Die Gesichter der Toten - Petra Reski - E-Book

Die Gesichter der Toten E-Book

Petra Reski

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Beschreibung

»Hier werden nicht einfach ein interessanter Ort und eine gewaltsam erfundene Krimihandlung zusammengebracht: Vielmehr wird der Schauplatz realer Gewaltverbrechen zur Krimi-Kulisse umfunktioniert.« Süddeutsche Zeitung Der zweite Band der Serena Vitale Trilogie Mafiaboss Alessio Lombardo ist seit Jahrzehnten flüchtig, doch als Serena Vitale mit den Ermittlungen beauftragt wird, kommt Bewegung in den Fall.  Während die Staatsanwältin nach Don Alessio fahndet, wird eine Spur nach Deutschland immer heißer: Sie stößt nicht nur auf Komplizen und eine glamouröse Geliebte des Paten, sondern auch auf die Geschichte ihres eigenen Vaters, der als Gastarbeiter nach Dortmund kam - und von dem sie plötzlich nicht mehr weiß, ob er wirklich auf der richtigen Seite stand.  Lombardo bleibt jedoch verschwunden, und ein inhaftierter Mafioso erhängt sich in seiner Zelle. Als Serena Vitale die Umstände des Selbstmords zu klären versucht, gerät sie selbst in höchste Gefahr ... Weitere Bände: Band 1 - Palermo Connection Band 3 - Bei aller Liebe

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Seitenzahl: 382

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Petra Reski

Die Gesichter der Toten

Serena Vitale ermittelt in Sizilien

Roman

Hoffmann und Campe

We can beat them

Just for one day

We can be Heroes

Just for one day

David Bowie

1

Sie glitt durch Palermo wie in einem U-Boot. Vorbei an den Kuppeln der Chiesa degli Eremiti und an einem halbverrotteten Prozessionswagen der Santa Rosalia, vorbei an dem riesigen Ficus, der seinen Schatten über Madonnenbilder mit verblichenen Plastikrosen warf, vorbei an dem marmornen Gedenkstein für ein kleines Mädchen, das von seinen Eltern ermordet worden war.

Durch das getönte Panzerglas sah die Stadt schwarzweiß aus, mit leichtem Blaustich. Es war, als wäre der Ton abgestellt worden. Kein Reifenquietschen, kein Vespaknattern, kein Kirchengeläut drang in das Innere. Auch kein Geruch. Nicht der warme Atem Afrikas, wenn es geregnet hatte. Nicht der Dunst des Meeres. Nicht die Fäulnis.

Sag mir, dass du erregt bist, wenn du an mich denkst, schrieb der Mann, der auf sie wartete.

Sie hatte diese Nacht geplant wie eine militärische Operation. Die Landung in der Normandie war nichts dagegen. Alles lief nach Plan. Jetzt war sie kurz vor dem Ziel.

Lass es ruhig angehen, Mimmo, ohne Blaulicht, sagte Serena, als sie Richtung Umgehungsstraße stadtauswärts fuhren.

Sobald der Verkehr stockte, warf Mimmo die Sirene an. Kaum war sie zur Leiterin der Sucheinheit »Alessio Lombardo« ernannt worden, hatte sich ihr Leben in einen permanenten militärischen Einsatz verwandelt. Zwei Leibwächter, ein gepanzerter Lancia. Mimmo und Enzo, Ciccio und Peppino. Im Wechsel. Manchmal kamen andere hinzu, die sie nicht kannte.

Man gewöhnt sich an alles, hatte sie sich gesagt. Man muss einfach nur sein normales Leben weiterführen.

Zweimal hatte sie sich noch zu einem Espresso mit einer Freundin im Antico Caffè Spinnato in der Via Principe di Belmonte verabredet. Die Leibwächter waren aus dem Wagen gesprungen, hatten nach rechts und links geblickt und die Tür aufgerissen. Und die Leute hatten sie angestarrt wie eine, die aus einer psychiatrischen Anstalt geflohen war.

Der neue gepanzerte Lancia hatte Mimmo in Ekstase versetzt. Er drückte die anderen Wagen einfach an die Seite und drängelte sich mit Blaulicht mittendurch. Serena hatte der Lancia misstrauisch gemacht. Sie war immer skeptisch, wenn man vorgab, sie beschützen zu wollen.

Ja, wir haben genug Zeit, Mimmo, die Fähre geht jede halbe Stunde, sagte Ciccio.

Verstanden, sagte Mimmo. Und raste über die Autobahn nach Trapani, als wären sie auf der Flucht.

Ciccio hielt sich am Türgriff fest. Ciccio, Dickerchen, wurde er wegen seiner Leibesfülle genannt, er bewegte sich so langsam wie ein betäubter Waran. Ciccio war ihrer Leibwache erst kurz zuvor zugeteilt worden, und Serena vermutete, dass er sich in einer Angriffssituation einfach tot stellen würde. Das Gefährlichste an ihm waren seine lilafarbenen Augen, sie sahen aus, als wären sie für jemand anderen bestimmt.

Wenn du kommst, bedecke ich dich mit einem Unterrock aus Spucke, schrieb der Mann, der auf sie wartete.

Serena las in ihren Unterlagen. Verhörprotokolle, Telefonmitschnitte aus dem Umfeld von Lombardo. Allein seine Geliebten abzuhören, war ein Riesenaufwand, es waren zehn oder zwölf. Eine litt seit kurzem unter einer Geschlechtskrankheit. Nachdem sie gehört hatten, wie sie mit ihrem Arzt telefoniert hatte, wurde sie rund um die Uhr beschattet. Wenn sie die Krankheit von Lombardo hatte, würde das bedeuten, dass er in der letzten Zeit bei ihr gewesen war. Oder sie hatte sie von einem anderen Mann. Und dann wäre sie bald tot. Bei einer anderen vermuteten sie, dass ein Besuch von Lombardo bevorstand, weil sie einen Termin beim teuersten Friseur Palermos gemacht hatte, was ungewöhnlich war; normalerweise färbte ihr eine Freundin die Haare. Sie hörten sogar seine Verflossenen ab. Eine lebte inzwischen in Deutschland, und gegen den Papierkrieg um die deutsche Abhörgenehmigung war der Russlandfeldzug ein Kinderspiel.

Auch einer von Lombardos Briefboten wurde abgehört, ein Fleischer aus dem Borgo Vecchio. Serena beschattete ihn seit Monaten. Wanzen, Videokameras und GPS-Peilsender – das volle Programm. Selbst wenn Cataldo pinkelte, hörten sie mit. Vor zwei Tagen hatte Cataldo in einem Eisenwarengeschäft in der Altstadt ein pizzino abgeholt. Ein mit Tesafilm versiegeltes Zettelchen. Das er bald zu Lombardo bringen würde. Und sie mit ihm.

Ich küsse deine Ohrläppchen, die Innenseiten deiner Arme, ich küsse deine Kniekehlen, schrieb der Mann.

Sie hatte Mimmo und Ciccio klargemacht, dass auf Levanzo ein Leibwächter reichen würde. Es war nicht schwer gewesen, Ciccio davon zu überzeugen, das Wochenende in Marsala bei seiner Familie zu verbringen.

In Trapani bestieg sie mit Mimmo das Tragflügelboot und setzte sich in eine der ersten Reihen, mit Blick auf den Horizont. Sie wurde leicht seekrank. Neben ihr saßen zwei Engländerinnen, die sich für ein Teleskopstangenselfie umarmten.

Mimmo bot an, einen Espresso zu holen. Schmalbrüstig, wie er war, warf er sich gegen die heranrollende Welle aus Passagieren, kämpfte sich an dicken Frauen mit schreienden Kindern und an blassen englischen Touristen vorbei, die sich an ihre Koffer klammerten, und kehrte mit dem Plastikbecher und einem Stück Nougat zurück, das er ihr wortlos überreichte.

