Die granulare Gesellschaft - Christoph Kucklick - E-Book

Die granulare Gesellschaft E-Book

Christoph Kucklick

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Beschreibung

Wie wir uns auflösen und warum wir uns neu erfinden müssen Die Digitalisierung verändert uns und unsere Welt fundamental: Die Differenz-Revolution vereinzelt die Menschen radikal und verstärkt die Ungleichheit. Die Intelligenz-Revolution mit der massenhaften Verbreitung intelligenter Maschinen führt zu einer Umverteilung von Wissen und Chancen – und ebenfalls zu stärkerer Ungleichheit. Müssen wir Menschen uns in Abgrenzung neu definieren als unberechenbare, spielerische und – im positiven Sinne – störende Wesen? Durch die Kontroll-Revolution werden wir nicht mehr ausgebeutet, sondern ausgedeutet und gefährden damit unsere Ideale wie Gerechtigkeit und Demokratie. In der granularen Gesellschaft versagen unsere Institutionen und wankt unser Selbstbildnis. Wir werden uns und unsere Welt neu erfinden müssen.

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Das Buch

Die Digitalisierung verändert unsere Wahrnehmung der Welt: Unsere Körper, die Natur, unsere sozialen Beziehungen – alles erscheint in höherer Auflösung, durch immer mehr Daten analysierbar. Feinste Unterschiede werden erkennbar, das Individuelle überlagert das Allgemeine. Lässt sich unser gesellschaftliches Ideal der Gleichheit vor diesem Hintergrund aufrechterhalten? Im Umgang mit komplexen Daten sind uns Computer zusehends überlegen. Wer sind wir noch, wenn Intelligenz und Rationalität nicht mehr als allein menschliche Merkmale gelten können? Müssen wir uns vom Homo rationalis zum Homo irritabilis entwickeln, um uns von intelligenten Maschinen abzugrenzen?

Christoph Kucklick erklärt die grundlegenden Umwälzungen unserer Zeit. Er zeigt, dass wir den Herausforderungen nur mit einem neuen humanen Selbstverständnis und einem veränderten Gesellschaftsmodell begegnen können. In der granularen Gesellschaft lösen sich auch unsere Gewissheiten auf: Die Digitalisierung wird wie einst die Verbreitung des Buchdrucks dazu führen, dass wir Menschen uns neue Selbstbeschreibungen und Weltbilder zulegen müssen.

Der Autor

Christoph Kucklick, Jahrgang 1963, ist promovierter Soziologe und Chefredakteur von GEO. Als Autor schrieb er unter anderem für Die Zeit, brand eins und Capital. Seine Dissertation Das unmoralische Geschlecht ist bei Suhrkamp erschienen. Kucklick lebt in Berlin und Hamburg.

CHRISTOPHKUCKLICK

DIEGRANULAREGESELLSCHAFT

Wie das Digitale unsereWirklichkeit auflöst

Ullstein

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ISBN: 978-3-8437-0960-6

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2014Umschlaggestaltung: semper smile Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: © shutterstock/Kesu

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E-Book: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin

INHALTSVERZEICHNIS

Über das Buch und den Autor

Titelseite

Impressum

Einleitung

DIFFERENZ-REVOLUTION ODER WARUM WIR SELTENE KÖRPER UND GEHIRNE BEKOMMEN

Gottes Sicht auf unsere Arbeit

Wie Obama sein Volk auflöste

Granulare Demokratie

Seltene Körper, seltene Krankheiten

Die Krise der Gleichheit

Die neue soziale Physik

INTELLIGENZ-REVOLUTION ODER WARUM WIR SMARTER WERDEN. UND WELCHEN PREIS WIR DAFÜR BEZAHLEN

Der Flirt mit den Bots

Das Gespenst der Ungleichheit

Die Zukunft der Arbeit

Friede mit den Maschinen

Wir werden smarter – und gestresster

Wie wir die Welt an die Maschinen anpassen

Wie wir unser Geschlecht verlieren

KONTROLL-REVOLUTION ODER WIE WIR UNS VORHERSAGBAR MACHEN (LASSEN)

Sex, Drugs and Volksmusik

Von der Ausbeutung zur Ausdeutung

In der Maschinen-Zone

Vorhersagemaschinen

Die Bewertungsgesellschaft oder: Finden Sie dieses Kapitel hilfreich?

Das Ende der Experten

Politik der Eventualitäten

ÜBERFORDERTE INSTITUTIONEN ODER WARUM WIR UNSER RECHT VERLIEREN

Die doppelte Auflösung

Träumen Roboter von elektrischen Gesetzen?

Der verborgene Wohlstand und das granulare Lernen

Das Unsichtbare sichtbar machen

Vom Datenschutz

Von Anti-Gesichtern und Geisteranfragen

Der granulare Staat

DER GRANULARE MENSCH ODER WIE WIR UNS NEU ERFINDEN

Das Zeitalter der Kränkung

Neue Menschen

Irritiert euch!

Wir Spielerischen

Unberechenbar empathisch

Quellen

Literaturverzeichnis

Feedback an den Verlag

Empfehlungen

EINLEITUNG

Als ihr Sohn Felix im Alter von vier Jahren frühkindlichen Diabetes entwickelte, wusste Vivienne Ming sofort, was sie tun würde: den Krankheitsverlauf ihres Sohnes so präzise erfassen, wie dies zuvor noch bei keinem Kind geschehen war.

