Die Glückssuchenden: Herrn Haiduks Laden der Wünsche - Florian Beckerhoff - E-Book + Hörbuch

Die Glückssuchenden: Herrn Haiduks Laden der Wünsche Hörbuch

Florian Beckerhoff

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Beschreibung

Weil sich manche Dinge nicht für Geld kaufen lassen: Der gefühlvolle Roman »Die Glückssuchenden « von Florian Beckerhoff jetzt als eBook bei dotbooks. Eigentlich ist es nur ein normaler Kiosk in Berlin – aber in dem kleinen Laden voll raschelnder Zeitungen, bunter Schokoriegel und dampfendem Kaffee geht die ganze Welt ein und aus: Da ist zum Beispiel die schüchterne Studentin Alma, die regelmäßig die Regale nach den neuesten Klatschmagazinen durchkämmt, der »Pudelmann«, der sich liebend gerne über Gott und die Welt beschwert, und der Schriftsteller, der nie ohne Block und Stift bewaffnet den Laden betritt. Doch mit der trauten Ruhe ist es plötzlich vorbei, als Alma vor Herrn Haiduks Laden einen Lottoschein findet … der den Jackpot geknackt hat! Gemeinsam machen die beiden sich auf die Suche nach dem Besitzer des Gewinnscheins – und stellen dabei fest, dass das große Glück manchmal genau da wartet, wo man es am wenigsten erwartet … »Tolle Beobachtungen, viel Humor: Einmal angefangen, möchte man das Buch am liebsten nicht mehr aus der Hand legen«, urteilt die Zeitschrift GRAZIA. Jetzt als eBook kaufen und genießen: »Die Glückssuchenden – Herrn Haiduks Laden der Wünsche« von Bestseller-Autor Florian Beckerhoff wird alle Fans von Fredrick Backman und Carsten Henn begeistern. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Zeit:6 Std. 38 min

Sprecher:Samy Andersen

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Über dieses Buch:

Eigentlich ist es nur ein normaler Kiosk in Berlin – aber in dem kleinen Laden voll raschelnder Zeitungen, bunter Schokoriegel und dampfendem Kaffee geht die ganze Welt ein und aus: Da ist zum Beispiel die schüchterne Studentin Alma, die regelmäßig die Regale nach den neuesten Klatschmagazinen durchkämmt, der »Pudelmann«, der sich liebend gerne über Gott und die Welt beschwert, und der Schriftsteller, der nie ohne Block und Stift bewaffnet den Laden betritt. Doch mit der trauten Ruhe ist es plötzlich vorbei, als Alma vor Herrn Haiduks Laden einen Lottoschein findet … der den Jackpot geknackt hat! Gemeinsam machen die beiden sich auf die Suche nach dem Besitzer des Gewinnscheins – und stellen dabei fest, dass das große Glück manchmal genau da wartet, wo man es am wenigsten erwartet …

»Tolle Beobachtungen, viel Humor: Einmal angefangen, möchte man das Buch am liebsten nicht mehr aus der Hand legen«, urteilt die Zeitschrift GRAZIA.

Über den Autor:

Florian Beckerhoff, geboren 1976 in Zürich, wuchs in Bonn auf. Nach seinem Studium der Literaturwissenschaften in Berlin und Paris promovierte er an der Universität Hamburg über literarische Schwerversprecher und arbeitete danach unter anderem als Sprachlehrer, Museumswärter und Werbetexter. Seinem Bestseller »Frau Ella«, der mit Matthias Schweighöfer verfilmt wurde, folgten zahlreiche Romane und Kinderbücher. Florian Beckerhoff lebt heute mit seiner Familie in Berlin.

Bei dotbooks veröffentlichte Florian Beckerhoff seine Romane »Frau Ella«

»Das Landei«

»Ein Sofa voller Frauen«

»Die Geschichtenerzählerin: Ein Sommer bei Gesomina«

»Die Glückssuchenden: Herrn Haiduks Laden der Wünsche« – erscheint im Hörbuch bei Saga

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eBook-Neuausgabe September 2023

Dieses Buch erschien bereits 2019 unter dem Titel »Herrn Haiduks Laden der Wünsche« bei HarperCollins, Hamburg.

Copyright © der Originalausgabe 2019 by HarperCollins, in der Harper Collins Germany GmbH, Hamburg

Copyright © der Neuausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Covergestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ah)

ISBN 978-3-98690-788-4

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Florian Beckerhoff

Die Glückssuchenden:Herrn Haiduks Laden der Wünsche

Roman

dotbooks.

1. Kapitel

Müsste er seinem Laden einen Namen geben, hatte mir Herr Haiduk eines Tages eröffnet, käme für ihn nur Das Nadelöhr infrage, oder noch besser auf Französisch: Le Trou d’Aiguille.

Erwartungsvoll hatte er mich mit seinen braunen Augen angesehen, die stets auf amüsierte Art und Weise interessiert wirkten. Die Nase war enorm, fast schon wildwüchsig, verglichen mit dem fein gestutzten Clark-Gable-Oberlippenbart darunter, dessen Enden leicht in die Höhe gingen, wenn er lächelte. Offenbar erwartete er eine Reaktion von mir, und ich nickte, denn eng war sein Laden wirklich, ja, er passte gar nicht nach Berlin: Zeitschriften, Zeitungen, Süßigkeiten, Kaugummis, Zigaretten, Aschenbecher, Feuerzeuge, Lottoscheine, Sammelbilder, Rubbellose, Briefannahme, Päckchenservice, Kopien, Kaffee, Tinte, Tee und sogar Eis und Kaltgetränke auf knapp zehn Quadrat­metern. In Neapel oder Casablanca mochte das normal sein, vielleicht auch in London, New York oder Paris, aber nicht in Berlin. Hier waren die Straßen so breit wie die Wohnungen groß, wenn auch längst nicht mehr so günstig wie damals, als Herr Haiduk aus Paris hierhergezogen war – er hatte sich in eine Frau verliebt, die ihn dann schnell verlassen hatte.

