Die Gewöhnung ans alltägliche Glück - Anja Meulenbelt - E-Book

Die Gewöhnung ans alltägliche Glück E-Book

Anja Meulenbelt

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Beschreibung

Wie schon in ihrem Welterfolg «Die Scham ist vorbei» erzählt Anja Meulenbelt hier temperamentvoll und gescheit ein Kapitel ihrer ganz persönlichen und doch nicht nur privaten Geschichte: eine Vierzigjährige – Symbolfigur der Frauenbewegung – trennt sich von ihrer langjährigen Lebensgefährtin; sie begegnet dem zehn Jahre älteren Daniel, der sich ebenfalls aus einer intensiven Beziehung erst lösen muß. Aber müssen die alten Bindungen überhaupt gelöst werden, damit neue entstehen können? Die Erzählerin und ihr Geliebter – beide schmerzerfahren, beide willens, anderen möglichst nicht weh zu tun, und doch ihrer Zusammengehörigkeit gewiß – bemühen sich um einen sanften Weg zueinander; sie teilen die verfügbaren Stunden, die Nächte, Wochenenden und Urlaubswochen zwischen ihren alten und den neuen Partnern auf. Doch was zunächst als ein weiser, aufgeklärter Versuch erscheint, will nicht gelingen. Vielmehr zeichnet sich nach einiger Zeit eine Form der Bindung ab, die verblüffend an die längst überwunden geglaubte, einst gehaßte Kleinfamilie erinnert.

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Seitenzahl: 218

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Anja Meulenbelt

Die Gewöhnung ans alltägliche Glück

Aus dem Niederländischen von Silke Lange

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Wie schon in ihrem Welterfolg «Die Scham ist vorbei» erzählt Anja Meulenbelt hier temperamentvoll und gescheit ein Kapitel ihrer ganz persönlichen und doch nicht nur privaten Geschichte: eine Vierzigjährige – Symbolfigur der Frauenbewegung – trennt sich von ihrer langjährigen Lebensgefährtin; sie begegnet dem zehn Jahre älteren Daniel, der sich ebenfalls aus einer intensiven Beziehung erst lösen muß. Aber müssen die alten Bindungen überhaupt gelöst werden, damit neue entstehen können? Die Erzählerin und ihr Geliebter – beide schmerzerfahren, beide willens, anderen möglichst nicht weh zu tun, und doch ihrer Zusammengehörigkeit gewiß – bemühen sich um einen sanften Weg zueinander; sie teilen die verfügbaren Stunden, die Nächte, Wochenenden und Urlaubswochen zwischen ihren alten und den neuen Partnern auf. Doch was zunächst als ein weiser, aufgeklärter Versuch erscheint, will nicht gelingen. Vielmehr zeichnet sich nach einiger Zeit eine Form der Bindung ab, die verblüffend an die längst überwunden geglaubte, einst gehaßte Kleinfamilie erinnert.

Über Anja Meulenbelt

Anja Meulenbelt, geboren 1945 in Utrecht, studierte Sozialwissenschaften in Amsterdam, wo sie heute als Dozentin und freie Journalistin tätig ist. Sie gehört zu den Begründerinnen und führenden Kräften der holländischen Frauenbewegung.

Von Anja Meulenbelt erschienen außerdem: «Ich wollte nur dein Bestes», «Bewunderung», «Scheidelinien» und «Geliebtes Untier».

Inhaltsübersicht

Obwohl die Erfahrungen ...1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel

Obwohl die Erfahrungen der Hauptperson in diesem Buch der Autorin nicht völlig unbekannt sind, ist dies keine Autobiographie. Die Autorin hat sich die Freiheit genommen, Ereignisse auszugestalten und bei den beschriebenen Personen Charakterzüge hinzuzuerfinden oder wegzulassen.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind daher weder zufällig noch beabsichtigt.

A.M.