Was sie nicht ahnte: dass sie ihren Sohn damit in eine andere, eine neue Welt führen würde.

Bei Diabetes gibt es zwei schädliche Zustände: Wenn Felix zu wenig Blutzucker hat, verliert er rasch die Kontrolle über sein Verhalten, seine Hirnleistung sinkt und er wird aggressiv. Hat er zu viel Zucker, ist er kaum ansprechbar, in sich versunken, »wie ein Autist«, sagt Vivienne. Beide Phasen kosten wertvolle Lebenszeit, in der Felix sich nicht weiterentwickeln kann.

Vivienne Ming und ihre Frau Norma wollten möglichst genau herausfinden, wann und unter welchen Umständen Felix über- oder unterzuckert. In Excel-Tabellen trugen sie detailliert jede Mahlzeit ein: Frühstück, eine Scheibe Vollkornbrot, 96 Gramm, Anteil Kohlenhydrate: 33 Prozent, außerdem Erdnussbutter, 17 Gramm, 2,1 Gramm Kohlenhydrate. Sie verzeichneten, wie aktiv Felix war, wann er spielte, wann er apathisch war. Sie baten die Kindergärtnerinnen um minutiöse Berichte über Felix’ Verhalten.

Aber das reichte Norma und Vivienne nicht, was auch daran liegt, dass beide im Umgang mit Daten geübt sind. Vivienne Ming arbeitet als Neurowissenschaftlerin an der Universität im kalifornischen Berkeley und bei einem Start-up namens Gild, das mit Hilfe raffinierter Datenanalyse verborgene Talente für Hightech-Firmen sucht. Norma erforscht an derselben Universität, wie digitale Technologien den Schulunterricht verbessern können.

Also versahen sie Felix mit dem präzisesten digitalen Blutzuckermessgerät, das sie finden konnten, sie begannen rund um die Uhr seinen Herzschlag aufzuzeichnen, sie banden ihm eine Uhr um, die Stresssymptome wie Schwitzen und Hautwiderstand misst, und mit einem Fitbit, einem mit Sensoren ausgestatteten winzigen Armband, registrierten sie jede Bewegung ihres Sohnes.

Felix wurde zum bestvermessenen Vierjährigen.

Die Daten verarbeiten die Mütter mit Hilfe komplexer Algorithmen, wissenschaftlich gesprochen: mit einem hierarchischen, multiskalaren Bayes-Modell.

Als die Mütter schließlich genügend Daten gesammelt hatten, gingen sie zurück in eine Welt, die sie, ohne es zu ahnen, bereits verlassen hatten. Sie hatten Felix’ Ärzte bislang als kompetent und freundlich wahrgenommen. Auf die Datenfülle aber reagierten die Mediziner konsterniert und verärgert; und sie beharrten auf der Standardprozedur. Dafür mussten die Mütter innerhalb der nächsten drei Monate eine einzige Woche aussuchen und dann dreimal am Tag den Blutzuckerspiegel von Felix auf einem Blatt Papier eintragen. »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?«, fragte Vivienne zurück. »Wir haben genauere Daten in jeder Minute!«

Als sie das Blatt Papier mit den 21 Datenpunkten zu den Ärzten zurückbrachte, beugten diese sich darüber, »kniffen die Augen zusammen« und legten auf dieser Grundlage ihren »Behandlungsplan« vor. Vivienne war außer sich. Da hatten die Mediziner präziseste Daten – und ignorierten sie. Aber nicht nur die Daten: Sie ignorierten ihren Sohn! Die Einzigartigkeit seiner Krankheit, seines Lebens, die Norma und Vivienne mittlerweile erfasst hatten.

Es ist, als gäbe es Felix zweimal.

Der eine Felix lebt in einer ungenauen, nur grob vermessenen Welt, in der Diabetes anhand eines einzelnen Blatt Papier behandelt wird. In der eigentlich nur bekannt ist, dass Felix an einer schweren Krankheit leidet, die etwas mit Blutzucker zu tun hat. Felix ist in dieser Welt bloß ein grober Umriss. Ein unscharfes Bild.

In der anderen Welt erscheint Felix wie auf einem Retina-Bildschirm, hochaufgelöst und in minutiösen Details erkennbar. Sogar das Innere seines Körpers wird ohne große Schwierigkeiten beobachtet und laufend analysiert.

Papier-Felix wird anhand des Durchschnitts bewertet, den Ärzte aus wenigen Daten von vielen Menschen errechnet haben. Der kleine Junge wird mehr oder weniger so behandelt wie alle anderen kranken Kinder. Eigentlich wird also nicht Felix behandelt, sondern der Durchschnitt.

Digital-Felix hingegen erhält eine maßgeschneiderte Diagnose, eine singuläre. Aufgrund ihrer Datenanalyse können Vivienne und Norma die Insulinpumpe so programmieren, dass sie ihrem Sohn automatisch die richtige Dosis spritzt, bevor er über- oder unterzuckert. Ihre Prognosen sind inzwischen derart treffsicher, dass sie Felix 40 Prozent mehr Zeit jenseits von Aggression und Apathie schenken. Mehr Zeit für ein aufmerksames, normales Leben.