Stattdessen also dieser Laden, zwei Türen breit, drei Menschen lang, der Länge nach geteilt von einem L-förmigen Tresen, hinter dem er die meiste Zeit des Tages verbrachte. Dorthin gelangte man durch eine schmale Lücke zwischen dem hinteren Ende des Tresens und der Rückwand des Ladens. Ein altertümliches Schild wies darauf hin, dass Unbefugte bei Strafe davon absehen sollten, den von einem hochklappbaren Brett versperrten Durchgang eigenmächtig zu nutzen. Daneben befand sich die Postwaage, verdeckt von mehrstöckigen Glasvitrinen mit Pfeifenzubehör und Nippes, die den Kassenbereich wie zwei Säulen flankierten. Hier lagen auch die häufig nachgefragten Tageszeitungen. Noch weiter in Richtung Straße leuchteten bunt die Süßigkeiten. Bonbons, Kaugummis und Schokoriegel waren so hoch platziert, dass kleine Kinder gar nicht erst auf die Idee kamen, sich selbst zu bedienen. Gut einen Meter vor der Ladentür knickte der Tresen dann zur Wand hin ab. Der so geschützte Teil der rechten Seitenwand war komplett von den Zigarettenregalen belegt. Außerhalb, auf dem frei zugänglichen letzten Meter bis zum Fenster, standen unten die eingeschweißten Kinderhefte und Comics, darüber Postbedarf und Schreibwaren. Die linke Seitenwand war bis auf einen kleinen Tisch, auf dem man die Lottoscheine ausfüllen konnte, komplett von Zeitschriften verdeckt. Auch wenn kein klares Ordnungsprinzip zu erkennen war, fand Herr Haiduk auf Nachfrage jedes Heft sofort. Natürlich durften die Kunden aber auch stöbern. Bei aller Vielfältigkeit des Sortiments war der ­Laden also rein von der Größe her ein überschaubares Universum, und manchmal, das hatte Herr Haiduk mir bei anderer Gelegenheit gestanden, frage er sich schon, ob er sich womöglich für dieses Leben entschieden hatte, weil er sich hier an die schummrigen Geschäfte seiner Kindheit erinnerte. Stundenlang hatte er da herumgesessen, wenn es sonst nichts zu tun gab.

Jedenfalls glich dieser enge Laden wirklich einem Nadelöhr, und durch die schmale, von Perlenschnüren verhangene Tür am Ende des Raumes ginge ganz sicher kein ­Kamel. Deshalb sei der Name meiner Meinung nach sehr passend, hatte ich ihm damals gesagt, woraufhin sich die Enden seines Schnurrbarts noch etwas weiter hoben.

»Sie sind der Erste, der das auch so sieht«, hatte er mir gestanden und hinzugefügt, dass er tatsächlich schon lange mit dem Gedanken spiele, ein Schild über der Tür anzubringen, wo bislang nur ein Kamel für Zigaretten warb und der Lotto-Schriftzug rot auf gelbem Grund das große Glück versprach. Allerdings zögere er, und zwar nicht weil er fürchte, sein Laden würde dann wie eine Kneipe oder ein Restaurant wirken.

»Das nicht, aber man könnte mich für einen Änderungsschneider halten, wie mein Vormund in Algier einer war«, hatte er mir erklärt. »Das war kein guter Mensch. Das darf auf keinen Fall passieren!« Aus diesem Grund nahm er anders als andere Vertreter seiner Zunft auch keine Wäsche oder Schuhe zur Reinigung oder Reparatur an. Es sollte gar nicht erst zu Missverständnissen kommen. Allein die Vorstellung, mit Nadel und Faden oder an der Nähmaschine zu arbeiten, war ihm unerträglich. Nein, Herr Haiduk wollte ausschließlich Händler sein, den Menschen, wie er sagte, kleine Freuden verkaufen und ihre kleinen Wünsche erfüllen.

Wieder ein anderes Mal hatte er sich darüber amüsiert, dass es auf Deutsch gar keine richtige Bezeichnung für seine Art von Laden gebe, der weder Tabakwarengeschäft noch Zeitungskiosk oder Süßwarenhandel sei. Ein selt­samer Mangel dieser Sprache, fand er, da man sich andererseits entscheiden müsse, ob man Illustrierte, Zeitschrift oder Magazin kaufen wolle, was doch alles das Gleiche sei. Das waren Dinge, die er mit großer Freude erklärte, denn so oft er auch betonte, dass er nur ein ungebildeter einfacher Händler sei, war Herr Haiduk weniger ein Mann der Tat als einer des Geistes, der es in Sachen Namenstaufe dann auch bei der Idee belassen hatte.

Das alles hatte ich drei oder vier Jahre vor meinem Wiedersehen mit Herrn Haiduk erfahren, als ich gleich gegenüber von seinem Laden im Hinterhaus wohnte. Ich hatte dann eine Weile als Deutschlehrer im Ausland gearbeitet und war anschließend in eine andere Gegend gezogen, wo die Mieten noch günstiger waren. Meine Ersparnisse würden nicht ewig reichen, aber ich wollte den Moment, da ich mir eine Arbeit suchen müsste, so lange wie möglich hinauszögern.