1

Du stehst nackt vor einem Waschbecken, auf dem ersten Foto. Das Morgenlicht, das sich im Staub des Hotelfensters bricht, zeichnet Muster auf deine Haut, während du dich rasierst. Die Haare auf deinem Rücken und deinen Beinen schimmern. Links unten ist gerade noch die blaßrosa Tagesdecke des großen Bettes zu erkennen. Ich habe das Foto gemacht. Aber meine Anwesenheit merkt man einzig an der Flasche Eau Sauvage neben dem Spiegel. Ich hatte die Flasche mitgenommen, aber benutzte sie nicht, als ich erfuhr, daß du Dorian einmal das gleiche Parfum geschenkt hast. Ich wollte nicht wie deine andere Freundin riechen. Was ich hören kann, wenn ich das Foto betrachte, sind die Geräusche eines erwachenden Venedigs, die Stimmen der ersten Touristen, das sanfte Plätschern von Wasser.

Das zweite Foto ist nicht in Farbe. Es zeigt dich, wie du in schwarzer Hose und weißem Hemd auf mich zukommst. Du bewegst dich im Schatten der hohen, schmalen Häuser des Getto Nuovo, des alten Judenviertels. Der Platz um dich herum ist leer. Es ist Mittag, kein Ort, an den viele Touristen kommen. Das scharfe Licht läßt die Giebel, die in der Sonne liegen, verblassen und zeichnet ihre Konturen auf die großen, verwitterten Steinplatten, um dann an der abblätternden Farbe und den bröckelnden Steinen entlangzugleiten. Banco Rosso steht auf dem kleinen Schild links oben. Du scheinst noch weit entfernt, auf diesem Foto, in Gedanken versunken. Wir waren still an diesem Mittag, als wir die engen Gassen besichtigten, die aufeinander gesetzten Stockwerke, die Türen mit den unzähligen Namensschildern, die kleine Synagoge. Die Stille ist es, die ich höre, wenn ich das Foto betrachte. Selbst das Plätschern des Wassers, das Gegurre der Tauben und die Stimmen von Kindern, die einen Ball gegen die Mauer werfen, scheinen weit weg zu sein.

Auf dem dritten Foto schaust du mich an, hinter einem kleinen Tisch eines Restaurants im Freien, nicht weit vom Getto. Ich erinnere mich an den Wein in dem Tonkrug, an den Fisch, den wir aßen, an die grauen Katzen, die betteln kamen. Du schaust mich über dein Glas hinweg an, dein Kinn auf eine Hand gestützt. Dein Gesicht ist entspannt und offen. Es glüht in meinem Bauch, wenn du mich so anschaust, noch immer. Das ist ein Foto, das ich nicht so gern zeige, denn auf keinem anderen bist du so nackt, so wehrlos, kann man so leicht in dich hineinschauen.

 

Ich habe die Fotos in meiner Tasche, jetzt, da wir im Autozug nach Genua sitzen. Unsinn eigentlich, denn du, das Objekt meiner Liebe, bist körperlich anwesend und zeigst wieder den gleichen Anblick: nackt stehst du an dem winzigen Waschbecken im Schlafwagenabteil, das wir reserviert haben, für dich und mich und David, deinen jüngsten Sohn. Elias, dein ältester Sohn, ist bereits in Italien. Es ist schon unser dritter Sommer, aber ich schaue dich immer noch genauso gern an, wenn du summend da stehst und mit dem Wasser spritzt in dem viel zu kleinen Raum zwischen weinrotem Plüsch und dunkelgebeiztem Holz. David gammelt auf dem Gang herum und schaut aus dem Fenster. Ich benutze die Gelegenheit, meinen Händen, die immer zu dir wollen, freien Lauf zu lassen. Von dem untersten Bett aus erreiche ich gerade deine Beine, deinen Po. Du summst weiter, während du dich rasierst, und drehst dich um, damit ich dich leichter erreiche.

In den schmalen Betten, drei übereinander, mit David im obersten, konnten wir nicht viel anfangen. Sex kann man es nennen, diesen immerwährenden Wunsch, dich zu berühren, aber es ist einfacher als das, primitiver. Wenn ich mich im Schlaf an dich kuschle, geht es mir gut, verschwinden meine Sorgen, ordnen sich die Dinge, habe ich Frieden.