Das war das Schöne an der Vertrautheit mit einem langjährigen Leibwächter: Er wusste über ihre Vorlieben besser Bescheid als mancher Liebhaber. Umgekehrt wusste sie alles über seine Geschichten mit den Touristinnen aus Norwegen und Spanien (definitiv mehr Spanierinnen als Norwegerinnen, die nordischen Mädchen nahmen die Liebe immer schrecklich ernst), mit der Nigerianerin, der er dabei geholfen hatte, sich von ihrem Zuhälter zu befreien, und mit der einen – einzigen – Sizilianerin, deren Liebesbriefe er immer noch mit sich in seiner Brieftasche herumtrug, obwohl die Geschichte bereits zehn Jahre zurücklag.

Wie bist du angezogen?, schrieb der Mann.

Serena blickte an sich herunter. Sie trug Jeans und Turnschuhe. Und schrieb: Netzstrümpfe. Und ein enges, schwarzes Kleid.

Und unter dem schwarzen Kleid?

Nichts.

Auf dem Monitor über ihr liefen die Fernsehnachrichten ohne Ton. Der Ministerpräsident kündigte mal wieder etwas an. Irgendeine Reform, die keine war. Irgendeinen Bonus, der sich am nächsten Tag als Malus entpuppen würde. Man nannte ihn auch: Mr. Ankündigung.

Sie fuhren an Favignana vorbei, aus der Ferne glich die Insel einer Totenstadt. Steinerne Türme, zerfallene Fundamente, Mauern aus gelbem Tuffstein. Das Meer funkelte wie ein Opal. Palermo, der Justizpalast, die Ermittlungen, Abhörprotokolle, die Lageberichte, alles fiel von ihr ab und versank in diesem Meer, das aussah wie von unten beleuchtet.

Bald tauchten die karstigen Umrisse von Levanzo vor ihr auf. Die Sonne hing wie eine Blutorange über dem Horizont. Und spiegelte sich in Mimmos blaugrün schillernder Sonnenbrille, die er selbst nach Eintritt der Dunkelheit nicht ablegte.

Mimmo, würdest du mir einen Gefallen tun?

Sicher, Dottorè.

»Dottorè« war die sizilianische Abkürzung für Dottoressa. Eine Art Kosewort. Wenn man abgekürzt wurde, hatte man es geschafft, war akzeptiert worden. Wenn aus Michele Michè, aus Serena Serè, aus der Dottoressa Dottorè wurde, war man angekommen. In den ersten Jahren in Palermo hatte sie das Dottoressa für ein überkommenes Überbleibsel aus vergangenen Jahrhunderten gehalten. Heute wusste sie: Die Dottoressa war keine Unterwerfungsgeste, sondern ein Ausdruck von Respekt. Sizilien eben.

Du hast mir doch von deiner norwegischen Freundin erzählt, die gerade Urlaub auf Favignana macht.

Ja?

Wie wäre es, wenn du sie heute Abend besuchen würdest?

Er sah erstaunt auf.

Du bringst mich in die Pensione Paradiso und könntest dich von dem Fischer übersetzen lassen, du erinnerst dich sicher an ihn.

Der immer die Touristen um die Inseln fährt?

Ja, genau der. Und wir beide sehen uns morgen früh wieder?

Sie blickte auf Mimmos Brille, in der sich ihr Gesicht leicht verzogen widerspiegelte, und sah, wie sich um seine Augen hinter den Gläsern ein Kranz aus Lachfältchen bildete.

Verstanden, sagte er und streckte sich wie eine Katze, die sich bereitmacht, auf Jagd zu gehen.

Und … wann sehen wir uns morgen früh wieder, Dottorè? Um wie viel Uhr? Ich meine … Sie müssen … ich muss dem Fischer ja …

Ich schicke dir später eine SMS.

Perfetto.

Das schätzte sie an Mimmo. Keine Fragen. Keine Bedenken. Kein Aber. Kein Und-was-wenn-das-Komitee-für-Sicherheit-davon-Erfährt.

Sie fuhren in den winzigen Hafen ein. Levanzo bestand aus einer Straße, einem Lebensmittelladen, zwei Pensionen, zwei Bars, einer Boutique und einer Sehenswürdigkeit. Die Boutique führte Dinge, die man nicht brauchte (handgetöpferte Duftlampen und indische Batikschals), und die Sehenswürdigkeit bestand aus Dingen, die man nicht sehen wollte (altsteinzeitliche Höhlenzeichnungen). Die beiden Bars und Pensionen glichen sich wie eineiige Zwillinge: die gleiche Aussicht über das Meer, die gleichen Plastikstapelstühle, die gleichen Aperitifs, das gleiche Menü.

In einer Welt, in der man ständig abwägen, bestimmen und beurteilen musste, war Levanzo das Paradies. Nach einem Tag kam das Zeitgefühl abhanden, nach zwei Tagen war man überzeugt, dass die Welt aus nichts anderem als aus Meer, Horizont und Möwengeschrei bestand. Am dritten Tag betrachtete man den Wechsel des Lichts wie einen Spielfilm, von Weiß zu Blau, von Blau zu Rosa, von Goldgesprenkelt zu Nachtblau.

Pensione Paradiso, sagte Serena, und schon warf der an der Hafenmole wartende Junge ihren kleinen Koffer auf die Ladefläche der Ape.

Also dann, sagte Mimmo, nachdem sie an der Pension angekommen waren.

Also dann, sagte Serena. Schloss die Tür zu ihrem Zimmer auf und ließ sich auf das Bett fallen, es schaukelte wie bei hohem Seegang. Ein geheimes Treffen mit einem Informanten war leichter zu organisieren als eine Verabredung mit einem Liebhaber. Jedenfalls, wenn man Fremdheit suchte und ein Leben zwischen Leibwächtern, einer gepanzerten Limousine und Videokameras führte, die jeden ihrer Schritte aufnahmen. Bald würde die Nacht wie ein schwarzes Tuch herabfallen. Und niemand würde sehen, wenn sie über die Via Calvario laufen würde.

Liegend schickte sie eine SMS an den Mann. Seeigel, schrieb sie. Seeigel und Champagner.

Er antwortete: zu Diensten.

Sie hatte ihn schon lange nicht mehr gesehen. Seit ihrer Begegnung waren ausreichend viele Jahre vergangen, um wieder das Gefühl von Fremdheit zwischen ihnen entstehen zu lassen. Als sie gelesen hatte, dass er einen Vortrag an der Universität Palermo hielt – allen Ernstes über den Zusammenhang zwischen Liebe und Herzgefäßen –, hatte sie ihm eine spöttische SMS geschrieben.

Er war Chirurg, Kardiologe, international anerkannter Spezialist für Muskelmechanik und Gefäßrekonstruktion. Kurz: ein Held. Mit ausgeprägtem Hang zum Pathos. Der jedes Mal, wenn ihm die Repubblica seitenweise Lobgesänge widmete, es schaffte, mit einem einzigen Nebensatz die komplette Linke und die gesamte Rechte gegen sich aufzubringen, indem er das italienische Gesundheitssystem als ebenso korrupt wie die Politiker bezeichnete. Und deshalb verzieh sie ihm das Pathos. Außerdem: Es ging hier um Sex. Um nichts anderes. Wer hatte gesagt, dass Liebhaber sympathisch sein müssen?

Sie duschte und schminkte sich und zog schwarze Unterwäsche an. Von dem Geld, das sie für den Slip ausgegeben hatte, hätte sie als Studentin einen Monat lang leben können. Sie stieg in die schwarzen Netzstrümpfe, das schwarze Kleid und die hochhackigen Schuhe und lief zu der Villa – der einzigen, die sich majestätisch von den gelben Tuffsteinwürfeln abhob. Eine anmutig verrottete Adelsvilla mit großer Terrasse. Sie drückte auf die Taste der Gegensprechanlage und sagte: Ich bin es.

