Die Geschichte von Lili Elbe -  - E-Book

Die Geschichte von Lili Elbe E-Book

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Beschreibung

In den 1920er Jahren führt der dänische Maler Einar Wegener mit seiner Frau Gerda, einer ebenfalls erfolgreichen Künstlerin, ein bewegtes Leben zwischen Dänemark, Frankreich und Italien. Als Gerda ihn eines Tages bittet, ihr in Frauenkleidern Modell zu stehen, setzt sie eine Entwicklung in Gang, deren Ende sich keiner von beiden vorstellen kann.Zum Spaß tritt Einar immer öfter bei gesellschaftlichen Anlässen als geheimnisvolle Frau namens "Lili" auf. Doch aus dem Spiel wird bald ein ernster innerer Konflikt. Schmerzhaft ringt Einar um seine Identität, bis er sich schließlich in Berlin und Dresden mehreren Operationen unterzieht, um fortan als Lili Elbe weiterzuleben.Neuausgabe des Bestsellers von 1932 - Mit einem Nachwort von Rainer Herrn.

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Harald Neckelmann (Hg.)

Die Geschichte von Lili Elbe

Ein Mensch wechselt sein Geschlecht

Mit einem Nachwort von Rainer Herrn

Neuausgabe des Buches:

Lili Elbe – Ein Mensch wechselt sein Geschlecht

Eine Lebensbeichte

Aus hinterlassenen Papieren herausgegeben von Niels Hoyer

Carl Reissner Verlag, Dresden 1932

Orthographie und Vokabular des Originaltextes wurden behutsam dem heutigen Sprachgebrauch angepasst, offenkundige Fehler stillschweigend korrigiert.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten.

Dieses Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen, Verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung auf DVDs, CD-ROMs, CDs, Videos, in weiteren elektronischen Systemen sowie für Internet-Plattformen.

ebook im be.bra verlag, 2019

© der Originalausgabe:

be.bra verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2019

KulturBrauerei Haus 2

Schönhauser Allee 37, 10435 Berlin

[email protected]

Lektorat: Katrin Endres, Berlin

Umschlaggestaltung: Manja Hellpap, Berlin (Titelmotiv: ullstein bild)

ISBN 978-3-8393-0140-1 (epub)

ISBN 978-3-89809-163-3 (print)

www.bebraverlag.de

Inhalt

Vorwort zur Neuausgabe

Lili Elbe – Ein Mensch wechselt sein Geschlecht

Nachwort zur Neuausgabe

Glossar

Bildnachweis

Personenverzeichnis

Gerda und Einar Wegener bei einer Ausstellung vor Gerda Wegeners Bild »Auf dem Weg nach Anacapri«, 1924.

Vorwort zur Neuausgabe

Das Schicksal des dänischen Malers Einar Wegener, der sich Anfang der 1930er Jahre zu einer geschlechtsangleichenden Operation entschloss, um fortan unter dem Namen Lili Elbe als Frau weiterzuleben, erregte schon unter den Zeitgenossen großes Aufsehen. Weltweit war das Publikum fasziniert von einer Geschichte, die aus einem schillernden Künstlerdasein in der Pariser Boheme an das berühmte Berliner Institut für Sexualwissenschaft unter der Leitung Magnus Hirschfelds und zum renommierten Mediziner Kurt Warnekros an die Dresdner Frauenklinik führte. Das 1931 erschienene Buch »Lili Elbe – Ein Mensch wechselt sein Geschlecht« wurde zum internationalen Beststeller. Es liegt nun, beinahe neunzig Jahre nach der Erstveröffentlichung, wieder auf Deutsch vor.

* * *

1882 wird Lili Elbe im dänischen Vejle als Einar Mogens Andreas Wegener geboren. Mit 19 Jahren beginnt dieser ein Studium an der Königlich Dänischen Kunstakademie in Kopenhagen, wo er die vier Jahre jüngere Gerda Marie Frederikke Gottlieb kennenlernt. Nach ihrer Heirat führen sie in der europäischen Kunstavantgarde ein bewegtes Leben zwischen Dänemark, Frankreich und Italien. Scheinbar ideale Voraussetzungen für eine erfolgreiche Karriere als Kunstschaffende und eine harmonische Ehe – wenn diese nicht von einem quälenden Identitätskonflikt Einars zunehmend verschattet würde. Auslöser ist ein harmloser »Spaß«, ein spontaner »Künstlereinfall«, wie es im Buch heißt. In Ermangelung eines weiblichen Modells überredet Gerda ihren Mann, ihr Modell zu stehen, geschminkt und ausstaffiert als Frau. Aus Einar wird Lili – mit anfangs nicht absehbaren Folgen: »So entstand Lili … und bei dem Namen ist es dann geblieben … Und nicht nur bei dem Namen …«

Lili, die anfangs nur als Modell für Gerdas Bilder, später auch als mondäner Feiergast auftritt, etabliert sich bald als beliebte Gesprächs- und Ateliergefährtin von Gerda. Das Paar merkt, dass »Lili« bald keine bloße Verkleidung mehr ist, die Einar je nach Lust und Laune an- und ablegen kann. Lili agiert in seinem Leben nun als ganz eigenständige, von Einar nicht nur durch Äußerlichkeiten, sondern auch im Wesen völlig verschiedene Person: »Allmählich bekam Lili über Einar die Übermacht, derart, dass man sie in ihm noch spüren konnte, selbst wenn sie sich … zurückgezogen hatte, aber niemals umgekehrt. Während er sich müde fühlte und dem Tode verfallen schien, war Lili froh und lebensfrisch.«

Es folgt eine krisenhafte Zeit, die sich bald in einen ernsten, beinahe lebensbedrohlichen Identitätskonflikt zuspitzt. Nach einer ermüdenden Odyssee zu verschiedenen Ärzten, in der er immer wieder auf Unverständnis, teilweise gar Ablehnung trifft, setzt Einar sich schließlich sogar ein Datum für seinen Freitod: »Ich sagte mir: da mein Fall bis jetzt in der Geschichte der ärztlichen Kunst unbekannt ist, so existiert er einfach nicht, durfte er einfach nicht existieren. Mein und damit auch Lilis Todesurteil war gefällt. Jetzt galt es nur noch, auf eine möglichst anständige und geräuschlose Weise Geduld zu haben, bis die kurze Frist, die ich mir selber gesetzt hatte, ausgelaufen war.«

Lili Elbe, gemalt von Gerda Wegener, ca. 1928.

Doch dazu kommt es nicht. Durch eine glückliche Vermittlung von Freunden konsultiert Einar Wegener den deutschen Arzt Kurt Warnekros, einen renommierten Spezialisten für kosmetische Chirurgie. Warnekros vermutet, dass Wegener »sowohl männliche wie weibliche Organe« besitzt und rät zu einer geschlechtsangleichenden Operation, die zur Lösung des peinigenden Konflikts führen soll. Einar Wegener willigt in Warnekros’ Vorschlag ein: »Seine letzte Hoffnung war, zu sterben, damit Lili zu einem neuen Leben erwachen könnte.«

Mit der Entscheidung Einar Wegeners, den von Warnekros aufgezeigten Weg der geschlechtsangleichenden Operation einzuschlagen, wird aus dem privaten Identitätskonflikt ein aufsehenerregendes Ereignis, eine medizinische Sensation.

* * *

Einar Wegener wird von Warnekros zuerst an das Institut für Sexualwissenschaft in Berlin vermittelt, eine der ersten Stationen zu seiner operativen Geschlechtsangleichung. Das Institut wird von Magnus Hirschfeld 1919 in einer großen dreistöckigen Villa im nördlichen Teil des Tiergartens gegründet. Es ist die erste derartige Einrichtung weltweit, am Eingang prangt in goldenen Lettern: »Dolori et Amori Sacrum« (Dem Schmerz und der Liebe gewidmet). Hirschfeld eröffnet dort die erste Sexualberatungsstelle Deutschlands, in der neben eugenischer Eheberatung auch Homosexuelle, Transvestiten und sogenannte Hermaphroditen beraten werden. Im Institut gibt es außerdem von Beginn an eine röntgenologische, psychotherapeutische und venerologische, später auch eine sexualchirurgische und -forensische Abteilung. Dort wird geforscht, beraten, therapiert und begutachtet, und, nicht zu vergessen, vor allem für ein modernes Sexualstrafrecht gekämpft. Obwohl uns viele der damals vertretenen Ansichten und angewendeten medizinischen Praktiken heute befremden würden, ist das Institut eine richtungsweisende Einrichtung für die Weimarer Zeit. Viele der renommiertesten Ärzte und Psychologen aus dem In- und Ausland treffen sich dort zu Tagungen oder zu Hospitationen. Das Institut dient aber auch als Raum für Begegnungen und Erfahrungsaustausch, Hirschfeld nennt es deshalb Zufluchtsstätte, was unter anderem zur Gründung der ersten Transvestitenorganisation führt. Am Nachmittagstee im Institut nehmen die meisten Mitarbeiter, die dort lebenden Patienten sowie auswärtige Freunde und Gäste, wie der Schriftsteller Christopher Isherwood, teil. Nach Kaffee und Kuchen »werden die mitgebrachten Handarbeiten hervorgeholt, man häkelt, strickt, stickt und näht« (Hirschfeld).