David klopft an die Tür und kommt mit dem Frühstück herein. Wir klappen die Betten hoch. Die italienische Landschaft ist noch flach, die Sonne schon warm. Mit einer ausgefalteten Karte auf den Knien überlegen wir. Wo fahren wir zuerst hin, an die Küste? David, was möchtest du? Ist mir egal, sagt David, wenn ich nur nicht in der Sonne hocken muß. Wir entscheiden uns für Rapallo. Erst einmal ausruhen, bevor wir weiterziehen. Wir haben Zeit. Wir müssen erst wieder zurück, wenn das Geld ausgegeben ist. In ein paar Wochen liefern wir David bei seiner Mutter und ihrem Freund ab, dann können wir zu zweit weiter, allein. Es wartet keine Freundin mehr auf deine Rückkehr und auch nicht mehr auf mich. Wir brauchen nicht zu schreiben. Es gibt keine schmerzhaften Augenblicke mehr, keine Gespräche mehr darüber, wer was für wen empfindet und wie es weitergehen soll. Du brauchst dir nicht mehr genau zu überlegen, welches wohl der passendste Moment ist, sie anzurufen. Du brauchst nicht mehr von einer Telefonzelle zurückzukehren, um auf eine scheinbar leicht dahingeworfene, aber bissige Frage: wie geht es ihr? zu antworten. Luxus.

Ist es nicht eintönig so, frage ich dich. Langweilst du dich nicht, fragst du mich. Wir leiden zu wenig, sagen wir schuldbewußt, das kann nicht gutgehen, so viel unverdientes Glück. Ich behalte dieses Gefühl lange, das bedrohliche Gefühl, das es zu schön ist, um wahr zu sein. Gleich bricht der Tag an, und wie in den alten Wächterliedern werden sie uns erzählen, daß sie nicht sein darf, diese Liebe.

Wir kannten uns schon seit Jahren. Es war keine Liebe auf den ersten Blick. Du hattest bereits sehr lange eine Beziehung mit Dorian, und wie ich hörte daneben auch noch eine andere Freundin. Und ich war schon wieder Jahre mit Martha zusammen. Auch in dem Augenblick, als unser Verhältnis im klassischen Sinne des Wortes begann und in eine fleischliche Gemeinschaft überging, hätten wir noch leicht umkehren können. Sagtest du es nicht sogar, als wir nach dem ersten Mal am Morgen die Treppe deines Hauses hinuntergingen. Wir können auch einfach Freunde bleiben, wenn du willst? Ich hätte Martha nicht gehen zu lassen brauchen, du Dorian nicht. Wir hätten diesen ersten Sommer nutzen können, um voneinander loszukommen. Ich hätte einen Monat lang Zeit gehabt, dich zu vergessen, als ich mit Martha nach Portugal fuhr und du mit Dorian und deinen Söhnen nach Frankreich. Einen Monat lang war keinerlei Kontakt möglich. Einen ganzen Monat, um darüber nachzudenken, was wir tun werden, wenn wir zurückkommen und uns wiedersehen. Als Freunde, als Geliebte?

 

Deine Freundin wußte es noch nicht. Meine ja. Ich eigne mich nicht dafür, ich bilde mir nichts darauf ein, ich kann einfach nicht anders. Ich kann nicht lügen, ich werde rot und verstricke mich in Widersprüche, ich gebe umständliche Erklärungen ab, auch wenn mich niemand darum bittet. Es gibt mir nicht unbedingt das Gefühl, daß ich einen edleren Charakter hätte, als die Leute, die nicht zwanghaft jede Gefühlsveränderung mitteilen müssen. Aber ich hätte es nicht einmal verschweigen können, nach diesem ersten Mal, denn ich kehrte voller roter Flecken von dir zurück. Die verdammten Mücken. Ich erzählte es Martha bei der ersten Gelegenheit, die sich ergab.

