Die Geschichte von Kat und Easy - Susann Pásztor - E-Book
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Die Geschichte von Kat und Easy E-Book

Susann Pásztor

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Beschreibung

Vom Leben, wie es hätte sein können – und vom großen Glück, dass es anders gekommen ist als gedacht. Sie sind nicht mehr die Teenager, deren Freundschaft vor einem halben Jahrhundert auf tragische Weise endete. Das wissen Kat und Easy, als sie sich auf Kreta treffen. Aber wer sind sie jetzt, und wer waren sie damals? 1973 wird ihr Jahr. Das schwört Kat ihrer Freundin Easy in der Silvesternacht, und nicht nur, weil sie bekifft sind. In den folgenden Monaten können sie viel von dem abhaken, was auf ihrer Liste steht. Sich zu verlieben, zum Beispiel. Unglücklicherweise in denselben Mann: Fripp arbeitet im Jugendzentrum, trägt karierte Hemden und kennt sich mit Hesse aus. Doch es ist nicht etwa die Eifersucht, die ihrer Freundschaft bald darauf ein jähes Ende setzt, sondern ein tragischer Unfall. Fast fünfzig Jahre später erhält Kat, die einen erfolgreichen Blog für Lebensberatung führt, eine Nachricht von Easy. In einem alten Haus an der Südküste Kretas treffen sie sich wieder und nehmen zwischen ausschweifenden Festen mit griechischen Nachbarn und rauschhaften Nächten am Strand das große Stück Leben in den Blick, das hinter ihnen liegt. Doch erst, als ein überraschender Besucher auf die Insel kommt, ist es ihnen möglich, sich der entscheidenden Frage zu stellen: Warum nur haben sie so unterschiedliche Erinnerungen an die Zeit mit Fripp? Mit einzigartigem Humor und psychologischer Scharfsicht erzählt Susann Pásztor von den wundervollen und schrecklichen Unwägbarkeiten des Lebens, und der Kunst, ihnen zu begegnen.

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Susann Pásztor

Die Geschichte von Kat und Easy

Roman

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Inhaltsverzeichnis

Über Susann Pásztor

Über dieses Buch

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

Laustedt

Kreta

Laustedt

Kreta

Laustedt

Kreta

Laustedt

Kreta

Laustedt

Kreta

Laustedt

Kreta

Laustedt

Kreta

Laustedt

Kreta

Laustedt

Kreta

Laustedt

Kreta

Laustedt

Dank

Inhaltsverzeichnis

Laustedt

Kat hat die Macht. Sie hat die Macht, Wörter zum Leuchten zu bringen und Räume mit Wut zu verpesten. Sie kann allen zu viel sein und sich selbst nie genug. Sie kann jedes Lied auf der Gitarre spielen, solange es mit C, F und G7 als Begleitung auskommt.

Kat hat die Macht, Isi in einen anderen Menschen zu verwandeln, sie hat Isis alten Kindernamen einfach umgeschrieben, gleich nach den Sommerferien, da sind sie gerade mal ein paar Minuten in derselben Klasse gewesen. Nicht Isi, sondern Easy, sagt Kat, du musst das Wort hinter dem Klang anders denken, dann hört sich dein Name nur noch halb so bescheuert an. Take it easy, Easy. Es dauert nur wenige Wochen, bis nicht nur Easy selbst, sondern auch alle anderen Easy meinen, wenn sie Easy sagen, nur Easys Mutter wird nie etwas anderes hören als Isi, und das ist auch gut so.

Kat hat die Macht, aber wenig Kontrolle. Ohne Brille erkennt sie die Leute von Weitem überhaupt nicht und von Nahem an ihren Frisuren oder an ihrem Gang. Sie kann weder Verkehrsschilder noch das Unausgesprochene in Gesichtern lesen. Mit Brille sieht sie nicht gut aus. Niemand sieht mit Brille gut aus, also hat Kat gelernt, sich mit einem unüberschaubaren Umfeld zu arrangieren. Sie wäre gern so schön wie Easy, der das Schönsein so leichtfällt. Nur wenn es gar nicht anders geht, setzt Kat ihre Brille auf. Manchmal genügt es auch, die Augen zusammenzukneifen.

Weil Kat die Macht hat, teilt sie sich an diesem Silvesterabend mit Easy eine ranzige Matratze im Keller des Jugendzentrums, statt auf Bernd Rühlemanns Party ihre Klassenkameraden beim Stehbluestanzen zu verachten. Easy wird übernächste Woche sechzehn und hat keine Einwände gegen Kats Idee gehabt, solange sie eine Viertelstunde nach Mitternacht an Rühlemanns Gartenpforte stehen, um sich von Easys Vater abholen zu lassen. Bernd Rühlemann ist nett, aber ein NBB, nice but boring, sagt Kat, die ihre Urteile neuerdings auf Englisch fällt. Nice, weil Bernd ihr immer bereitwillig seine neuen Platten zum Aufnehmen leiht, boring, weil Jungen aus der eigenen Klasse grundsätzlich langweilig sind, sie tragen Seitenscheitel und können Physik oder sind gut in Sport, und wen interessiert das schon?

Hier sind nie welche vom Gymnasium, sagt Easy, die das mal interessiert hat, Physik und Sport, aber das ist gewesen, bevor Kat ihre Freundin geworden ist. Sie faltet ihren Anorak zusammen und schiebt ihn zwischen sich und die Matratze, damit sie höher sitzt. Oder, Kat?

Die passen doch gar nicht hierher, sagt Kat-mit-Brille.

Kennst du jemanden hier?

Vom Sehen, sagt Kat, was bei ihr nicht viel heißt.

Sie entdecken ein Mädchen von der Realschule, das mal mit Kai aus der Parallelklasse gegangen ist, und direkt daneben Olaf, Lehrling in der brandneuen Jeansabteilung von Mode-Gülcher, er lispelt und ist dünn wie eine Büroklammer, aber wenn man die Brille abnimmt, könnte er als der kleine Bruder von Mick Jagger durchgehen.

Ganz selten, glaub ich, kommen mal welche aus der Oberstufe her, sagt Kat-ohne-Brille, aber das war unklug, denn jetzt wird Easy nervös, weil ihr Bruder in die zwölfte Klasse geht und einer ihm erzählen könnte, dass seine kleine Schwester sich hier rumtreibt. Manchmal weiß Kat nicht, ob Easy wirklich Angst hat oder ob es eine alte Gewohnheit aus der Zeit ist, als sie Physik und Sport noch toll fand. Zum Glück hält Easy ihre eigene Angst nie lange aus, denn sie ist innendrin noch neugieriger, als sie außen schön ist. Kat versucht sie zu überzeugen, dass keiner, der an Silvester in ein autonomes Jugendzentrum gehe, etwas mit einem Gründungsmitglied der Schüler Union Deutschlands zu tun haben wolle, aber Easy schaufelt sich goldene Haarsträhnen vors Gesicht, bis sie von vorn aussieht wie Robert Plant von hinten und Kat ihre Brille wieder aufsetzen muss, weil Easy als Orientierungshilfe ausfällt.

