Ich wollte nur dein Bestes - Anja Meulenbelt - E-Book

Ich wollte nur dein Bestes E-Book

Anja Meulenbelt

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Beschreibung

Erinnerungen steigen in der Erzählerin auf, während sie die Mutter auf dem Sterbebett pflegt: an die Kindheit in bürgerlicher Enge, gegängelt und gemaßregelt von der ständig leidenden Mutter; an die frühe Flucht aus dem Elternhaus; an tiefgreifende Entfremdung. Und dennoch: «Ich will mich nicht über meine Mutter beklagen … Ich bin selber Mutter geworden. Habe alles falsch gemacht. Mußte eine unmögliche Aufgabe erfüllen. Alles wollte ich besser machen als meine Mutter, alles anders, aber ist mir das gelungen?» Eine persönliche Erzählung von Anja Meulenbelt, der berühmten Autorin des feministischen Schlüsselromans «Die Scham ist vorbei».

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Anja Meulenbelt

Ich wollte nur dein Bestes

Aus dem Niederländischen von Silke Lange

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Erinnerungen steigen in der Erzählerin auf, während sie die Mutter auf dem Sterbebett pflegt: an die Kindheit in bürgerlicher Enge, gegängelt und gemaßregelt von der ständig leidenden Mutter; an die frühe Flucht aus dem Elternhaus; an tiefgreifende Entfremdung. Und dennoch: «Ich will mich nicht über meine Mutter beklagen … Ich bin selber Mutter geworden. Habe alles falsch gemacht. Mußte eine unmögliche Aufgabe erfüllen. Alles wollte ich besser machen als meine Mutter, alles anders, aber ist mir das gelungen?»

Eine persönliche Erzählung von Anja Meulenbelt, der berühmten Autorin des feministischen Schlüsselromans «Die Scham ist vorbei».

Über Anja Meulenbelt

Anja Meulenbelt, geboren 1945 in Utrecht, studierte Sozialwissenschaften in Amsterdam, wo sie heute als Dozentin und freie Journalistin tätig ist. Anja Meulenbelt zählt zu den Begründerinnen und führenden Kräften der holländischen Frauenbewegung. In Deutschland wurde sie durch den großen Erfolg ihres feministischen Schlüsselromans «Die Scham ist vorbei» bekannt. 1985 erschien, wiederum mit starker Resonanz, der Roman «Die Gewöhnung ans alltägliche Glück» in deutscher Übersetzung.

Inhaltsübersicht

I1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. KapitelII6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. KapitelIII15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel

I

Ist es heute oder gestern, fragt meine Mutter,

reglos, gewichtslos auf ihrem weißen Bett treibend.

Immer heute, sage ich. Sie lächelt leise.

1

Ungefähr dreimal die Woche steige ich aus der Linie 10, Haltestelle Weteringplantsoen aus, um zur Arbeit zu gehen. Dabei sehe ich auf die Straße, in der ich meine ganze Jugend über gewohnt habe. Die Brauerei steht noch da, obgleich sie nicht mehr so stinkt wie früher, wenn der Wind falsch stand und meine Mutter die Wäsche noch feucht hereinholte, weil die Laken sonst nach – was war es – Hopfen und Hefe rochen. Der Spielplatz ist auch noch da. Die matschigen Pfade von damals, die durch den Park führen, mit den Regenwürmern, derentwegen ich mich, wenn es geregnet hatte, nicht auf den Spielplatz wagte, sind jetzt gepflastert. Der große Baum steht nicht mehr da. Er ist bereits, als ich dort noch wohnte, während eines Sturmes umgeknickt. Aber sonst ist beinahe alles unverändert. Auf der Weteringschans hat sich ein surinamisches Reisebüro niedergelassen. War dort früher nicht der Gemüsehändler? Das Geschäft mit den Gesundheitsschuhen ist noch da. Die Buchhandlung, in der ich nie einen Kunden sehe, auch. Ich kaufte dort meine ersten Taschenbücher, Jungmädchenromane. Der Friseur, der leidige Friseur, bei dem meine Mutter mein Haar viel zu kurz schneiden ließ, hat sein Geschäft aufgegeben. Noch jetzt fühle ich die Schauder, die meinen Rücken bis zum Steiß hinunterliefen, wenn die Haarschneidemaschine meinen Nacken berührte. Im Restaurant «de Boemerang» hängt immer noch ein Schild im Fenster: Heute Frische Muscheln. Ich besitze noch ein Foto von damals, als ich eineinhalb, vielleicht zwei Jahre alt war: mit Schleifen im Haar gehe ich an diesem Restaurant vorbei. Das Schild: Wir empfehlen heute: Frische Muscheln. Damals waren wir gerade nach Amsterdam gezogen.

