damals, die Wahrheit intuitiv zu erkennen): »Das ist Gott. Er ist uns heute Abend sehr nahe, ich glaube sogar, dass Er uns schon lange nicht mehr so nahe gewesen ist. Aber Er weiß es. Er weiß, dass Seine Ankunft Ihn endgültig vernichten würde. Er ist noch nicht hinreichend gerüstet, um Seinem größten Albtraum entgegenzutreten: uns Menschen.«

»Du gehörst also zu denen, die das Rauchen von Gras in Metaphysiker und Theologen verwandelt«, murmelte Siga D.

Nach einem weiteren Moment des Schweigens sagte sie: »Warte.« Dann ging sie ins Schlafzimmer, kramte in ihrer Tasche und kam mit einem Buch in der Hand zurück. Sie setzte sich wieder, schlug es wahllos auf: »Wir können diesen Abend nicht beenden, ohne ein wenig Literatur zu lesen, ohne dem Gott der Dichter ein paar Seiten zu opfern.« Dann begann sie zu lesen: Schon nach drei Seiten lief es mir eiskalt den Rücken hinunter.

»Ich weiß. Es ist besser als ein Joint«, meinte sie und klappte das Buch zu.

»Was ist das?«

»Das Labyrinth des Unmenschlichen.«

»Unmöglich.«

»Wie bitte?«

»Unmöglich. Das Labyrinth des Unmenschlichen ist ein Mythos. T. C. Elimane ist ein Eunuchengott.«

»Du kennst Elimane?«

»Ja, ich kenne ihn. Ich hatte das Handbuch der schwarzafrikanischen Literatur. Ich habe dieses Buch gesucht, während … Ich …«

»Kennst du die Geschichte des Buchs?«

»Im Handbuch stand, dass …«

»Vergiss das Handbuch. Hast du selbst nach Elimane gesucht? Ja, das hast du bestimmt versucht. Aber du bist nicht fündig geworden. Natürlich nicht. Niemand kann ihn finden. Ich hätte ihn fast gefunden. Ich bin ihm näher gekommen. Doch der Weg ist verschlungen. Er ist lang. Manchmal tödlich. Man sucht T. C. Elimane, und plötzlich öffnet sich unter den Füßen ein Abgrund des Schweigens wie ein Himmel, der auf dem Kopf steht. Wie ein bodenloses Maul. Auch vor mir hat sich dieser Schlund geöffnet. Ich fiel hinein. Der Sturz hat stattgefunden … Ich habe …«

»Ich verstehe kein Wort von dem, was du sagst.«

»… diesen Absturz erlebt. Das Leben nahm überraschende Wendungen, mein Faden ging im Sand der Zeit verloren, und ich brachte nicht mehr den Mut auf, nach ihm zu suchen.«

»Um wen zu finden? Und was? Wie bist du überhaupt an dieses Buch gekommen? Woher weißt du, dass es sich tatsächlich um Das Labyrinth des Unmenschlichen handelt?«

»… ich habe nie erzählt, was ich mit ihm erlebt habe oder beinahe erlebt hätte. Ich spüre, dass dies der blinde Fleck in meinem Leben ist, sein toter Winkel …«

»Du hast zu viel geraucht.«

»… aber auch sein lebendigster Winkel, sein lichter Moment … und wenn es mir gelingt, den Faden dieser Geschichte wiederzufinden, werde ich weiter sein, als ich es je gewesen bin in dem fremden Land, das in mir ist und in dem er seinen Platz hat …«

»Du spinnst völlig.«

»… und ich werde ins Herz dessen hinabsteigen, was ich tatsächlich schreiben muss: mein Buch über Elimane. Aber im Moment bin ich noch nicht so weit. Was die Umstände betrifft, unter denen ich dieses Buch bekommen habe … Das ist keine Geschichte, die ich dir erzählen kann, Diégane Faye. Jedenfalls nicht heute. Noch nicht.«