Was spielen die gerade für ein Lied, Kat, fragt Easy hinter ihrem Vorhang, weil Kat immer alles weiß, und Kat antwortet, das ist von Aga-Deng-Deng, weil sie längst nicht alles weiß, und Easy und Kat fangen an zu gackern. Der Junge auf der Nachbarmatratze sieht Kat an, als wäre sie nicht ganz dicht, dann konzentriert er sich wieder darauf, den Inhalt einer aufgerissenen Filterzigarette auf eine Sounds-Ausgabe rieseln zu lassen. Jetzt guck doch mal, sagt Kat und boxt Easy immer wieder gegen die Schulter und zeigt auf den kleinen schwarzen Brocken, den er zusammen mit einer Packung Zigarettenpapier aus der Jackentasche holt und auf Keith Emersons Gesicht legt, bis Easy endlich ein kleines Haarfenster freilegt und guckt. Der Junge ist vielleicht achtzehn oder neunzehn und hat einen Bartwuchs wie ein Wels. Kat prägt sich alles genau ein: wie er drei Blättchen aneinanderklebt, wie er den Tabak darauf verteilt und den Brocken über einer Streichholzflamme erwärmt. Wie er die fettigen dunklen Krümel von seinen Fingern abstreift und in den Tabak fallen lässt, wie er die Mischung in ihrem Papierbett zwischen den Fingern rollt und nachstopft und dann mit der Zunge den gummierten Rand des Blättchens anfeuchtet. Wie er aus einem kleinem Stück Pappe einen Filter bastelt und in das schmale Ende einfädelt und das überstehende Papier auf der anderen Seite verzwirbelt wie bei einem Bonbon. Sie lernt viel, weil der Wels mehrere Anläufe braucht, um sein Vorhaben zum Abschluss zu bringen. Seine Bewegungen sind fahrig und schlecht koordiniert, er wirkt, als würde ihm jedes Ding im Leben mindestens einmal runterfallen oder wegfliegen und als hätte er sich irgendwann damit abgefunden, dass es so ist.

Der Typ dahinten bei den Bierkästen, der die Getränke verkauft, der mit dem Bart, der heißt übrigens Fritz, ruft Kat, weil Easy schon wieder hinter ihren Haaren verschwunden ist und Kat endlich ihre Brille absetzen und die Verantwortung abgeben möchte. Ich war schon zweimal hier, und der war immer da. Alle hören auf den.

Wo denn? Easy muss sich von der Matratze hochstemmen, um Fritz sehen zu können, und der Wels beugt sich zu ihnen rüber, diesmal reicht es ihm nicht, sie missbilligend anzuschauen, so entrüstet ist er.

Fripp heißt der, nicht Fritz, sagt er und wedelt mit einem Zeigefinger vor ihren Gesichtern rum, der nach Dope riecht, Fripp, Frrrripp, alles klar?

Fripp, wiederholen Kat und Easy artig und rollen dabei die Augen und das R wie der Wels.

Ist das der Boss hier?, fragt Easy.

Er ist Gott, sagt der Wels, und er klingt, als wäre das sein Ernst.

Easy hört endlich auf, an ihren Haaren herumzumachen, und starrt den Wels an, als erwarte sie weitere Offenbarungen. Der Wels wendet sich kopfschüttelnd ab und kramt in seiner Hosentasche, es kostet ihn ganze vier Streichhölzer, bis der Joint endlich brennt. Er schließt die Augen und inhaliert und unterdrückt ein Husten, sein ganzer Körper zuckt und bebt, bis schließlich der Rauch aus ihm hervorbricht wie aus einem Überdruckventil. Dass er das Ganze noch zweimal wiederholt, lässt vermuten, dass es kein Missgeschick, sondern eine Art Ritual ist. Als er die Augen wieder öffnet, sieht er Kat an und reicht nach kurzem Zögern den Joint an sie weiter. Mach’s nicht so auffällig, sagt er.

Kat hat schon dreimal gekifft in diesem Jahr, das heute zu Ende geht, das belegen die geheimen Zeichen in ihrem Tagebuch, die sie sich extra ausgedacht hat, falls ihre Aufzeichnungen einmal in falsche Hände geraten sollten. Sie hält den Joint zwischen Daumen und Zeigefinger, zieht an dem feuchten, heißen Filter und danach schnell noch ein kurzes zweites Mal, bevor sie ihn Easy hinhält. Bei Easy steht noch kein einziges geheimes Zeichen im Tagebuch, und der Plan ist, das heute Abend noch zu ändern, aber Easy schmeißt sich unvermittelt nach vorn und bricht in Gelächter aus, sodass Kat den Arm hochreißen muss, um ihr die Haare nicht zu versengen. Oh Mann, wie seid ihr denn drauf, sagt der Wels und nimmt ihr eilig den Joint weg, und die Art, wie er ihn festhält, lässt keinen Zweifel daran, dass er ihn von jetzt an nicht mehr aus der Hand geben wird. Easy hört nicht auf zu lachen, und Kat ist genervt, weil Easy die Sache versaut hat, aber dann muss sie mitlachen, weil anderthalb Züge immer zum Mitlachen reichen. Der Wels ist ein Stück von ihnen abgerückt und gibt sich desinteressiert, solange sein Joint noch brennt. Nach dem letzten Hustenanfall drückt er ihn in einem Aschenbecher aus und beginnt, ihnen verstohlene Blicke zuzuwerfen, und irgendwann beugt er sich rüber und sagt zu Kat, die noch immer ihre Brille aufhat: Ey, deine Freundin ist total süß.

Ich hol uns mal was zu trinken, sagt Kat zu Easy, springt auf und geht weg, bevor Easy bleib hier oder ich komm mit sagen kann.

Die Leute stehen schon dicht an dicht, obwohl es noch lange nicht Mitternacht ist, und ständig kommen mehr dazu. Auch der Platz, der sonst als Tanzfläche dient, ist voll belegt, nur ein einzelner Typ mit weit ausgebreiteten Armen rotiert schlingernd um seine eigene Achse. Es ist unklar, ob er wirklich tanzen oder die Leute nur nerven will, aber er schafft es, dass jeder zurückweicht, in dessen Nähe er kommt. Kat setzt die Brille ab. Jemand hat einen Song aufgelegt, den sie auf Tonband aufgenommen hat, entweder aus dem Fünf-Uhr-Club im Radio oder vielleicht auch von einer von Bernd Rühlemanns Platten. Es sind die Doors, sie kennt das Stück so gut, dass sie mitsingen könnte, auch die Stellen, die sie mit Fantasie-Englisch überbrücken muss, weil sie den Text nicht versteht.