 

Dreimal die Woche steige ich hier aus, bereits seit ungefähr zehn, zwölf Jahren, und sehe auf die Straße, in der wir lebten. Aber niemals in all den Jahren habe ich einen Umweg gemacht, um zu schauen, wie die Straße heute aussieht, oder ob die Murmellöcher noch da sind, oder ob der Weg zum Briefkasten am Ende der Straße mir noch genauso lang erscheint. Ich verbinde keine glücklichen Erinnerungen damit, so wie mit Bergen, wo meine Großmutter wohnte. Das ist immer noch ein Zufluchtsort für mich, wenn ich zu hart gearbeitet oder mich in zu viele Konflikte verstrickt habe. Aber diese Straße aus meiner Jugend – fünfzehn Jahre lang der Ort, an dem ich lebte – habe ich lange gemieden.

Ich zwinge mich, sie mir anzuschauen. In dem Haus, in dem wir wohnten, hat sich nun ein Büro niedergelassen. Natürlich kommt mir die Straße kleiner vor als damals. Jetzt kann ich auch durch die Fenster im Hochparterre in die Wohnungen hineinschauen.

Das Haus ruft eine leichte Beklemmung in mir hervor, den Wunsch, schnell wieder wegzugehen, mir ein paar neue Bücher, neue Kleider, ein schönes Essen und ein Glas Wein zu spendieren.

 

Anfangs wohnten wir im ersten Stock. Eine Wohnung wie viele, Wohnzimmer, Elternschlafzimmer, ein kleiner Nebenraum, in dem mein Bruder und ich in Klappbetten schliefen und eifersüchtig unser Spielzeug, das wir im eigenen Bettkasten aufbewahrten, vor der Habgier des anderen bewachten.

Das ist die Zeit, über die meine Mutter, wenn wir uns über meinen unbesonnenen Sozialismus und ihre bürgerlichen Auffassungen stritten, sagte: Wir hatten damals so gut wie nichts. Aber ich war glücklicher als heute. Kind, glaub es mir, Geld macht auch nicht glücklich.

Es war kurz nach dem Krieg. Mein Vater hatte vor Kriegsausbruch gerade noch das Gymnasium beendet, meine Mutter das Lehrerinnenseminar, aber sie war durch die Besatzung nie dazu gekommen, ihren Beruf auszuüben. Viel zu essen hatte es im Krieg nicht gegeben. Ich war gerade erst geboren, in dem letzten strengen Winter 1945, mein Bruder ein Jahr später. Veranlagung zur Rachitis, stellte der Arzt fest, die englische Krankheit. Auf Anweisung des Arztes jeden Sommer nach Petten ans Meer, wo meine Eltern ein Haus mieteten, dessen Eigentümer solange in die Scheune zogen. Ferien am Strand waren damals noch nicht so normal wie heute. Ein paar Familien. Wer fünf Minuten weiter den Strand hinunterlief, begegnete niemand mehr. Der konnte sich dann in dem schönen weißen Sandstreifen zwischen dem Schilf und den Dünen einnisten.

Richtig arm waren wir damals schon nicht mehr, auch wenn meine Mutter es so darstellte. Wer sonst konnte schon monatelang ein Haus mieten und die «Hilfe» in die Ferien mitnehmen? Und hatten wir nicht schon sehr bald ein Auto?

 

Während des Wiederaufbaus nach dem Krieg florierte der Handel mit Büromaschinen. Mein Großvater hatte meinen Vater als leitenden Direktor eingestellt, und schon bald war das Geschäft zu einem Familienbetrieb mit einem großen Stab von Angestellten herangewachsen. Sollte meine Mutter jemals noch daran gedacht haben, Lehrerin zu werden, dann wurde ihr das jetzt ganz sicher ausgeredet. Als Frau eines Direktors hatte man keinen eigenen Beruf. Sie gehörte der Generation von Nachkriegsfrauen an, die von allen Seiten zu hören bekamen, daß eine gute Mutter zu Hause zu sein hatte, wenn ihre Kinder aus der Schule kamen.