Ich nutzte die Zeit, um durch die Stadt zu laufen, und fand mich eines heißen Sommertages vor Herrn Haiduks Laden wieder. So wie ich mich gerne auf Friedhöfen tummele, suche ich immer wieder auch die alten Plätze meines Lebens auf, vielleicht um der immer weiter drängenden Zeit etwas entgegenzusetzen, indem ich den schon durchgelaufenen Sand noch einmal nach Erinnerungen durchsuche. Es tröstet mich, wenn die Orte noch die gleichen sind, wie diese einfache Straße fern der prächtigen Fassaden.

Äußerlich war sie völlig unberührt vom wieder einmal so rasanten Umbau der Stadt. Nicht eins der großen Mietshäuser strahlte heller als drei Jahre zuvor. Geprägt von kleinen Läden und dicht parkenden Autos war es eine Straße, in der die Menschen einander vom Sehen kannten, ohne sich aber zu nahe zu treten. Natürlich hatte es auch hier Ausnahmen gegeben, Tratsch und Gerüchte, sich selbst auf der Bühne des Gehwegs produzierende bunte Hunde, Schicksalsschläge, die jeden irgendwie betrafen oder betroffen machten, aber das blieben immer Ausnahmen. Ich hatte hier nur mit Herrn Haiduk gesprochen, wenn ich gelegentlich einmal Zigaretten gekauft hatte. So gut ich mich an ihn erinnerte, hatte er mich deshalb sicherlich längst vergessen, bei so vielen Menschen, wie er sie täglich sah. Ich meinte, eine der Verkäuferinnen in der Bäckerei nebenan wiederzuerkennen. Möglich, dass sie mich damals gegrüßt hatte, da ich fast täglich bei ihr Brötchen kaufte. Jetzt war ich für sie irgendein Passant, so wie ich für Herrn Haiduk einer von vielen Kunden wäre.

Dennoch blieb ich vor seinem Laden stehen. Das Lottoschild war verschwunden. An seiner Stelle war ein vom Ruß der Stadt verschontes helles Rechteck geblieben, das wie ein Fenster wirkte. Daneben hing noch immer das Kamel, das jetzt aber den Eindruck erweckte, als wäre es gerade durch dieses Fassadenfenster nach draußen geklettert. Die an sich unsinnige Vorstellung, dass das Kamel hier wie seine Artgenossen im Zoo über ein Gehege mit Außen- und Innenbereich verfügte, amüsierte mich. Vielleicht trat ich deshalb durch die Tür in das Halbdunkel des Ladens.

Der Geruch von Tabak und frisch gedruckten Zeitschriften ließ mich sofort vergessen, wie lange ich nicht hier gewesen war. Mit einem Mal war das Vergangene wieder da. Verwundert, dass ich damals nie daran gedacht hatte, erkannte ich, dass es eine doppelte Erinnerung war: Auch in meiner Heimatstadt hatte es ein sogar völlig fensterloses Geschäft gegeben, in dem man die alte Händlerin nur mit Mühe durch die Rauchschwaden hindurch hatte ausmachen können, so viele Zigaretten hatte sie geraucht. Dennoch hatte es auch nach Zeitschriften gerochen und – das hatte ich komplett vergessen – nach dem Klebstoff der Sammelbilder, die wir Kinder noch im Geschäft in unsere Alben geklebt hatten. Als meine Augen sich jetzt an das spärliche Licht gewöhnt hatten, suchte ich auf dem Tresen nach den Pappboxen, in denen die Tütchen mit den Bildern hintereinanderstanden, über die wir auf der Suche nach der richtigen Wahl mit unseren Fingerkuppen hatten streichen dürfen. Sie sahen anders aus als früher, aber noch jetzt lief es mir wohlig den Rücken hinunter, da uns Kindern allein die Vorstellung, einmal eine ganze Box zu besitzen, unermessliche Freude beschert hatte. So viel Zeit wir uns bei der Auswahl der Tütchen auch ließen, wussten wir doch, dass es eine Frage des Glücks war, die mit den richtigen Bildern zu erwischen. Erst jetzt kam ich darauf, dass es sich dabei auch um eine Art Lotterie handelte, in der wir einen Großteil unseres Taschengelds verspielt hatten.

Ich weiß nicht, wie lange ich diesen Erinnerungen nachhing, als ich plötzlich seine Stimme hörte.

»Monsieur l’auteur!«, rief Herr Haiduk.

Verwirrt blickte ich mich um und sah ihn dann von unterhalb des Tresens auftauchen. Äußerlich völlig unverändert lächelte er und wandte mir dann schon wieder den ­Rücken zu, um ein Päckchen rote Gauloises aus dem Regal zu holen.

»Vielen Dank«, sagte ich entschuldigend. »Aber ich habe aufgehört.«

»Tja, manche Dinge ändern sich«, sagte er.

Ich blickte mich um. Auch der Laden war genauso wie damals. Lediglich der Tisch mit den Lottoscheinen fehlte. Die linke Seitenwand war ganz mit Zeitschriften bedeckt.

Jetzt hörte ich die klassische Musik, ein Cellokonzert, vielleicht Schumann. Auch damals lief immer leise das Radio, und es war vorgekommen, dass Herr Haiduk Kunden gebeten hatte, still zu sein, wenn ihm eine Passage besonders gut gefiel oder wenn der Name des Stückes genannt wurde.

»Ja, manche Dinge ändern sich«, sagte er noch einmal und fragte mich dann, ob er mir eine Geschichte erzählen dürfe. Eine Geschichte, die vieles verändert habe und noch immer verändere. Ich könne damit machen, was ich wolle. Er habe sie für mich aufbewahrt. Ich sei der Schriftsteller seines Vertrauens.