Papier-Felix entstammt einer Welt, die wir »Moderne« nennen. In ihr haben wir enormes Wissen angesammelt und gewaltige technologische Sprünge gemacht: von der industriellen Revolution bis zur Raumfahrt. Aber jetzt sehen wir, wie grob dieses Wissen dennoch ist. Daten sind rar und der Einzelne gilt zwar als Individuum, aber bloß in Abweichung vom Durchschnitt – der Maßeinheit der Moderne.

Der digitale Felix hingegen lebt in einer neuen Gesellschaft. Sie ist hochauflösend und kümmert sich nicht mehr um den Durchschnitt. Weil sie etwas Besseres hat: dichte, detailliertere Erkenntnisse. Das verändert grundlegend, wie wir leben, wie wir die Welt sehen und wie wir uns selbst verstehen.

Diese Gesellschaft neuen Typs nenne ich: die granulare Gesellschaft.

Unter Granularität verstehen Computerwissenschaftler das Maß der Auflösung, die Präzision von Daten: je feinkörniger, desto granularer. Durch die Digitalisierung ziehen wir alle Schritt für Schritt in diese feinauflösende Gesellschaft um.

Denn Digitalisierung bedeutet vor allem: Wir selbst und unsere Gesellschaft werden auf neue Weise vermessen. Unserer Körper, unsere sozialen Beziehungen, die Natur, unsere Politik, unsere Wirtschaft – alles wird feinteiliger, höher auflösend, durchdringender erfasst, analysiert und bewertet denn je.

Wir erleben: eine Neue Auflösung.

Daten aus sozialen und anderen Netzwerken wie Facebook oder Handy-Netzen schenken uns ein hochaufgelöstes Bild unserer Gesellschaft. Sensoren in der Natur vermessen ganze Landschaften von den feinsten Details des Mooswachstums bis zur sekundengenauen Brutdauer von Vögeln.Philologen vermessen dank digitalisierter Bücher den Bestand aller unserer Wörter neu. Im Verlauf des Buches werden uns zahlreiche weitere Beispiele begegnen, von neuaufgelösten Unternehmen und Wahlkämpfen bis zum Wandel des Straßenverkehrs und dem Siegeszug der Roboter.

Diese Neue Auflösung erzeugt eine ganz neue Welt. Der französische Historiker Fernand Braudel hat vom »Inventar des Möglichen« gesprochen. Dieses Inventar verändert und erweitert sich derzeit dramatisch und erzeugt bislang undenkbare Möglichkeiten: Denn mit der Detailgenauigkeit, mit der wir unsere Realität wahrnehmen, verändert sich diese Realität selbst.

Die Umrisse dieser neuen Welt lassen sich anhand von drei Revolutionen beschreiben:

· Die erste ist die Differenz-Revolution. Die Neue Auflösung lässt bislang verborgene Unterschiede hervortreten, auch zwischen uns Menschen. Wir werden radikal vereinzelt, singularisiert – und diese Unterschiede werden wiederum sozial zugespitzt und verwertet. Wir erleben eine Krise der Gleichheit, die schon jetzt unsere Arbeitswelt und unsere Demokratie verändert. (Kapitel 1)· Die zweite ist die Intelligenz-Revolution. Die massenhafte Ankunft intelligenter Maschinen führt zu einer Umverteilung von Wissen, Know-how und wirtschaftlichen Chancen – und zwar sowohl unter den Menschen wie auch zwischen Mensch und Maschine. Davon profitieren vor allem jene, die es verstehen, mit intelligenten Maschinen umzugehen und zu kooperieren. Für die anderen geht es um die berufliche und private Existenz, denn je intelligenter die Maschinen werden, desto größer wird auch die ökonomische Ungleichheit. (Kapitel 2)· Die dritte ist die Kontroll-Revolution. Die Granularisierung sorgt dafür, dass wir sozial neu sortiert, bewertet, verglichen – und durchschaut werden. Denn im Vergleich zu den feinauflösenden Daten ist unser Leben ziemlich grobkörnig, was es erlaubt, präzise Vorhersagen über unser Verhalten zu treffen. Wir werden nicht mehr wie in der Moderne ausgebeutet, sondern ausgedeutet. Das wirft fundamentale Fragen nach der Gerechtigkeit auf und droht, die Prinzipien der Demokratie zu beschädigen. (Kapitel 3)

Die Neue Auflösung, die sich in diesen drei Revolutionen ausdrückt, halte ich für den entscheidenden Effekt der Digitalisierung. Über die gesellschaftlichen Auswirkungen digitaler Technologien ist schon viel geschrieben worden. Mal wurde ihr wesentlicher Aspekt in der Vernetzung gesehen, mal in der Datenmenge (»Big Data«), im drohenden Kontrollverlust oder im Kontrollwahn und mal darin, dass wir alle smarter werden.

All diese Aspekte sind wichtig und relevant, aber sie treffen meines Erachtens nicht den Kern der Entwicklung, sondern sind Phänomene, die sich erst aus der Neuen Granularität ergeben. Sie ist der grundlegende Vorgang, der alle anderen speist. Das lässt sich beispielhaft an Digital-Felix erkennen.