Wir wurden wohlhabend. Das stelle ich im nachhinein fest, denn wie viele Kinder aus wohlbehütetem Hause kannte ich es nicht anders und dachte, das müßte so sein. Alle, die ich kannte, waren gutgekleidet, aßen sonntags im Restaurant, wo die Kinder sich fürchterlich langweilten, fuhren in großen Wagen ins Ausland in die Ferien. Als die Nachbarn unter uns nach und nach auszogen, mieteten wir ihr Stockwerk dazu. Ich bekam ein eigenes Zimmer. Ich kannte keine Kinder außerhalb der teuren Privatschule, auf die ich ging. Ich kannte die Stadt nicht, von den Vierteln der Wohlhabenden abgesehen, nur die Kalverstraat oder, besser noch, die P.C. Hooftstraat und die van Baerle. Ich kann mich nicht daran erinnern, daß mir das jemals offen gesagt wurde, aber unterschwellig wurde mir zu erkennen gegeben, mit welchen Kindern in der Straße ich nicht zu spielen hatte. Die Straße bestand aus einem guten und einem schlechten Abschnitt. Und noch Jahre später fürchtete ich mich, wenn ich mich jenseits der unsichtbaren Trennungslinien bewegte und in Arbeitervierteln landete, wo die Leute anders sprachen, als ich es gelernt hatte.

 

Wohlhabend, aber nicht von der Art, wo das Geld locker sitzt, denn in einem Familienbetrieb ist nie Geld übrig, es muß investiert werden. Ich höre meine Mutter noch sagen, daß das Haushaltsgeld alle sei, und ich höre die ständig wiederkehrende Antwort meines Vaters: schon wieder? bevor er seufzend sein Portemonnaie aus der Jacke holte. Der Luxus, von dem ich nicht wußte, daß es Luxus war, bis ich einen Jungen von viel niedrigerer Herkunft heiratete, war nur zum Teil für uns bestimmt. Die Pelzjacke und die goldene Uhr meiner Mutter, die Autos, die rechtzeitig gegen neue Modelle ausgetauscht wurden, und im Kino immer die teuersten Plätze. War das alles für uns, oder weil sich das für einen Direktor so gehörte?

Fußball wurde gegen Tennis eingetauscht. Irgendwo eine Frikadelle oder eine Portion Pommes frites zu essen, das ging nur noch an Orten, wo einem keine Angestellten begegnen konnten. Das war auch der Grund, so lernte ich von meinem Vater, warum man auf die Exklusivität des Tennisclubs zu achten hatte. Denn beim Tennisspiel nannte man sich schließlich beim Vornamen, und das widersprach der Regel, daß der Direktor zwar seine Angestellten, die Angestellten aber nicht den Direktor duzen durften. Und bei jedem jungen Mann, der über unsere Schwelle trat, lautete die erste Frage: Was macht sein Vater?

 