Sie stolperte leicht, als sie die halbzerbrochenen Stufen hochstieg. Er stand hinter der Tür, zog sie herein, drückte sie gegen die Wand, schob ihr Kleid hoch und seine Hand zwischen ihre Beine. Als er versuchte, sie zu küssen, wandte sie den Kopf. Sie spürte seinen Atem an ihrem Ohr und seine Hände auf ihren Brüsten.

Dein Herz ist immer unerreichbar, sagte er später.

So ein Quatsch, sagte sie.

Er führte sie mit Besitzerstolz durch die Räume, groß wie Tanzsäle, und riss die Flügeltüren auf. Draußen spiegelte sich das Mondlicht auf einem Meer, das wie eine gigantische Metallplatte schimmerte. Er erklärte ihr die Einrichtung, die Aufteilung der Zimmer, die Geschichte des Gebäudes. Sie hatte die Beschreibung seiner Villa bereits in vier verschiedenen Wochenblättern gelesen, drei nationalen und zwei ausländischen Tageszeitungen. Fünf Fernsehbeiträge und eine halbstündige Dokumentation hatten sich seinem Hang zu Blechspielzeug, seinen Marionetten, seiner Sammlung französischer Fin-de-Siècle-Werbeplakate und Buchstützen gewidmet. Seine Eitelkeit rührte sie. Sie verriet das Kind, das er gewesen war.

Beim Essen danach beklagte er ihre Verschlossenheit. Sie kannte das noch. Es war ein Ritual.

Ich will dich mir unterwerfen, sagte er.

Ich weiß, sagte sie. Aber machst du das nicht schon mit deinen Assistentinnen? Und mit den Journalistinnen, die zum Interview zu dir nach Hause kommen?

Es gibt viele Hintern, sagte er. Aber nicht mit so einem Kopf. Ich bin ein sentimentaler Hurenbock.

Sie griff nach den Seeigeln, die er in einer Schüssel auf zerstoßenem Eis serviert hatte. Der Wind fuhr in die Vorhänge, die sich wie Segel blähten. Sie saßen auf wackligen Empirestühlen an einem kleinen Tisch.

Ich habe den Frauen romantische Dinge gesagt, und es hat sie nicht beeindruckt. Aber wenn ich sie angefasst habe, hat es funktioniert. Vielleicht ist es das. Vielleicht sind es einfach nur die Instinkte, die funktionieren.

Vielleicht, sagte Serena und fischte nach einem weiteren Seeigel.

Ich habe das Gefühl, dass ich für dich nichts anderes bin als ein interessanter anthropologischer Fall.

Hm, sagte Serena und ließ das Fleisch des Seeigels auf der Zunge zergehen.

Was machst du zurzeit, fragte er, rückte näher zu ihr und strich ihr über den Oberschenkel.

Ich stehe am Ufer des Flusses, sagte sie. Und warte.

Und wird dein Warten belohnt?

Manchmal.

Und woran glaubst du?

An nichts, sagte sie und spuckte den Stachel eines Seeigels aus. Sie hasste diese Marcel-Proust-Fragebogenfragerei. Um einer weiteren Frage zuvorzukommen, fragte sie ihn nach seinen Plänen. Schon redete er in sie hinein wie in einen Spiegel. Er sprach über Zweifel, Zukunft und Zen, über Sinn und Seele, über die Kreter und die Kausalität und darüber, dass er am nächsten Tag in Palermo zur Hochzeit des Sohnes des sizilianischen Regionalpräsidenten im schönsten Hotel der Stadt, der Villa Igiea, eingeladen sei.

Ich will dir nur sagen: Falls du festgenommen wirst, kann ich nichts für dich tun. Unter den Gästen sind mindestens sieben Leute, gegen die ermittelt wird.

Er blickte sie erstaunt und ungläubig an. Lachte, servierte Himbeeren mit Orangensaft und Zitrone in kleinen, zierlichen Glasschüsseln und führte einen Monolog über Geist und Materie, über Geist und Vernunft, über Geist und Körper. Wie eine Kugel, die, einmal angestoßen, ihren vorgezeichneten Weg nimmt. Bis sie ihren Finger anfeuchtete und damit über seine Lippen fuhr. Da zog er sie auf die Couch, auf der man nicht sitzen, sondern nur liegen konnte. Und führte ihre Hand zwischen seine Beine.

Danach behielt er ihren Slip. Den sündhaft teuren. Und steckte ihn in seine Hosentasche.

Er begleitete sie zur Tür und küsste ihr die Hand. Als sie die Via Calvario zurückging, spürte sie, wie sein Duft immer noch an ihr hing wie etwas Tragisches. Ihr Absatz blieb in einer Marmorritze stecken. Sie zog ihre Schuhe aus und lief barfuß weiter. Es war fast zwei Uhr morgens.

Sie war kurz vor der Pensione Paradiso, als sie spürte, wie ihr Telefon vibrierte. Paolo.

Verdammt, Serena, wo steckst du? Ich versuche seit Stunden, dich zu erreichen.

Du weißt doch, dass Levanzo ein einziges Funkloch ist.

Sie haben Cataldo festgenommen.

Das ist nicht dein Ernst.

Sie ließ die Schuhe auf das Pflaster fallen.

Serena, du musst sofort nach Palermo kommen.

Wer hat ihn festgenommen?

Das Sondereinsatzkommando der Carabinieri, der ROS, soweit ich weiß. Nicht die Polizei. Ich habe mit Romano telefoniert. Cataldo wurde in seiner Wohnung im Borgo Vecchio verhaftet, vor zwei Stunden.

Scheiße, sagte sie.

Ja klar, Scheiße. Du musst sofort kommen. Ich schicke dir aus Trapani ein Boot.

Bist du schon da?

Wo?

Im Borgo.

Serena, ich habe dir doch gesagt, dass ich in Neapel bin. Erinnerst du dich nicht mehr? Der erste Flug geht morgen früh um halb sieben.

Das darf nicht wahr sein.

Sie starrte auf das Meer, das vor ihr lag wie schwarzer Lack, wählte Mimmos Nummer und betete. Immerhin hatte sein Telefon Empfang. Sie fixierte den roten Punkt auf dem Bildschirm unter Mimmo mobil. Mimmo antwortete nicht. Und Ciccio auch nicht. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Verdammte Scheiße. Es war ihre Schuld. Ihre Verantwortung. Ihre Sünde. Weil sie eine Nacht lang versucht hatte, der Wirklichkeit zu entkommen. Sie war es, die Mimmo und Ciccio in diese verdammte Situation gebracht hatte. DISZIPLINARSTRAFE, DEGRADIERUNG, ENTFERNUNG AUS DEM BEAMTENVERHÄLTNIS blinkte in Großbuchstaben über ihrem Kopf: Ein Carabiniere darf sich nicht bequatschen lassen, schon gar nicht von seiner SCHUTZPERSON, die durchgeknallt genug ist, um auf die Idee zu kommen, wegen eines One-Night-Stands mit einem eitlen Chirurgen ihre Leibwächter wegzuschicken. Hast du sie noch alle, Serena?

Sie rannte zu dem Haus, in dem der Fischer wohnte, warf sich gegen seine Tür und polterte, bis er verschlafen öffnete und Serena wie eine Erscheinung anstarrte. Woraufhin sie anfing zu weinen. Außergewöhnliche Situationen erfordern außerordentliche Maßnahmen. Unter Tränen haspelte sie etwas von Notfall. Von Gericht, von Fluchtgefahr, Polizei, Lebensgefahr.

Es wirkte. Der Fischer raffte alle Ehrentitel zusammen, die ihm einfielen: Aber sicher, Signora Dottoressa, mi perdoni Signora Giudice … voglio dire … Signora Procuratore … um schließlich, weil sie immer noch heulte, ganz tief in die Titelkiste zu greifen und ihr mit einem Eccellenza non si preoccupi zu versichern, dass er so schnell wie möglich mit Mimmo an Bord zurückkehren würde, tot oder lebendig.