Denn er ist ja kaum vernetzt, er produziert Datenmengen, die bequem auf einen USB-Stick passen, er erlebt keinen Kontrollverlust, sondern im Gegenteil: eine enorme Steigerung seiner eigenen Kontrollfähigkeit. Nur ob er dadurch insgesamt »smarter« wird, müsste sich noch erweisen. Dennoch ist er unzweifelhaft ein Bewohner der digitalen Gesellschaft, eben weil sein Leben hoch aufgelöst wird.

Felix verzeichnet jeden Morgen einen deutlichen Anstieg des Blutzuckerspiegels, ganz besonders steil ist diese Spitze jeden Dienstag. Seine Mütter wunderten sich darüber, denn das Frühstück ist jeden Tag gleich, auch am Wochenende, wo keinerlei Zucker-Anstieg sichtbar wird.

Es stellte sich heraus, dass Felix, der inzwischen in die Vorschule gewechselt war, Angst vor dem Unterricht hatte und ganz besonders vor einem Lehrer – der dienstags unterrichtet. Angst kann den Blutzuckerspiegel hochtreiben. Die Datenauswertung hat diesen Effekt offenbart. Die Standardanalyse der Ärzte auf einem einzelnen Blatt Papier hätte nichts davon aufgedeckt und Felix jeden Dienstagvormittag zu Apathie verdammt.

Damit wird Felix in die Differenz-Revolution gerissen. Diese Explosion der Unterschiedlichkeit lässt sich leicht verstehen, wenn wir uns noch einen weiteren Felix vorstellen: Digital-Felix 2.

Er lebt, sagen wir, in Berlin und entwickelt wie sein amerikanischer Leidensgenosse ebenfalls im Alter von vier Jahren Diabetes. Seine Eltern vermessen ihren Sohn ganz genauso, wie es Vivienne und Norma mit ihrem Felix in Kalifornien tun. Dieselben Geräte, dieselben Aufzeichnungen, dieselben Algorithmen.

Und doch ist es wahrscheinlich, dass dabei ein ganz anderes Krankheitsbild sichtbar wird. Womöglich würde Digital Felix 2 einen Anstieg seines Blutzuckerspiegels aus Angst vor dem Fußball-Training am Freitagnachmittag verzeichnen. Oder aus ganz anderen Gründen zu ganz anderen Zeiten.

Würden wir beide Profile übereinanderlegen, unterschieden sie sich vielleicht derart, dass man kaum noch von derselben Krankheit reden könnte. Genau diesen Effekt beobachten Forscher bereits: Sie sprechen davon, dass wir alle »seltene Krankheiten« bekommen. Je genauer nämlich einzelne Patienten vermessen werden, umso schärfer treten die Unterschiede zwischen ihnen und ihren Krankheiten hervor – und desto mehr zerbricht die Illusion, es jeweils mit ein und demselben Leiden zu tun zu haben.

Doch wir bekommen nicht nur seltene Krankheiten, sondern auch rare Körper. Jeder einzelne Körper kann so detailliert in seiner Einzigartigkeit erfasst werden, dass der Vergleich mit anderen Körpern immer schwerer fällt beziehungsweise immer weniger aussagt.

Einen Durchschnitt aus Digital-Felix 1 und Digital-Felix 2 (sowie von ungezählten weiteren genau vermessenen Kindern) zu errechnen, ist sinnlos. Er würde uns weniger über jeden einzelnen Felix verraten, als wir bereits über ihn wissen; der Durchschnitt, diese Maßeinheit der Moderne, würde uns nicht schlauer, sondern dümmer machen. »Der Durchschnitt ist tot«, hat in einem anderen Zusammenhang der Ökonom Tyler Cowen gesagt.Die digitalen Felixe haben ihn beerdigt. Die bisherige Ausnahme – der präzise definierte Einzelne – wird zur neuen Norm und die bisherige Norm irrelevant.

In der Medizin wird diese Explosion der Unterschiede bereits als gravierendes Problem wahrgenommen. Laut dem Kardiologen und Genetiker Eric Topol muss »das gesamte Klassifikationssystem der Medizin neu geschrieben werden«. Statt des derzeitigen Verfahrens, Individuen »auf bloß zwei Typen von Diabetes festzulegen oder Krebs nur anhand der befallenen Organe zu bestimmen«, werde die zukünftige Medizin eine »Wissenschaft der Individualität« sein. Mit ganz neuen Messverfahren, Erkenntnissen, Begriffen.

Aber was heißt das: eine »Wissenschaft der Individualität«? Nach unseren bisherigen, modernen Maßstäben ist dies ein Widerspruch in sich. Wissenschaft basiert nicht auf Individuen, sondern auf Gruppen, auf allgemeinen Gesetzen, auf Durchschnitten. Wie diese neue Wissenschaft aussieht, ist noch völlig unklar. Und doch wird sie unvermeidlich sein. Sie wird zugleich auch die Intelligenz- und die Kontroll-Revolution umfassen, denn nur dank smarter maschineller Intelligenz können wir so viel über Felix wissen – und ihn, seinen Körper und sein Leben deswegen auch auf ganz neue Weise kontrollieren.