Ich war überrascht und auf eine verwirrende Art gerührt, dass er sich daran erinnerte. Die Kiste mit den allerersten Exemplaren meines ersten und bis heute einzigen Romans war wie so viele andere Päckchen und Pakete auch bei ihm im Laden abgegeben worden. Voller Stolz hatte ich ihm ein Exemplar geschenkt, überzeugt, dass mich dieser Roman berühmt machen würde. In den folgenden Wochen hatte er sämtliche Buchkritiken in den Zeitungen gelesen und die Buchbesprechungen im Radio gehört, fassungslos, dass man mein Werk da nicht besprach. Das hatte ihn sogar an seinem Radiosender zweifeln lassen. Er kannte einen Journalisten, der bei ihm indonesische Nelkenzigaretten kaufte. Den wollte er auf mein Werk hinweisen, weil das so doch nicht ging! Den Misserfolg hatte das nicht verhindern können. Für einen Schriftsteller hatte er mich dennoch auch weiterhin gehalten und gemeint, dass sich gute Geschichten und gute Menschen auf lange Sicht durchsetzten.

Musste ich ihm jetzt sagen, dass ich seit meinem Wegzug von hier nicht nur das Rauchen, sondern auch das Schreiben aufgegeben hatte? Durfte man ein Geschenk annehmen, wenn man damit sicher nichts anfangen konnte? Doch Herr Haiduk schien aufrichtig erfreut und wollte unbedingt erzählen. Warum ihm also seinen Glauben nehmen? Ja, für Herrn Haiduk, der mich nicht vergessen hatte, wollte ich gerne noch einmal der Schriftsteller sein, der ich hatte werden wollen. Mit dem unsinnigen Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, nickte ich. Sofort ging er zur Tür und schloss den Laden ab, um mich dann nach hinten zu ­führen.

Ich hatte mich schon immer gefragt, wohin die von Perlenschnüren verhangene Tür wohl führte, und trat dementsprechend gespannt in das noch schummrigere Hinterzimmer, in dem ein Sofa und ein kleiner Schreibtisch mit Stuhl so gerade Platz fanden. Herr Haiduk wies auf ein Bücherbord, auf dem ich neben einer silbernen Teekanne meinen Roman stehen sah. Darunter stapelten sich, keiner erkennbaren Ordnung folgend, die abgegebenen und abzuholenden Pakete. Herr Haiduk öffnete eine weitere Tür, die ich erst gar nicht wahrgenommen hatte. Wie eine Geheimtür war sie nicht von der Wand zu unterscheiden. Vom plötzlich einfallenden Tageslicht geblendet folgte ich ihm gespannt in einen überraschend kühlen Hof.

»Mein Paradies«, sagte er, um gleich noch einmal zurück in den Laden zu gehen.

Ich sah mich um und staunte angesichts der völlig unerwarteten Schönheit dieses Ortes, von dessen Existenz ich nichts geahnt hatte. Der einstöckige Laden lag in einer Lücke zwischen den Brandschutzmauern zweier alter Mietshäuser. Links und rechts ragten die unverputzten Wände in den strahlend blauen Sommerhimmel. Auf dem Boden lag ordentlich geharkter Kies. In großen Blumenkübeln wuchsen immergrüne Pflanzen. Plötzlich begann es zu plätschern, und ich entdeckte hinter einem von zwei Korbsesseln den kleinen Springbrunnen: ein Felsen in Miniatur, aus dessen Mitte stetig Wasser sprudelte und in ein kleines Becken floss. Das Ufer war mit Moos und kleinen Büschen bewachsen. Ich riss mich von dem Anblick los und machte einige Schritte weiter in den Hof. Er endete an einer sicher zwei Meter hohen Mauer mit seltsam verzierter Krone, darüber strahlte das üppige Grün alter Bäume.

»Kennen Sie den Friedhof?«, hörte ich Herrn Haiduk fragen und sah mich zu ihm um.

Er trug ein bronzenes Tablett mit zwei Gläsern in der einen, ein Fußgestell aus dunklem Holz in der anderen Hand. Letzteres platzierte er zwischen den Sesseln, um das Tablett darauf abzustellen. Bei der Mauer handelte es sich also um die Rückseite einer der Gruften am Rande des Friedhofs, auf dem ich so viele Stunden verbracht hatte. Niemals hätte ich gedacht, dass sich hinter einer der protzigen Grabstätten der Garten meines Zigarettenhändlers befinden könnte, der mich jetzt bat, doch endlich Platz zu nehmen und meinen Tee zu trinken. Er wartete, bis ich mich in den mir zugedachten Korbsessel fallen ließ, ehe auch er sich setzte.

»Ich würde Ihnen das nicht erzählen, wenn mir Ihr Buch nicht gut gefallen hätte«, sagte er dann. »Ich weiß nicht, ob Sie ein guter Schriftsteller sind, aber Sie sind auf jeden Fall ein guter Mensch. Es ist ein großes Glück, dass Sie gekommen sind.«

Spätestens da hätte ich hellhörig werden müssen, aber ich fühlte mich geschmeichelt, und seine blumigen Worte passten zu diesem so schönen Ort. Außerdem war ich wirklich gespannt zu hören, was er mir erzählen wollte, obwohl oder gerade weil ich kein Schriftsteller mehr war.