Die Exzellenz stand zitternd im kalten Mondlicht an der Mole, starrte in das Schwarz und fing an zu beten, wie damals als Kind. Lieber Gott, mach. Doch. Sie würde mit ihrer Mutter an der Santa-Rosalia-Prozession teilnehmen. Und an der Karfreitagsprozession auch. Sie würde der Madonna Immacolata eine Kerze anzünden. Und dem Gekreuzigten auch. Ehrlich. Ich schwöre.

Endlich sah sie ein Licht. Aber es war nicht das des Fischerboots. Verdammte Scheiße. Jetzt gebe ich dir Gelegenheit, deine Existenz zu beweisen, und dann das.

Resigniert ließ sie sich auf einen gusseisernen Hafenpoller fallen und hielt das Gesicht in den Händen, als sie hörte, wie ein sirrendes Geräusch aus der anderen Richtung drang. Der Fischer. Und Mimmo. Sie hatte gerade noch Zeit, dem Fischer ein paar Scheine zustecken, als kurz darauf das Boot des Mobilen Einsatzkommandos anlegte. Jetzt fehlte nur noch Ciccio. Lieber Gott, mach. Ciccio, Ciccio, Ciccio.

Glücklicherweise hatte Mimmo Ciccios Festnetznummer in Marsala. Es meldete sich Ciccios Frau. Vorwurfsvoll. Mein Mann? Der schläft. Worum handelt es sich?

Zwei Stunden später saßen sie endlich alle in dem gepanzerten Lancia und rasten nach Palermo. Langsam fiel die Spannung von ihr ab. Sie rief Paolo an.

Wer hat dich informiert?

Die Questura. Genauer gesagt, der Maresciallo, der Cataldo abgehört hat. Angeblich hat eine deutsche Staatsanwaltschaft die Festnahme angeordnet. Rechtshilfeersuchen. Interpol. Das Übliche.

Eine deutsche Staatsanwaltschaft? Das ist ja unglaublich. Und von wo?

Dortmund oder Duisburg, irgendwas mit D. Auf jeden Fall hat Di Salvo alles abgenickt.

Klar, sagte Serena. Was sonst.

Im Wagen hörte man nichts anderes als den Motor, den Fahrtwind und das Zirpen des Funkgeräts. Der Tacho zeigte hundertachtzig Stundenkilometer. Langsam begann es zu dämmern. Im Meer tauchten die Umrisse der Isola delle Femmine auf.

Serena versuchte Romano anzurufen. Vergeblich. Kein Empfang. Weder auf dem Diensttelefon noch auf ihrem privaten. Scheiße.

Warum war sie nur auf die Idee gekommen, ihr treues, altes BlackBerry durch dieses Mistding zu ersetzen? Dem BlackBerry hatten Tasten gefehlt, es war tausendmal hingefallen und hatte immer noch funktioniert. Als sie es ausrangierte, hatte sie sich so schlecht gefühlt, als hätte sie einen alten Freund im Stich gelassen. Wie hypnotisiert starrte sie auf die Empfangszeichen des iPhone.

Kein Netz. Ich fasse es nicht, sagte Serena. Murphy’s Gesetz.

Mörfi?, sagte Ciccio. Ist das nicht dieser neapolitanische Staatsanwalt mit dem englischen Namen? Der wegen Bilanzfälschung gegen Berlusconi ermittelt hat?

Unsinn, sagte Mimmo. Mörfi ist mit Familie Ingham-Whitaker verwandt.

Die den Marsala erfunden haben?

Ja, Mörfi hatte was mit dem palermitanischen Zweig der Familie zu tun. Hab ich gelesen.

Quatsch, sagte Serena ungeduldig. Das ist nur so eine Redensart. Ein Axiom.

Axiom?

Was schiefgehen kann, geht schief.

2

Wieneke betrat die Ankunftshalle des Flughafens und sah ihn schon von weitem. Einen zwei Meter großen, blonden Deutschen inmitten von Sizilianern kann man nicht übersehen. Um ihn herum tobte das Leben, man fiel sich in die Arme, küsste sich ab, stieß Schreie der Begeisterung aus, weinte vor Freude, und der Pressemensch stand da wie ein Leuchtturm, über dem die Brandung zusammenschlug. Schon wenn Sizilianer über das Wetter redeten, war das wie der dritte Akt einer griechischen Tragödie, geschweige denn, wenn sie echte Wiedersehensfreude zeigten. Die schwappte hier wie ein Gefühls-Tsunami durch die Halle.

Der Pressemensch trug ein Schild vor sich, auf dem W. Widukind Wieneke stand. Regte Wieneke schon wieder tierisch auf. Er hatte seine Mails immer nur mit Wolfgang W. Wieneke unterschrieben. Wahrscheinlich hatte der das Widukind aus dem Wikipedia-Eintrag übernommen. Erst vor einer Woche hatte Wieneke einen Strauß mit Wikipedia ausgefochten, mit irgendeiner Admin-Wurst, die auch nach dreitausend Mails nicht einsehen wollte, dass Wolfgang Widukind zwar seine amtlichen Vornamen waren, er aber Wert darauf legte, nur Wolfgang genannt zu werden. Wolfgang W Punkt Wieneke.

Hallo, Herr Widukind, sagte der Pressemensch.

Wieneke, sagte Wieneke.

Der Pressemensch hatte von der Sonne ausgebleichte Haare und war braungebrannt. Neben ihm sah Wieneke so bleich aus, als würde er im Kartoffelkeller gehalten. Was in gewisser Weise auch stimmte. Er hatte es in den letzten fünf Jahren nicht gewagt, auch nur einen Tag Urlaub zu machen. »Von Feindfahrt im Atlantik nicht mehr zurückgekehrt«, hieß es bei FAKT, wenn Kollegen während ihres Urlaubs gekündigt wurden. Die Entlassung in Abwesenheit war eine Spezialität des Chefredakteurs. So musste er weder Szenen noch Tränen ertragen. Bei jedem Urlaub, der länger als drei Tage dauerte, lief man Gefahr, dass ein billiger und ehrgeiziger Jungredakteur den Platz einnehmen würde.

Freut mich, dass unser Treffen jetzt doch noch geklappt hat, sagte der Beachboy. Herr Jützenbach erwartet Sie an Bord.

An mir hat’s nicht gelegen, sagte Wieneke spitz.

Der Pressemensch blickte irritiert, fing sich aber schnell wieder. Und machte auf Kumpel. Dass es ihm leidtue, ihn immer wieder vertröstet zu haben, und er glücklich darüber sei, dass Wieneke Verständnis für die organisatorischen Schwierigkeiten gehabt habe. Und so weiter und so fort.

Erst hatte das Interview in Paris stattfinden sollen. Dann auf Jützenbachs Wasserschloss im Münsterland, das Wieneke unbedingt sehen wollte, weil Jützenbach einen Saal mit Jagdtrophäen dekoriert hatte: Wasserbüffel, Impalas, sogar eine ausgestopfte Boa constrictor, Kronleuchter aus Hirschgeweihen und eine ganze Wand mit den Fellen selbsterlegter Waschbären. In deren Augen rote oder grüne LEDs blinkten, energiesparend und vom TÜV abgenommen. Aber da war das Interview schon in Jützenbachs Villa auf Sardinien verlegt worden. Und jetzt auf Jützenbachs Segelyacht, die sich auf Mittelmeertour befand. Alle zwei Tage hatte Wieneke seine Flüge umbuchen müssen. Aber wenn es um Jützenbach ging, war dem Chef nichts zu teuer. Jeder Promi, der bei drei nicht auf den Bäumen war, wurde mit einer FAKT-Kolumne, einem FAKT-Interview oder einem Buch aus der Feder des Chefredakteurs geehrt. Vor einem Jahr hatte FAKT Jützenbach eine Titelgeschichte mit dem Titel »Der Industrielle mit dem grünen Herzen« gewidmet.