Das Institut für Sexualwissenschaft im Berliner Tiergarten.

Neben diesen eher betulich anmutenden Treffen, die vor allem dem persönlichen Austausch dienen, spielt auch das rauschende Nachtleben Berlins eine entscheidende Rolle für die Toleranz und Sichtbarmachung aller sexuellen Identitäten. In den »Goldenen Zwanziger Jahren« wird die Stadt Berlin zum Inbegriff einer neuen Zeit. Die frühe Sexualwissenschaft erlebt einen Höhepunkt auch in einer sichtbareren Vielfalt von persönlicher Identität, Geschlechtlichkeit und Sexualität. In Kabaretts, Zirkussen und Varieté-Theatern treten Imitatoren auf, die als Männer oder Frauen verkleidet viele Besucher anziehen. Transvestitenbälle finden statt. Curt Morecks »Führer durch das Lasterhafte Berlin« (1931) berichtet, dass die »Reiseagentur Cook« ihre Kunden in diese Lokale führt »wie in ein Raritätenkabinett, denn diese Zustände gehören zu den Sehenswürdigkeiten von Berlin.« Das »Eldorado«, das berühmteste Transvestitenlokal Berlins, wird auch von vielen Heterosexuellen besucht, die im Nachtleben unterwegs sind.

Umschlag der deutschen Erstausgabe von 1932.

Dieses öffentliche Interesse fördert die Veröffentlichung mehrerer angeblicher Memoiren oder Biographien über das Leben von Männern und Frauen, die die geschlechtliche Identität des anderen Geschlechts angenommen haben und zum Verständnis der Nöte und Schwierigkeiten der sexuellen »Zwischenstufen« (Hirschfeld) beitragen. Von der liberalen Presse Berlins werden diese Publikationen positiv aufgenommen. Ein frühes Beispiel ist Émile Zolas »Roman eines Konträrsexuellen« (1899), der einen jungen italienischen Adligen aus den 1880er Jahren als Titelhelden hat.

1907 erscheinen gleich zwei Veröffentlichungen mit transsexuellen Protagonisten: Unter dem Pseudonym »N. O. Body« erscheint das Buch »Aus eines Mannes Mädchenjahren«, in dem die Kindheit und Jugend von Karl M. Baer (1884–1956) erzählt wird, der mit nicht eindeutigen Geschlechtsmerkmalen geboren und als Mädchen bestimmt und aufgezogen wird. Als junge Frau unterzieht sich Baer bei Magnus Hirschfeld einer Geschlechtskorrektur und lebt fortan mit neuer Identität als Mann. Walter Homann veröffentlicht das »Tagebuch einer männlichen Braut«, das die eigenen Erfahrungen des Autors in einer fiktiven Geschichte erzählt. Gleichzeitig verarbeitet das Buch auch das Schicksal der »Comtesse Dina Alma de Paradeda«, die für Hirschfeld als Paradebeispiel eines Transvestiten gilt.

* * *

Auch Lili Elbe weiß um die Bedeutung ihrer lebensverändernden Entscheidung zu einem für die damalige Medizin neuartigen und riskanten Eingriff. In Dresden, der Stadt ihrer »Frauwerdung«, beschließt sie, durchaus mit Sendungsbewusstsein, ebenfalls ein Buch über ihr Leben zu veröffentlichen, »als die Beichte des ersten Menschen, der nicht unbewusst durch einer Mutter Schmerzen geboren wurde, sondern vollbewusst durch eigene Schmerzen.« Sie will damit die Öffentlichkeit in ganz intimer Weise an ihrem Schicksal teilhaben lassen. Mit Hilfe des jüdischen Schriftstellers, Übersetzers und Journalisten Ernst Harthern stellt sie ihre Tagebuchaufzeichnungen, Briefe und Erlebnisse zusammen.

Brief Lili Elbes aus Dresden an Ernst Harthern (Niels Hoyer), 1931.

Ernst Harthern kennt Lili Elbe seit 1914. Im Jahr 1884 in Stade geboren, lebt er seit 1926 in Kopenhagen als Korrespondent des Scherl-Verlags und schreibt für rund 200 Zeitungen Feuilletons und Nachrichten. Seit 1912 arbeitet er zusätzlich als Übersetzer, darunter unter anderem von Klassikern von Bjørnsterjne Bjørnson und Knut Hamsun. Harthern ist um einen deutsch-skandinavischen Kulturaustausch bemüht und überträgt auch deutsche Werke ins Skandinavische. Er wird aufgrund seiner jüdischen Abstammung 1933 entlassen. Drei Jahre später bürgert man ihn aus Deutschland aus. Hartherns Lebensthema heißt Heimat. Die Eltern sterben früh, er wächst bei einer ungeliebten Tante auf. Mehr noch als das jüdische Verhängnis bestimmen diese Verluste Hartherns »Heimatverlorenheit«. Das Buch über Lili Elbe spitzt dieses Thema als Identitätssuche zu. Und zwar nicht in Romanform, sondern als literarisch gestaltetes dramatisches Dokument. Harthern setzt sich vor den deutschen Besatzungstruppen 1943 nach Sigtuna in Schweden ab, wo er 1969 im Alter von 84 Jahren stirbt.

»Fra Mand til Kvinde« (Vom Mann zur Frau), so der Titel der dänischen Erstausgabe der Geschichte von Lili Elbe, wird von Harthern unter seinem Pseudonym Niels Hoyer herausgegeben. Bereits vor der Veröffentlichung des Buches erscheinen Beiträge in der dänischen Presse. Das Leben und die Arbeit der Wegeners hatten bereits in den 1910er und 1920er Jahren eine besondere Rolle in den Kopenhagener Zeitungen gespielt. Die Presse informiert die Öffentlichkeit viel genauer über den Entstehungsprozess als das Buch selbst. Der Zeitung »B. T.« berichtet Harthern, dass ein großer Teil des Buches während langer nächtlicher Gespräche entstand: »Durch andauernde Fragen und Antworten versuchten wir, zur tiefsten Wahrheit ihres Seelenlebens vorzudringen.«

Zeitungsbericht in der Kölnischen Illustrierten Zeitung, 14.3.1931.

1932 erscheint im Dresdner Carl Reissner Verlag die deutschsprachige Version, »Lili Elbe – Ein Mensch wechselt sein Geschlecht«, die sich 75 000-mal verkauft. Das Interesse an Elbes Geschichte ist enorm: nur ein Jahr später folgt die englische Ausgabe in London und New York sowie Übersetzungen ins Ungarische, Tschechische, Japanische, Spanische, Niederländische und Französische. In der Frankfurter Zeitung schreibt Wolfgang von Einsiedel am 27. November 1932, dass bei der Geschichte von Lili Elbe etwas Banales mitschwinge: »Dass die vorliegenden Aufzeichnungen nicht zur Form gediehen, sondern gleichsam Improvisationen geblieben sind, erhöht ihren dokumentarischen Wert. Denn auf diese Weise wird die Art der an sich literarisch anspruchslosen, fast dilettantischen Darstellungen mindestens so aufschlussreich wie die berichteten Tatsachen selbst: als unverfälschter Ausdruck einer eigentümlichen Zwitterhaftigkeit.« In der Neuen Freien Presse aus Wien heißt es am 6. November 1932: »Die fremdartigen, düsteren und manchmal unheimlichen Erlebnisse (…) sind nur aus dem Gesichtswinkel des Seelischen geschrieben. Die Art der Operationen (…) wird nur in einer Nachbemerkung (…) gestreift.« Der Albany Democrat Herald aus Oregon schreibt am 18. März 1953 über die amerikanische Neuauflage: »Es sind die Tagebücher selbst, die den Leser ergreifen, denn in ihnen werden Schritt für Schritt die psychologischen Veränderungen gezeigt, die den physischen und den tiefen, schrecklichen und süßen Kampf begleiten.«

Umschlag der US-amerikanischen Ausgabe von 1953.