2. Kapitel

Er könne nicht sagen, begann Herr Haiduk, wann genau Alma seinen Laden zum ersten Mal betreten habe, auf jeden Fall aber lange vor Beginn der eigentlichen Geschichte. Sie war jung, aber kein Mädchen mehr und interessierte sich ausschließlich für Frauenzeitschriften. Anders als andere Kundinnen griff sie jedoch nicht gleich nach den gewünschten Exemplaren oder fragte danach. Sie ließ sich auch keinen Stapel von ihm zusammenstellen, wie es viele ältere Damen taten. Sie verhielt sich eher wie eine Studentin oder so, wie er als ungebildeter einfacher Händler, der noch nie in einer Bibliothek gewesen war, sich das vorstellte. In ihrem immer gleichen, etwas zu großen Jeanshemd schritt Alma vor dem Regal auf und ab, streckte sich in die Höhe oder ging in die Hocke. Hatte sie etwas gefunden, was sie interessierte, nahm sie auf dem kleinen ­Hocker Platz und studierte die Zeitschriften, ohne dabei jemals auch nur ein Wort zu sagen. Kamen weitere Kunden in den Laden, wurde es eng, aber Alma schaffte es immer, so auszuweichen, dass sie niemanden störte. Brauchte jemand den Hocker, um an eine der weit oben stehenden Zeitschriften zu gelangen, machte sie diesen frei, ehe ein Wort gefallen war. Es war, als ahnte sie, was kommen würde. Das geschah allerdings nur äußerst selten, da so weit oben neben den Männermagazinen, die kaum jemand in Anwesenheit einer Frau wie Alma in die Hand zu nehmen wagte, nur kaum nachgefragte exotische Jahreshefte lagerten, die er meist für bestimmte Kunden bestellte, zum Beispiel Fliegenfischen oder Die Deutsche Briefmarken Revue.

Alma las, soweit Herr Haiduk das einschätzen konnte, einfach alles über die Reichen und Berühmten dieser Welt, und das mit einer Anteilnahme, die ihn immer wieder aufs Neue überraschte. Mal schien sie mitzuleiden, mal freute sie sich über etwas, oder sie las ganz besonders konzentriert. Dabei fuhr sie sich mit der Hand durch ihre braunen Haare. Gerne wickelte sie die Locken mit schnellen Drehbewegungen um ihren Zeigefinger, hielt kurz inne und spulte die Strähne dann wieder ab. Arm, Hand und Finger arbeiteten wie eine eigenständige Maschine, die immer die gleiche Bewegung mit absoluter Perfektion ausführte. Aufwickeln. Abspulen. Pause. Arm hoch. Arm runter. Immer wieder. So vorhersehbar der Ablauf an sich war, so unvorhersehbar war es, wie oft er sich wiederholen würde. Herr Haiduk machte sich ein Spiel daraus, im Stillen darauf zu tippen. Die einzige verlässliche Vorhersage, die er nach all den Monaten treffen konnte, war jedoch die, dass sie es nie bei einem einzigen Mal beließ und bis dahin nie mehr als vierundfünfzig Wiederholungen geschafft hatte.

Andere Kundinnen äußerten sich sehr viel deutlicher zu den Meldungen auf den Titelseiten, wenn eine Ehe geschieden, eine Verlobung gefeiert, ein Kind verstoßen oder wieder aufgenommen worden war. Verlorene Pfunde wurden genauso kommentiert wie gewonnene Preise, verstoßene Königinnen, verliebte Minister, erkrankte Sportler, genesene Grafen, prügelnde Schauspieler, tanzende Schriftsteller, verzweifelte Musiker, glückliche Zauberer und all die anderen, deren Leben vor allem deshalb interessierte, weil sie es zur Schau stellten. Bei allem Kopfschütteln, Augenrollen, Schulterzucken und Seufzen wusste man aber, dass es immer nur ein Spiel mit den Gefühlen war. Schließlich sprach man nicht von ganz und gar wirklichen Menschen. Alma hingegen ging völlig auf in ihrer Lektüre, bei der sie allerdings nicht beobachtet werden wollte. Blickte Herr Haiduk allzu offensichtlich zu ihr hinüber, wandte sie sich sofort ab, sodass er nie herausfand, welche Geschichten genau sie interessierten. Natürlich ging ihn das auch nichts an, und er erlaubte sich diese Neugier nur, weil sie für die Lektüre nicht bezahlt hatte, letztlich also in seinem Eigentum blätterte. Wäre die junge Frau weniger unscheinbar und nicht auf so sympathische Art rätselhaft gewesen, hätte er sie vielleicht nicht gewähren lassen. So aber durfte sie still in ihrer Ecke sitzen.

Nur Kinder und Hunde schafften es, Alma für längere Zeit von ihrer Lektüre abzulenken. Nicht, dass sie ihr Schweigen gebrochen hätte, aber sie verfolgte gebannt und – wie er zu erkennen meinte – mit großer Zuneigung die Begeisterung der Kinder angesichts der Auswahl an Süßigkeiten, Heften und Sammelbildern. Wurde sie von einem der Kinder angesprochen, lächelte sie nur, als wäre sie stumm. Interessierte sich ein Hund für sie, kraulte sie ihn und ließ ihn an ihrer Hand lecken, offenbar völlig furchtlos auch vor größeren Exemplaren. Anschließend holte sie ein Taschentuch hervor und säuberte ihre Hand, ehe sie wieder an die Seiten fasste.

Am Ende ihrer Studien kaufte Alma immer eine der Zeitschriften, auf die sie gelegentlich einige Packungen Kaugummi mit Beerengeschmack legte. Nie sagte sie auch nur ein Wort. Kein Bitte oder Danke kam ihr über die Lippen. Selten lächelte sie unsicher in Richtung Boden. Deshalb taufte er sie die Stumme Studentin, so wie er vielen seiner Kunden im Stillen Spitznamen gab.