Darf ich Ihnen den Koffer abnehmen?, fragte der Pressemensch. Unser Wagen steht nicht weit von hier.

Kein Thema, sagte Wieneke, zog seinen Koffer zu sich hin und versuchte sich vergeblich zu erinnern, wie der Typ hieß.

Draußen war es, als würde ihm ein Gigant seinen heißen Atem ins Gesicht blasen. Ein Wind voller Saharasand, wie winzige Glassplitter, die direkt in Wienekes Augen flogen. Wieder keine Sonnenbrille dabei. Schon nach zwei Schritten klebte das Hemd wie eine Plastiktüte an seinem Körper. Wieneke lief Richtung Parkplatz und bemerkte, dass der PR-Typ neongrüne Flipflops trug. Garantiert schwul. Und auf permanent vacation. Aber Wieneke wollte nicht kleinlich sein. Bis zu seiner Landung vor einer Viertelstunde hätte er es nicht für möglich gehalten, noch mal auf FAKT-Kosten sizilianischen Boden zu betreten. Palermo war sein Stalingrad. Und jetzt stand er wieder hier.

Er suchte in seinem Telefon nach der letzten Mail. Endlich. Ach ja. Die Pressewurst hieß Schmidt. Wie auch sonst. Quasselte die ganze Zeit. Über Jützenbachs Privatflugzeug (eine Falcon F7X), Jützenbachs Helikopter (Augusta AW139, limitierte Edition), Jützenbachs Segelyacht (Carbon und Wurzelholzfurnier).

Sie werden es nicht bereuen, sagte Schmidt, alles ist vom Feinsten.

Niedlich, dieser Beachboy. Als käme es Wieneke auf die Deko einer Segelyacht an.

Der PR-Schmidt interpretierte Wienekes Schweigen offenbar als Interesse, schon ließ er sich darüber aus, dass er sich tatsächlich mal bei FAKT beworben habe, kurz bevor Jützenbach ihm ein Angebot gemacht habe. Und obwohl es ihn von Zeit zu Zeit noch in den Fingern jucke, sei er heute froh, nicht mehr im Tagesgeschäft zu sein. Er lerne viele Leute kennen und komme viel rum, erst vorgestern ein Flug von Palermo nach Stuttgart, weil Jützenbach seine Tochter bei einem Reitturnier sehen wollte.

Wieneke blickte ihn mitleidig von der Seite an. Eine klitzekleine Zeitungskrise, und schon war dieses Weichei kein Journalist mehr, sondern PR-Fuzzi. Kein Wunder, dass man ihn bei FAKT nicht genommen hatte.

Draußen flog Sizilien vorbei. Links das Meer und rechts braun verbrannte Berge. Der Lüftungsschacht blies ihm eiskalte Luft ins Gesicht. Wieneke versuchte, den Luftstrom von sich weg zu lenken, als Schmidt sich dafür entschuldigte, die Klimaanlage zu hoch eingestellt zu haben. Beim Fahren stießen Schmidts lange Beine an das Lenkrad, was Wieneke mal wieder in seiner Überzeugung bestärkte, dass Größe allein es auch nicht bringt.

Das Schiff ist ein Wunder der Technik und der Eleganz! Vierundfünfzig Meter lang!, sagte Schmidt, und Wieneke bemerkte, dass an seinem rechten Ringfinger ein goldener Ehering steckte. Sicher war diese Schwuchtel mit einem kubanischen Fitnesstrainer verheiratet.

Herr Jützenbach freut sich sehr, dass Sie das Interview mit ihm führen, er hat viel von Ihnen gehört.

Wieneke zog seine Oberlippe etwas hoch und entblößte die Schneidezähne. Es war ihm scheißegal, ob man ihn sympathisch fand oder nicht. Dieses Interview stank ohnehin zum Himmel. Eine reine PR-Kiste. Tillmann hatte ihn nicht zu sich ins Büro zitiert, sondern war tatsächlich in sein Zimmer gekommen, wenn man dieses Kabuff überhaupt Zimmer nennen konnte. Nicht mal einen Hund hielt man so. Er hatte sich kurz über Wienekes Che-Guevara-Poster lustig gemacht und nicht gemerkt, dass dieses Che-Guevara-Poster ironisch gemeint war. Aber irony was over bei FAKT, seitdem Tillmann Chefredakteur war. Er hatte seinen Arsch auf Wienekes Schreibtisch gewuchtet und gesagt: Sie sind mein Mann.

Wieneke war kurz zusammengezuckt. Tillmann saß auf dem Schreibtisch und streckte die Beine von sich weg. Hob und senkte die Beine und kreiste mit den Füßen, nach innen, nach außen, als säße er nicht im Büro, sondern im Fitnessstudio.

Ich weiß, Wieneke, Sie haben eine schwere Zeit hinter sich, sagte er und massierte seine Waden wie nach einer Dehnungsübung.

Jetzt auch noch die Psychonummer. Wieneke hob an, um sich zu rechtfertigen. Aber da sagte Tillmann schon: Ich weiß aber auch: Einen Mann wie Sie wirft so schnell nichts um.

Wieneke blickte kurz auf. Argwöhnisch. Und gleichzeitig geschmeichelt. Nicht unter Folter hätte er zugegeben, wie sehr er darunter litt, dass Tillmann ihn nicht in den Investigativ-Pool berufen hatte. Wieneke fand die Idee mit den Pools zwar idiotisch – früher hatte er die großen Geschichten ganz allein gestemmt, und jetzt schwärmte für jeden klitzekleinen Bauskandal eine ganze Schulklasse aus –, aber wer, wenn nicht Wolfgang W. Wieneke, der Dieselmotor unter den Investigationsreportern, gehörte in den Pool? Aber seit dieser Geschichte in Palermo war seine Position bei FAKT nun mal nicht die beste. Seitdem schob er nur noch Innendienst. Kleintexte, Bildunterschriften, googeln. Wolfgang W. Wieneke – der Problemjournalist. Der, wenn er Glück hatte, einen Infokasten redigieren durfte.

Ist schon okay, sagte Wieneke.

FAKT kann auf Leute wie Sie nicht verzichten. Auch wenn Ihre Quoten beim letzten ReaderScan nicht umwerfend waren.

Jetzt auch noch diese Arie. Wieneke versuchte, in den Unterbauch zu atmen. Seit einiger Zeit war FAKT Kunde einer Agentur, die Millionen dafür kassierte, dass hundert Leute mit einem Stift markierten, was sie gelesen hatten. Heraus kam, dass gut geschriebene Texte besser gelesen wurden als schlecht geschriebene. Toll. Oder dass die Leute das lesen wollten, was sie woanders auch schon gelesen hatten. Auch toll. Das Kulturressort galt als Quotenkiller, was Wieneke für gerechtfertigt hielt. Um zu begreifen, dass ein Artikel mit der Überschrift »Durs Grünbein auf Lesereise in Mexiko« ein Rausschmeißer war, brauchte man keinen ReaderScan. Aber seitdem auch noch google analytics hinzugekommen war, wusste man, was wie oft aufgerufen worden war, wie lange die Leute auf einer Seite blieben, auf welche Links geklickt worden war, wann die Leser aus dem Artikel ausgestiegen waren, dass Frauen keine Witze verstehen (Francesca hatte nicht mal über seinen Carabinieri-Witz gelacht: Was machen zwei Carabinieri, die eine Schlange sehen? Sie stellen sich hinten an.) und dass sie alles, was ihnen nicht in den Kram passt, als frauenfeindlich (seinen letzten Blondinenwitz) niedermachten. Und dass Wolfgang W. Wienekes letzte Reportage über betrügerische Versicherungsmakler keine Sau interessiert hatte. Was jetzt in FAKT stattfand, war kein Journalismus mehr, sondern ein Social-Media-Fick.