Als einziges von Hartherns Büchern wird »Lili Elbe – Ein Mensch wechselt sein Geschlecht« 1954 erneut aufgelegt, diesmal unter dem Titel »Wandlung – eine Lebensbeichte«. Anlass dazu liefert die US-Amerikanerin Christine Jorgensen (1926–1989), die nach ihrer geschlechtsangleichenden Operation 1952 in den Vereinigten Staaten große mediale Aufmerksamkeit erhält. Die internationalen Ausgaben von Lili Elbe werden erfolgreich neu verlegt. Die US-Taschenbuchausgabe »Man into Woman« bringt es auf 1,25 Millionen verkaufte Exemplare.

Trotz ihrer Bedeutung ist Lili Elbe danach von der Öffentlichkeit lange Zeit beinahe völlig vergessen, bis im Jahr 2015 der US-amerikanische Film »The Danish Girl« erscheint. Die Filmbiografie macht erneut auf die bis heute inspirierende Figur aufmerksam. Der stark fiktionalisierte Filmplot basiert auf dem gleichnamigen Roman des US-Amerikaners David Eberhoff aus dem Jahr 2000, dem wiederum die Lebensgeschichte von Lili Elbe als Vorlage diente.

* * *

Lili Elbe wird dreimal erfolgreich operiert. Ihre vierte und letzte Operation soll ihr ihren sehnlichsten Wunsch, »einmal Mutter werden« zu können, erfüllen.

Lili Elbe stirbt mit 48 Jahren in Dresden.

* * *

Woran sie nach dieser letzten Operation gestorben ist, bleibt unklar. Die Unterlagen der Dresdner Frauenklinik gingen im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs im Februar 1945 verloren, die Sterbeurkunde enthält keine Eintragungen. Einige meinen, ihr Tod hänge mit einer Herzlähmung als Folge der letzten Operation zusammen. Andere denken, diese Herzlähmung stehe mit einem alten Nierenleiden in Zusammenhang. Lili Elbe liegt auf dem Trinitatisfriedhof in Dresden beerdigt. Im April 2016 fand auf dem Friedhof anlässlich der Wiedererrichtung ihrer Grabstätte eine Gedenkveranstaltung zu ihren Ehren statt.

Zeitungsbericht in der Sonntagsausgabe des Des Moines Register (Iowa), 1933.

Nach dem Tod Lili Elbes betonte der Autor Ernst Harthern, dass die Sterbende in ihren letzten Tagen vor allem an das Buch gedacht habe. Sie sei begeistert gewesen, der Wissenschaft zu dienen. Durch die Veröffentlichung habe sie die Missverständnisse über ihr Leben auflösen und ihre Mitmenschen dazu anhalten wollen, andere Menschen nicht zu verurteilen.

Die authentische »Lebensbeichte« von Lili Elbe liest sich dabei keineswegs politisch oder kämpferisch – stattdessen als ein ergreifender Bericht über eine Identitätskrise, die erst durch die langwierige und schmerzhafte Angleichung des Körpers an das gefühlte eigene Geschlecht ein Ende findet. So wird aus einem aufsehenerregenden »Fall« die Geschichte des zutiefst menschlichen Bedürfnisses nach einem Platz im Leben – »kein Roman, sondern nichts als ein harter, wahrhaftiger Lebensbericht eines Wesens (…), das Klarheit und Ruhe und Frieden sucht …« (Lili Elbe).

Berlin, im September 2019

Harald Neckelmann

Vorwort

Lili Elbes letztem Willen gemäß habe ich ihre hinterlassenen Aufzeichnungen zu diesem Buch gesammelt. Es ist ein wahrhaftiger Lebensbericht, niedergeschrieben von einem Wesen, dessen Weg auf Erden sich zu einer beispiellosen Schicksalstragödie gestaltet hat, die Lebensbeichte eines Menschen, dessen Heimsuchungen außerhalb der Bezirke unserer gewohnten Vorstellungen liegen.

Der deutsche Arzt, dessen kühne Operationen es dem todkranken und verzweifelten dänischen Maler Einar Wegener ermöglicht hatten, sein Leben in voller Übereinstimmung mit seiner eigentlichen Natur fortzusetzen, hat das Buch in meiner deutschen Wiedergabe gutgeheißen. Auf Lili Elbes Wunsch sind für die Personen, von denen sie erzählt, Decknamen* benutzt worden.

Ihren eigenen Namen, erwählt aus Dankbarkeit gegen die deutsche Stadt, in der sich ihr Menschenschicksal erfüllt, hat sie beibehalten.

Dieser deutschen Ausgabe ging eine dänische Ausgabe voraus, erschienen im Dezember vorigen Jahres in Kopenhagen-Dänemark, Einar Wegeners Geburtsheimat. Gleichzeitig mit der deutschen Ausgabe werden Ausgaben in den übrigen Weltsprachen erscheinen.

Ihrem großen Helfer in Dresden, ihrer Lebenskameradin im fernen Süden, ihrem treuesten Freunde in Paris soll Lili Elbes Buch aus Dankbarkeit zugeeignet sein.

Niels Hoyer

I

Paris. Quartier Saint Germain. An einem Februarabend 1930. In einer stillen Straße mit vornehmen Palais – ein kleines Restaurant.

Ausländer, meist Künstler, ein kleiner Kreis, sind Stammgäste bei ihm.

Zu ihnen gehören Einar und Gerda Wegener, ein dänisches Malerpaar, und ihr italienischer Freund Eric Moïse Allatini mit seiner eleganten französischen Frau Hélène.

Ein ganzes Jahr lang haben sie einander nicht gesehen. Das eine Paar durchzog den Norden, das andere den Süden Europas.

»Skål«, ruft Einar auf gut nordische Art und hebt sein Glas, »dieser Wein, Kinder, ist für die Seele, was Hochgebirgssonne für den Körper ist. Und dabei fällt mir eine prachtvolle Legende von der Kathedrale in Sevilla ein, die Gerda und ich neulich bestaunten. Unter dem Sockel der höchsten Säule haben sie einen Sonnenstrahl eingemauert, das ist die ganze Legende …«

»Herrlich«, ruft Eric begeistert.

»Himmlisch, Einar«, fällt Frau Hélène ein und drückt ihm warm die Hand.

Und Frau Gerda lächelt glücklich und sinnend.

Gerda und Eric tauschen in kunterbuntem Durcheinander Reiseeindrücke miteinander aus, Wanderungen durch Museen und verrufene Gassenwinkel in Cadix und Antwerpen, Entdeckerfahrten durch Basare auf dem Balkan und in Trödlerkeller im Haag und Amsterdam! Einer will den andern überbieten. So ist Gerda. So ist Eric. Völlig bei der Sache. Mit tief ernsten, kunstbegeisterten Augen.

Indes Einar sich von Hélène ergötzliche und sogar anzügliche allerneueste Skandalgeschichtchen aus Rom und Madrid ins Ohr flüstern lässt.

»Trinken Sie nicht zu viel, Einar?« unterbricht plötzlich Frau Hélène sich selber mitten in einer »allerneuesten«, nur im Flüsterton zu erzählenden Unglaublichkeit … Ihr ist das allmählich recht nervös gewordene, blasse Mienenspiel des Freundes aufgefallen. »Sie wollen heute Abend den Gesunden spielen.«

Eric und Gerda haben Hélènes Worte aufgefangen. Gerda blickt nur stumm auf Einar. Eric nimmt die Hand des Freundes. »Verursacht Lili Ihnen wieder Pein?« fragt er voll Besorgnis.