»Ich verwende diese Namen aber nur im Gespräch mit Adamo«, erklärte er mir jetzt, als müsste er sich entschuldigen. »Mein treuer Freund und Gehilfe vertritt mich mittwochnachmittags, wenn ich am Kanal Pétanque spielen gehe. Adamo kommt immer schon gegen Mittag.«

Sie besprachen dann die Situation in der Liga, die ausschließlich in ihren Köpfen existierte, weil sich fast jede Woche neue Mannschaften fanden. Anders als die meisten Deutschen spielten sie aber nur Triplettes. Der Kreis der Mitspieler blieb dadurch überschaubar. Da Adamo die Mittwochsspiele und Herr Haiduk die Samstagsspiele verpasste, gab es immer etwas zu berichten darüber, wer wie gut gelegt und welche Meisterschüsse es gegeben hatte. Wenn dann noch Zeit war, wechselten sie ohne bewusste Überleitung zu den Kunden des Nadelöhrs, dem Pudelmann, dem Schönen Trinker, der Gläubigen Frau, Finn, Clara und Lena – den drei Kindern aus dem Haus – und all den anderen, die auch Adamo kannte, bei dem es sich, wie ich erst jetzt begriff, um den tiefschwarzen Zweimetermann handeln musste, der auch damals, als ich noch Zigaretten ­gekauft hatte, schon gelegentlich im Laden arbeitete.

So war Alma bald eine von vielen Stammkundinnen und wäre für Herrn Haiduk und Adamo wohl immer die Stumme Studentin geblieben, wenn der Paketbote nicht eines Tages ein Päckchen für eine gewisse Mademoiselle Alma Bonnefoi abgegeben hätte. Es war einer der ersten schönen Frühlingstage nach dem immer wieder verstörend langen Berliner Winter. Herr Haiduk rätselte im Stillen, bei welcher seiner Kundinnen es sich um diese Mademoiselle handelte, ohne auch nur einmal an die Stumme Studentin zu denken. Dementsprechend groß war seine Verwunderung, als genau die ihm tags darauf ihren Ausweis der République Française und einen Abholschein vorlegte, nachdem sie zuvor sicher eine Stunde lang die Zeitschriften studiert, ihr eines Exemplar gekauft und den Laden bereits verlassen hatte. Als er sie kurz darauf wieder vor sich stehen sah, ging er davon aus, dass sie Kaugummis vergessen hatte. Sie aber griff in ihren Beutel und reichte ihm dann Pass und Abholschein. Als er sich in Richtung Hinterzimmer wandte, um das Päckchen zu holen, wusste er schon, dass es sich um die rätselhafte Sendung handelte. Wieso war er darauf nicht von selbst gekommen? Dass sie Französin war, erklärte natürlich ihr schweigsames Verhalten, da sie womöglich nicht gut Deutsch sprach. Er fand ihr in Packpapier eingewickeltes Päckchen sofort und trat zurück durch die Perlenschnüre.

»Bitte sehr, Mademoiselle Bonnefoi«, sagte er.

Schweigend und ohne aufzusehen, nahm sie das Päckchen und verließ den Laden. Sie wirkte noch schüchterner als sonst. Er hatte sogar den Eindruck, dass es ihr unangenehm war, etwas geschickt zu bekommen.

Herr Haiduk verkniff sich in den folgenden Tagen und Wochen zunächst jede Reaktion. Sie sollte bloß nicht ­wissen, dass er sich schon Gedanken gemacht hatte! Dann kamen weitere Sendungen für sie, alle etwa schokoladen­tafelgroß, dabei aber gut doppelt so dick. Der Absender war immer ein Monsieur Jean-Yves Bonnefoi in Lille, der jedes seiner Päckchen mit der gleichen Präzision in braunes Papier einschlug, das er mit durchsichtigem Klebeband ­fixierte. Nachdem Herr Haiduk sich mehrmals dabei ertappt hatte, den Inhalt beiläufig zu ertasten, vergaß er eines Tages komplett die ihm sonst so wichtige Diskretion – das auch weil er sich nach vielen Jahren in Deutschland zu gerne auf Französisch unterhielt. Seine Kunden sprachen zwar alle möglichen Sprachen, Französisch aber hörte er viel zu selten.

»Vous êtes Française?«, fragte er.

Kurz schien Alma erschrocken, und Herr Haiduk schämte sich für seine Neugier. Er wollte sich sofort entschuldigen, als sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr strich und mit den Schultern zuckte. Es war ein Zucken, das genauso gut heißen konnte, dass sie die Frage für irrelevant hielt, wie auch, dass sie keine Lust auf eine Unterhaltung hatte. Es hätte auch bedeuten können, dass sie selbst nicht wusste, wie sie zu ihrem Namen gekommen war, wenn es nicht signalisieren sollte, dass sie gar nichts verstand oder nicht sprechen konnte. Es war ein schüchternes Zucken, das sich nicht etwa über seine Neugier beschwerte, sondern einfach über die Frage hinwegging, als habe er sie nicht ­gestellt. Erleichtert hob Herr Haiduk das Paket auf den Tresen, auf das sie noch ein Päckchen Kaugummi legte, das er zur Seite schieben musste, um den Barcode einzuscannen. Als er sich dem Monitor der Kasse zuwandte, sah er sie aus dem Augenwinkel lächeln. Kaum lächelte er aber zurück, blickte sie starr auf die Kaugummis. So freundlich sie Kindern und Hunden gegenüber war, wollte sie mit ihm offenbar nichts zu tun haben, auch wenn sie so viele Stunden in seinem Laden verbrachte.