Siga D. war verstummt und hatte den Kopf in Richtung Stadt gewandt, aber mir schien, sie sah keines der Lichter, die hier und da wie kostbarer Schmuck auf dem Körper von Paris funkelten. Sie hatte den Blick auf sich selbst gerichtet, auf die Lichter oder die Dämmerungen in ihrer Vergangenheit. Ich versuchte nicht, sie aus der Melancholie der Erinnerung zu reißen. Im Gegenteil, ich ließ sie darin versinken und versuchte, in ihren umschatteten Augen zu ermessen, wie tief sie in der Flut aus Erinnertem steckte. Obwohl sich die Spinne in der Zeit entfernte, kam sie mir präsenter, näher, realer vor. Schweigend spann sie auf dem Spinnrad der Vergangenheit unbekannte, komplexe und schöne Muster der Wunden, die immer wieder von neuem aufzureißen schienen. Plötzlich fühlte ich mich wie von ihrer Erinnerung und ihren Gedanken mitgerissen; sie strahlten so intensiv, dass sie sozusagen aus ihrer körperlichen Hülle ausbrachen und alles durchdrangen und bezauberten, was uns umgab. Nach einigen Sekunden unter dieser Schwerkraft (einer chaotischen und unwiderstehlichen, unsichtbaren, aber zu spürenden Schwerkraft: der Schwerkraft eines konzentrierten Gedankens, dem man einen Sinn, vielleicht eine Wahrheit entnehmen will) begriff ich, dass ich einem Schauspiel beiwohnte, dessen Bühne für mich bis dahin immer nur eine innere, tief im Bewusstsein verborgene gewesen zu sein schien, die einer mystischen Erfahrung vorbehalten war, wie sie nur in einem symbolistischen Gemälde oder einem Albtraum möglich ist: Ich erlebte eine Introspektion. Eine andere Seele lud meine Seele zu sich ein, richtete ihren Blick auf ihre Tiefen und setzte an, sich selbst schonungslos zu beurteilen. Es war eine Autopsie, bei der der Gerichtsmediziner zugleich die Leiche war; und der einzige Zeuge dieser Vision, dieser Empfindung, die man als schön oder schrecklich oder auch als schön und schrecklich hätte bezeichnen können, war ich.

»Er ist ein Gespenst«, sagte Siga D. plötzlich, und in ihrer Stimme hörte ich die Stimmen aller Siga D.s, denen sie in ihrer Erinnerung begegnet war. »Man kann Elimane nicht treffen. Er erscheint einem. Er durchdringt einen. Er lässt einem die Knochen gefrieren und verbrennt einem die Haut. Er ist eine lebendige Illusion. Ich habe seinen Atem in meinem Nacken gespürt, einen Atem, der sich zwischen den Toten erhob.«

Meinerseits betrachtete ich nun einfach die schlafende Stadt und dachte darüber nach, dass diese Nacht doch sehr einem verdammten Traum glich und ich mich darauf gefasst machen musste, jeden Moment auf dem klapprigen Sofa in der Wohnung aufzuwachen, die ich mit Stanislas teilte. Das war wahrscheinlicher, als zusammen mit einer großen Romanautorin, die Das Labyrinth des Unmenschlichen besaß, auf dem Balkon eines Luxushotels zu sitzen.

»Hier, bitte schön.« Siga D. hielt mir das Buch hin. Ich unterdrückte meine Scheu.

»Lies es und komm dann zu mir nach Amsterdam. Pass gut darauf auf. Ich weiß nicht, warum ich dir dieses Geschenk mache, Diégane Latyr Faye. Ich kenne dich kaum, und dennoch gebe ich dir das wahrscheinlich Wertvollste, was ich besitze. Vielleicht müssen wir es teilen. Unsere Begegnung ist ungewöhnlich, sie hat sich auf seltsamen Nebenwegen abgespielt, aber sie mündet hier: in dieses Buch. Vielleicht ist es Zufall. Vielleicht Schicksal. Aber beide stehen nicht unbedingt im Widerspruch zueinander. Der Zufall ist nur ein Schicksal, das man nicht kennt, ein mit unsichtbarer Tinte geschriebenes Schicksal. Das hat mir mal jemand gesagt. Nicht zu Unrecht vielleicht. Ich sehe in unserer Begegnung einen deutlichen Hinweis des Lebens. Und es ist immer das Leben, dem wir folgen müssen: dem Leben und seinen unvorhersehbaren Wegen. Sie führen alle zum selben Ort, unser aller Ziel, aber die Wege, um dorthin zu gelangen, können schön oder schrecklich sein, mit Blumen oder mit Knochen gepflastert, nächtliche Wege, die wir oft allein gehen, auf denen wir aber die Möglichkeit haben, unsere Seele zu erproben. Außerdem … man trifft so selten jemanden, dem dieses Buch etwas sagen könnte. Pass gut darauf auf. Ich erwarte dich in Amsterdam, schreib mir, wenn du dich entschieden hast, damit ich alles für dich organisieren kann. Ich hinterlasse dir meine Adresse auf der Umschlagklappe. So, hier. Nimm es.«