Willkommen also in der granularen Gesellschaft! In ihr ist nicht alles, aber sehr vieles anders als in der Gesellschaft, die uns vertraut ist. Die Medizin etwa oder das Recht. Und ganz sicher unser Selbstbild.

Auch deswegen ist der Begriff der Neuen Auflösung so treffend: Er beschreibt einen doppelten Vorgang. Zum einen die digitale Hochauflösung von uns Menschen und all den Phänomenen, die uns umgeben. Zum anderen aber auch die Auflösung jener Institutionen, die sich in einer grobkörnigen Welt entwickelt haben und die nun nicht mehr mithalten können und hinderlich werden.

Zu diesen Institutionen gehören unter anderem das Recht, die Wissenschaft und ihre Methoden, die Geschlechter, unsere derzeitigen Formen von Demokratie und Gerechtigkeit, der Sozialstaat und vieles mehr; sie sind geronnene Lösungsversuche für soziale und andere Probleme, und wenn sich die Probleme ändern, müssen auch sie es tun. Sie werden sich auflösen und neu konfigurieren. Solche Neuformatierungen waren historisch immer wieder notwendig, aber derzeit ereignen sie sich auf besonders vielen Gebieten gleichzeitig.

Diesen zweiten Aspekt der Neuen Auflösung beschreibe ich im zweiten Teil des Buches. Ich konzentriere mich dabei auf zwei einschneidende Entwicklungen:

· Zum einen auf die überforderten Institutionen. Vieles von dem, was uns einst Halt gab, beginnt im digitalen Zeitalter zu zerbröckeln: Teile des Rechts, der Datenschutz, das Bildungssystem, aber auch eine so scheinbar selbstverständliche Institution wie das Bruttosozialprodukt als Ausweis unserer wirtschaftlichen Stärke. Die Folgen davon sind weitreichend. (Kapitel 4)· Zum anderen werden wir ein neues Menschenbild benötigen. Wir werden gezwungen sein, nicht nur unsere Institutionen, sondern auch unser Selbstbild zu verändern. Da die Grenze zwischen Mensch und Maschine immer schwieriger zu ziehen sein wird, werden wir, so meine These, verführt sein, unser Selbstverständnis als rationale Wesen aufzugeben, und uns stattdessen als unberechenbare, spielerische, störungsanfällige und störende Wesen neu erfinden. Vom Homo rationalis wandeln wir uns zum Homo granularis – eine einschneidende Veränderung, mit der wir in einer Welt der Zahlen und Algorithmen eine neue Form der Menschlichkeit entwickeln. (Kapitel 5)

Im Fall des digitalen Felix betrifft diese zweite Bedeutung von Auflösung – die Auflösung unserer Institutionen und unseres Selbstbildes – vor allem die Ärzte. Sie waren bislang die unangefochtenen Autoritäten in Fragen von Krankheit und Genesung und stützten sich auf ihre erfahrungsgesättigte Interpretation einer vergleichsweise geringen Menge an verfügbaren Daten. Nun werden sie konfrontiert mit dem enorm detailreichen Wissen, das Patienten sammeln, und das oft brauchbarer ist als alles, was die Ärzte je erheben könnten.

Die Machtverteilung zwischen Ärzten und Patienten verändert sich, der Status der medizinischen Experten bröckelt, und sie sind gezwungen, sich auf die digitalen Maschinen einzulassen, die ihre Autorität unterwandern. Deshalb werden sie keineswegs überflüssig, aber ihre Rolle verändert sich grundlegend – sie wird aufgelöst und muss neu zusammengesetzt werden.

Vielleicht kann man sich die granulare Gesellschaft am besten in einem stark vereinfachten Bild vorstellen: Die bisherige Gesellschaft war wie aus Billardkugeln zusammengesetzt, die wir im Laufe der Zeit gelernt haben, zu einem belastbaren Gebilde zu arrangieren. Nun werden diese Kugeln nach und nach durch winzige Schrotkugeln ersetzt. Das verändert radikal den sozialen Aggregatzustand und die gesellschaftliche Statik – und zwingt uns dazu, neue Wege zu finden, aus den feineren Partikeln eine stabile Ordnung zu bauen.

Das wird unsere Aufgabe während der nächsten Jahrzehnte sein. Und wir werden sie nur meistern, wenn wir unser Denken anpassen, denn die alten Antworten, die aus dem Zeitalter der Masse und der Grobkörnigkeit stammen, werden versagen.

Der große Vorteil, die digitale Gesellschaft als eine der doppelten Auflösung zu betrachten, besteht darin, dass man die technologischen Fortschritte und Vorteile preisen kann (Felix jedenfalls würde sie begrüßen), ohne die Augen vor den gewaltigen Problemen zu verschließen.

Diese beiden Aspekte werden üblicherweise in einer bizarren Arbeitsteilung getrennt: US-amerikanische Autoren übernehmen das Bewundern und europäische die Skepsis. Als ließe sich das Phänomen geographisch filetieren. Ich versuche stattdessen, beiden Aspekten Raum zu geben, weil wir sonst die granulare Gesellschaft nicht verstehen. Bewundern und erschrecken, darum geht es.