Einer der ersten Artikel, die ich schrieb, anonym, handelte von meiner Mutter. Ich habe es ihr nie erzählt, auch nicht später, als sie so gern mit ihrer schreibenden Tochter angab und alle meine Bücher haben wollte, meine Artikel, jedes Interview, das ich gab. Diesen ersten Artikel: «Die Geschichte meiner Mutter, oder: Ist Frau Philips unterdrückt?» schrieb ich für eine Frauenzeitung. Es war die Zeit der «Dollen Minna» und der linken Männer, die meinten, daß nur Arbeiterfrauen Grund hätten, sich über ihr Schicksal zu beklagen. Frauen wie meine Mutter, hatten die nicht alle Vorrechte der herrschenden Klasse, mit ihren Haushaltshilfen, die die schwere Arbeit tun durften? Taten sie überhaupt etwas, diese Frauen mit ihren Kreditkonten bei den Kaufhäusern, mit ihren kleinen Einkaufsautos und ihren Tennisclubs? Als ich meine Geschichte vorlas, in einer Runde mit anderen Frauen, die ihre Geschichte auf Notizblättern mitgebracht hatten, stockte ich mittendrin. Zu meinem eigenen Erstaunen zitterten meine Hände, und unterdrückte Tränen erstickten meine Stimme. Ging das Leben meiner Mutter mir so nahe? Lies du es lieber weiter vor, sagte ich zu der Frau neben mir, und ich hörte zu und kämpfte gegen die aufsteigenden Gefühle an, neben der Stimme, die die Geschichte meiner Mutter erzählte. Die Sinnlosigkeit dieses Lebens. Die Qual der Aufopferung, nur für seine Kinder zu leben, für seine Familie, nichts wirklich für sich selbst zu machen, um dann, beinahe fünfzig Jahre alt, ausrangiert, eingetauscht, neben den Mülleimer gestellt zu werden. Sicher, gutgestellt mit Unterhaltszahlungen und mittlerweile nicht mehr in der Straße meiner Kindheit, sondern in einem hübschen Grachtenhaus, noch immer mit einer Haushaltshilfe, auch wenn es gar keine Familie mehr gab, die Dreck machte und ernährt werden wollte. Und dennoch, ist das etwa keine Unterdrückung? Ich habe sie den Artikel nie lesen lassen, denn ich schrieb nicht nur über ihre Erniedrigung, immer um Geld bitten zu müssen, nicht nur über das ewige Gejammere beim Essen, das niemals gut war, sondern auch über meinen Haß auf das Milieu, aus dem ich stammte. Ich fand meine Mutter dumm, borniert und feige. Daß sie sich das gefallen ließ! Daß sie es widerspruchslos hinnahm! Niemals würde ich wie meine Mutter werden. Und in der Eile tat ich, um wegzukommen, genau das, was so viele junge Frauen taten, in einem unüberlegten Fluchtversuch. Schwanger werden. Heiraten. Die gleiche Falle, in die auch sie gegangen war. Warum hast du das mit dir geschehen lassen, werfe ich ihr vor. Warum hast du das mit mir geschehen lassen? Daraus mache ich ihr einen noch größeren Vorwurf.

 

Das ist sie, sage ich. Ich zeige das Foto. Sie steht neben meinem Vater. In ihrer Pelzjacke, mit Hütchen, in Pose, gepanzert, versteckt hinter ihrem Lippenstift und ihrem Puder; ihre Augen sind hart, ihr Lächeln ist nicht fröhlich. Seht, sage ich, das war sie. Die junge Frau, bevor sie heiratete, verlegen und frech zugleich, blond, schön und lebenslustig. Ohne Panzer. Das war sie.

Wenn sie nicht meine Mutter gewesen wäre, hätte ich sie dann jemals kennengelernt? Wäre ich ihr begegnet, dieser Dame? Kenne ich sie wirklich, habe ich sie je gekannt?

2

Kennst du mich noch, fragt der Mann hinter der Ladentheke. Ich sehe einen Mann, der ungefähr genauso alt ist wie ich, vielleicht etwas älter. Erinnerst du dich noch daran, wo du früher wohntest, der Gemüsehändler, bei dem ihr einkauftet? Ich war der Junge, der die Bestellungen ins Haus lieferte, sagt er. Ich mußte plötzlich daran denken, als ich etwas über dich las. Meulenbelt, überlegte ich, das war doch die Familie, der ich die Einkäufe ins Haus bringen mußte. Du mußt deine Mutter einmal fragen, ob sie sich noch daran erinnert, sagt er. Kees heiße ich. Ich war immer so von deiner Mutter beeindruckt, sie war eine sehr elegante Frau, immer so gut gekleidet. Du bist, wie soll ich das sagen, ich meine es wirklich nicht böse, verstehst du, tja … weniger chic als sie.

 

Meine Mutter. War sie elegant? Ich erinnere es nicht mehr. Es muß wohl so gewesen sein, überlege ich, mit ihren Schränken voller Kleider und Schuhe, mit ihrem Nie-ohne-Lippenstift-aus-dem-Haus, ihrem Jede-Woche-zum-Friseur-Gehen. Und ja, als sie so alt war wie ich jetzt, vierzig, war sie zweifellos schön. In meiner Erinnerung sehe ich jedoch ihr graues Gesicht, tagein, tagaus schlurfte sie im selben grauen Rock mit demselben grünen Pullover durchs Haus. Bis die Reinemachefrau rief: Mensch, ziehen Sie doch mal etwas anderes an, es sieht ja aus, als ob ich hier die gnädige Frau wäre. Elegant?