Ich dachte: Jetzt ist es so weit, sobald du das Buch berührst, klingelt der Wecker. Ich streckte also meine Hand aus, bereit, die Augen für die Kulisse meines Wohnzimmers zu öffnen. Doch die Szene ging weiter: Ich hielt Das Labyrinth des Unmenschlichen in der Hand. Es hatte die Schlichtheit einer anderen Zeit: Auf einem weißen Hintergrund standen, eingefasst von einem anthrazitblauen Band, von oben nach unten der Name des Autors, der Titel und der Verlag (Gemini). Auf der Rückseite las ich zwei Sätze: T. C. Elimane wurde in der Kolonie Senegal geboren. Das Labyrinth des Unmenschlichen ist sein erstes Buch, das erste authentische Meisterwerk eines Schwarzafrikaners, der sich dem Wahnsinn und der Schönheit des Kontinents stellt und offen darüber spricht.

Ich hielt das Buch in meinen Händen. Ich hatte schon von diesem Moment geträumt und wartete nun darauf, dass etwas passieren würde; aber es passierte nichts, und als ich den Kopf hob, sah Siga D. mich an.

»Geh, geh und lies es. Du wirst lange brauchen. Ich beneide dich. Du wirst dieses Buch entdecken. Aber ich bedauere dich auch.«

Sie verbarg den traurigen Schatten nicht, der sich kurz über ihre Augen legte. Ich fragte sie nicht nach dem Sinn ihrer letzten Worte, und nach einem schüchternen Dankeschön steckte ich Das Labyrinth des Unmenschlichen in die Gesäßtasche meiner Jeans. Siga D. sagte, sie wisse nicht, ob ich ihr danken oder sie verfluchen sollte. Sie dramatisiere vielleicht etwas zu sehr, entgegnete ich. Sie küsste mich auf die Wange und sagte: »Du wirst schon sehen.«

So krabbelte die dicke Fliege aus dem Netz. Zu Hause fand ich eine tiefe Stille vor, die allerdings von einem energischen und herrischen Atmen durchbrochen wurde: Stanislas, mein Mitbewohner, schnarchte. Er war Polnisch-Übersetzer und arbeitete seit einigen Monaten an einer Neuübersetzung von Ferdydurke, dem großen Roman seines berühmten Landsmanns Witold Gombrowicz.

Ich ging mit einem ordentlichen Rest Wein in der Flasche in mein Zimmer und startete auf dem Handy meine Playlist mit den Songs meiner Lieblingsband Super Diamono. Ich tastete nach dem Buch in meiner Tasche, holte es hervor und musterte es einen Moment lang. Ich konnte nicht behaupten, ich hätte nicht an seine Existenz geglaubt: Es hatte Nächte gegeben, in denen ich mit Leib und Seele bei ihm war, und Nächte, in denen ich es in einem Rutsch herunterbetete, ohne es je gesehen zu haben; es gab aber auch viele andere Nächte, in denen sich seine Existenz auf weniger als einen Mythos beschränkte: auf seine bloße Projektion, eine leise Hoffnung. Verfluchtes Labyrinth! Doch da war es: Aus den blutigen Trümmern meiner Träume trat das Objekt meiner Obsessionen wieder zutage, die ich für kindisch und für mausetot gehalten hatte.

Super Diamono spielte und Omar Pène segelte mit seiner Stimme aus geschmolzenem Obsidian auf dem glatten nächtlichen Meer in den Tag hinein. In seinem ruhigen und prächtigen Kielwasser glitt der Song Mujjé dahin, ein Memento mori in Form eines einzigartigen Juwels, geschmiedet aus der Lava eines zwölfminütigen Jazzstücks. Da ngay xalat ñun fu ñuy mujjé, hieß es darin, erinnere dich an unser Ende, denke an die große Einsamkeit, denke an das Versprechen der Dämmerung, das sich für alle erfüllen wird. Eine ebenso furchterregende wie grundlegende Mahnung, so alt wie die Zeit, doch zum ersten Mal in meinem Leben glaubte ich, ihre schwindelerregende Tiefe zu erfassen. Dem Abgrund ausgeliefert, den Diamono und Pène aufgetan hatten, begann ich mit der Lektüre des Labyrinths.