Auch werde ich nicht an jeder Wegbiegung meine Entrüstung kundtun; ich glaube, mit kühlem Kopf kommt man weiter in der Analyse. Und ich werde nicht die üblichen Schuldigen servieren. So werden Sie nichts vom Neoliberalismus lesen als vermeintlichem Bösewicht, weil das viel zu simpel wäre – denn ein digitaler Sozialismus stünde vor ganz ähnlichen Problemen.

Ich gehe auch nicht von einer Verschwörung der großen Konzerne wie Google, Facebook und Amazon gegen uns Bürger aus, auch wenn es an ihnen viel zu kritisieren gibt; wenn überhaupt halte ich Staaten und Regierungen für die deutlich größeren Schurken, weil sie ihre Geheimdienste nicht zähmen und sich selbst vom Datenschutz allzu oft ausnehmen. Aber auch sie sind nicht die Ursache dessen, was passiert.

Solange wir einzelne Akteure für die Entwicklungen verantwortlich machen, wiegen wir uns im falschen Glauben, die Probleme verschwänden, wenn wir nur die Strippenzieher beseitigten. Wir haben es jedoch mit grundlegenden Strukturveränderungen zu tun, die sich nicht Einzelnen in die Schuhe schieben lassen.

Im Kern allerdings bin ich optimistisch, dass wir die Revolutionen, die derzeit über uns hereinbrechen, meistern werden. Diese Zuversicht ziehe ich aus dem Umstand, dass die Menschheit bereits drei ähnliche solcher »Katastrophen« (wie der Soziologe Niklas Luhmann sie nennt) bewältigt hat: die Entstehung der Sprache, die Erfindung der Schrift und die Verbreitung des Buchdrucks. Jede von ihnen hat die Granularität der Gesellschaft entscheidend verändert und die Menschen gezwungen, ganz neue Selbstbeschreibungen und Weltbilder zu erfinden.

Der Buchdruck etwa hat das Spektrum der unterschiedlichen Meinungen und Weltanschauungen dramatisch viel feiner und gegensätzlicher aufgelöst, als es zuvor möglich war – und hat so das mittelalterliche, hierarchische, Gott-zentrierte Weltbild zerstückelt und aus den Menschen die modernen, selbstbezüglichen und unruhigen Subjekte gemacht, die wir noch heute sind.

Der Weg dahin war überaus konfliktreich und umkämpft – und in der granularen Gesellschaft wird es nicht anders sein. Uns stehen anstrengende, aufreibende Zeiten ins Haus. Denn die neue Welt ist, wie wir noch sehen werden, eine »Welt der Extreme«. Und auch wir Menschen werden uns ein »extremeres« Selbstverständnis zulegen: eines, in dem wir fragiler, zerbrechlicher und gerade deswegen menschlicher sind.

Dieses Buch handelt also nicht von den digitalen Technologien selbst. Sondern von dem, was sie aus uns, aus unserem Leben und unserer Gesellschaft machen. Und vor welche Herausforderungen sie uns stellen, persönlich wie gesellschaftlich: Wie sorgen wir für Gleichheit, wenn die Fähigkeit zur Unterscheidung drastisch zunimmt? Wie garantieren wir, dass alle an der gerade stattfindenden Intelligenz-Revolution teilhaben? Wie bringen wir Algorithmen unsere Werte bei? Wie werden wir uns von den immer klügeren Maschinen unterscheiden?

Es gibt darauf keine einfachen Antworten. Aber bei der Arbeit an diesem Buch, bei den Gesprächen mit Forschern und Unternehmern, mit Medizinern und Juristen, ist mir etwas klargeworden, mit dem ich anfangs nicht gerechnet hatte: Die Welt der Neuen Auflösung, in die wir uns begeben, hält zwar viele Fallstricke und Gefahren bereit. Aber sie wird auch dazu führen, dass wir uns intensiver mit dem beschäftigen werden, was uns als Menschen kennzeichnet. Wir gehen nicht der Entmenschlichung, der Roboterisierung entgegen, sondern im Gegenteil: der Präzisierung dessen, was uns eigentlich ausmacht. Die neuen Maschinen und Algorithmen fordern uns heraus, und wir werden uns verändern müssen, um ihnen erfolgreich begegnen zu können, aber genau darin liegt unsere Stärke: Wir sind die Wesen, die sich neu erfinden können.

Und zu welchen Wesen werden wir? Die Konturen zeigen sich erst zögerlich, noch sind sie nicht in aller Klarheit zu erkennen. Ich möchte dennoch in wenigen Sätzen eine Skizze wagen, wer Sie und ich in der granularen Gesellschaft sein werden. Manches davon ist widersprüchlich, anderes wird Ihnen erst nach der Lektüre des Buches einleuchten. Aber so ungefähr können Sie sich als granulare Menschen vorstellen:

Sie werden nicht mehr individuell, sondern singulär sein.

Sie werden in einer ungleicheren Welt leben.

Sie werden auf ganz neue Weise bewertet.

Sie werden Ihr Selbst verteilen.

Sie werden sehr viel mehr oder deutlich weniger verdienen.

Sie werden sich selbst nicht mehr ohne die Hilfe von Maschinen verstehen können.