 

Ich habe dir doch schon mal von Daniel erzählt, sagte ich beim Essen zu ihr, das sie für mich in ihrem Haus gekocht hatte. Ich sagte dir doch, daß ich es toll fände, mit einem Mann befreundet zu sein, ohne daß man sofort miteinander bumsen muß? Ich fühle die Hitze in meinem Körper aufsteigen, als ich das sage, versuche aber im Plauderton fortzufahren, nimm doch noch einen Schluck Wein. Ich bin früher schon verliebt gewesen, in den Jahren mit Martha, einmal in eine andere Frau und auch einmal in einen Mann, aber ich hatte davon nie viel Aufhebens gemacht, und Martha hatte amüsiert und mit leichter Ironie auf meine Erzählungen reagiert, auf meine Versuche, die Gefühle unschädlich zu machen, indem ich sie therapeutisch deutete. Und jedesmal, wenn es vorbei war, war ich froh, daß ich nichts davon hergemacht hatte. Zufrieden, daß ich die Ruhe nicht gestört hatte, die Martha und ich so schätzten, unsere uns allmählich liebgewordenen Gewohnheiten nicht durcheinandergebracht hatte. Aber diesmal habe ich mehr als ein Gefühl zu beichten. Eine Tat.

Letzten Montag, sage ich, letzten Montag bin ich nach der Versammlung bei Daniel hängengeblieben, wir wollten noch ein bißchen klönen, kamen etwas ins Schmusen, und plötzlich fand ich es so kindisch, es dabei zu belassen, nur damit ich noch hätte sagen können, daß nichts passiert sei … Also bin ich dageblieben und habe mit ihm geschlafen.

Ich schaue Martha an. Sie schluckt. Und sagt dann, das ist schön für dich. Ich hatte es mir schon gedacht, weißt du. Im Nachhinein zeigt sich, daß jeder es hat kommen sehen. Martha, Daniels Freundin Dorian. Daniel selbst. Die einzige, die nichts geahnt hatte, war ich.

 

Martha macht keine Szene, ist nicht böse und auch nicht traurig. Noch nicht einmal mißbilligend. Ich lasse sie nicht aus den Augen, denn man weiß nie, woran man bei ihr ist, was sie unter ihrem kurzen grauen Haar, hinter ihren dunklen Augen ausbrütet. Aber es kommt noch nicht einmal ein verdeckter Vorwurf in den eineinhalb Wochen, bevor wir nach Portugal reisen. Ich sehe Daniel noch einmal, und noch einmal. Wir reden nicht darüber, was es bedeutet oder ob es was bedeutet. Zuerst kommt ein Sommer, ein ganzer Monat, den wir uns nicht sehen werden.

An dem Tag, an dem wir abreisen sollen, kommt Martha mit ihrer Beichte. Sie hat das Auto vor meiner Tür abgestellt, ich trage meine Sachen nach draußen, das Zelt, die Tasche mit den Büchern. Möchtest du noch einen Kaffee, bevor wir fahren, frage ich. Ja, sagt Martha, ich muß dir noch was erzählen. Ich sehe, daß sie rot ist und verlegen. Ich habe vorgestern Paul gebeten, die Nacht über bei mir zu bleiben. Sie lacht etwas, halb verlegen, halb herausfordernd. Paul ist ihr Ex. Ihr Ex von fünfzehn Jahren Ehe, den sie nach endlosen Geschichten mit Freundinnen, die sie weinend wach klingelten, weil Paul noch bei einer anderen Freundin saß, an die frische Luft setzte. Ich mag Paul sogar, auch wenn er ein Schuft ist, mit seinen unschuldigen Augen und seinem ewig erstaunten Gesichtsausdruck, als wäre nicht er es, der den ganzen Wirbel verursacht, als passiere es ihm einfach. Ich kann mir gut vorstellen, was Frauen an ihm finden, und auch sehr genau, woran sie später zerbrechen. Paul ist immer sehr behutsam mit mir umgegangen, als sich herausstellte, daß ich nicht auf seine schönen blauen Augen hereinfalle, als verstünde er es nicht, daß ich, eine Frau, Martha den Vorzug gab, obendrein noch seiner Martha. Aber er hat sich damit abgefunden. Erst recht, als sich herausstellte, daß ich nicht vorhatte, mich mit den Nachwehen einer fünfzehnjährigen Ehe zu befassen und mich in ihre Versuche einzumischen, aus den Trümmern noch so etwas wie eine Freundschaft zu retten. Und jetzt hat er also wieder bei Martha geschlafen. Ich habe es nicht getan, um dich wegen Daniel zu bestrafen, verstehst du, sagt Martha. Aber ich dachte, als ich dich so ansah, daß ich ruhig auch etwas riskanter leben könnte.