Es war noch dunkel, auch wenn die Gischt des Tages bereits am Horizont schäumte. Ich las; die Nacht verstrich ohne einen Schrei; ich las weiter, und die Flasche leerte sich; ich zögerte, eine neue zu öffnen, besann mich schließlich eines Besseren und las wieder, während ich den Songs von Diamono lauschte, bis alle Sterne in dem Lichtstrahl verschwanden, der durch mein Fenster drang, bis alle Schatten und die zerteilte Stille und Stanislas’ Schnarchen und die älteste Melodie dieser traurigen Erde ermatteten und alles, was ich über die Menschen zu wissen glaubte, sich allmählich erschöpfte. Als der Tag dann schon eine Weile angebrochen und meine Playlist zu Ende war (aber die Stille nach Pène ist sein poetisches Testament), schlief ich ein in der Erwartung, dass die nächtlichen Ereignisse im Traum verklärt würden und dass ich in einer Welt aufwachen würde, die auf den ersten Blick unverändert erschiene, in der sich aber unter der Oberfläche der Dinge, unter der Haut der Zeit alles für immer verändert hätte.

Das waren nach meinem Abend im Netz der Spinne meine ersten Schritte auf dem Rundweg der Einsamkeit, auf dem T. C. Elimane und Das Labyrinth des Unmenschlichen immer wieder entwischten.

Zweiter Teil

Sommertagebuch

11. Juli 2018

Es gibt nur einen Grund, dich zu schreiben, Tagebuch: Um zu sagen, wie sehr mich Das Labyrinth des Unmenschlichen ausgelaugt hat. Große Werke laugen einen immer aus, und das sollen sie auch. Sie nehmen das Überflüssige von uns. Ihre Lektüre macht einen stets bedürftig: Man ist bereichert, aber bereichert durch Subtraktion.

Nach dem Aufwachen, so gegen dreizehn Uhr, habe ich es noch einmal ganz gelesen, nüchtern, ohne die Drogen oder den Zauber Siga D.’s. Die Erschütterung war noch so stark, dass ich schlaff und erledigt in meinem Zimmer blieb. Gegen sechzehn Uhr kam mein Mitbewohner, um nachzuschauen, ob ich noch lebte. Ich entschuldigte meine Benommenheit mit Kopfschmerzen. Stanislas, der sich damit auskennt (in seinen Adern fließt polnisches Blut), gab mir eine Reihe Tipps gegen den Kater. »Hilft das auch bei einem Kater nach einem Buch?« »Was für ein Buch?« Ich reichte ihm Das Labyrinth des Unmenschlichen. »Das liest du gerade?« »Ja.« »Und es versetzt dich in diesen Zustand?« »Vielleicht.« »Ist es so gut oder so schlecht?« Ohne meine Antwort abzuwarten, klappte er das Buch an einer beliebigen Stelle auf. Zwei, drei, vier Seiten später hielt er inne. Ich sah ihn fragend an: »Und?« »Tolle Sprache«, sagte er, »würde ich gern weiterlesen, aber ich muss zu einem Meeting.« »Ist es so weit, ergreifen die Anarchos die Macht?«, fragte ich. Und er: »Nein, sie stürzen sie.« »Und danach?« »Wird sie übergeben«, erwiderte er. Und ich: »An wen?« »An das Volk«, versicherte er. »Wer ist das Volk?«, fragte ich.

Der Übersetzer machte sich auf den Weg, ohne mir zu sagen, wer das Volk war. Ich nahm mir wieder das Buch vor, las bis zur Erschöpfung. Es sieht mich abschätzig an und leuchtet wie ein Schädel auf einem Friedhof bei Nacht. Am Ende schließt es mit dem Versprechen auf eine Fortsetzung, eine Fortsetzung, die ich vermutlich niemals lesen werde.