Ich will ein Interview mit Jützenbach. Ich will wissen, wie er tickt. Worunter er leidet. Was er liebt. Und was er hasst.

Wieneke seufzte. Die Bild-Zeitung hatte letzte Woche ein Interview mit Jützenbach im Blatt gehabt.

Ich will Sie und niemand anderen für das Interview mit Jützenbach.

Hm, sagte Wieneke.

Ich freue mich über Ihre Begeisterung, sagte Tillmann.

Wieneke straffte sich.

Tillmann kniff die Augen zusammen und sagte leise: Ganz im Ernst, Sie sind mein Mann, Wieneke. Ich kenne Hans-Ulrich Jützenbach gut und wollte sicher sein, dass dieses Interview von einem erfahrenen Kollegen geführt wird.

Danke, sagte Wieneke heiser.

Ich lasse Sie gleich mit seinem Büro verbinden, damit Sie einen Termin ausmachen können.

Gerne, sagte Wieneke. Ein Schmuse-Interview mit einem Geldsack. Tiefer konnte man nicht sinken.

Ich spüre Ihre Begeisterung, sagte Tillmann. In Ihnen brennt ein Feuer. Sie haben ein Reporterherz. Das merkt man. Genau das, was das Heft jetzt braucht.

Wieneke wand sich auf seinem Stuhl. Neuerdings wurde FAKT in warme und kalte Seiten eingeteilt. Kalte Seiten waren Wirtschaftsgeschichten oder investigative Geschichten. Warme Seiten waren Geschichten über Buddhisten oder Singles oder über die Rückkehr der Rinderrouladen. Die Tiefenpsychologie der Marktforschung.

Tillmann hatte auf der Konferenz verkündet, dass FAKT wärmer werden müsse, angreifbarer, weiblicher, runder. Also lautete die nächste Titelgeschichte: »Was die Deutschen wirklich essen«. Wieneke spürte, wie er rot wurde. Schnell drehte er sich zum Fenster. Es regnete. Es tropfte aus schütteren Wolken. Tillmann stand auf und verließ Wienekes Zimmer. Federnd. Hände in den Hosentaschen. Ohne sich umzudrehen.

Die Autobahn war leer, das Meer erstarrt. Der Beachboy telefonierte. Mit Leuten aus der Crew der Blue Star, die irgendwo vor Palermo dümpelte, auf dem Weg Richtung Ägadische Inseln. Das Smartphone zwischen Schulter und Kinn geklemmt, versuchte er zu klären, wo Wieneke an Bord kommen sollte. Nachdem er das Gespräch beendet hatte, sagte er entschuldigend: Das einzige Problem in meinem Job ist, dass man mit IHM keine Pläne machen kann. Wenn es IHN überkommt, lässt ER alles stehen und liegen und fliegt für einen Nachmittag zum Oktoberfest.

Verstehe, sagte Wieneke. Hoffentlich würde dieses vertrauliche Gequatsche bald aufhören. Hatte der keinen Friseur, dem er das erzählen konnte?

Letzte Woche hat ER die Segeltour dazu genutzt, um seine Geschäftsfreunde zu einem Bankett zu laden. ER hat die gesamte griechische Tempelanlage von Selinunt gemietet. Aperitif mit sizilianischer Granita und Abendessen vor dem Hera-Tempel.

Tatsächlich, sagte Wieneke und zog sein Notizbuch hervor.

Eine magische Vollmondnacht, schwärmte Schmidt. Um uns herum nichts als der Atem der Antike, ein paar zirpende Grillen und Vicky Leandros. Wurde extra eingeflogen.

Toll, sagte Wieneke. Er versuchte zu lächeln, obwohl ihn schon der Gedanke an so ein Bonzenessen in einer archäologischen Anlage fuchsig machte. Aber Italien war pleite, hier stand praktisch alles zum Verkauf. Sogar griechische Tempel.

Schmidt ratterte die Gästeliste runter, Deutsche-Bank-Manager, BMW-Erben, der Vorstand der Postbank und der Westfälischen Landesbank, zwei Manager von Energy-NRW, der niedersächsische Energieminister. Der nordrhein-westfälische Ministerpräsident, irgendein sizilianischer Senator oder Ministerpräsidentendings. Und der Torhüter von Borussia Dortmund.

Echt, der auch?, sagte Wieneke.

Wer? Der sizilianische Ministerpräsident?

Nee, ich mein’ den Torhüter.

Stand alles in der Gala, sagte der Pressemensch.

Wieneke ließ sein Notizbuch sinken.

Aber nur ganz klein. In der Leute-Rubrik.

Gala ist nicht das Problem, sagte Wieneke großherzig. Aber das sind alles keine Namen für FAKT. Bei FAKT erwartet man mehr. Goldman-Sachs-Manager, Al Pacino und indische Stahl-Magnaten. So was in der Art.

Dieser Punkt wäre gemacht. Zufrieden streckte Wieneke seine Arme von sich.

Ein Fotograf kommt auch noch, wenn ich mich nicht irre?

Ja, sagte Wieneke.

Ein sizilianischer Mitarbeiter von FAKT, habe ich gehört.

Ja, sagte Wieneke.

Wäre es nicht besser gewesen, wenn er Sie gleich begleitet hätte?

Nein, der Fotograf kommt morgen direkt zum Interview, sagte Wieneke. Giovanni hätte ihm hier jetzt noch gefehlt.

ER will vor Favignana auf Thunfischfang gehen, sagte Schmidt. Ich sage Ihnen das im Vertrauen, weil ich vermute, dass es für Ihren Fotografen sicher ein lohnendes Motiv wäre. ER ist verrückt nach der Mattanza. So nennt man die Thunfischjagd hier, habe ich gelernt. Heißt so viel wie Abschlachten.

Thunfischjagd geht nicht für FAKT, sagte Wieneke. Ein Foto von einem Geldsack, der einen Thunfisch abschlachtet. Geht’s noch?

Wenn ER aber Lust hat, Thunfisch zu fangen?

Dann soll ER das ein anderes Mal machen.

Wieneke würde sich nicht zum Gespött der Branche machen lassen. So weit kommt’s noch. Eine Woche Shitstorm wäre garantiert, beim Thunfischschlachten.

Sie fuhren über eine Ausfallstraße an Palermo vorbei, und Wieneke bedauerte, von der Stadt nicht mehr zu sehen als Unterführungen und Umgehungsstraßen, Betonsilos und Baumärkte. Am Ende kamen sie an einem sandfarbenen Ort mit würfelförmigen Häusern an. Am Straßenrand nichts als vertrocknete Palmen, Plastiktüten und Pappkartons. Das Licht war dunstig, vielleicht auch einfach nur verstaubt wegen des Sands, der immer noch durch die Luft wirbelte und den Blick auf das Meer trübte. Eine Betonmauer ragte wie ein Finger in das Meer, daneben ein Strand mit halbverrotteten Booten, explodierten Wassermelonen, leeren Lenorflaschen und haufenweise Kondomen. Entlang der Uferstraße lauter Autos mit beschlagenen Scheiben, die Wieneke an sein erstes Mal erinnerten. Im NSU Prinz. Sizilien war so was von rührend altmodisch.

Schmidt telefonierte wieder. Und beschied, dass es besser sei, in einer Bar zu warten und Kaffee zu trinken, bis ER käme. Es gebe in der Nähe eine sehr witzige Bar. Eine, die Jützenbach von Kindesbeinen an kenne, weil dort schon sein Vater, der selige Jützenbach senior, bei seinen sommerlichen Segeltouren eingekehrt sei.