Ich war noch nicht einmal auf die Idee gekommen, daß Martha imstande sei, sich zu rächen. Es überrascht mich, daß ich so wenig empfinde bei dieser Mitteilung. Vor ein paar Jahren hätte es mich mit Sicherheit umgehauen, hätte ich mich bedroht gefühlt, abgewiesen. Ungerecht oder nicht, das wäre der Moment gewesen, in dem das Ungeheuer der Eifersucht seine Pfoten nach mir ausgestreckt und langsam seine Krallen in meine Seele gehauen hätte. Sie hat einen Mann doch lieber als mich. Der Druck ist zu groß, um mit einer Frau zusammen zu leben. Sie erträgt es nicht mehr, der Ärger mit ihrer Familie, die mich nicht akzeptieren will, ist sicher zu groß geworden. Der Druck der Leute in ihrer Umgebung, die glauben, daß es eine Laune sei, ihre Beziehung mit mir, Rache für Pauls Eskapaden, Ablehnung von Männern, eine Phase, die schon wieder vorbeigehen wird. Aber nichts. Ich empfinde beinahe nichts. Ja, doch. Erleichterung. Freiheit.

Ich fange an zu lachen, und erleichtert lacht Martha mit. Wir gratulieren uns zu so viel Erwachsenheit, wir können es schon verkraften. Und warum auch nicht. Die Gewichte sind vollkommen gleich verteilt, sie einen Freund, ich einen. Wie Internatsschülerinnen sitzen wir im Auto und kichern. Aber auf der langen Fahrt durch Frankreich und dann durch Spanien fängt Marthas Rücken an zu schmerzen. Erst ein bißchen und dann schlimmer. Fast krumm steigt sie am zweiten Abend in Spanien aus dem Wagen, ich muß sie stützen, bis sie langsam ihren Rücken wieder aufrichten kann. Zu lange gefahren, konstatieren wir. Und zu hart gearbeitet, um rechtzeitig loszukommen. Mir ist auch nicht so ganz wohl, als ich neben Martha im Auto sitze und meine Gedanken um Daniel zu kreisen beginnen. Einen Monat lang ohne seine Haut, die meine berührt. Ich spule den Film vom ersten Mal zurück und lasse ihn in meinem Kopf noch einmal ablaufen. Noch einmal und noch einmal. Der Augenblick, in dem wir uns endlich aufeinander zu bewegen. O Gott, wie entscheidet man bloß, das zu tun, die entstandene Spannung im Moment der Berührung aufzulösen. Lippen. Der Geschmack seines Mundes. Sein Geruch, so eine Überraschung. Meine Hand auf seinem Rücken, auf der Suche nach einer Öffnung zwischen Hemd und Hose, an seinen Kleidern zerrend. Sein Körper so anders als der Körper, an den ich in den letzten Jahren gewöhnt war. Eckiger, haariger, härter. Ich geniere mich ein wenig, als ich merke, wie mein Atem schneller geht und meine Haut heißer wird, jetzt, da ich neben Martha sitze und nicht neben Daniel. Untreue ist das, treuloser, als wenn du mit einem anderen schläfst, diese Unfähigkeit, mit deinen Gedanken und Gefühlen bei demjenigen zu bleiben, mit dem du zusammen bist. Aber die Bilder von Daniel lassen sich nicht verscheuchen. Und allmählich, auf dem langen Weg, den wir beinahe schweigend fahren, mischen sich unter die erotischen Fetzen die ersten düsteren Vorgefühle. Was habe ich bloß gemacht? Geht das gut? Wieder eine Situation, in der wir uns weh tun werden, und ich bin schon so oft verletzt worden. Welches Risiko gehe ich ein, hält die Beziehung mit Martha das wirklich aus? Was passiert wohl erst, wenn Dorian es weiß? Schön wird sie es nicht finden, trotz der Abmachungen, die sie haben, trotz der Tatsache, daß Dorian sich an einen Daniel gewöhnt hat, der häufiger andere Freundinnen hat. Und was machen wir, wenn sie nicht damit einverstanden ist? Werde ich dann wieder aufs Abstellgleis geschoben?