Es würde genügen, Siga D. anzurufen, um der Geschichte auf die Spur zu kommen. So einfach will ich es mir nicht machen. Das Buch wird sich selbst enthüllen. Ich erinnere mich an den traurigen Blick der Spinnenmutter, als sie es mir überreichte. Ich höre noch, wie sie sagte: Ich beneide dich. Aber ich bedauere dich auch. Ich beneide dich bedeutet: Du wirst eine Treppe hinuntersteigen, deren Stufen dich in die tiefsten Regionen deines Menschseins bringen. Ich bedauere dich bedeutet: Je mehr du dich dem Geheimnis näherst, desto tiefer versinkt die Treppe in der Dunkelheit, du wirst allein sein, aber nicht mehr umkehren wollen, denn sie wird dir das Trugbild an der Oberfläche vor Augen führen, und du wirst nicht weiter hinabsteigen können, weil die Dunkelheit die Stufen zur Offenbarung verschlingen wird.

Ich habe das Buch zugeklappt und damit begonnen, dich zu schreiben, Tagebuch.

12. Juli

Heute Morgen rituelles Antanzen im senegalesischen Konsulat bei der Abteilung für Studienförderung, um mein Stipendium zu verlängern. Die Verlängerung gilt bis kommenden Juli. Über diese Deadline hinaus muss ich zusehen, wie ich mich durchschlage: richtige Arbeit finden, mich wieder an meine Doktorarbeit setzen und sie abschließen, auf der Straße leben, mir eine reiche alte Schachtel anlachen, die Afrika und seine Geheimnisse liebt und aufgrund dieser Leidenschaften für meinen Unterhalt aufkommt, oder ein Buch über meinen persönlichen Abstieg schreiben, getarnt als Handbuch zur Entfaltung der Persönlichkeit. Oder verhungern. Bis dahin sei gepriesen, wohltätiges Vaterland, das für das Nötigste sorgt und mich am Leben hält!

Anschließend schaute ich in der Bibliothek vorbei, um einen Blick auf die bedeutendsten Neuerscheinungen des Jahres 1938 zu werfen. Offenbar ein erstklassiger Jahrgang für die französische Literatur, Dichtung und Philosophie: Bernanos, Alain, Sartre, Nizan, Gracq, Giono, Aymé, Troyat, Ève Curie, Saint-Exupéry, Caillois, Valéry … Keine Geringeren. Aber von einem T. C. Elimane oder einem Labyrinth des Unmenschlichen nicht die geringste Spur.

Wieder zu Hause, traf ich Stanislas an und konnte mich nicht zurückhalten, ihn noch einmal auf das Buch anzusprechen. Er fragte mich, wovon es handle. Darauf war ich nicht gefasst, außerdem hasse ich diese Frage. Ich überlegte kurz, und da ich antworten musste, schwadronierte ich herum und warf mit Sätzen voller Wörter in Großbuchstaben um mich, etwa: Es handelt von einem Mann, einem blutrünstigen KÖNIG; dieser KÖNIG will die MACHT und ist bereit, das absolut BÖSE zu tun, um sie zu bekommen. Doch er entdeckt, dass ihn sogar alle Wege des absolut BÖSEN zur MENSCHLICHKEIT zurückbringen.

Nach meinen lyrischen Schlussworten sah mich der Übersetzer einen Moment lang an, dann meinte er: Damit ist nichts gesagt. Ich gebe dir einen Rat: Versuche nie zu sagen, wovon ein großes Buch handelt. Wenn du es dennoch tust, ist die einzig mögliche Antwort: »von nichts«. Ein bedeutendes Buch erzählt immer nur von nichts, und doch steckt alles in ihm. Fall nie mehr darauf herein, den Inhalt eines Buchs wiedergeben zu wollen, von dem du spürst, dass es ein großes ist. Das ist eine Falle, die dir von der Öffentlichkeit gestellt wird. Die Leute wollen, dass ein Buch von etwas handelt. In Wahrheit, Diégane, handelt nur ein mittelmäßiges, schlechtes oder banales Buch von etwas. Ein bedeutendes Buch hat kein Thema und spricht von nichts, es versucht einfach nur, etwas auszudrücken oder zu entdecken, aber dieses »einfach nur« ist schon alles, und dieses »etwas« ebenso.