»Erraten, Eric«, antwortet Einar sehr ernst. »Nach und nach wird dieser Zustand unerträglich. Lili will sich nicht mehr darein finden, sich mit mir ihr Dasein zu teilen. Sie will ihr Dasein für sich allein haben. Ich weiß nicht, ob Ihr mich versteht … Ich? – Ach, ich bin nichts mehr wert. Kann nichts mehr. Bin fertig. Das weiß Lili längst … So ist es … Und drum macht sie von Tag zu Tag energischeren Aufruhr … Was will ich noch mit mir … Die Frage mag seltsam klingen … Nur Toren glauben, sie seien unentbehrlich … unersetzbar … Doch jetzt kein Wort mehr davon … Trinken wir! Trinken wir einen feurigen, süßen Asti, um Hélène eine Freude zu bereiten.«

»Bravo«, ruft Hélène und lässt die Augen nicht von Einar, der sich müde erhebt und recht schlaff zur Theke geht.

»Sag mir schnell«, flüstert Hélène der Freundin zugebeugt, »wie sieht es mit unserm Freund aus. Sein Aussehen gefällt mir nicht.«

Gerda hat ihr Lächeln verloren. »So schlimm stand es noch nie mit ihm.«

Eric und Hélène schauen die Freundin wortlos an.

»Ich habe alle Hoffnung auf Rettung für ihn fast aufgegeben«, spricht sehr leise Gerda, »wenn nicht ein Wunder …«

Hélène unterbricht sie lebhaft. »Siehst du, du sprichst es aus … ein Wunder.«

Gerda sieht die Freundin fragend an.

»Also hör. Ein sehr guter Freund von uns ist dieser Tage in Paris … Aus Dresden. Ein Frauenarzt. Er klingelte uns heute früh an, kurz nachdem wir mit Einar am Telefon gesprochen hatten. Und da fiel mir sofort ein: kann jemand Einar helfen, dann nur der Professor aus Dresden. Und die Sache hat Eile. Denn der Professor muss schon morgen Nachmittag wieder nach Deutschland zurück. Ich will noch heute Abend mit ihm ein Rendezvous verabreden …«

Gerda macht nur eine müde Handbewegung. »Liebste Hélène, es ist zwecklos. Einar will keine Ärzte mehr sehen.«

Hélène hat beide Hände Gerdas genommen.

»Gerda, Liebste, jetzt dürfen Sie nicht widersprechen, Ihr müsst diesmal gehorchen, und ich rufe noch heute Abend bei dem Professor an. Ich weiß, der Professor wird ihm helfen können …«

Gerda steckt sich langsam eine Zigarette an. Sie bläst den blauen Rauch der Zigarette von sich. Sie starrt in den Rauch hinein.

Dann sagt sie langsam, unerregt und bestimmt: »Gut, Hélène, rufen Sie Ihren deutschen Professor an … Und ich will Einar überreden, dass er sich morgen zeitig bei Ihnen einstellt.«

Einar kommt zurück. Zwei Flaschen Asti hält er wie eine Beute vor sich …

*

Als Gerda und Einar zu später Stunde die Avenue hinunterflanieren, in deren Nähe ihre Atelierwohnung liegt, gesteht sie anfangs vorsichtig, dann aber mit Nachdruck, was sie mit Hélène beschlossen hat. Einar ist außer sich. Mitten auf der Straße bleibt er stehen, rast. Er lasse sich weder von einem deutschen noch von einem französischen noch von einem hindostanischen usw. Quacksalber untersuchen. Er sei fertig mit diesen Menschenschindern …

Schon seit vielen Jahren war er krank. Zahllose Ärzte und Spezialisten hatten sie aufgesucht – ohne Resultat. Jetzt war er so müde. Ihm war das Leben zu einer Pein geworden …

Niemand hatte verstanden, was ihm fehlte. Aber sein Leiden war auch von so wunderlicher Art. Ein Spezialist in Versailles hatte ihn ohne Weiteres für einen Hysteriker erklärt; im Übrigen sei er ein völlig normaler Mann, der sich nur in aller Vernunft als Mann benehmen solle, um zu neuem, besserem Leben »aufzublühen«; dem Patienten fehle nichts weiter als die Überzeugung, dass er völlig gesund und normal sei …

Ein junger Arzt, ebenfalls in Versailles, hatte zwar festgestellt, dass »nicht alles so war, wie es sein müsste« … aber dann hatte er Einar mit folgenden trostreichen Worten entlassen: »Scheren Sie sich um nichts, was auch mit Ihrem Körper vor sich geht. Sie sind so gesund und unverdorben. Sie können schon etwas aushalten.«

Eine etwas mystisch veranlagte medizinische Persönlichkeit aus Wien, ein Freund von Steinach, war mit ihrer Diagnose schon auf dem richtigen Weg. »Nur ein kühner, waghalsiger Arzt kann Ihnen helfen«, hatte dieser Mann erklärt, »aber wo finden Sie einen solchen Arzt heutzutage …?«

Ein Radiologe war sehr aktiv gewesen, aber er hätte Einar auch beinahe umgebracht …

Danach hatte Einar sich ein Herz gefasst und war mit drei Chirurgen in Verbindung getreten.

Der erste hatte erklärt, er hätte bislang noch niemals »Verschönerungsoperationen« ausgeführt; der zweite untersuchte ausschließlich den Blinddarm, und der dritte erklärte Einar für »völlig verrückt«. Diesem dritten Spezialisten würden die meisten Menschen wahrscheinlich recht gegeben haben: denn Einar glaubte, er sei in Wirklichkeit überhaupt kein – Mann, sondern eine Frau …

Und er war müde geworden und hatte sich selber gelobt, keinen Arzt mehr aufzusuchen. Er hatte den Entschluss gefasst, sich aus dem Dasein zurückzuziehen. Der erste Mai sollte der Stichtag sein … Das Frühjahr ist eine gefährliche Zeit für Kranke und Müde …

Er hatte sich alles überlegt … sogar seinen Abgang … Es sollte gewissermaßen wie eine höfliche Verbeugung vor der Natur sein … Jetzt war es Februar … März und April waren noch Wartezeit … Gnadenfrist … er war ruhig …

Das einzige, was ihn quälte, ihn unsagbar peinigte, war der Gedanke an seine Frau – die treue Freundin und Gefährtin seines Lebens.

Gerda Wegener war eine Künstlerin von großem Talent. Ihre Bilder wirkten erregend, aufpeitschend wie ein Duft aus den Dschungeln von Paris …

Vielleicht … weil ihre Ehe eigentlich fast von Anfang an vor allem Kameradschaft war, fanden sie beide das Leben angenehm und lebenswert, nur wenn sie beieinander waren …

Kaum erwachsen, noch auf der Kunstakademie in Kopenhagen, hatten sie geheiratet. Ein paar Tage vor der Hochzeit hatte Einar sein allererstes Bild auf seiner allerersten Ausstellung verkauft.

Sie hatten meist im Ausland gelebt, vor allem in Paris. Und dieses Leben in der Fremde hatte sie vielleicht noch inniger miteinander verknüpft.

Deshalb gab es jetzt so oft Augenblicke für Einar, in denen er sich wie ein Verräter Gerda gegenüber vorkam. Er hatte erkannt, dass er nicht mehr arbeiten konnte: er hatte Angst, Gerda zur Last zu fallen … Dieser Gedanke würgte ihn seit Monaten, erdrosselte alles Frohe in ihm …

Gerda kannte seine Gedanken. Doch was sie auch aufbot, um ihm neue Hoffnung zu machen, sie ahnte, es war zwecklos … So vieles verband sie miteinander. So viele Kämpfe, so viele Erinnerungen, helle und dunkle … Und vielleicht am allermeisten – Lili … Denn Einar bestand aus zwei Wesen: aus einem Mann, Einar – und aus einem Mädchen: Lili … Man konnte sie auch Zwillinge nennen, die beide zu gleicher Zeit den einen Körper in Besitz genommen hatten.

Im Charakter waren sie beide sehr verschieden.

Gerda Wegener, fotografiert von Einar Wegener in der Rue de Lille, Paris 1917.

Allmählich bekam Lili über Einar die Übermacht, derart, dass man sie in ihm noch spüren konnte, selbst wenn sie sich … zurückgezogen hatte, aber niemals umgekehrt. Während er sich müde fühlte und dem Tod verfallen schien, war Lili froh und lebensfrisch.