Ich schaue Martha an, wie sie schweigend hinter dem Steuer sitzt. Auch sie ist offensichtlich in Gedanken versunken. Ich schaue nach draußen. Eine kahle, felsige Gegend. Der Himmel ist grau. Und da sind sie wieder, die Bilder von Daniel. Daniel, der alle seine Kleider jetzt ausgezogen hat, dessen Versammlungsgesicht sich jetzt in etwas Kreatürlicheres, Wilderes, Nackteres verwandelt. Ich erinnere mich, wie ich die Brille von seiner Nase nehme und neben dem Bett auf den Boden gleiten lasse, wie er seine Uhr abstreift, um mich nicht zu kratzen, kann jetzt noch irgend etwas runter, geht es nackter als so? O Gott, wie überstehe ich so rollig einen ganzen Monat? Und Marthas Rückenschmerzen werden schlimmer.

 

In Amarante, wo wir das Zelt neben dem Fluß aufgestellt haben, liegen wir im warmen Sand, jede in ihre eigenen Gedanken eingesponnen. Als ich aus einem Dämmerschlaf erwache, halb Traum, halb Wachen, sehe ich, daß in einiger Entfernung zwei melancholisch aussehende Portugiesen sitzen und geil zu mir herüberstarren. Sie sehen es mir an, denke ich, sie sehen es mir an, wie heiß ich bin. Sie riechen Heterosexualität. Das war mir lange nicht mehr passiert, wenn ich mit Martha Urlaub machte, auch nicht in südlicheren Ländern, auch nicht in Griechenland und Italien, obwohl Freundinnen mich warnten, daß ich dort ohne männliche Begleitung nichts unternehmen könne. Ich bin als fast Vierzigjährige nicht mehr im Rennen, sagte ich, sie interessieren sich nicht für etwas angestaubte Lehrerinnen. Sie stehen auf jung und langbeinig und blond oder auf ihren eigenen Frauen, die viel herausgeputzter sind als wir, mit ihren hohen Hacken und ihrer Kriegsbemalung, die sie selbst in der prallen Sonne tragen. Ich bin unsichtbar, in meinem alten Männerhemd, ohne Schminke und mit meinem zu einem unordentlichen Pferdeschwanz zusammengebundenen Haar. Aber was ich vergaß, ist, daß ich meine Empfangsapparatur für Männer total abgeschaltet hatte, daß ich mich mit all meiner Erotik auf Frauen verlegt hatte, auf Martha.

 

Wir schlendern zu einem Restaurant. Ich sehe mehr portugiesische Männer. Einige von ihnen erinnern mich an Daniel, die gleiche kräftige Statur, etwas rundlich dunkle Köpfe. Genauso groß wie ich. Ich liebe Übersichtlichkeit, sagte ich einmal zu Daniel, ich mag es, wenn man die Blicke beim Gehen auf gleicher Höhe austauschen kann. Ich begegne noch einmal einem Daniel und noch einem.

 

Martha und ich essen auf einer Terrasse oberhalb des Flußes. Wir reden wenig. Ich halte ihre Hand. Ich habe zuviel Wein getrunken. Als die Sonne mit ihrer lila-, orange- und rosafarbenen Gewalt untergeht, versuche ich den Gedanken zu verdrängen, daß ich hier so mit Daniel sitzen möchte. Ich bin doch nicht schon so hinüber, daß ich bei einem Sonnenuntergang zu heulen anfange, denke ich. Gott sei Dank hat der trockene Sand Marthas Rückenschmerzen gelindert.