Die Bar befand sich unweit vom Strand und sah aus, als hätte sich die Welt seit den sechziger Jahren nicht mehr gedreht: Fliegenvorhänge, Neonlicht, eine rauschende Klimaanlage und ein Fernseher, in dem Fußball lief. Über der Tür hing ein Madonnenbild. Der Barmann grüßte schläfrig und wienerte über den verbeulten Edelstahl der Theke. Schmidt schlug ihm auf die Schulter und versuchte, Konversation zu machen, aber der Barmann reagierte nur mit einem Zungenschnalzen und wischte weiter mit einem grauen Lappen über die Theke. In Sizilien waren die Münder zugenäht. Das war bekannt.

Wieneke wollte gerade rausgehen, um eine Zigarette zu rauchen, als plötzlich Leben in den Barmann fuhr: Er stellte den Fernseher leiser und hob das Kinn Richtung Tür. Der Fliegenvorhang teilte sich, und ein Trupp braungebrannter Männer drängte in die Bar. Alle mit sonnengebleichten Haaren, weißen Bermudashorts und weißen Polohemden. Wie aufgeregte Jagdhündchen umringten sie ein Hutzelmännchen mit Bart. Das um den Hals einen lila Schal trug, der aussah wie die gefärbten Windeln aus den Achtzigern. Als Wieneke sich noch fragte, ob der Zwerg mit der Windel um den Hals tatsächlich Jützenbach sein sollte, stellte ihn der Pressemensch schon vor. Wieneke knipste ein Lächeln an und fiel augenblicklich in speichelleckerischen Smalltalk-Modus: Wie er sich freute, ihn endlich kennenzulernen, und wie sehr sein Chefredakteur von ihm, seinem ökologischen Engagement und seiner Leidenschaft für den Segelsport geschwärmt habe.

Wieneke konnte gar nicht anders. Sobald ihn die Redaktion losschickte, stellte sich sein innerer Autopilot an. Egal, ob PR-Kiste oder brandheiße Enthüllungsgeschichte: Wieneke legte sich ins Zeug. Ein Profi fuhr immer den gleichen Stiefel. Die jungen Typen in den Kapuzenpullovern, die sich Vollbärte wachsen ließen, literweise Latte schlürften und die Welt nur noch von Google Street View kannten, wussten natürlich nichts davon, wie das ist, wenn in den Adern kein Blut, sondern Druckerschwärze fließt.

Ein warmes Gefühl durchfuhr ihn. Er war in seinem Element. Gefälligkeitsinterview hin oder her. Immerhin hatte er es diesem Hutzelmännchen zu verdanken, dass Tillmann seinen Bannstrahl gegen ihn aufgehoben hatte. Er saß nicht mehr Bildunterschriften textend in seinem Hamburger Kabuff mit Blick auf atlantische Tiefausläufer, sondern stand in einer Bar, die aussah wie eine Kulisse für den Paten.

Lächelnd hörte er Jützenbach zu, der sich gerade darüber beschwerte, dass er gestern nach der Landung in Palermo zwei Stunden in seinem Privatflugzeug habe warten müssen, bis endlich alle Papiere kontrolliert worden seien. Kein Rauschgifthändler würde so umständlich kontrolliert wie er. Wieneke kicherte zustimmend und wollte die Vorlage nutzen, um auf seine sizilianischen Erfahrungen hinzuweisen. Aber bevor er auf seine Mafia-Recherchen und seine Kontakte zu sizilianischen Bossen hinweisen konnte, wurde ihm schon die gesamte Besatzung der Blue Star vorgestellt: Kapitän, Steuermann, Matrosen, Stewards. In ihre Hemden war in blauem Garn der Schriftzug Blue Star gestickt. Alle barfuß. Nackte Füße, an denen etwas grobkörniger Sand klebte. Auch an Jützenbachs Füßen klebte etwas Sand. Senk-Spreiz-Füße. Seit seiner Bundeswehrzeit hatte Wieneke einen Blick dafür. Alle trugen ihre nackten Füße wie eine Auszeichnung. Sie bewiesen die Zugehörigkeit zum Club der Reichen, selbst wenn es sich so wie bei den Skippern nur um Unterlinge handelte. Um sportliche, muskelbepackte Unterlinge. Mit Waschbrettbauch. Wieneke trug Sneaker, die, obwohl nagelneu, zwischen diesen braungebrannten, nackten Füßen irgendwie orthopädisch wirkten.

Wieneke machte einen Schritt zur Theke, um seinen Espresso zu trinken, und etwas jaulte auf. Er war auf einen winzigen Hund getreten, der quiekend zwischen den Füßen der Skipper, des Stewards und des Kapitäns zu einem Mädchen flüchtete, das Wieneke erst jetzt bemerkte. Es trug einen grünlichgolden schillernden Kaftan und einen schwarz gefärbten Baumwollbeutel, auf dem Portofino und Blue Star stand. Offenbar Jützenbachs Betthäschen. Der Hund war ein reinrassiger Beagle und hieß Theodor. Das Mädchen war irgendein exotisches Gemisch mit arabischer Nase und hatte keinen Namen.

Der Barmann nannte Jützenbach capo und servierte kleine Häppchen, und beim ersten Biss bemerkte Wieneke: Fisch. Irgend so ein Sardellenzeug. Er spuckte das Stück diskret in eine Papierserviette und tat, als würde auch er an Jützenbachs Lippen hängen, der gerade über den Thunfischfang dozierte.

Einem Thunfisch muss man einfach nur eine Flasche Bacardi in die Kiemen gießen, schon kollabiert er, sagte Jützenbach und fügte an: Und dann machen wir Sashimi aus ihm, direkt an Bord!

Alle jauchzten. Wieneke lachte keckernd mit.

Der Plan war, in dem Fischerdorf Porticello zu Abend zu essen, in einem Restaurant am Hafen, das Jützenbach als ursprünglich bezeichnete. Wie alle Bonzen drängte es auch ihn hin und wieder in die Nähe zum einfachen Volk. Wieneke schaufelte eine Handvoll Erdnüsse in den Mund, als Jützenbach ihn einfach stehen ließ, mitten im Satz. Die Skipper folgten ihm, der Hund sprang hoch und bellte freudig, und das Mädchen lief wie betäubt hinter ihnen her.

Jützenbach, der Beagle und das Mädchen stiegen in ein Riva-Boot ganz aus Mahagoni, mit Wurzelholzfurnier. Ein Anblick, der Wieneke einen Stich versetzte, weil ihn die blankpolierten Mahagoniplanken daran erinnerten, dass bei ihm zu Hause im Wohnzimmer nicht mal Nussbaumregale standen, sondern weiße, leicht vergilbte Billy-Regale, die er seit der Volontariatszeit mit sich herumschleppte. Er nahm sich vor, sie nach seiner Rückkehr ohne jede Sentimentalität zu entsorgen. Und durch echte Kiefernholzregale zu ersetzen. Pressspanplatten sonderten ja noch nach Jahrzehnten giftige Dämpfe ab.

Der Himmel zerfloss in der Dämmerung wie Softeis, Rosa vermischte sich mit Vanillegelb, und die Nachtwolken fingen an zu leuchten. Wieneke sah die Ohren des Beagle im Fahrtwind fliegen und bestieg zusammen mit dem Pressemenschen das Schlauchboot. Das Riva-Boot fuhr allerdings nicht die Küste entlang, sondern hinaus auf das offene Meer.

Wahrscheinlich hat ER es sich doch anders überlegt, sagte der Schmidt-Beachboy entschuldigend. Vielleicht will ER Ihnen erst die Blue Star zeigen.

Wieneke nickte. Interessiert. Angeregt. Geradezu begeistert. Natürlich wollte Jützenbach ihm erst sein Spielzeug präsentieren. Wieneke roch das Jod in der Luft und spürte, wie sich die Feuchtigkeit der Nacht auf seine Arme legte.