Nun sei es an sich nichts Außergewöhnliches, dass sich ein Kunde nicht ganz so verhalte, wie man es von der Mehrheit der Menschen erwarte, erklärte mir Herr Haiduk, da könne er mir ganz andere Dinge erzählen. Auch gebe es in dieser Stadt mehr Menschen, als man denke, die einfach kein Interesse daran hätten, sich mit anderen auszutauschen, und wenn nur über das Wetter. Deshalb hätte er auch nicht im Traum erwartet, dass diese für sich völlig unbedeutenden Ereignisse Vorboten einer Geschichte sein könnten, die er eines Tages einem echten Schriftsteller wie mir erzählen würde. Nein, er hatte nur ein bisschen auf Französisch reden wollen und akzeptierte, dass ihr an derartiger Kommunikation nicht gelegen war. Da hatte er in Berlin wirklich schon Schlimmeres erlebt. Niemals wäre er auf die Idee gekommen, es noch einmal zu versuchen oder sich bei anderen Kunden nach ihr zu erkundigen. Er bediente sie einfach weiter als namenlose Kundin, wobei er sie für sich schon Alma und nicht mehr die Stumme Studentin nannte. Er mochte sie und wollte, dass sie sich bei ihm wohlfühlte. Deshalb war es ihm so unangenehm, als sich der Pudelmann eines Tages über sie lustig machte.

Alma hatte sich mit dem Hocker bis ganz hinten vor die Perlenschnüre zurückgezogen und war vertieft in eine der Zeitschriften. Der Pudelmann trug seine schwarzen Haare als Minipli und sah seinem Pudel tatsächlich verblüffend ähnlich, der interessiert an Almas Schuhen schnupperte und ihren Handrücken leckte. Sie beendete ihre Lektüre, stellte die Zeitschriften bis auf eine zurück ins Regal, die sie mit drei Packungen Kaugummi auf den Tresen legte und bezahlte, als gäbe es den Pudelmann gar nicht, dessen zwei Packungen Pall Mall mit der Bild-Zeitung Herr Haiduk gerade hatte abkassieren wollen. Er lächelte entschuldigend und wünschte Alma einen schönen Tag.

»Wer ist die Puppe denn?«, fragte der Pudelmann. »So ganz richtig wohl nicht. Aber nicht schlecht.«

»Eine Kundin«, sagte Herr Haiduk und verstand in dem Moment, dass Alma womöglich gute Gründe hatte, keinen näheren Kontakt zu ihren Mitmenschen zu suchen. War es möglich, dass sie auch ihn für einen solchen Menschen hielt? Schnell legte er das Wechselgeld auf den Zahlteller, damit Alma, die noch in der Tür stand, bloß nichts Falsches von ihm dachte. Abgesehen davon, erklärte er mir, spreche er aber auch grundsätzlich mit Kunden nicht über andere Kunden, worin sich ein Zeitungshändler prinzipiell von Friseuren unterscheide. Er sei sein eigener Herr, der seinen Kunden auf Augenhöhe begegne. Auch wenn das Postgeschäft und das Lottospiel in einem Grenzbereich lägen, sei er prinzipiell keines Herren Diener oder Dienstleister, wie man heute sage. Deswegen müsse er auch nicht schlecht über seine Kunden reden, wie es Diener immer schon gemacht hätten, um sich an ihren Herren zu rächen. Ich lauschte seinen Ausführungen, dachte dabei aber an etwas ganz anderes.

»Hören Sie mir gar nicht zu?«, fragte er.

»Doch, doch«, stammelte ich. »Aber dieses Ding, heißt es wirklich Zahlteller?«

»Wie bitte?«

»Sie meinten, dass Sie ihm das Geld auf den Zahlteller gelegt haben. Ist das das offizielle Wort?«

»Aber sicher. Sie sollten das wissen. Was dachten Sie denn, wie das heißt?«

Skeptisch sah er mich an und erhob sich dann aus seinem Korbsessel, um mir Tee nachzuschenken. Er schüttelte den Kopf, als wäre er plötzlich nicht mehr sicher, ob ich seine Geschichte verdiente.

»Interessiert Sie die Geschichte nicht?«

»Doch, doch«, sagte ich noch einmal. »Es kommt nur selten vor, dass man ein so einfaches Wort zum allerersten Mal hört.«

»Wandern Sie aus, dann haben Sie den Spaß ihr Leben lang.«

Offenbar hatte ich ihn gekränkt, wofür ich mich sofort entschuldigte. Fast hätte ich ihm gestanden, dass ich aus der Übung war und eigentlich gar nicht mehr schrieb, aber das hätte ihn noch mehr enttäuscht und womöglich ganz verstummen lassen. Also bat ich ihn fortzufahren, woraufhin er mich gleich wieder auf seine amüsierte Art anlächelte, als wäre er sicher, dass er mich schon noch kriegen würde mit seiner Geschichte.

3. Kapitel

Ja, sagte Herr Haiduk, Alma sei für ihn von Anfang an keine ganz gewöhnliche Kundin gewesen, und er habe sich immer besonders gefreut, sie zu sehen. Ich solle aber bloß nichts Falsches denken, da diese Dinge für ihn schon lange nicht mehr aktuell seien. Nach dem, was er bis dahin erzählt hatte, lag mir nichts ferner, als ihm diese Dinge zu unterstellen, die ich in den oberen Etagen des Zeitschriften­regals zwischen Fliegenfischen und Philatelie verortete. Er sei ein wenig stolz gewesen, dass er ihr die Zeitschriften habe bieten können, die sie so fesselten. Deshalb wollte er sein Sortiment für sie auch gerne erweitern, nur konnte er ihr das nicht einfach so vorschlagen, da sie nicht mit ihm sprach. Versuchsweise bestellte er Paris Match, Marie Claire und ein paar andere französischsprachige Magazine, die er so platzierte, dass sie nicht zu übersehen waren. Er scheute auch nicht die Kosten, französische Tageszeitungen zu bestellen. Gespannt erwartete er ihren nächsten Besuch, bei dem er sie so unauffällig wie möglich beobachtete und feststellen musste, dass sie die Hefte genauso wie die Zeitungen einfach ignorierte. Er wollte es dann aber auch nicht übertreiben und sie womöglich als Kundin verlieren, weshalb er nichts weiter in diese Richtung unternahm.