Eine frühere Freundin gesteht mir später, daß sie immer sehr eifersüchtig darauf war, daß ich so eine Mutter hatte. Eine richtige. Eine schöne. Eine, die zu Hause war, wenn man aus der Schule kam. Eifersüchtig, sage ich verblüfft, auf meine Mutter? Ich fand deine Mutter sehr viel interessanter, bei euch zu Hause, da wurde über Kunst und Politik gesprochen. Eben das, was ich bei meiner Großmutter suchte, die in ihrem eigenen Haus lebte, neben dem Haus eines Kunstmalers, den ich Opa nannte. Zwei Häuser in einem Garten, das, was heute living apart together genannt wird. Nicht so bürgerlich wie bei uns zu Hause.

 

Meine Mutter. Ich habe Schwierigkeiten, die Bilder zu einer Person zusammenzufügen. Die fröhliche junge Frau aus meiner frühesten Kindheit. Die verbitterte Ehefrau des Direktors. Die depressive Frau, die wie ein Opfer auf die Scheidung wartete, die früher oder später kommen würde.

Auf der Bank, in die ich – in der Hand eine Vollmacht – gehe, um Geld für sie zu holen, fragen sie, wie es ihr geht. So eine rassige Frau, sagt der Mann, der das Geld vor mir abzählt, wie merkwürdig, daß sie so krank ist. Rassig? Meine Mutter? Mit ihrem ständigen Gejammere? Wenn die Leute vom Tennisclub vorbeikommen, viel zu braun und zu gesund und zu lebendig für die gedämpfte Atmosphäre des Krankenhauszimmers, und ich eine feste Hand entgegengestreckt bekomme, sehe ich wieder einen anderen Menschen vor mir: meine Mutter im Tennisclub. Ein feiner Kerl, ein Glas Bier in der einen Hand, die Zigarette in der anderen, erzählt sie schmutzige Witze und lacht mit. Ein Mensch, den ich nicht kenne. Meine Mutter, wenn ein Mann in der Nähe ist, wenn Ernst einmal mitkommt und ihre Wangen sich röten, die koketten Gesten von früher wieder auftauchen und keine Klage über ihre Lippen kommt. Sie ist wirklich schrecklich, sage ich zu meinem Geliebten, als wir das Krankenhaus verlassen, doch ich bin gekränkt, weil sie zu ihm so nett ist. Wenn sie mit mir alleine ist, ist sie nie so nett.

 

Ich bin ihr ältestes Kind. Ich müßte sie kennen. Aber weiß ich, wer sie ist? Wie paßt die tapfere Frau, die im Krieg ohne Angst jüdische Kinder in Sicherheit brachte, zu der bornierten Dame von später? Wo ist das Schüchterne, Waisenkindhafte von den wenigen Fotos aus ihrer Jugend, zu denen sie selbst mit weißer Tinte die Texte schrieb. Wie paßt die Frau, die später sagte: Ich verstehe dich nicht, was willst du bloß mit den ganzen Frauen, ich kann mir wirklich ein interessanteres Gesprächsthema vorstellen, zu der Annie aus dem Lehrerinnenseminar, zu der Annie mit ihrer Busenfreundin Cathrien, immer Arm in Arm, neben ihren Fahrrädern auf der Wiese liegend, Seite um Seite nur Annie und Cathrien, Cathrien und Annie? Die Annie von damals, wie paßt sie zu der verwirrten Frau im Krankenhausbett, die ihren Blick mißtrauisch auf die Ärzte richtet, nicht leben und nicht sterben will.

3

Auf ihre Bitte hin gehe ich nach dem Krankenhausbesuch in ihr Haus, eine Gracht weiter, um nachzusehen, ob noch alles in Ordnung ist, und um ihr noch etwas mitzubringen, ihre Schecks, Taschentücher. Kein Rohrbruch? Kein Einbrecher dagewesen? Ich öffne die Eingangstür mit dem großen Schlüssel. Ich drücke. Er klemmt. Ihre Mäntel hängen im Flur, ein roter, ein gelber, ein grüner. In ihrem Schlafzimmer liegt alles so da, wie sie es hinterlassen hat. Das Bett aufgeschlagen, auf einem Tischchen daneben das Telefon, eine Lesebrille, Zigaretten, ein Stapel mit Rätselheften und Tenniszeitschriften, Bücher von Harold Robbins und Konsalik. Dazwischen ein paar meiner Bücher. Ich setze mich auf das Bett, auf die Tagesdecke, die einst glänzte und teuer war, aber nun schäbig geworden ist und an einer Ecke von einer Sicherheitsnadel zusammengehalten wird. Noch immer dasselbe Bett von damals, als sie noch verheiratet war, ein Doppelbett. Es lohnt sich nicht mehr, eine neue Tagesdecke dafür anfertigen zu lassen, das Haus steht schon lange zum Verkauf, auf dem Fenster klebt ein orangefarbener Zettel mit dieser Mitteilung. Sie will hier weg, weg aus der Innenstadt, weg von ihrer Angst vor den Hausbesetzern und den Drogensüchtigen, aber sie will vor allem nicht übers Ohr gehauen werden, und deshalb ist der verlangte Preis immer wieder zu hoch, immer der Preis, den sie im vorigen Jahr hätte bekommen können, aber jetzt nicht mehr.