Die ist so fett geworden, seit sie die Pille

Bei Conny Kramer immer kotzen

Hat einer Andi gesehen?

Roland SR-606, ’nen geileren Klang kann man sich gar nicht

Mit jedem Meter, den Kat zurücklegt, nimmt sie einen anderen Gesprächsfetzen mit. Sie kann die Macht wieder fühlen. Sie entscheidet, ob sie dazugehört. Sie weiß, wie die Dinge laufen, und darum weiß sie auch, dass der Wels jetzt Easy volllabern und Easy geduldig und ergeben zuhören wird, und sie nimmt sich vor, länger wegzubleiben und Easy ein bisschen zu bestrafen, weil sie wieder mal die Schönste im ganzen Land ist und es nicht einmal merkt.

Kat findet das Ende der Getränkeschlange, die sich durch den halben Raum windet und irgendwo bei einem anfängt, der Fripp heißt. Direkt vor ihr knutscht ein Pärchen, der Junge hält den Kopf des Mädchens mit beiden Händen fest und küsst sie mit leidenschaftlich verzerrtem Gesicht, so etwas erkennt Kat problemlos, während das Mädchen die Finger in seine Cordjacke krallt. Ihr gebogener Hals ist weiß und makellos, Kat legt den Kopf in den Nacken und überlegt, ob ihrer auch so schön aussieht, aber der Typ hinter ihr fragt: Is was?, und da tut sie, als hätte sie oben an der Decke etwas gesehen, das man im Auge behalten müsste. Als sie sich wieder aufrichtet, wird ihr kurz schwindelig, aber das kommt nicht vom Dope, das Dope macht, dass sie sich ein bisschen heiterer und egaler fühlt als sonst, falls die anderthalb Züge überhaupt was machen. Die beiden Küssenden bewegen sich vorwärts wie ein vierbeiniges Wesen und lassen erst voneinander ab, als sie dran sind und ihre Münder zum Bestellen brauchen, und Kat würde zu gern wissen, wie es sich anfühlt, von jemandem geküsst zu werden, der einen dermaßen begehrt. Ein Witzbold mit grünem Hütchen drängt sich durch die Menge und bläst bunte Luftschlangen auf die Wartenden, eine rot-gelbe bleibt an Kats Schulter hängen. Sie lässt sie dort. Das Pärchen zieht mit seinen Getränken ab, eng umschlungen.

Kat hat die Macht, aber keinen Plan. Fripp hat ein Heft vor sich auf dem Tapeziertisch liegen, in das er sich Notizen macht. Sie sieht ihn zum ersten Mal aus der Nähe, er hat den Kopf mit den dunklen Locken gesenkt und trägt ein komisches kariertes Hemd wie einer, der gern Countrymusik hört. Zwei Bier, bitte, sagt sie laut, sie mag eigentlich kein Bier, aber das trinken hier alle. Er antwortet, ohne von seinem Notizheft aufzusehen, als hätte er sich längst auf ihren Auftritt vorbereitet: Bier erst ab sechzehn.

Bin ich doch, sagt Kat.

Glaub ich nicht, sagt Fripp und schreibt weiter.

Dann eben zwei Whiskey. Kat hat schon bessere Witze gemacht.

Fripp überhört es. Und sag Lothar, dass er rausgehen soll, wenn er mit euch kiffen will.

Kat wartet darauf, dass er sie endlich ansieht. Fripp klappt das Notizbuch zu und steckt es in die hintere Hosentasche. Er ist bestimmt schon zwanzig, viel zu alt für diesen Laden und viel zu jung, um Gott zu sein. Sein Hemd ist spießig, sein Bart ist üppig, und seine Haare sind merkwürdig geschnitten, aber sein Blick ist dunkle Magie, er überwindet mühelos Kats minus fünf Dioptrien und trifft sie dort, wo sie niemandem etwas vormachen kann, nicht mal sich selbst. Die Leute hinter Kat fangen an zu meckern, weil es so lange dauert, aber Fripp kann sich erlauben, erst schweigend die Machtfrage mit ihr zu klären, bevor er sie fragt: Und, was darf’s sein?

Zwei O-Saft, sagt Kat. Sie wirft eine Mark in die Kasse, und Fripp füllt zwei Pappbecher und überreicht sie ihr. Er nickt ihr zu, freundlich und ungerührt, und mit derselben Ungerührtheit nimmt er die Bestellung ihres aufgebrachten Hintermanns entgegen. Kat würde gern noch eine Weile bleiben, um zu sehen, ob er sein Notizbuch wieder herausholt, aber sie steht im Weg, die Leute wollen mit ihren Getränken durch. Sie versucht sich vorzustellen, wie Fripp aussieht, wenn er jemanden so begehrt wie der Typ vorhin seine Freundin, und sie kann es sich gut vorstellen, trotz seines Hemds und trotz ihrer Niederlage. Sie wüsste außerdem gern, ob alle anderen, die sie für siebzehn gehalten haben, lauter Idioten gewesen sind oder lauter Lügner oder warum es in Ordnung sein soll, bekifft von draußen wieder reinzukommen, wenn man drinnen nicht mal ein Bier kriegt, und was für eine Sorte von Macht dieser Fripp hat, abgesehen davon, dass er schon so alt ist. Die letzte Frage interessiert sie am meisten.

Als sie an der Tanzfläche vorbeikommt, ist der trudelnde Derwisch verschwunden, und drei Mädchen haben ein paar Quadratmeter Platz erobert. Sie stehen einander zugewandt und bilden ein Dreieck, groß genug, um ihre Köpfe und Arme frei und gefahrlos fliegen zu lassen; ihre Füße trippeln, hüpfen und stampfen, je nachdem, was die Musik von ihnen verlangt, und die verlangt viel. Ich bin mir ziemlich sicher, dass das jetzt Pink Floyd ist, sagt Kat in Gedanken zu Easy. Sie hätte sich gern zu den Mädchen gestellt und mit ihnen getanzt, aber sie ist noch lange nicht so weit, wird weiter zu Hause in ihrem Zimmer üben müssen, bis sie weiß, wie man dem Rhythmus vertraut und einem Körper, der sich noch zu gut an sein Versagen in der Tanzschule erinnert. Kat ist sicher, eines Tages wird auch sie die Macht haben, so zu tanzen, und dann können alle ihr zugucken und sie bewundern. Sie drängt sich weiter durch die Menge, ein bisschen Orangensaft schwappt ihr auf den Handrücken.

Du hast da was hängen, sagt Easy, als Kat sich wieder zu ihr setzt, und zupft ihr die Papierschlange von der Schulter.

Du sollst zum Kiffen mit uns rausgehen, sagt Kat zu Lothar, dem Wels. Schönen Gruß von Fripp.