Sie war Gerdas Lieblingsmodell geworden. Durch ihre besten Arbeiten wandelte Lili …

Gerda fühlte sich als Beschützer dieser sorglosen und hilflosen Lili. Und Einar fühlte sich als Beschützer beider …

Seine letzte Hoffnung war, zu sterben, damit Lili zu einem neuen Leben erwachen könnte.

II

Am nächsten Morgen spricht Gerda gütig auf ihn ein, setzt ihm klar und froh auseinander, dass er, wenn nicht aus einem anderen Grund, so doch aus Höflichkeit zu Hélène hingehen müsse. Dort könne er dann immer noch eine Ausrede finden, falls es ihm zuwider sei, ihren deutschen Professor aufzusuchen.

Eine Stunde später macht er sich auf den Weg nach Passy, wo Hélène wohnt.

Punkt zwölf Uhr hält ihr Wagen vor dem Absteigquartier des deutschen Arztes. Während Hélène den Klingelzug in Bewegung setzt, flüstert Einar: »Vielleicht ist es doch ganz interessant, Ihre deutsche Berühmtheit von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Da er einer Rasse angehört, bei der das Interesse für wissenschaftliche Forschung so stark ausgeprägt ist, dass dieses Interesse möglicherweise den Drang des Mannes im Allgemeinen, sich ganz besonders nach Gottes Ebenbild angefertigt zu sehen …«

»Um Himmels willen, Einar«, unterbricht ihn Hélène, »nur jetzt hier draußen keinen Vortrag halten …«

Einar fasst die Hand der Freundin. »Hélène, ich meine ja nur … ich hoffe ja nur … wie soll ich es ausdrücken …«

Hélène sieht den Freund, der bleich vor Erregung ist, jetzt sehr ernst an. »Sprechen Sie, Einar …«

Und dann stößt er heraus: »… dass er mich nur nicht als einen traurigen Überläufer betrachten wird, – weil ich lieber Weib als Mann sein will …«

»Nein, Einar, dafür verbürge ich mich.«

Man hört Schritte innen. Die Tür wird geöffnet. Ein Diener empfängt sie. Und ehe er das Paar noch gemeldet hat, kommt ein großer, schlanker Herr ihnen entgegen. Der dunkelblaue Sakkoanzug betont auf eine fast militärische Art die straffe Eleganz der Erscheinung. Das zurückgekämmte Haar liegt wie eine dunkle, blanke Masse über der hohen Stirn, während der kleine, amerikanisch gestutzte Bart auf der Oberlippe einen leicht blonden Ton hat.

Wenn Einar später versuchte, sich diese Gesichtszüge ins Gedächtnis zurückzurufen, so wurde jedes Mal alles vor den Augen ausgewischt … Von diesen graublauen, tief liegenden Augen, die zugleich hell und dunkel waren, strahlte ein seltsamer, bannender Zauber aus.

Es war Kurt Warnekros …

Einar fühlt sein Herz hart pochen. Während der Professor mit einer etwas zeremoniellen Herzlichkeit sie in den Salon führt und mit Hélène einige Worte austauscht, fällt Einar zum ersten Mal in seinem Leben auf, dass Deutsch eine schöne und musikalische Sprache sei …

Wie im Traum hört er der Unterhaltung der beiden zu … auch dann noch, als Hélène dem Professor von ihm und seiner Leidensgeschichte, leise und wie nebenbei, dann und wann ihm einen schnellen, lieben Blick zuwerfend, erzählt.

Diese Stimme … nichts anderes kann Einar denken, empfinden. Er ist wie von einem Bann umschlossen, von dem Bann dieser Stimme. Sie gleicht seinen Augen, sie ist hell und dunkel zugleich wie die Augen. Sie dringt in den andern ein. Die Augen, die Stimme. Bis in die heimlichste Seelenfalte hinein …

Und was wird diese Stimme nun ihm zu sagen haben … und diese Augen, was werden sie ihm mit ihrem Blick verkünden? … Ein Todesurteil? … Erwartet er etwas anderes als dies? … Erwartet er überhaupt etwas? Ist er überhaupt zu irgendeinem Ziel hierher gegangen?

Der Professor steht vor ihm, sieht ihn kaum an, spricht nur ein paar knappe Worte zu ihm. Und er folgt ihm in ein neben dem Salon liegendes Zimmer … dort muss er sich entkleiden. Wie ein Schlafwandler bin ich jetzt, denkt es fern und nebelhaft in Einar, er muss gehorchen, willenlos … er will etwas sprechen … er sucht nach deutschen Worten.

»Sie brauchen mir keine Erklärungen zu geben, mein Herr«, unterbricht der Professor ihn rücksichtsvoll.

»Hier, nicht wahr? schmerzt es … und dort … und ebenfalls dort … nicht wahr?« und langsam gleitet seine Hand über Einars Leib dahin. Einar braucht nur leise und scheu zu nicken … und ein fast schreckhaftes Erstaunen erfasst ihn. Woher weiß dieser fremde Mann, wo seine Schmerzen wohnen?

Und dieses Erstaunen steigert sich zu Verblüfftheit, als der Professor, dem Frau Hélène ein Bündel Fotografien von Lili zugesteckt hat, die Bilder aus dem Umschlag herausnimmt und sie vor sich auf den Tisch legt in der Reihenfolge der Jahre, die auf der Rückseite, von dem Professor nicht beachtet, vermerkt stehen …

Der Gynäkologe Kurt Warnekros, gemalt von Gerda Wegener, Dresden 1930.

»Da haben wir also die Entwicklung …« sagt der Professor schlicht. Einar nickt nicht einmal.

»Wie ich höre, hat ein Radiologe Sie mit Röntgenstrahlen behandelt …, und zwar, ohne vorher chemische oder mikroskopische Untersuchungen vorgenommen zu haben … unmöglich, zu sagen, ob er damit die Keimdrüsen, eventuell also auch vorhandene Ovarien ungünstig beeinflusst hat – das muss die weitere Untersuchung ergeben.«

»Ovarien …« Einar stößt das Wort wie einen Schrei heraus, »ich … habe … also …?« Weiter kommt er nicht … Er kann vor Erregung kaum atmen … alles dreht sich im Wirbel um ihn …

»Höchstwahrscheinlich«, antwortet der Professor, unerschütterlich und sachlich, und dennoch gedämpft durch den Ton seiner jetzt sehr weichen, diskreten Stimme … immer wieder hat Einar an diesen leicht umschleierten Klang denken müssen … und nicht nur Einar … »Sehen Sie, ich vermute, dass Sie sowohl männliche wie weibliche Organe besitzen, und keins von beiden hat Raum genug erhalten, um sich völlig zu entwickeln. Es ist ein Glück für Sie, dass Sie sich so ausgesprochen als Weib fühlen … Und deshalb glaube ich, werde ich Ihnen helfen können.«

Einar muss sich ans Herz greifen. Er beugt sich vor, um jedem Wort, das der fremde Mann da spricht, so nahe wie nur möglich zu sein in dem Augenblick, wo es ausgesprochen wird. Er blickt dem fremden Mann starr in die Augen, um auch in seinem Blick diese Worte bestätigt zu finden …

»Und … Herr Professor … und was soll ich … was …«

Der Professor ist aufgestanden, geht ein paarmal auf und ab, als denke er nach, wendet sich dann wieder gegen Einar. Und wieder trinkt Einar seine Worte …

»Kommen Sie zu mir nach Deutschland. Ich hoffe, dass ich Ihnen ein neues Leben und eine neue Jugend geben kann.«

… So grenzenlos einfach werden diese Worte gesagt.

Einar hat sich aufgerichtet. Er ringt um Sprache.

»Also wird es Lili sein, die … leben … darf …?«

»Ja«, antwortet Kurt Warnekros. »Ich werde Sie operieren, Ihnen neue, kräftige Ovarien geben. Dieser Eingriff wird Sie über jenen Stillstand in Ihrer Entwicklung hinwegbringen, dem Sie im Pubertätsalter verfielen. Vorher aber werden Sie sich in Berlin noch verschiedenen vorbereitenden Behandlungen unterziehen müssen. Dann kommen Sie zu mir nach Dresden.«

Damit schloss dieses erste, schicksalsvolle Gespräch zwischen dem fremden Mann und Einar, der noch atemlos dasaß, als Hélène, von dem Professor in das Arbeitszimmer geführt, vor ihm stand … Und sie lächelte, um ihre Ergriffenheit nicht zur Schau zu tragen.