2

Vergangener Glanz der italienischen Riviera. Palmen. Hecken mit knallroten und leuchtend violetten Blüten. Unter den Sonnenschirmen. von Rapallo sitzen ältliche, mit einer gesunden Oberweite ausgestattete Damen und trinken Likör und Cappucino. Wir, Daniel und ich, sind im Vergleich zu diesen Leuten jung. Tiefblau glänzt und glitzert das Wasser, einladend. Daniel seufzt zufrieden, in seinem Stuhl am Wasser, und schließt die Augen, bereit, in eines seiner vielen Katzenschläfchen zu versinken. David, der das sieht, fängt an, ungeduldig hin und her zu rutschen, er will los. Und auch ich bin unruhig. Wir müssen uns noch einen Campingplatz suchen. Nur in meiner Vorstellung bin ich eine Vagabundin, eine Abenteurerin. Mein Körper möchte wissen, wo er schläft. Wir fahren aus Rapallo hinaus und finden einen Platz. Üppiges und feuchtes Grün. Ich richte das Zelt ein, breite die Laken aus und beziehe die Kissen, stelle meine Bücher ordentlich in einer Reihe in einer Ecke des Zeltes auf. Ich wohne. Nun können meinetwegen die Streifzüge beginnen.

Daniel hilft David noch bei seinem Zelt. David ist sechzehn und schlechter Laune. Eigentlich wollte er nicht zelten. Eigentlich wollte er überhaupt nicht mit nach Italien, aber seine Mutter hat ihm nicht erlaubt, allein zu Hause zu bleiben. Also ist er mitgekommen, festentschlossen zu leiden. Er beklagt sich über Ungeziefer. Er jammert über zuviel Sonne. Sein kleines Zelt, stellt sich am nächsten Tag heraus, steht auf einem Ameisenhaufen und seine Luftmatratze hat in der Nacht die Luft verloren und seine Decke stinkt nach der Pisse einer von Daniels Katzen. Auch das Angebot, daß er fortan im Auto schlafen könne, kann ihn nicht milder stimmen. Er sitzt auf einem Stuhl im Schatten, immer noch in seinen dunkelblauen Klamotten, während wir unser weißes Winterfell schon lange entblößt haben, liest in den Comic-Heften, die er schon fünfmal durch hat, und verbreitet düstere Wolken von Unfrieden.