Gut, dass du wieder da bist, Kat, sagt Easy.

Kat hat noch nie erlebt, dass Easy sich beschwert oder ihr etwas nachträgt. Easy nimmt Dinge hin und Menschen an, staunt über sie und verzeiht ihnen sofort. Sie will keine Macht und lässt sie Kat. In Kats Gegenwart ist Easy bereit, ein anderes Leben zu führen und nicht nur die Latein-AG zu schwänzen, sondern auch Stunden, die vor der ersten Pause liegen oder nach der Sechsten. Kat hat ein ausgeklügeltes Fehlzeiten-System und ist unschlagbar im Fälschen von Unterschriften. Zu Easys neuem Leben gehört eine Liste mit Dingen, die es schleunigst zu erleben oder zu lernen gilt: rauchen, trampen, die Namen von allen Rockbands kennen, Alkohol, Sex, zu Konzerten von allen Rockbands gehen, kiffen und Strippoker. Kat hat die Liste zusammengestellt, bis auf Strippoker, das ist Easys eigener Vorschlag gewesen.

Darf ich dir vorstellen: Lothar, sagt Easy. Er kann das komplette Synthesizersolo von Lucky Man auswendig. Ohne Synthesizer.

Ich sing’s dir um Mitternacht vor, meine Schöne, sagt Lothar.

War es sehr schlimm?, fragt Kat, aber Easy lächelt nur und zuckt mit den Achseln.

Was hältst du davon, wenn wir uns hier mal woanders hinstellen?, sagt Kat. Da, wo mehr los ist. Wir haben noch fast eine Stunde.

Easy kippt ihren Saft auf ex, rülpst und sagt: Ich möchte lieber weg hier und zu Rühlemanns Fete.

Super Idee, sagt Lothar. Fripp hat gesagt, ich soll mit euch rausgehen.

Kat und Easy sehen sich an. Kat sagt UAB, das soll ugly and boring heißen, aber Easy kann gar nicht wissen, was die Abkürzung bedeutet, Kat hat sie eben erst erfunden.

Da sind aber nur Leute aus unserer Klasse, sagt Kat. Mehr so Kindersilvester.

Ey, ihr seid doch mindestens siebzehn, sagt Lothar und beginnt, seine Sachen einzusammeln. Und jetzt rauchen wir erst mal die letzte Tüte im alten Jahr. Hat Isi sich gewünscht.

Ea-sy, sagt Kat, die so was hören kann, aber mit dem Zeigefinger wedelt sie nicht. Easy wie easy.

Easy, wiederholt Lothar.

Kat sieht Easy an, und Easy nickt. Na dann, sagt Kat.

Auf dem Weg zum Ausgang sieht Kat, dass jetzt ein dünnes Mädchen und ein noch dünnerer Junge die Getränke verkaufen. Fripp ist nirgendwo zu sehen, auch nicht mit Brille. Kat behält sie auf. Sie will niemandem mehr gefallen heute Abend.

Und, wie war Gott so?, fragt Easy und hakt sich bei Kat ein.

Gott weiß jedenfalls genau, wie alt seine Kinder sind, sagt Kat.

Auf dem Gehweg vor dem Jugendzentrum stehen trotz der Kälte viele Leute in Gruppen zusammen. Lothar führt sie hinter das Gebäude zu einem kleinen, schlecht beleuchteten Hinterhof. Sie sind nicht allein hier, aber ungestört. Er zieht etwas Weißes aus der Tasche, das wie ein bandagierter Finger aussieht, und übergibt es Easy mit den Worten: Hier, meine Teuerste, rauch dein Kunstwerk als Erste an. Kat ist für einen Moment sprachlos. Easy lässt sich von Lothar Feuer geben und zieht dreimal so heftig, dass die Glut an der Spitze aufleuchtet wie ein Notsignal.

Nicht so doll, sagt Lothar väterlich.

Easy verschwindet hinter einer stattlichen Rauchwolke und macht eine Handbewegung in Kats Richtung, aber Lothar hat das vorausgesehen und greift noch schneller zu. Klebt nicht gut, sagt er und leckt das Gebilde von allen Seiten gründlich an, bevor er es an die Lippen setzt, und Kat überlegt, ob sie diese Runde lieber ausfallen lässt, aber im gleichen Moment löst sich Easys Kunstwerk direkt vor Lothars Gesicht auf und segelt zu Boden. Er versucht noch, einzelne Teile aufzufangen, verbrennt sich und flucht.

Ich hab’s in diesem Jahr doch noch geschafft, Kat, sagt Easy überglücklich.

Mann, ich hab mein letztes Dope da reingetan, sagt Lothar und stößt mit der Schuhspitze in die verstreuten Überreste, dass die Funken stieben.

Sie gehen zurück zur Straße, Lothar holt sein Fahrrad, und zu dritt bahnen sie sich einen Weg durch die Menge vor dem Jugendzentrum, Lothar geht vor. Fripp lehnt an der Mauer gleich neben der Eingangstür und redet mit einem Mädchen. Sein Blick trifft Kats Blick und findet genau dieselbe Stelle in ihr wie vorhin, aber jetzt weiß er ja auch, wo die Stelle ist, und Kat findet Fripps braune Strickjacke genauso unmöglich wie sein Hemd und für ein paar Sekunden ihren eigenen Herzschlag nicht mehr.

Frohes Neues, großer Meister, ruft Lothar, und der Kontakt reißt ab, weil Fripp jetzt den Kopf schüttelt und die Augen kurz schließt.

Ich merke ü-ber-haupt nichts, sagt Easy.

Rühlemanns Einfamilienhaus am Rand der Neubausiedlung liegt einen fünfzehnminütigen Fußmarsch entfernt, den Lothar mühelos mit Anekdoten über Fripp füllen kann, er fährt vor ihnen Schlangenlinien mit seinem Fahrrad und stößt Atemwolken wie Sprechblasen aus. Kat und Easy müssen unbedingt erfahren, warum Fripp so heißt wie der Chef der englischen Band King Crimson die schon vier Alben eins geiler als das andere hat Fripp natürlich alle und sowieso die größte Plattensammlung da kann keiner mithalten weil totaler Durchblick und eigentlich ein Dichter und alles gelesen von Huxley und Kerouac und Timothy Leary. Kat ist irgendwann so genervt, dass sie Lothar vorschlägt, Easy das Lucky-Man-Solo jetzt schon vorzusingen, aber auf dem Fahrrad kann er das nicht, und in zwanzig Minuten ist sowieso 1973, also hey Babes, noch ein bisschen Geduld. Er sagt tatsächlich Babes.