Sinnend stand der Arzt wieder wie für sich allein da …blickte plötzlich Einar an … dann Hélène … »Ich darf doch offen fragen?« sagte er, von einem zum andern blickend.

»Aber bitte«, erwiderte Einar, »vor Frau Hélène habe ich keine Geheimnisse …«

»Nun denn«, begann der Professor, »wie ich höre, sind Sie … verheiratet …«

Einar glühte vor Verlegenheit …

»Ihre Ehe … vielleicht können Sie mir da einiges erklären, weil es für mich als Arzt immerhin …«

Jeder von ihnen empfand das Fantastische dieses Augenblicks und auch das Natürliche, Selbstverständliche dieser Frage.

»Vielleicht gehe ich doch …« fragte Hélène den Freund voller Schonung.

Einar hielt sie fest. »Nein, Hélène, nein, nicht gehen, nicht …«

Der Professor kam beiden zu Hilfe. Sein Lächeln wirkte in diesem Augenblick wie eine Befreiung. »Wie verhält es sich zum Beispiel mit … nun, ich hörte den Namen Lili – nun also mit Lili und den Männern … ich meine, interessieren sich die Männer für Lili …?«

»Aber ja«, rief Hélène lachend, »es ist schier unglaublich, welch eine Anziehungskraft Lili auf unsere Herrenwelt ausübt.«

Einar wollte sie unterbrechen. Der Professor lachte jetzt herzhaft. »Bitte, jetzt hat die gnädige Frau das Wort.«

Und Einar ließ es über sich ergehen: »Ich hab es mit eigenen Augen erlebt, auf verschiedenen Karnevals und Bällen!«

Der Professor wurde wieder sachlich. »Was Sie da erzählen, gnädige Frau, entspricht ganz dem Bild, das ich mir gemacht habe … Im Übrigen dürfte die notwendig werdende Operation, zumal sie die erste ihrer Art ist, mancherlei merkwürdige Situationen ergeben, nicht zum wenigsten in juridischer Hinsicht. Aber«, und jetzt stellte er sich dicht vor Einar und nahm seine Hand, »das verspreche ich Ihnen, ich werde Lili nicht im Stich lassen und ihr bei ihren ersten selbständigen Schritten ins Leben hinein behilflich sein.«

Einar sah auf die Hand des fremden Mannes nieder … er wusste nicht, was er tun sollte … er blickte ratlos im Zimmer umher … ließ dann die fremde Hand los, streckte beide Arme wie Hilfe suchend Hélène hin, sie eilte auf ihn zu und umarmte ihn mütterlich.

»Hélène …« stammelte er unter Tränen, »was jetzt kommt, das Leben … mit dem ich ja gar nichts zu tun haben werde … Hélène … das Leben haben Sie … Hélène, haben Sie gerettet … Ohne Sie wär ich nie hier gewesen …«

Kurt Warnekros stand vor dem Fenster, blickte schweigend hinaus.

Einar ging zu ihm hin. Einar stand vor dem Arzt. Einar weinte. Der Professor nahm seine Hände und sagte still: »Ich verstehe Sie. Sie haben viel gelitten.«

III

Stundenlang hat Gerda in der kleinen Atelierwohnung auf Einars Rückkehr gewartet.

Als er endlich eintritt, ist er bleich wie ein Sterbenskranker. Gerda eilt ihm entgegen. Sie führt ihn zum Diwan. Er lässt sich wie zerschlagen niederfallen.

Gerda bleibt lange neben ihm sitzen, wortlos.

Als dann Einar zu sprechen beginnt, hört sie ihm mit geschlossenen Augen zu. Auch Einar spricht mit geschlossenen Augen. Was ist jetzt Traum? Was ist Wirklichkeit?

Ist das, was jetzt beginnt, Erlösung, die Erlösung?

Wohin geht der Weg für ihn, für sie, für sie beide? …

Und Einar erzählt, völlig aufgewühlt durch das Erleben vorhin, in Wortfetzen …

Einar steht auf. Wortlos hält er ihre Hand.

Dann führt er sie an die Staffelei vor dem breiten Fenster, durch das der Nordhimmel hereinleuchtet. Auf der Staffelei lehnt ein großes Bild. Drei Frauengestalten sind darauf zu sehen. Gerdas Züge trägt die eine Frau … Hélènes Züge die andere… und zwischen ihnen die dritte … sie trägt Einars’, – Lilis Züge!

»Gerda«, spricht er dann, »hab Dank, weil du immer … bis zuletzt … an Lili geglaubt hast. Du weißt es, ich habe nie, nie daran zweifeln können… Ich wusste es, dass der Tag kommen würde … Ich bin so glücklich«, sagt er.

*

An dem Abend dieses schicksalsvollen Tages brach Einar zusammen.

Seine Widerstandskraft war zu Ende.

Jetzt erst wagte er es, sich einzugestehen, wie groß in diesen letzten Jahren Qual und Verzweiflung gewesen waren. Jetzt durfte er offen gegen sich selber sein. Jetzt musste er es … Doch er weiß, dass ihm Hilfe nottut. Einen Freund hat er, der ihm beistehen wird. Es ist der Mann seiner Schwester in Kopenhagen. Ihm hatte Einar sich schon vor Jahren anvertraut. Der Schwager kennt das Geheimnis um Lili … Und Einar schüttet dem fernen Schwager sein Herz aus.

»Paris, den 29. Januar 1930

Lieber Inger,

Du hast lange nichts von mir gehört, weil ich Dir über Lili nichts Gutes erzählen konnte. Ich habe mich nach und nach von mehreren Ärzten untersuchen lassen, aber ohne Resultat. Sie haben mir durchweg schmerzstillende Mittel verordnet, von deren Gebrauch ich aber nichts halte. Denn ich will wissen, was in mir vorgeht. Selbst wenn es auch weh tut. Nach Beratung mit Gerda hat Hélène mich zu einem ihrer persönlichen Bekannten geführt – er empfing mich drei Stunden vor seiner Abreise von Paris. Jetzt kommt etwas, das sich wie ein Wunder anhört! Ich war bei dem berühmten Chirurgen und Frauenarzt Professor Kurt Warnekros aus Dresden. Das Merkwürdige ist, dass er Dir ähnlich sieht. Er untersuchte mich lange und erklärte dann, mein Fall sei so selten, dass man bis jetzt nur einen ähnlichen gekannt habe. Er fügte hinzu, dass ich in dem Zustand, in dem ich mich jetzt befinde, beinahe nicht als lebendes Wesen angesehen werden könne, weil die Behandlung mit Bestrahlung ein großer Fehler gewesen sei, zumal ihr keine mikroskopische Untersuchung vorausgegangen sei. Jetzt befürchte er, dass diese Behandlung ins Blinde hinein meine Organe – sowohl die männlichen wie die weiblichen – zerstört habe. Deshalb will er, dass ich schnellstens zu einem Spezialisten in Berlin zwecks einer mikroskopischen Untersuchung fahre.

Einige Zeit danach will er selber mich operieren. Er will die toten (und früher unvollkommenen) männlichen Organe entfernen und die weiblichen mit neuen und frischen erstatten. Dann wird es Lili sein, die weiterleben soll!

Ihr schwacher Mädchenkörper wird sich dann entwickeln können, und sie wird sich ebenso jung fühlen wie ihre neuen und frischen Organe. Lieber Inger, ich sitze hier und weine wie ein Mädel, während ich dies hier schreibe. Es hört sich wie ein Wunder an, dass ich es nicht zu glauben wage. Eins tröstet mich jedoch – dass ich sonst bald sterben müsste. Gerda und ich glauben, dass wir träumen, und wir haben Angst, zu erwachen. Es ist allzu wunderbar, dass Lili wird leben dürfen, dass sie das glücklichste Mädchen in der Welt werden wird – und dass dieser grauenvolle Alpdruck meines Lebens jetzt ein Ende bekommt. Diese erbärmliche Komödie als Mann. Ohne Gerda wäre ich längst erledigt gewesen. Aber ich habe in dieser Zeit aufs Neue Gelegenheit gehabt, zu sehen, was für ein prachtvolles Mädel sie ist – sie ist ein Engel. Überanstrengungen, eigne Schmerzen usw. haben ihr nichts antun können, sie hat es dazu gebracht, für zwei zu arbeiten, jetzt, wo ich nicht mehr viel wert bin.