Als auch Angebote von Chips und Eis nicht helfen wollen, lassen wir ihn in Ruhe. Wir sind zu beschäftigt, uns neue Gewohnheiten zu schaffen. Urlaub ist das Verlegen des Haushalts in eine primitivere Umgebung, sagte einmal eine Feministin, und es ist das erste Mal, daß wir uns zusammen einen Haushalt einrichten. Ich kenne Daniels Körper bis in die kleinste Falte, ich kenne viele seiner Gewohnheiten, aber wir wohnen jeder in unserem eigenen Haus. Wir sind Eigenbrötler und nicht mehr so jung. Daniel hat sich vor zwölf Jahren scheiden lassen, ich schon vor achtzehn. Wenn ich bei ihm bin, passe ich mich seinem Bedürfnis nach Ordnung an, werfe meine schmutzigen Socken sofort in den Wäschekorb und lege meine Bücher auf einen Extrastapel. Wenn er bei mir ist, ärgert er sich nicht über meine Schlampigkeit, sagt nichts zu dem Abwasch von gestern, der noch herumsteht, bahnt sich einen Weg durch die Bücher und Zeitungen, mit denen der Boden übersät ist, und ist kein bißchen verärgert, wenn sich herausstellt, daß das Telefon nicht funktioniert, weil ich schon wieder einmal vergessen habe, die Rechnung zu bezahlen. Die letzten Ferien waren kurz, und wir ließen uns in Hotels bedienen. Aber jetzt hocken wir uns einen Monat lang auf der Pelle, und vorsichtig probieren wir aus, wie das gehen soll. Wenn wir die Küchensachen nun unter den Pfirsichbaum stellen, dann können wir hinter dem Zelt im Schatten essen. Glaubst du nicht auch, daß es praktischer wäre, unter den Trauben zu kochen? Ich nehme den Plastikkanister, um Wasser zu holen. Neben uns steht ein Zelt, das, wie sich herausstellt, zwei Frauen bewohnen. Den deutschen, alternativen Wagen mit den Beulen und den Anti-Atombomben-Aufklebern auf der Windschutzscheibe hatten wir bereits entdeckt. Deine Leserinnen, schätze ich, sagt Daniel, der gerade an ihnen vorbeigegangen ist und sie gegrüßt hat. Und verdammt noch mal, als ich an den Decken vorbeikomme, die sie auf dem Rasen ausgebreitet haben, mit dem Plastikkanister in der Hand, um Wasser zu holen, entdecke ich unter den Büchern, die sie dabeihaben, den lilafarbenen Umschlag von ‹Die zweite Sünde› auf deutsch. Sie schauen hoch, die Frauen, etwas jünger als ich, und gleich wieder weg. Vielleicht saßen sie unter den Leuten, die nach Berlin gekommen waren, um mich zu sehen, als ich einen Vortrag hielt über das Verhältnis zwischen Lesben und Heterofrauen, aber hier, mit Daniel und David, als Teil einer Familie, bin ich unsichtbar geworden. Genauso unsichtbar, wie ich für Männer war, als ich mit Martha unterwegs war, verkleidet wie zwei Lehrerinnen auf Reise. Sie sind allein, sagte ein Kellner in einem Restaurant, als Martha und ich einen Tisch suchten. Oder: Sie sind zu viert, den Blick auf den Platz hinter uns gerichtet, wo unsere Männer hätten auftauchen sollen. Heterosexisten können nicht bis zwei zählen, stellten Martha und ich fest. Sie sind Schwestern, fragte uns der Chef des Campingplatzes, und wir versuchten erst gar nicht, ihm klarzumachen, daß das nur die halbe Wahrheit ist.

 

Ich bin es nicht gewohnt, als Familie angesehen zu werden, aber es passiert automatisch, jetzt, wo wir mit drei Personen in einem Auto angefahren kommen und unsere Sachen unter den Pfirsichbäumen auspacken. Ein Mann, eine Frau, ein großer Junge. Und um es noch schlimmer zu machen, scheinen wir genau in diese Rollen zu fallen. Ich sorge für das Essen. Daniel kann ausgezeichnet kochen, in seiner eigenen Küche, mit dem Kochbuch in der Hand. Ich bin im Improvisieren geübter, mit ein paar Sachen vom Markt oder aus dem Laden vom Campingplatz, in der Hocke hinter einer kleinen Flamme. Ich liebe es, irgend etwas aus fremdartigen Fischen und frischem Basilikum zusammen zu zaubern. Dafür kann Daniel fahren. Jetzt habe ich auch meinen Führerschein, endlich. Nach dem katastrophalen Sommer mit Martha in Portugal. Aber es ist für mich immer noch ein Opfer, mich durch den dichten Verkehr von Genua zu wühlen – winzige, hupende Fiats, die ständig auf der falschen Seite auftauchen oder mich zu schneiden versuchen. Also haben wir für diesen Urlaub einen Vertrag geschlossen. Ich koche. Daniel fährt. Die Zeit, da ich täglich beweisen mußte, daß ich mich nicht unterdrücken lasse und ausgezeichnet für mich selbst aufkommen kann, liegt auch hinter mir. Und so sind wir auf diesem Campingplatz nicht von den Familien zu unterscheiden, die ich früher so gehaßt habe, und unsere Nachbarsdamen mustern mich mit mißbilligenden Blicken.

Stört es dich, fragt Daniel.

Nein, ich will auch mal Ferien von dem Druck haben, immer als Symbol der Bewegung betrachtet zu werden. Die ganzen Briefe nach ‹Die zweite Sünde›,