Je näher sie dem Ortsrand kommen, umso weniger Leute treffen sie. Vor einer Garageneinfahrt sehen sie zwei Männer, die ihr Kleinfeuerwerk in Stellung bringen, gelegentlich explodieren irgendwo Knallfrösche oder Kanonenschläge, aber die meisten Siedlungsbewohner scheinen den Jahreswechsel hinter geschlossenen Fensterläden verbringen zu wollen, oder sie sind woanders eingeladen, so wie Rühlemanns Eltern. In deren Vorgarten ist einiges in Bewegung, das sehen sie schon von Weitem. Lothar lehnt sein Rad an den Zaun und starrt schweigend auf das glitzernde Ungetüm, das von drei Leuten unter johlendem Beifall der Umstehenden über den Rasen geschleppt wird, dann flüstert er: Das ist die Kommandokapsel von Apollo 17.

Das ist Rühlemanns Weihnachtsbaum, glaub ich, sagt Kat und macht die Pforte auf.

Ich hab mir das total anders vorgestellt, Kat, sagt Easy.

Bernd Rühlemann steht in der offenen Haustür und hat sichtlich Schwierigkeiten, sich auf den Beinen zu halten. Der Baum soll brennen, sagt er und bemüht sich, wenigstens Kat im Fokus zu behalten, aber sein Blick rutscht immer wieder ab. Er versucht es mit einer einladenden Geste, die ihn beinahe das Gleichgewicht kostet. Hinter ihm dröhnt Moli-ii-ii-na aus dem Wohnzimmer, ein Song aus der Hölle, der noch schlimmer wird, wenn lauter Idioten ihn mitgrölen, und es scheint drinnen genug davon zu geben. In der Gästetoilette im Flur erbricht sich jemand, dem es eindeutig egal ist, ob man ihn hört.

Nee, lass mal, sagt Kat. Warum wollt ihr den Baum anzünden?

Na, damit er nicht drinnen brennt, sagt Rühlemann verwundert.

Easy zupft schon eine Weile an Kats Ärmel und will etwas sagen, aber jetzt drängt sich Lothar dazwischen.

Nicht einfach anzünden, Mann! Habt ihr Silvesterraketen da? Wenn ihr ein paar unten dranmacht, hebt das Ding ab, iiiiiiiiieh, bäm. Ich mach das, ich bin Pyrofachmann!

Bernd Rühlemann kann auch im Vollrausch Physik. Wo kommt der Idiot denn her?, fragt er Kat.

Jugendzentrum, sagt Kat.

Es ist toll da, sagt Easy.

Versiffter Scheißladen, sagt Rühlemann und versucht, einen Arm um Kat zu legen. Kat weiß, dass er sie gut findet, er findet sie sogar besser als Easy, was selten genug vorkommt, aber von Rühlemann gut gefunden zu werden, reicht selbst in schwachen Momenten nur für ein kleines, belangloses Triumphgefühl. Zum Glück kommt jetzt einer angerannt und sagt, Rühlemann, der Baum steht wie ’ne Eins, es ist Ecki, der Schwachkopf mit der Zahnspange, der später unbedingt zur Bundeswehr will. Rühlemann braucht seinen Arm jetzt, um auf die Uhr zu sehen, er starrt eine Weile darauf und sagt dann: Noch vier Minuten.

Noch vier Minuten, brüllt Ecki in den Hausflur.

Kat, das Zeug wirkt bei mir nicht, sagt Easy.

Kat will antworten, aber jetzt kommen die Leute aus dem Wohnzimmer gerannt und wollen auch in den Garten, Renate, Sabine, Katrin, Eva, die komplette erste Schulbankreihe, mit verschmiertem Make-up und kreischend bunten T-Shirts, gefolgt von verlegen grinsenden Seitenscheiteln und Freaks, die wahrscheinlich den ganzen Abend über ihre Elektrobausätze geredet haben, die Sportler sind ja längst draußen. Auch Rühlemann setzt sich in Bewegung.

Wollt ihr nicht das Lametta vorher abmachen, fragt Kat, aber Rühlemann winkt verächtlich ab.

Irgendwas scheint mit Rühlemanns Uhr nicht zu stimmen, denn die Frequenz der Böller und Raketen, die bisher nur vereinzelt aus der Ferne zu hören waren, nimmt plötzlich rasant zu. Unter den Leuten, die um den Baum stehen, bricht Hektik aus, hat denn keiner ein Feuerzeug, das auch funktioniert, verdammte Scheiße, während Lothar ruft, es ist so weit, und Easy ein Stück vom Hauseingang wegzieht und sich auf dem Kiesweg vor ihr in Positur wirft, ein imaginäres Mikrofon in der Hand.

Das Solo geht eine Minute vierzehn Sekunden, ruft er gegen den Lärm an, aber ich nehme am Ende noch ein bisschen Percussion mit rein. Er öffnet den Mund und will anfangen, aber da kommt Ecki außer Atem bei ihnen an, ey, haste mal Feuer, wir haben ein Problem, und Lothar wühlt in seinen Sachen herum und findet die Streichhölzer, und Ecki rennt wieder davon.

Es muss schon längst 1973 sein. Kat steckt die Hände in die Manteltaschen und versucht sich vorzustellen, dass Fripp gerade an sie denkt, an dieses geheimnisvolle Mädchen mit den braunen Haaren, das ihm sogar mit Brille gut gefällt, ihr pummeliger Körper stört ihn überhaupt nicht, ganz im Gegenteil, ein bisschen zu jung ist sie vielleicht, aber witzig und klug, das ist ihm wichtiger, und außerdem hat sie die Macht, das haben sie gemeinsam.

Ich fang jetzt noch mal an, sagt Lothar.

Ich glaube, ich merke jetzt doch was, sagt Easy und schiebt ihre eiskalte Hand zu Kats in die Manteltasche, und Kat weiß nicht, ob sie das eine Minute und vierzehn Sekunden lang aushalten wird, als der erste Ton aus Lothar kommt.

Wiiiiii-di-da-lida-di-la-li-da-la-la-deeoo, singt Lothar, der menschliche Moog-Synthesizer, und dann fällt Easy um, einfach so, ungefähr zehn Minuten nach Mitternacht ist das, sie liegt bleich wie Milch und goldgelockt und mit weit aufgerissenen Augen in Rühlemanns Blumenrabatte und lächelt die Feuerwerkskörper im Nachthimmel an. Das ist der Moment, in dem Easys Vater den Wagen vor dem Haus parkt und aussteigt, und es ist der Moment, in dem Rühlemanns Weihnachtsbaum endlich unter dem Beifall und Jubel der Meute in Flammen aufgeht, aber auch genau der, in dem Kat denkt, dass 1973 zusammen mit Easy ein Superjahr werden könnte und tausendmal besser als all die Jahre davor.

Liebe Mockingbird,

ich suche mir Männer danach aus, ob mir ihr Verlust etwas ausmachen würde oder nicht. Ich nehme immer die, bei denen es nicht wehtut, wenn es vorbei ist. Manchmal verlassen sie mich, manchmal verlasse ich sie. Keiner von ihnen behandelt mich schlecht. Ich denke, ich sie auch nicht. Es ist in Ordnung für mich, so zu leben. Immer wieder Sex und Gesellschaft, aber ohne große Gefühle.