Ich tue natürlich, was ich vermag, und habe in allen großen Salons mit Erfolg ausgestellt und verkauft. Aber jetzt ist auch dies vorbei. Jetzt kann ich nicht mehr. Ich bin wie eine erbärmliche Larve, die darauf wartet, ein Schmetterling zu werden. Die Operation eilt, und der Arzt hätte gern gesehen, dass ich sofort nach Berlin gefahren wäre, da zwischen der ersten Untersuchung und der Operation etwa zwanzig Tage vergehen müssen. Und ich muss in Dresden an dem Tag sein, an dem er die neuen Organe für Lili hat. Er will mir Medizin senden, die ich nehmen soll, um die inneren Organe und dadurch mich bis dahin am Leben zu erhalten. Aus praktischen Gründen bat ich um etwas Aufschub und ich sagte ihm, ich möchte es am liebsten so einrichten, dass ich via Kopenhagen nach Berlin kommen könnte, da ich vorher in Dänemark eine Ausstellung abhalten wollte. Von Berlin würde ich dann Anfang April nach Dresden kommen.

Dies gefiel dem Arzt nicht besonders, aber er verstand, dass ich dies aus praktischen Gründen vorgeschlagen hatte.

Nun weiß ich nicht, ob es auch Gemütsbewegung ist, aber mein Zustand verschlimmert sich derartig, dass ich mich außerstande fühle, eine Ausstellung und alles, was vorausgeht, vorzubereiten – ich merke, ich habe keine Zeit zu verlieren.

Deshalb frage ich Dich, ob Du mir in dieser Sache helfen willst. Willst Du mir für die Operation und den Klinikaufenthalt Geld leihen? Ich weiß nicht, wieviel es kosten wird. Ich weiß nur, Hélène hat es so geordnet, dass der Professor nur ein ganz geringes Honorar nimmt. Aus Rücksicht auf Gerda wage ich nicht, Geld von unserer Reserve zu nehmen, umso weniger, als die Reise nach Rom und meine Krankheit uns viel gekostet haben.

Ich oder wir haben bei Heyman & Haslund in Kopenhagen viele Bilder stehen, ich nehme an, für einen Wert von rund 7.000–10.000 Kronen. Ich weiß also nicht, was die Operation kosten wird, aber ich nehme an, zwischen 4.000 und 5.000 Kronen im Ganzen. Ich gebe Dir alle unsere Bilder in Dänemark als Sicherheit für den Fall, dass ich sterbe – und für alle Fälle. Geht es schief, werden die Bilder verkauft, und geht es gut, können wir Dir bald das Geld zurückgeben. Wir verdienen gut und haben viele und große Aufträge.

Erzähl niemandem außer meiner Schwester etwas von dem Inhalt dieses Briefs, und sei so lieb, mir schnellstens zu antworten, wenn Du willst, zuerst telegraphisch und dann brieflich.

Nur weil ich spüre, dass mir der Tod auf den Fersen ist, sende ich Dir diesen Brief. Bis jetzt habe ich nie bei irgendjemandem Schulden gehabt. Die liebevollsten Grüße Dir und der Schwester von Gerda und

Einar.«

Zwei Tage darauf ist die Antwort des Schwagers eingetroffen, ein kurzes Telegramm: »Mach Dir keine Sorgen. Was Du brauchst, steht zu Deiner Verfügung.«

Einar atmet auf; er beginnt, neuen Mut zu fassen.

Kurt Warnekros hatte versprochen, ihm bald Nachricht zu senden … Signal zum Aufbruch …

Eines Abends sagt er zu Gerda: »Ich muss jetzt oft an meinen alten Gymnasialdirektor denken. Er erzählte uns so oft die Geschichte von den Negern auf Saint Croix, die einen Tag vor ihrer Befreiung aus der Sklaverei Aufruhr gemacht haben. Jetzt verstehe ich sie … Ich kann nicht mehr warten …«

Wenige Tage später, an einem Montagmorgen, kam ein Telegramm bei Hélène an, von einer Freundin aus Berlin abgesandt: Einar sollte spätestens am nächsten Sonnabend in Berlin eintreffen und in einem näher bezeichneten Hotel absteigen … Dort wohne bei seinen häufigen Besuchen in Berlin der Professor … Im Hotel werde Einar dann einen Brief vorfinden …

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Bereits zwei Tage danach begab sich Einar auf den Weg …

Gerda und Hélène begleiteten ihn zum Bahnhof.

Er hatte seit Eintreffen des Telegramms fast nicht mehr gesprochen. Wie ein Traumwandler kam er sich vor … Jede Freude und jeden Schmerz verschloss er in sich. Auch beim Abschied ließ er sich seine Erregung kaum anmerken. Allein sein … fort von hier … Flucht in ein neues Schicksal hinein … Flucht vor Vergangenheit und Gegenwart … und: nicht denken, bis das Ziel erreicht war … Welches Ziel?

IV

Langsam setzt sich der Zug in Bewegung, Einar hat einen Fensterplatz.

Er hat sich aus alter Gewohnheit eine Caporal-Zigarette angesteckt. Eine nach der anderen raucht er … Mechanisch klopft er dann und wann die Asche ab.

Eine Beute völliger Gehirnschlaffheit, die oft allzu hastigen Reisevorbereitungen folgt in dem Augenblick, wo man bei Abfahrt des Zugs sich plötzlich mit sich allein befindet.

Entsetzlicher Gedanke, als Einar jäh ins Bewusstsein dringt, dass er sich selber jetzt preisgegeben ist … Angst befällt ihn …

Plötzlich tauchen die beiden geliebten Gesichter vor ihm auf … Gerda … Hélène … und allmählich verwandeln sich beide Gesichter zu einem … er hat nur noch einen Namen für sie beide: Heimat … Heim … und, jetzt fällt es ihm ein: Paris …

Er blickt hinaus, als wollte er sie suchen … Paris … Hélène … Gerda …

Nicht einmal aus dem Fenster hatte er sich vorhin gebeugt, als es ans Abschiednehmen ging … Der Eiffelturm … die weiße Luftspiegelung des himmelhohen Doms: Sacré-Cœur … Hélène … Gerda … alles war versunken … für immer …

Für immer? … Ja, für immer! Denn er, Einar Wegener, wird nie nach Paris zurückkehren.

Vielleicht ein anderes Wesen … Er kann den Gedanken nicht zu Ende denken.

Gerda … Hélène … Paris … Dieser Dreiklang begleitet ihn, den Flüchtling … Im Rhythmus der Fahrt hört er es jetzt plötzlich: Flüchtling … Flüchtling …

Der Zug rast durch Nordfrankreich.

… Zwischen Ruinen wachsen neue Ortschaften aus der Landschaft … Da und dort gibt es seltsame, riesige Vierecke mit fantastischen Anpflanzungen … Es sind keine Saatfelder … es sind Kreuzfelder … Kriegerfriedhöfe … Plantagen des Todes … Kreuz neben Kreuz … ins Grenzenlose hineingestellt …

Und er denkt an Gerda … Weshalb hatte er ihr nicht erlaubt, ihn zu begleiten? Sie hatte ihn darum gebeten. Nie hatte sie ihn allein gelassen. Und jetzt hatte er sie dazu gezwungen, in Paris zurückzubleiben … und zu warten … Er reißt sich zusammen, steckt sich eine Zigarette an, schaltet das Denken aus …

Die Zollgrenze Belgiens und Frankreichs ist erreicht. Er blickt teilnahmslos aus dem Fenster. Das Abteil ist jetzt bis auf den letzten Platz gefüllt.

Die Fahrt durch Belgien geht im Schneckentempo …

Ab und zu stapft Einar in den Speisewagen, gießt einen Cocktail hinunter … Es ist noch nicht sechs Uhr abends … Bei jeder winzigen Ortschaft hält der Zug. Träge steigen die Menschen aus und ein, als hätte jeder Überfluss an Zeit …

Dann ist die deutsche Grenze erreicht. Und eine neue Lokomotive bringt neue Energie in die Fahrt … Die Nacht sickert langsam nieder. Der Zug braust in die Dunkelheit hinein …

Einar hat lange im Speisewagen gesessen, hat getrunken, um alles in sich zu betäuben … auch die Schmerzen, die das Schüttern und Schlingern der Fahrt ihm verursachen … Er muss zurück in sein Abteil. Er kann sich im Gang kaum aufrecht halten. Endlich liegt er wieder in seiner Ecke, beißt die Zähne zusammen, schließt die Augen. Alle Brücken sind abgebrochen … Alles liegt dahinter … Sein ganzes Leben scheint ihm etwas Vergangenes … etwas Verlorenes … Verlaufenes zu sein.