15. Juli

Frankreich hat die Fußballweltmeisterschaft gewonnen und unter einem sternklaren Himmel seinen zweiten Stern gefeiert. Ich habe das Spiel zusammen mit Musimbwa angesehen, anschließend sind wir in ein kleines afrikanisches Restaurant essen gegangen, wo die Küche okay, der Service mittelmäßig und für Atmosphäre gesorgt war durch einen alten Koraspieler, dessen Repertoire sich auf die ständige Wiederholung einer langen Mandinka-Ballade beschränkte.

Musimbwa hat einst auf dem Thron des »vielversprechenden jungen afrikanischen Schriftstellers« gesessen. Er stammt aus der Demokratischen Republik Kongo, ist drei Jahre älter als ich, sein Werk umfasst bereits vier Bücher, die im Ghetto und in den Feuilletons der literarischen Welt gleich nach Erscheinen gelobt worden sind. Nach dem Erfolg seines Erstlings hat er seine Arbeit als Barkeeper aufgegeben, und seither widmet er sich der Literatur wie eine Nonne dem Gottesdienst.

Ich erinnere mich, dass ich ihm anfangs misstraute, wenn nicht gar ihn verachtete, als er wie ein roher Meteorit in die Literaturszene einschlug und mit einer Gleichgültigkeit, von der ich nicht wusste, ob sie an Demut oder Arroganz grenzte, Preise, Bewunderung und Lorbeeren einheimste. Dieser Musimbwa ist nur eine Mode, dachte ich, sein Erfolg liegt in der Luft, deshalb wird er sich erkälten und enden wie viele andere, die nach salbungsvoller Beweihräucherung vom Sockel fielen. Zu dem Zeitpunkt hatte ich natürlich noch keinen einzigen Satz von ihm gelesen. Es nachzuholen hatte genügt, damit meine Eifersucht sich in Neid, der Neid sich in Bewunderung verwandelte, und diese Bewunderung mauserte sich bisweilen zu völliger Verzweiflung, so sicher war ich, dass ich niemals an sein Talent heranreichen würde. Ich halte ihn ohne Einschränkung für unseren primus inter pares, den Besten unserer Generation.

Als ich Anatomie der Leere veröffentlichte, war er der erste Schriftsteller, der über das Buch sprach, ohne mich zu kennen. Er war von der Lektüre begeistert und empfahl es, und obwohl seine Besprechung nicht dasselbe Gewicht hatte wie der Miniartikel in Le Monde Afrique, maß ich seinem Wort, dem Wort eines Schriftstellers, den höchsten Wert bei. Wir begegneten uns, und so begann unsere Freundschaft, geschmiedet aus gemeinsamen Lektüren, geteilter Ablehnung, kleinen Streitigkeiten, ähnlichen Leidenschaften, gesundem Wettstreit, freundschaftlicher Rivalität, die notwendig, männlich und manchmal stürmisch war, dem geringen Altersunterschied und dem endlosen gemeinsamen Herumstromern im buntgemischten und wunderlichen Volk der Nachtschwärmer. Was mich jedoch vor allem mit ihm verband, war der gemeinsame verzweifelte Glaube an die Entelechie des Lebens, die die Literatur für uns verkörperte. Wir dachten keinesfalls, dass Bücher die Welt retten könnten; hingegen hielten wir sie für das einzige Mittel, um nicht vor ihr davonzulaufen.

Nach dem Spiel speiste ich also mit ihm und kam sehr schnell auf meinen Mann zu sprechen.

»Wer noch mal?«

»T. C. Elimane.«

»Nein, sagt mir echt nichts. Und wie heißt das Buch? Das unmenschliche Labyrinth?«