Natürlich weiß ich, dass es ein Verhaltensmuster ist. Es ist ein Muster, das ich endlos wiederhole, seitdem mein erster Freund tödlich verunglückt ist. Ich war damals sechzehn. Jetzt bin ich zweiundsechzig. Ich habe Freunde, ich habe Kinder, ich bin gesund, mein Leben gefällt mir – alles könnte so bleiben, wie es ist, aber plötzlich sehne ich mich danach, noch einmal jemanden richtig zu lieben. Einen Menschen zu finden, der mir wichtig ist. Ich will dieses Muster endlich durchbrechen. Ich weiß nur nicht, wie.

Ihre Ich-wills-wissen

 

Liebe Ich-wills-wissen,

viele unserer Verhaltensmuster sind eine Art Sicherheitspersonal, das wir irgendwann mal eingestellt haben. Solange wir unsere Wachleute mit den immergleichen Informationen und Überzeugungen versorgen – »Das hier ist viel zu gefährlich!« »So was hat noch nie geklappt!« –, machen sie zuverlässig ihren Job. Sie sind ausgesprochen humorlos, und auf Kündigungen reagieren sie nicht. Die einzige Möglichkeit, sie loszuwerden, besteht darin, eigene Denkweisen zu hinterfragen, die Perspektive zu wechseln und neue Erfahrungen zuzulassen. Es geht dabei keineswegs darum, sich die Vergangenheit schönzureden, sondern Geschehenes in einem anderen Kontext zu sehen. Ganz wichtig: Wer sein Sicherheitspersonal anschließend feuert, tut gut daran, ihm ein anständiges Zeugnis auszustellen und sich für die langen Jahre der erfolgreichen Zusammenarbeit zu bedanken, sonst drohen Vergeltungs- und Sabotageakte. Diese Leute verstehen, wie gesagt, keinen Spaß.

Wenn ich Ihre Zeilen lese, Ich-wills-wissen, habe ich ein Bild vor Augen: Ich sehe eine Reihe von Männern. Sie stehen Seite an Seite. Die Reihe beginnt mit dem Mann, mit dem Sie zuletzt zusammen waren, und führt immer weiter zurück, bis sie mit dem Mann endet, den Sie vor fast einem halben Jahrhundert verloren haben. Ich stelle mir vor, dass die Reihe recht lang ist. Vielleicht sind einige der Männer, die dort stehen, einander sehr ähnlich. Vielleicht ist die Reihe auch überraschend bunt und vielfältig.

Können Sie mit diesem Bild etwas anfangen? Dann möchte ich Ihnen ein Experiment vorschlagen, Ich-wills-wissen. Gehen Sie in Gedanken diese Reihe entlang. Erinnern Sie sich. Nehmen Sie sich Zeit für jeden einzelnen Mann. Was wäre liebenswert an ihm gewesen, wenn Sie ihn hätten lieben wollen? Was hätte er Ihnen geben können, wenn Sie ihn gelassen hätten? Und Sie ihm? Fragen Sie ihn, vielleicht antwortet er. Gehen Sie immer weiter zurück in Ihrer eigenen Geschichte, gehen Sie von Mann zu Mann, bis Sie schließlich bei dem ankommen, dessen Verlust Ihr Leben so geprägt hat. Vermutlich werden Sie ihm ganz andere Fragen stellen wollen. Ich denke, er wird Ihnen am meisten zu erzählen haben.

Die Versöhnung mit unserer Vergangenheit geschieht manchmal auf ganz andere Weise, als wir es uns vorgestellt haben. Weniger glamourös, oft ohne den einen bemerkenswerten Moment der Einsicht oder Vergebung, meistens fast beiläufig. Ich halte sie trotzdem für essenziell, wenn es darum geht, Neues auszuprobieren, denn eine Liebe, der nicht auch die Möglichkeit des Verlusts innewohnt, werden Sie nirgendwo finden, Ich-wills-wissen. Ohne die Macht Ihrer Muster werden Sie jedoch wenigstens die Wahl haben, sich darauf einzulassen oder nicht.

Ihre Mockingbird

Inhaltsverzeichnis

Kreta

Easy hätte dreißig Minuten früher landen sollen als ich. Warten, bis mein Koffer auf dem Gepäckband auftaucht, den Ausgang finden, desorientiert in die Menge starren, bis eine von uns zu winken beginnt, auf all das hatte ich mich vorbereitet, vor allem auf den Moment des Wiedererkennens: Ich bin alt geworden, du bist alt geworden, also los, bringen wir’s hinter uns. Stattdessen zog ich eine geschlagene Stunde lang meinen Rollkoffer kreuz und quer durch die leidlich klimatisierte Flughafenhalle, bis ich mir jeden Snack aus der Everest-Bar und jedes Gesicht derer eingeprägt hatte, die Schilder mit meist deutschen Nachnamen in die Höhe reckten, sobald jemand die Zollschranke passierte, und dabei ihre nass geschwitzten Achseln zeigten.

Aus den Lautsprechern plärrte in regelmäßigen Intervallen eine griechische Frauenstimme, ihre Durchsagen klangen wie Lösegeldforderungen und ließen mich jedes Mal zusammenschrecken. Ich begann sie Nemesis zu nennen, das half. Nemesis war Mitte vierzig und frisch geschieden und hatte Myome in der Gebärmutter. Danach bekam sie Osteoporose, Epilepsie und Dermatitis, bis mir keine griechischen Krankheiten mehr einfielen und auf der Ankunftstafel die Information erschien, dass Easys Maschine vor fünf Minuten gelandet war. Hypertonie, dachte ich. Ich stellte mich wieder in die Nähe des Ausgangs, und meine Unruhe wuchs mit jeder Frau um die sechzig, die in Fleecejacke und Wanderschuhen heraustrat. Sie sahen einander so ähnlich in ihrer patenten, gut gerüsteten Selbstgewissheit. Sie sahen nicht aus wie Frauen, die wir hätten werden können, Easy und ich.