Sie werden in einer viel einfacheren Umwelt leben.

Sie werden vom Staat nicht mehr wie alle anderen behandelt.

Sie werden gefühlvoller, unberechenbarer und spielerischer sein.

Schöne Aussichten?

DIFFERENZ-REVOLUTION

ODER

WARUM WIR SELTENE KÖRPER UND GEHIRNE BEKOMMEN

GOTTES SICHT AUF UNSERE ARBEIT

Für herkömmliche Unternehmensberater hat Ben Waber nur Spott übrig. »Die lesen das Organigramm einer Firma und führen ein paar Interviews mit den Angestellten – und schon geben sie kluge Empfehlungen, alles ganz anders zu machen.« Der junge, aber bereits kahlköpfige Chef und Gründer des Bostoner Unternehmens »Sociometric Solutions« lacht: »Dabei tappen sie doch nur im Dunkeln.«

Er geht anders vor. Um zu verstehen, wie ein Unternehmen tickt, benutzt er kleine graue Kästchen. Jede dieser Plastikboxen ist so groß wie ein Skat-Kartenspiel, wiegt 30 Gramm und steckt voller Sensoren. Waber nennt sie Sociometer. Mit ihrer Hilfe kann Waber die Arbeitskultur in Unternehmen besser vermessen, als dies je zuvor gelungen ist. Die kleinen Geräte liefern bis zu 100 Datenpunkte pro Minute davon, wie sich die Angestellten verhalten und wie sie kommunizieren. Waber registriert sekundengenau, wie lange Kollegen miteinander sprechen, wie nah sie beieinanderstehen und wo genau sie sich aufhalten. Auch verzeichnen die Geräte die jeweilige Körperhaltung und wie dynamisch sich die Mitarbeiter bewegen. Sogar der Ton ihrer Stimme wird aufgezeichnet, woraus Algorithmen automatisch die Gefühlslage der Angestellten errechnen, ob sie wütend sind, angespannt oder fröhlich.

Das klingt nach einem Straflager der Überwachung. Aber Wabers Team hat raffinierte Maßnahmen zum Schutz der Privatsphäre entwickelt. In den Unternehmen, in denen Waber die Sociometer einsetzt, nehmen mehr als 90 Prozent der Angestellten freiwillig an den Messungen teil, wenn man sie gut aufklärt, sagt Waber. Denn auch sie können von den Ergebnissen profitieren.

Eine der weltweit ersten Sociometer-Studien fand 2007 in einer Marketingabteilung der Kreissparkasse Köln statt. Die Mitarbeiter trugen zwanzig Arbeitstage lang die Boxen mit den Sensoren, um ihre Kommunikation zu vermessen. Die Daten wurden streng anonym aufbereitet und nur schematisch präsentiert. Dennoch zeigte sich ein deutliches Muster: Die Chefs sprachen vor allem mit zwei Teams (Entwicklung und Vertrieb) und ließen zwei andere links liegen (Service und Kundenbetreuung). So ließ sich das unbestimmte, aber weitverbreitete Gefühl unter den Mitarbeitern belegen, dass die Kommunikation innerhalb der Abteilung eine schwere Schlagseite besaß, unter der die Produktivität litt. Die Sensor-Daten halfen, die Abteilung umzuorganisieren, und später zeigte eine erneute Messung eine deutlich ausgewogenere Kommunikation – die sich auch in größerer Arbeitszufriedenheit niederschlug.

Inzwischen ist Ben Waber wesentlich weiter. Er hat einige Tausend Angestellte in Dutzenden Firmen analysiert, und er träumt davon, dass irgendwann Hunderttausende seine Sociometer tragen. Damit die Röntgenbilder aus der Arbeitswelt immer präziser werden. Waber nennt sie: »Gottes Sicht auf unsere Organisationen«.

Aus dieser Warte treten vor allem Unterschiede zutage. Die Differenzen zwischen Teams, zwischen Firmen, zwischen Mitarbeitern. Unter der Datenlupe herrscht die große Unterschiedlichkeit. Kein Team, so Waber, gleicht dem anderen. Das eine kommuniziert sehr ausgewogen, ein anderes höchst hierarchisch, wieder ein anderes grenzt einen Teil der Mitglieder gnadenlos aus. Je genauer und höher auflösend die Daten aus den Sociometern, desto unverwechselbarer wird jede Gruppe, jede Firma.

Und jeder Einzelne. Bequeme, aber vage Typisierungen wie »Außenseiter« oder »Einzelgänger« zerstäuben unter der unerbittlichen Datenanalyse. Hinter solchen Etiketten stecken meist sehr unterschiedliche Kommunikationsprofile. Redet ein Sonderling tatsächlich nicht, oder wird ihm dauernd das Wort abgeschnitten? Fährt er anderen über den Mund und ist daher unpopulär, oder wird er schlicht ignoriert? Die Daten geben darüber minutiösen Aufschluss.

Waber entdeckte auch eine wesentliche Stütze vieler Firmen, die bislang völlig übersehen worden war: Mitarbeiter nämlich, die zwar unscheinbar sind, aber die Produktivität ihrer Kollegen enorm steigern, offenbar weil sie besonders begabt sind, ihr Wissen weiterzugeben. Eine jeweils sehr spezifische Datensignatur verrät solche Betriebsperlen, die so wertvoll sind und so leicht missachtet werden.