»Das Labyrinth des Unmenschlichen!« Ich zitierte und rezitierte den Eingangssatz, »Am Anfang gab es eine Prophezeiung und es gab einen König; und die Prophezeiung …« Es half nichts: Musimbwa kannte es nicht. Ich wollte ihm den Inhalt erzählen, zumindest den unbedeutenden Teil, den ich kannte. Doch ich sah schnell ein, dass man keine Inhaltsangabe machen könnte: Sie würde den Bericht eines Kannibalen ergeben, dessen Zähne mich von innen zernagten. Es ist eine Geschichte, die man unmöglich zugleich erzählen, vergessen und verschweigen kann. Doch wie umgehen mit einem Werk, das weder vergessen noch nacherzählt noch zum Schweigen gebracht werden kann? Hat Wittgenstein etwas dazu gesagt? Er behauptete, wovon man nicht sprechen könne, darüber müsse man schweigen; ja, das kann man gelten lassen, aber was tun, Herr Wittgenstein, wenn man weder davon sprechen noch darüber schweigen noch es vergessen kann? Ich habe keine Ahnung, aber eines weiß ich: Was der Mensch weder vergessen noch erzählen, noch verschweigen kann, daran leidet er, und letzten Endes stirbt er daran; das wollte ich auf keinen Fall, weder das eine noch das andere. Ich erzählte also, was ich wusste, alles in allem wenig, doch als ich endete, fühlte ich mich nicht erleichtert oder traurig, eher wund an Leib und Seele, als wöge dieses Seinsfragment Tonnen, Jahrtausende, als wäre es mit dem Gewicht seiner Zeitalter über mich hereingebrochen, während ich versuchte, von ihm zu erzählen. Nach meinem Bericht sagte Musimbwa mit dem feierlichen Ernst eines Geständnisses, dass er nie an diese Geschichten von verfemten literarischen Genies geglaubt habe, die beim Schreiben angeblich den Kern des Schweigens oder den tiefen Grund des Vergessens gesucht hatten. Er ließ etwas Zeit verstreichen, sah durch das Fenster nach draußen und fuhr dann fort, als redete er nicht mit mir, sondern mit der Nacht, mit einer unsichtbaren Kreatur der Nacht:

»Sich in seinem Werk auslöschen zu wollen, ist nicht immer ein Zeichen von Demut. Selbst die Sehnsucht nach dem Nichts kann eine eitle Sache sein … Aber sag mal: Hast du dieses Labyrinth des Unmenschlichen schon gelesen? Wohl eher nicht: Du hast gesagt, das Buch sei seit Jahrzehnten nicht mehr aufzutreiben.«

»Ich habe es gefunden.«

Ich erzählte ihm von der Nacht mit Siga D., zog dann das Buch aus meiner Tasche und hielt es ihm hin. Musimbwa sah mich einen Augenblick an, als wollte er sich versichern, dass ich keinen schlechten Scherz machte, dann nahm er das Buch. Er schlug es sofort auf.

Ich ließ ihn lesen und ging, um es mit der Pariser Nacht aufzunehmen, mit ihrem Fieber, ihren Strömen von Bier, ihrer unbeschwerten Freude, ihrem unbeschwerten Lachen, ihren harten Drogen, ihren Illusionen. Aber sehr schnell überkam mich die Schwermut, die jedem Fest innewohnt, und mein Elan erlosch. Ich war nie fähig gewesen, lange zu feiern. Massenveranstaltungen, Volksfeste, große, stürmische Begeisterungsausbrüche stürzten mich sehr häufig in eine heillose Melancholie, die mich unter sich begrub. Kaum geriet ich in Rausch oder Hochstimmung, fiel mir ihre erbärmliche Kehrseite vor die Füße. Deshalb bin ich nie so lange fröhlich, dass mir die Tristesse der Dinge erspart bliebe: die Tristesse vor dem Fest, die Tristesse nach dem Fest, die triste Aussicht, dass auch dieses Fest unabänderlich enden würde (ein Moment so scheußlich wie der, in dem ein Lächeln in einem Gesicht verblasst), der Anteil, den wir alle an der Tristesse der Menschheit haben und mit dem sich jeder, so gut er kann, herumschlägt wie mit einem Schatten. Manchmal passte ich mich dem Unausweichlichen an. Oder ich setzte mich ganz einfach darüber hinweg und hüpfte mit rasender Unbekümmertheit durch die Runde der erhitzten Tänzer. Meistens jedoch ebbte alles in mir wieder ab. So war es auch an diesem Abend. Ich setzte mich auf eine Parkbank mit dem einzigen Ziel, so wenig niedergeschlagen wie möglich wieder von ihr aufzustehen, ja, überhaupt wieder aufzustehen. Dann holte ich tief Luft und schlüpfte mühelos wie ein Zäpfchen in den bereits geschmierten Arsch der Welt — man hat, um mit Pascal zu sprechen, genug Erfahrung damit, sich ins Unausweichliche zu fügen.