Bei unserem ersten Gespräch nach wie vielen Jahren auch immer hatte sie mich mitten im Satz unterbrochen und gesagt, wir sollten aufhören zu telefonieren und uns lieber treffen. Ob ich Lust hätte, mit ihr nach Kreta zu fahren? Sie habe da was an der Südküste, mitten in der Natur, eher Bruchbude als Villa und auf den letzten Metern nur zu Fuß erreichbar, und ich protestierte sofort, weil ich meinte, das meinem Selbstbild schuldig zu sein: Zwei weißhaarige Damen beim Wandern, auf diese Funktionskleidungsscheiße hätte ich keinen Bock, sagte ich und wählte meine Worte sorgfältig, aber Easy antwortete, von Wandern sei hier nicht die Rede gewesen, und außerdem würde sie sich die Haare blond färben. Mich überzeugte das nicht, und mit ihr nach Kreta wollte ich auf keinen Fall, wir kannten uns doch gar nicht mehr, aber ich hätte sie gern an dieser Stelle gefragt, ob sie immer noch so schön sei wie früher und ob ihr das immer noch so egal sei. Stattdessen erfuhr ich von Easy, dass sie wieder in Laustedt lebe, was mich so sehr erschütterte, dass ich nicht mehr richtig zuhörte, als sie davon sprach, wie viel Zeit sie diesen Sommer in ihrem kretischen Haus verbringen wolle, ob einen Monat oder zwei.

Kurz darauf buchte ich meinen Flug. Fünf Tage schienen mir lange genug, um meine ernsthaften Absichten zu unterstreichen, und für den Fall, dass Easy und ich überhaupt nicht mehr kompatibel waren, gab es einen Plan B, ein Wellnessresort in der Hauptstadt Heraklion. Wir mailten noch ein paarmal hin und her, aber da ging es nur um praktische Dinge. Keine von uns hatte der anderen vorgeschlagen, aktuelle Fotos von sich zu schicken, um den ersten Schock abzumildern.

Zu den vielen Fragen, die bisher nicht gestellt worden waren, gehörte auch die, wie Easy mich überhaupt gefunden hatte. Abgesehen davon, dass ich meinen Mädchennamen nicht mehr trug, schrieb ich auf dem Blog nur unter dem Pseudonym Mockingbird, im Impressum stand die Adresse eines befreundeten Anwalts. Ich hatte von Anfang an ein Phantom bleiben wollen, gewiefter Onlinecoach für die einen, weise Alte für die anderen, Mutter, Schwester, Briefkastentante, paradox oder konventionell intervenierend, cool, sexy, unberechenbar, eine Projektionsfläche, ein Umriss zum Ausmalen. Die Idee dazu war mir gekommen, als ich in einem Zeitungsartikel gelesen hatte, gute Antworten zu geben würde sich keiner mehr trauen, dabei sehnten sich die Leute so sehr danach. Wie sehr sie sich tatsächlich sehnten, merkte ich erst, als mein Blog dank einer Nominierung für den Grimme-Preis aus der kompletten Bedeutungslosigkeit ins digitale Rampenlicht geschossen wurde und mir statt einer Frage pro Woche plötzlich dreihundert gestellt wurden. Zum ersten Mal im Leben konnte ich mir eine Jenny leisten, die nicht nur meinen Klarnamen kannte, sondern auch eingehende Nachrichten prüfte und vorsortierte, und weil meine Jenny überzeugt war, dass es im Leben nie zu spät für irgendwas sei, denn sie war noch sehr jung, hatte sie vor ein paar Wochen Easys Frage ganz oben auf ihre Top-fünf-Liste gesetzt, die sie mir mehrmals wöchentlich vorlegte, gefolgt von den Briefen eines gemobbten Teenagers, eines frisch verwitweten Studienrats, einer Stalkerin sowie einer jungen Kreativen, die sich für talentfrei und wertlos hielt. Ich folgte Jennys Empfehlung. Als ich den Absender »easy1973« las und endlich begriff, wem ich gerade antwortete, hatte ich den Blogeintrag schon fertig geschrieben. Ich ließ ihn stehen, wie er war, obwohl ich meine Antwort plötzlich nur noch mittelmäßig fand, aber eine mittelmäßige Antwort auf Easys Anschleichen von hinten erschien mir nur fair.

»Kat!«

Was ich als Erstes dachte, als Easy in der Ankunftshalle vor mir stand? Ich dachte: Oh Gott, sie stirbt bald. Kein gesunder Mensch kann so dünn sein. Sie hat Krebs oder irgendeine andere tödliche Krankheit. Mein zweiter Gedanke: Wie grotesk diese dicken Kajalstriche unter ihren Augen aussehen. Der dritte: Warum fühle ich überhaupt nichts?

Easys Umarmung war stürmisch, fast grob, und ich wich instinktiv zurück, glich mein Zurückweichen sofort durch eine kleine Vorwärtsbewegung aus, aber sie hatte es gemerkt; ich spürte ihr Innehalten und die Befangenheit, die sich zwischen uns ausbreitete. Ihre Haare waren strohig und kratzten an meiner Wange. Mir brach der Schweiß aus, heftig und unvermittelt, das war mir seit Ewigkeiten nicht mehr passiert, und ich ließ die Arme sinken und lachte und sagte: »Na, wer hätte das gedacht«, und: »Hallo, Easy.«

»Du siehst genauso aus, wie ich dich mir vorgestellt habe, Kat.«

Auf den zweiten Blick wirkte ihre Dünnheit nicht mehr ganz so beängstigend. Sie hatte ihren grellorangefarbenen Rucksack abgesetzt, bevor sie mich umarmt hatte, jetzt nahm sie ihn mit Schwung wieder auf, obwohl er nicht nach leichtem Gepäck aussah. Der gepolsterte Trageriemen schob ihre Bluse zur Seite und legte ihre Schulter frei, und die Abholer begannen sehnsüchtig mit den Namensschildern zu wedeln, um ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Easy sagte: »Komm, wir gehen unser Auto holen, Kat«, und lief los in Richtung Ausgang, und ich griff nach meinem Rollkoffer und folgte ihr.

Draußen empfing uns flirrende Mittagshitze, für Ende April sei das viel zu warm, rief Easy mir zu, es stank nach Frittierfett und den Abgasen der Reisebusse, die an den Haltestellen warteten. Das Areal der Autovermieter lag gleich neben dem Ankunftsterminal und kam mir verwirrend groß und unübersichtlich vor, aber Easy bahnte sich zielsicher ihren Weg zu einem Holzverschlag hinter der Europcar-Station, wo sie von einem jungen Griechen begrüßt wurde wie eine alte Freundin. Jassu, Küsschen, Küsschen, das ist Kat, das ist Kostas, kein Küsschen, aber ein freundlicher Handschlag für mich und eine eiskalte Flasche Wasser, die eilends aus einem Kühlfach geholt wurde. Ich fand etwas Schatten unter einem Dachvorsprung, während Easy und Kostas den Fuhrpark begutachteten, der, soweit ich das erkennen konnte, lediglich aus zwei Fahrzeugen einer mir unbekannten Marke bestand, einem roten und einem weißen, und anschließend die erforderlichen Formalitäten erledigten.