Zu dieser Zeit, also vor etwa einem Jahr, habe dann ohnehin ein ganz anderes Thema das Leben im Laden und in der ganzen Straße bestimmt, setzte Herr Haiduk neu an, und damit komme er zu der eigentlichen Geschichte: ­Jemand hatte den Jackpot von dreizehn Millionen Euro geknackt und auch nach mehreren Wochen den Gewinn nicht abgeholt. Die Lottogesellschaft gab daraufhin, wie in solchen Fällen üblich, bekannt, in welcher Gegend der ­Gewinnerschein abgegeben worden war. Der potenzielle Multimillionär hatte, so viel war sicher, seinen Schein in Berlin gelöst, was die Kundschaft des Nadelöhrs ein wenig aus der sonst üblichen Ruhe brachte. Es war nicht der erste Jackpot, der auf seinen Gewinner warten musste, aber dieser bewegte die Menschen ganz besonders, bestimmt auch, da die Zeitungen sich im Sommerloch auf das Thema stürzten. Immer wieder musste Herr Haiduk seine Position eines amüsierten Beobachters aufgeben und eingreifen, um seine Kunden davon abzuhalten, Dummheiten zu begehen.

»Das solltest du nicht machen«, sagte er einer jungen Frau, die gelegentlich Zeitungen kaufte und ihm mit zitternder Hand eine ziemlich gut gefälschte Quittung gereicht hatte. Er war nicht ganz sicher, hatte aber davon gehört, dass Fälschungen sofort an die Zentrale gemeldet wurden, wenn sie von der Maschine als solche erkannt wurden.

»Bitte, ich kann’s echt gut gebrauchen«, sagte sie. »Sie kriegen auch was ab.«

Natürlich konnte er ihr aber genauso wenig helfen wie den anderen, die meinten, dass sie eigentlich die Gewinner sein müssten, weil die Aussicht auf so viel Geld, gepaart mit den hochsommerlichen Temperaturen, nicht gerade das Vernünftigste in den Menschen zum Vorschein brachte. Der einen Kaiser-Wilhelm-Backenbart tragende Erwin und sein schmaler Kumpel Karl, zwei unzertrennliche Stammkunden, die wenig bei ihm kauften, aber umso mehr Zeit im Nadelöhr verbrachten, wollten ihn davon überzeugen, selbst eine Quittung rückzudatieren. Einen Computerfachmann hatten sie dafür gleich mitgebracht. Das war etwa Mitte August, also sechs Wochen nach der Ziehung. Da blieben noch sieben Wochen bis zum Verfall des Gewinns Anfang Oktober.

»Da meldet sich doch keiner mehr«, sagte Erwin. »Und wo kein Kläger, da auch keine Klage.«

»Richtig«, sagte Karl. »Absolut richtig, Erwin.«

Der Computerfachmann, ganz in Schwarz gekleidet, mit weit über den Gürtel waberndem Bauch und langen grauen Haaren, wollte gleich loslegen, aber auch das ließ Herr Haiduk nicht zu, aus Prinzip nicht, zumal ihn selbst dieser Jackpot gar nicht reizte. Er hatte noch nie in seinem Leben Lotto gespielt. Sein Schicksal, meinte er, halte er lieber selbst in der Hand, da wisse er, wovor er sich in Acht nehmen müsse.

Je näher das Ende der dreizehn Wochen rückte, nach denen der Gewinn verfallen würde, desto häufiger tauchten dann auch Journalisten auf. Sie jagten den Gewinner wie einen Verbrecher. Der Ehrgeiz hatte sie gepackt. Einmal meldete sich sogar ein Privatdetektiv, der flächendeckend ermittelte und wissen wollte, ob Herr Haiduk sich nicht an jemanden erinnere, der in dieser Woche gespielt habe und dann verschwunden sei. Dazu hatte Herr Haiduk nichts zu sagen. Darüber wollte er sich nicht einmal Gedanken machen. Denn langsam ging ihm die Aufregung auf die Nerven. Er sehnte sich nach seiner Ruhe und hoffte, dass sie den Gewinner endlich finden würden, als er eines Montagmorgens, etwa fünf Wochen vor Verfall des Jackpots, einen von Hand geschriebenen Zettel gleich neben dem Rollladen seiner Ladentür fand:

Lottoquittung gefunden. Bitte, sich zu melden. Nicht zwischen 12 und 15 Uhr und nicht nach 19 Uhr.

Alma Bonnefoi

Er wollte seinen Augen nicht trauen, aber darunter standen sechs Zahlen und das Datum der Ziehung sowie eine Telefonnummer. Und plötzlich musste Herr Haiduk schmunzeln, denn er kannte nicht nur ihren Namen, sondern auch die Zahlen: Es waren genau die sechs Ziffern, die halb Berlin verrücktspielen ließen. Er hätte nicht gedacht, dass sich auch Alma vom Jackpotfieber anstecken lassen würde, wobei ihm ihre ironische Art, damit umzugehen, gefiel. Ja, so viel Sinn für Humor hätte er von seiner Stummen Studentin nicht erwartet. Seltsam war nur, dass sie sonst keinen Wert darauf legte, mit wem auch immer zu reden, sondern, ganz im Gegenteil, jede Form der Kommunikation mied. Jetzt würde ihr Telefon nicht mehr stillstehen, und das konnte sie doch nicht wollen.