Er will nicht denken. Aber es lässt ihm keine Ruhe … Wäre es vielleicht richtiger gewesen, auf dieses fantastische Experiment zu verzichten? … Denn ein Experiment ist es doch, was man mit ihm vorhat … Wäre es nicht vernünftiger gewesen, das Leben, so wie es sich für ihn gefügt, zu Ende zu leben, auszuleben, es aus sich verebben zu lassen? …

Er denkt an den Brief, den er neulich an Kurt Warnekros geschrieben hat: »Ich verschreibe mich Ihnen auf Leben und Tod, wenn nur Lili weiterleben darf …«

… Alles, was noch an Mannesstolz in ihm wohnt, rührt sich, ergreift ihn. »Ich habe! ans Ziel zu kommen. Ich habe! auszuhalten.« Er spricht halblaut vor sich hin. Ein paar Mitreisende sehen ihn fragend an.

Er muss lächeln … Er ist nicht umsonst Kopenhagener … Dort wird nichts tragisch genommen …

Also, sagt Einar zu sich selber, schreiben wir uns einmal selber den Nekrolog … Es könnte ja … Nein, nicht tragisch werden. Und dann formuliert er in Gedanken seinen Nachruf als Künstler folgendermaßen:

»Der Maler Einar Wegener ist tot. Er starb im Zug zwischen Paris und Berlin. Die übrigen Mitreisenden glaubten, er sei auf seinem Platz in der einen Fensterecke des Abteils eingeschlafen. – Vermutlich war die Todesursache ein Herzschlag.

Ein glückliches und harmonisches Künstlerleben hat hier seinen jähen Abschluss gefunden. Er war ein Mann in den allerbesten Jahren … Er schien gerade jetzt, nachdem er eine Zeitlang gesucht und auf verschiedene Weise experimentiert hatte, seinen Stil gefunden zu haben … Seine Bilder, meist in Frankreich und Italien entstanden, waren bald hell und farbenstrahlend, bald dunkel und etwas schwermütig, – aber stets voll von Stimmung und Naturgefühl. Zwei bevorzugte er vor allen: Paris, dessen Seineufer, Brücken, Türme er mit nicht geringer Meisterschaft in ihrer perlgrauen, leise verschleierten Atmosphäre wiederzugeben vermochte, und Landschaften unter drückendem Gewitterhimmel, vor dessen dunklem Hintergrund Bäume und Häuser hektisch aufleuchteten. Besonders waren es Bilder der letzteren Art, diese kräftigen, sehr männlich aufgefassten Gewitterbilder, in denen Einar Wegener Auslösung für seine Begabung fand.

Wir, die seine recht zarte, oft effeminierende Erscheinung kannten, seinen lächelnden, fast lustigen Ton in der Unterhaltung, sahen dies mit Verwunderung, und oft befiel uns der Gedanke, das alles, was an Männlichkeit in ihm wohnte, in diesen starken, etwas wilden und eigenwilligen Bildern seinen Ablauf fand …

»Pappeln entlang des Fjords bei Hobro«. Landschaftsgemälde von Einar Wegener, 1908.

Er malte sehr schnell. Und so kam es, dass er Zeit fand, sich neben seiner Malerei mit vielen anderen Dingen zu beschäftigen. Sein Wissen war recht umfassend. Sehr bezeichnend war für ihn eine Antwort, die wir einmal aus seinem Mund hörten, – in Trianon, an einen älteren Kollegen von ihm gerichtet. Dieser hatte seinen Ärger darüber geäußert, dass ein junger Kollege ein Gemälde auf eine seiner Meinung nach zu systematische Weise beginne. ›Sie müssen mir verzeihen, dass ich Ihre Ansicht nicht teile‹, entgegnete Einar Wegener, ›aber ich glaube nun einmal, dass es unmöglich ist, das Blatt einer Rose richtig zu malen, wenn man nicht bis ins Letzte hinein den Einfluss der Reliefkunst der Assyrer auf die Skulptur der Griechen kennt …‹ Ein andermal äußerte er sich folgendermaßen: ›Ich begreife nicht, wie leichtfertig meine meisten Altersgenossen mit ihrer Kunst umgehen, – wie leicht sie mit ihrer Leistung zufrieden sind. Was mich betrifft, so rechne ich damit, tausend Jahre nötig zu haben, ehe ich ein einigermaßen anständiger Maler geworden bin.‹ So ernst nahm Einar Wegener jedenfalls seine Kunst.

Die längste Zeit seines Lebens hatte er fern von seiner dänischen Heimat verbracht – draußen in Europa, in Italien, Holland, Deutschland, Frankreich. Meist lebte er in Paris.

Der Grund, weshalb er Kopenhagen in jungen Jahren bereits den Rücken gekehrt hatte, obwohl man dort seine Kunst von Anfang an recht geschätzt, war, dass ihm Kopenhagen-Dänemark nicht als der richtige Boden für die Kunst seiner Frau erschien. In Kopenhagen hatte er oft hören müssen, wie sehr man seine Bilder denen seiner Frau vorzog. Und das war vielleicht das Schlimmste, was man ihm sagen konnte. In Paris, wo im Allgemeinen das Gegenteil der Fall war, fühlte er sich schon aus diesem Grund zu Hause. Die Erfolge seiner Frau fühlte er wie eigne Erfolge. Denn der Hauptzug seines Wesens war Ritterlichkeit seiner Frau gegenüber, wie überhaupt den Frauen gegenüber.

Er war im Übrigen eine komplizierte, problematische Natur. Trotz unvermeidlicher Einflüsse, denen jeder Künstler in Paris ausgesetzt ist, blieb er im Grunde eine nordische Malerbegabung, seine Kunst hatte in ihrem tiefsten Wesen wenig mit dem Romanischen, alles aber mit dem Germanischen zu schaffen. Als Persönlichkeit war er Europäer. Er verkehrte ständig mit französischen Philosophen und Skribenten, mit polnischen Geigern, mit russischen Architekten und deutschen Malern.

Zusammen mit einem französischen Freund hat er ein Buch über nordische Sagen geschrieben, das in Paris viele Auflagen erlebt hat. Darauf war er nicht wenig stolz. Und er freute sich, gerade durch dieses Werk der romanischen Leserwelt die Augen für die germanische Ideenwelt geöffnet zu haben, ein Unterfangen, das gerade in der Nachkriegszeit – das Buch erschien im Jahr 1924 – als ein geistiges Brückenschlagen zwischen der romanischen und germanischen Welt Lob verdient.

Einar Wegener als Maler, 1929.

Ohne selber ein ausübender Musiker zu sein, hegte er eine tiefe Liebe zur Musik.

In den letzten Jahren war seine Gesundheit nicht besonders gut gewesen. Er hatte oft über Schmerzen geklagt, aber stets auf eine verhaltene, lächelnde Weise, so dass sogar die Ärzte, die er schließlich hatte aufsuchen müssen, sich über seinen Zustand wohl geirrt hatten oder aber sich über den Ernst seiner körperlichen Verfassung nicht hatten klar werden können.

Jetzt hat der Tod so jähe, – und zum tiefen Schmerz seiner vielen Freunde nah und fern, – dieses sympathische Künstlerleben abgebrochen, das uns allen, die ihn gekannt haben, wie ein unvollendeter Roman erscheinen muss …«

»Punktum«, sagte Einar still für sich, »Punktum«, und dachte daran, dass ungefähr so, wie er es jetzt in Gedanken formuliert, jemand anders heimlich seinen Lebenslauf in ein Tagebuch niedergeschrieben hatte – Gerda, seine treueste Lebensgefährtin … vor gar nicht langer Zeit, als alle, und auch sie, meinten, dass er heimlich aufbrechen würde … Eines Nachts hatte er sie über ihrem Tagebuch schlafend gefunden … Gerda hatte es nie erfahren, dass er diese »Tagebucheintragung« kannte.

Aachen war längst passiert. Würde man denn nie Köln erreichen, stöhnte es in ihm.