»Dein Führerschein, Kat. Damit Kostas dich als zweite Fahrerin eintragen kann.«

Ich hatte gerade die Flasche zum Trinken angesetzt und ließ sie wieder sinken. »Hab ich gar nicht dabei. Ich fahr nicht gern in fremden Gegenden. Ist das in Ordnung?«

Easy war deutlich anzusehen, dass sie nicht mit dieser Antwort gerechnet hatte. Ich konnte mir gut vorstellen, wie sehr es sie überrascht hätte, wenn ich bei der ganzen Wahrheit geblieben wäre: dass ich gar keinen Führerschein besaß. Auch nach all den Jahren schämte ich mich immer noch dafür, aber inzwischen log ich etwas entspannter. Immerhin war ich zu einer erträglichen Beifahrerin geworden, die unwillkürliche Bremsbewegungen unter Kontrolle hatte und Schreckenslaute mit Hustenanfällen kaschierte, die selbst in meinen Ohren etwas gekünstelt klangen, aber von den Fahrenden unkommentiert hingenommen wurden.

»Klar ist das in Ordnung, Kat«, sagte Easy. »Ich fahr sowieso am liebsten selbst.«

»Kali diaskedasi, omorfia mou«, sagte Kostas, als wir unser Gepäck verstaut hatten und in den roten Wagen eingestiegen waren, und warf einen kleinen Beutel durch das geöffnete Fenster, er landete in Easys Schoß, und sie lachte und steckte ihn in ihre Hosentasche. »Das heißt: Viel Spaß, meine Schöne«, sagte sie zu mir.

»Alles klar«, sagte ich.

Ich war nur ein einziges Mal in Griechenland gewesen, und das war auch schon viele Jahre her, aber ich hatte mir die Lieblosigkeit der Gewerbegebiete und Vorstädte gemerkt mit ihren Gebäuden, die entweder völlig heruntergekommen oder frei von Geschmack auf Luxus getrimmt waren, und schon damals hatte ich mich über die komplette Abwesenheit von Ästhetik gewundert in einem Land, das doch die Ästhetik erfunden hatte. Wir fuhren durch Gegenden, in denen sogar das Meer und der blaue Himmel hässlich aussahen, die Oleanderbüsche am Straßenrand trugen statt Blüten zerfetzte Plastikbeutel, und ich redete mir ein, das höre bestimmt irgendwann auf, und irgendwann falle mir auch etwas ein, was ich zu Easy sagen könnte. Ich starrte auf ihre Hände am Lenkrad, sie trug einen breiten Silberring am rechten Daumen. Mir war die Form ihrer Fingernägel immer noch vertraut: von einem wulstigen Bett umgeben, oben breit, nach unten schmal zulaufend, aber ich hatte gar nicht gewusst, dass ich das noch wusste.

»Irgendwo von hier aus ist Ikarus damals losgeflogen«, sagte Easy.

Die nächstliegende Antwort wäre gewesen, dass ich an Ikarus’ Stelle auch schnellstmöglich von hier abgehauen wäre, aber gleich zu Beginn ihre Insel beleidigen wollte ich nicht, also nickte ich nur. Erst als wir die letzten Ausläufer der Stadt hinter uns gelassen hatten und die Landschaft links und rechts etwas zu versprechen begann, was mir gefallen könnte, fiel mir ein, was ich sagen wollte, aber Easy sagte im selben Moment auch etwas, und unsere Sätze verschränkten sich ineinander, der eine so banal wie der andere.

»Sollen wir erst mal was essen, Kat?«

»Was war in dem Beutel drin, Dope?«

Wir lachten, erst noch etwas verlegen, aber dann, als wir nach einer kleinen Pause gleichzeitig mit »Ja« antworteten, klang unser Lachen fast wie früher, und ich dachte zum ersten Mal, dass es vorläufig in Ordnung sei, hier zu sein, in diesem Land, auf dieser Reise. Easy fuhr von der Schnellstraße ab. Wir fanden gleich im nächsten Ort eine Taverne am Marktplatz, die unter Platanen vor sich hindöste und ganz frei von Touristen war. An zwei Tischen im hinteren Teil des Gastraums saßen Männer, sie ließen Würfel über ihr Spielbrett klackern und schoben runde Steine mit lässiger Präzision über das Holz. Easy sagte, hier hieße das Tavli, nicht Backgammon, und empfahl mir den griechischen Salat, den könne man überall essen, sogar in Lokalen, wo die Speisekarten nur aus Bildern bestünden. Sie hatte recht. Ich war hungrig. Easy zertrümmerte lediglich ihren Feta und sah mir beim Essen zu.

»Du hast vorne ganz andere Zähne als früher, Kat«, sagte sie. »Ich auch. Da, guck mal.«

»Ich hab auch andere Augen«, sagte ich, ohne zu gucken.

»Brauchst du überhaupt keine Brille mehr?«

»Ganz selten mal zum Lesen.«

»Ich weiß noch, wie du dich mal auf deine Brille gesetzt hast, damit deine Mutter dir eine neue kauft. Und hinterher fandest du dich damit noch hässlicher als mit der alten.«

Ich fragte mich, ob Easy ihre naive Unverfrorenheit über die Jahre beibehalten oder ob sie sie anlässlich unseres Wiedersehens extra für mich wieder aktiviert hatte. Am wahrscheinlichsten schien mir, dass sie ihr Leben lang andere Menschen mit ihren Kommentaren bloßgestellt hatte, allerdings nie, ohne sich auch gleichzeitig selbst die Blöße zu geben. Was hatte ich mich manchmal vor Easys Unbekümmertheit gefürchtet, während andere sie gerade dafür bewunderten, dass sie Makel ansprach, die sie gar nicht als solche empfand.

Ich war mit meinem Salat fertig, Easy hatte in enormem Tempo aufgeholt und tränkte die letzten Brotscheiben in Olivenöl. Wir bestellten griechischen Kaffee, der mir nicht schmeckte und dessen Mehl mir an den Zähnen kleben blieb, und Zähne sollten hier nicht mehr das Thema sein.

»Los, erzähl. Wie bist du darauf gekommen, dass ich es bin, die auf diesem Blog schreibt?«

»Mockingbird[1]«, sagte Easy. Sie begann zu singen, und vom Brot in ihrer Hand tropfte Öl auf die Tischdecke. »Rain, sea, surf, sand, clouds and sky.«

»Das Lied haben Millionen andere auch toll gefunden, nicht nur wir beide.«

»Ich konnte deine Stimme hören, Kat. There’s a mocking bird singing songs just for you and me. Bei jeder Antwort. So deutlich, dass es mich verrückt gemacht hätte, dir nicht zu schreiben.«

»Ich schaffe das gar nicht mehr, alle Zuschriften zu lesen. Was, wenn ich nicht reagiert hätte?«

»Wäre ich immer noch überzeugt gewesen, dass du es bist. Und hätte es wieder versucht. Vielleicht mit einem anderen Problem, ich hab ja genug.«

»Mit einem anderen Problem hätte ich dich wahrscheinlich nicht erkannt.«