Ihre Fläschchen und Dosen mit Nagellack, Haarspray und Parfum stehen in einem Halbkreis auf dem Frisiertisch. Dahinter eine Reihe mit Fotografien, mein Bruder und ich, die Enkelkinder, nahezu das einzig Persönliche in diesem Haus voller unpersönlich glänzender Möbel. Nachdem sie lange gequengelt hatte, erlaubte ich ihr, sich eines von den Werbefotos auszusuchen, die für mein letztes Buch aufgenommen worden waren. Wie ich erwartete, wählte sie das gestellteste aus. Auf diesem schaust du wenigstens freundlich drein, nicht so streng, sagte sie. Daneben in einem schief hängenden Rahmen das vergilbte Foto ihrer Mutter, gebeugt über das warm eingepackte Baby, das sie selbst war. Ich fand dieses Foto, zerknittert und fleckig, auf einem meiner Streifzüge in meine Vergangenheit zwischen den unordentlichen Stapeln mit Fotografien von mir und meinem Bruder als Kind, in einer Schublade in dem Zimmer, wo sie die alten Sachen ihrer Mutter aufbewahrt, das heißt nicht die ihrer eigenen Mutter, sondern die der vierten Frau ihres Vaters. Solltest du das nicht mal vergrößern lassen, frage ich sie, soll ich es für dich machen lassen?

Ach warum denn, sagt sie. Ich habe sie doch nicht einmal gekannt.

Es ist doch deine Mutter, sage ich.

Was bringt es schon, so in der Vergangenheit herumzuwühlen, sagt sie.

All diese alten Dinge.

Aber einige Wochen später steht das Foto dann doch auf ihrem Frisiertisch.

 

Das Haus ist leer, still, noch stiller als sonst. In der Küche ist seit Jahren nicht mehr gekocht worden. Die drei Gästezimmer haben so gut wie nie einen Gast gesehen. In einem davon habe ich ein Jahr lang gewohnt, mit meinem kleinen Sohn, nach meiner Scheidung, aber das ist fast zwanzig Jahre her. Der rote Kater, der sonst auf der Suche nach Gesellschaft klagend durchs Haus miaut, ist irgendwo anders untergebracht. Vorübergehend, sagen wir, aber es ist die Frage, ob Mutter jemals in dieses Haus zurückkehren wird. Es tropft kein Wasserhahn, nirgendwo liegt Staub. Noch immer kommt die Reinmachefrau dreimal die Woche, um sauber zu machen, was bereits sauber war.

Was an Geräuschen zu hören ist, kommt von draußen. Startende Autos, Stimmen von Passanten. Dieses Mal bin ich, als ich auf dem Absatz vor der Haustür stand, ohne das bekannte Ritual hineingekommen: auf die Klingel drücken, ding, dong, das Licht im Treppenhaus geht an, die Schritte meiner Mutter auf der Treppe, ihr: Ja, ja, ich komm ja schon, ihr Gezerre, um die Tür aufzubekommen. Ihr: Tag, Liebling, und ihre mir zum Kuß entgegengestreckte Wange, während ich mich bereits auf den ersten versteckten Vorwurf gefaßt mache. Wie lange ist es her, daß du zum letztenmal hier warst? War das nicht vor Weihnachten? Niemand braucht jetzt den Ton von dem Tenniswettkampf im Fernsehen leiser zu stellen, ihr einziges Vergnügen in diesem viel zu großen Haus, das sie alleine nicht ausfüllen kann, das sie aber auch mit niemandem teilen möchte.