Den Sternenhimmel hatte er so zuletzt als kleiner Junge gesehen, Planeten, Asteroiden, ganze Galaxien, alles zum Greifen nah. Schon komisch, man gewöhnte sich nie an die Sterne, jedes Mal war es so, als würde man sie zum ersten Mal sehen. Er versuchte, sich an Sternbilder zu erinnern, das Kreuz des Südens, der Fliegende Fisch, der Kleine Wagen, und hörte, wie Schmidt jauchzte. Da ist sie, da ist sie, rief er so zappelig, als sei er Zeuge der Explosion eines Meteoriten geworden. Aufgeregt zeigte er auf etwas Glitzerndes in der Ferne, das Wieneke erst für den Großen Bären hielt, dann aber als den Mast der Blue Star identifizierte.

Bevor Wieneke das Boot bestieg, musste er sich die Schuhe ausziehen. Segeln war eine Angelegenheit für Fußfetischisten. Er stopfte seine Socken in die Schuhe und sah, wie sich die Crewmitglieder vor dem Betreten der Jacht mit einer kleinen Handdusche den Sand von den Füßen spülten.

Jützenbach stand an Deck und empfing mit einem Glas Whisky in der Hand, das Mädchen lag zwischen seidene Kissen drapiert, der Beagle auch. Stewards wieselten um sie herum, eine schlanke, großgewachsene Blondine reichte Wieneke einen Drink und stellte sich als Schmidts Ehefrau vor, was Wieneke vorübergehend irritierte. Andererseits: Es gab Millionen Schwule, die verheiratet waren. Die Blondine hatte Modelmaße und entpuppte sich als Bibliothekarin aus Berlin, die ihren Mann während der Ferien ein paar Tage lang auf der Blue Star begleitete. Ein blasser Typ tauchte auf, wahrscheinlich ein Praktikant, der unter Deck gehalten wurde. Er kam mit Papier in der Hand auf Jützenbach zu, der ihn verscheuchte wie eine lästige Fliege und sich darüber ausließ, dass die Blue Star im Winter auf die andere Seite der Erdkugel segele, nach Uruguay, drei Wochen Atlantiküberquerung. Das letzte Abenteuer der Menschheit.

Klar, sagte Wieneke und nickte so wissend, als wäre er erst gestern um Kap Hoorn gesegelt. Mensch gegen die Elemente.

Das Boot schaukelte wie ein Kinderbett, die Eiswürfel klirrten in den Whiskygläsern, und Wieneke notierte die Farbe der seidenen Kissen, zwischen denen das Mädchen reglos wie eine Tote lag, er machte sich Notizen über die Größe des Beagles, die blonden Strähnchen der Skipperin, den Whisky als Willkommenstrunk. Jützenbach referierte über Gott und die Welt, über die Ägadischen Inseln, von denen aus man weiter nach Sardinien segele, wo die Blue Star vor Anker gehe. In Mortorotondo.

Wieneke machte ein kleines Fragezeichen hinter Mortorotondo. Fragezeichen bedeutete: Googeln!

Jützenbachs Villa auf Sardinien stehe zum Verkauf, seitdem der Aga Khan sein Hotel an die Araber verkauft hatte und in Mortorotondo nur noch Russen verkehrten.

Wieneke nickte so anteilnehmend, wie man es als Mieter einer Fünfzigquadratmeterbutze in Hamburg-Eimsbüttel hinkriegen konnte. Er musste das Interview der Bild-Zeitung mit Jützenbach unbedingt toppen. Mindestens ein Quote für die Agenturen musste drin sein. Gefälligkeitsinterview hin oder her: Es ging hier auch um News.

Er nahm sich vor, ein bisschen an Jützenbach zu kratzen. Das war er seinem Ruf schuldig.

3

Wie immer zog sich Antonio Romano in der Toilette eines Nahverkehrszuges um. Das war die unauffälligste Möglichkeit, einen Ort als Mann zu betreten und als Frau zu verlassen. Er schminkte sich im schlechten Licht der Zugtoilette, der Wagen schlingerte, weshalb er Mühe hatte, sich die falschen Wimpern anzukleben. Sorgfältig umrandete er seine Lippen mit Konturenstift, setzte die Perücke auf (brünett mit rötlichen Reflexen), legte sich ein Mieder um und zog Nahtstrümpfe an. Er hatte alles dabei, was ihn zur perfekten Frau machte, ein Röckchen mit Penisversteck, Silikonbrüste – es waren natürliche, leicht hängende Brüste, Nahtstrümpfe, eine weiße Bluse und eine enganliegende Lederjacke. Er nahm sich auch noch die Zeit, seine Fingernägel zu lackieren, was im Zug nicht einfach war. Die Utensilien bewahrte er in einem schwarzen, gepolsterten Koffer auf, den er zu Hause in der Garage versteckte und in Rom an der Stazione Termini in der Gepäckaufbewahrung abgab. Als er die Bahnhofshalle durchquerte, bemerkte er die anerkennenden Blicke einiger Geschäftsmänner und machte ganz kleine Schritte, wie eine Geisha.

En femme hatte er die vatikanischen Museen und die Villa Borghese besucht. Heute trank er einen Tee im Caffè Greco und freute sich, als ihn die Kellner mit Signora ansprachen. Später am Nachmittag ging er in die Designer-Abteilung eines Kaufhauses. Er probierte ein paar enganliegende schwarze Kleider an und entschied sich schließlich für einen schwarzen Bleistiftrock und eine dünne gelbe Bluse. Gelb war etwas gewagt, aber warum nicht einmal etwas wagen? An der Kasse achtete er darauf, bar zu zahlen.

Als er am Abend in das letzte Flugzeug nach Palermo stieg, fühlte er sich so entspannt wie nach einem Besuch im Thermalbad.

Er blätterte im neuen Espresso, den er gekauft hatte, weil darin gerade eine Geschichte über Alessio Lombardo erschienen war. Unter dem Titel »Der Unauffindbare«.

Lombardo sei so etwas wie ein Meisterspion, der Popstar unter den flüchtigen Bossen. In einem kleinen Kasten ein Interview mit Di Salvo. Und ein Satz von Paolo De Luca wurde auch zitiert. Der ihn ärgerte. Die Ermittlungen zu Lombardo waren noch nicht abgeschlossen, da war es zu dämlich, schon jetzt schlafende Hunde zu wecken. Aber Neapolitaner sind eben Quatschtanten. Er hatte sich schon die ganze Zeit gefragt, was die Vitale an ihm fand. Sie lachte über jeden seiner Witze. Wahrscheinlich ging sie mit De Luca ins Bett. Wie anders war sonst zu erklären, dass sie über jeden einzelnen seiner blöden Neapolitaner-Witze lachte?

Alles in allem stand in der Espresso-Geschichte nichts Neues. Die übliche Fabel vom Ungreifbaren, Unsichtbaren – vom Absoluten, wie die Mafiosi Lombardo nannten. Das Starporträt eines Bosses, für den es Fan-Seiten auf Facebook gab – unter denen sich auch jede Menge Polizisten befanden. Wurde hier natürlich nicht erwähnt, Gott ja, so sind sie halt, die Journalisten. Sackten Infos ohne ein Dankeschön ein und gaben sie als harte Recherche aus.

Er betrachtete die Phantomfotos von Lombardo mit Doppelkinn – von dem Romano hoffte, dass Lombardo es sich bereits hatte absaugen lassen.

Lombardo war ihm nicht unsympathisch. Er war kein Boss, der sich in irgendeinem Schafstall zwischen Partanna und Montevago verkroch, sondern in Luxushotels schöne Frauen verführte, am Arm eine Rolex, in der Hand ein Glas Champagner, dessen Perlage er beurteilen konnte. Lombardo war der intelligenteste aller Mafiabosse, nicht so spießig wie seine Vorgänger, in deren Verstecken die Bibel, Heiligenbilder und CDs mit den Liedern der Schlümpfe