Mit Hilfe der Sociometer kommen die digitalen Felixe der Arbeitswelt zum Vorschein. Die winzigen Geräte registrieren die Unverwechselbarkeit jeder einzelnen Person, die sich sekündlich unterscheidende Besonderheit ihres Verhaltens, ihrer Kommunikationen, ihrer Gefühle. Derart granular erfasst, gleicht niemand mehr einem anderen. Aber ist das wirklich revolutionär? Auch jetzt nehmen wir ja Unterschiede wahr. Jeder Mitarbeiter weiß doch, welche Kollegen produktiv sind und welche nicht, wer Meetings voranbringt und wer nörgelnd blockiert. Auch kennen wir die Eigenheiten, die Ticks von jedem, vermutlich genauer als eine Maschine sie je wahrnehmen könnte; schließlich sind auch wir Menschen hochauflösende Beobachter, die ihre Umwelt sehr genau durchleuchten.

Das ist richtig. Und doch sind unsere Eindrücke notorisch unzuverlässig. Wir sind höchst sprunghaft in der Beurteilung von sozialen Situationen und vage in ihrer Beschreibung – und meist deuten wir sie zu unserem eigenen Vorteil. Die Einzigartigkeit des Verhaltens eines Menschen nehmen wir natürlich wahr, aber exakt benennen und angemessen einordnen können wir sie nicht.

Dasselbe gilt für die bislang üblichen Verfahren, mit denen wir unsere soziale Welt messen und analysieren. Dazu gehören vor allem Umfragen aller Art, etwa Meinungsforschungen oder Fokusgruppen. In Unternehmen sind zum Beispiel Umfragen über das Betriebsklima oder die Führungsqualität der Chefs oder die Zufriedenheit mit der Arbeit beliebt. Solche Umfragen sind nicht falsch oder schlecht – aber sie erfassen nur einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit. Genauer: Die Methode erzeugt überhaupt erst das, was sie erfasst.

Als man im frühen 20. Jahrhundert begann, Meinungsumfragen zu führen, mussten die Bürger erst einmal lernen, dass sie überhaupt Meinungen zu allem Möglichen haben sollen. Zur Regierung, zu einer neuen Seife, zu aktuellen Kinofilmen. Das war alles andere als selbstverständlich, wie der berühmteste Meinungsforscher, der Amerikaner George Gallup, im Jahr 1940 schrieb: »Der Bauer, der Arbeiter, der Diener muss sich politisch so artikulieren wie ein Unternehmer oder ein Experte.« Das hatte zuvor niemand von den »einfachen Leuten« verlangt. Erst die Meinungsumfragen machten die Bürger zu Menschen mit Meinungen. Die Messung erzeugte das Gemessene.

Aber diese Messungen waren bislang nicht sehr genau. Entsprechend vage waren die Individuen, die dabei »entstanden«. Eine Umfrage zum Betriebsklima etwa muss allen Mitarbeitern dieselben Fragen stellen, sonst ist sie statistisch wenig brauchbar. Es geht also gerade nicht um individuelle Antworten, sondern um die Verrechnung der Einzelmeinungen zu einem Gesamtbild. Ähnliches passiert bei Volkszählungen oder Meinungsumfragen: Damit am Ende ein Meinungsbild entsteht, wird das Individuelle beseitigt, herausgerechnet.

Bisherige sozialwissenschaftliche Methoden haben noch eine weitere Eigenart: Sie erfassen nahezu ausschließlich, was Menschen sagen. Und das entspricht oft dem sozial Erwünschten. Das tatsächliche Verhalten der Menschen war bislang nur sehr mühsam zu erfassen. Ben Wabers Sociometer registrieren dagegen nicht, was die Menschen sagen, sondern nur, wie viel sie reden und wie sie sprechen. Sie erfassen nicht, was die Menschen meinen und denken, sondern was sie tun. (Obwohl man die Angestellten natürlich zusätzlich nach ihren Einstellungen befragen kann.) Die Sensoren verzeichnen Bewegungen, Handlungen und das Netz von Interaktionen, das sich daraus ergibt. In diesem neuen, hochaufgelösten Bild der Wirklichkeit tritt das granulare Subjekt in Erscheinung.

Für dieses ist der Begriff »Individuum« nicht mehr angemessen. Das Individuum ist der Mensch der Umfragen und der Meinungserhebungen, der statistischen Mittelwerte und Durchschnitte. Die digitalen Methoden hingegen erzeugen das, was ich als »Singularien« bezeichnen möchte. Das sind Menschen, von denen wir nicht nur behaupten, dass sie einzigartig und unverwechselbar sind, sondern die wir als solche auch messen können. Ganz gleich, ob sie im Internet surfen und der Browser ihr Verhalten registriert, ob sie mit einem Fitbit durch den Stadtpark joggen, oder ob sie von Ben Wabers Sociometer bei der Arbeit beobachtet werden.

Ich möchte damit nicht behaupten, dass die digitale Sicht auf uns Menschen besser oder richtiger als die bisherige analoge Sicht ist. Auch Wabers Sensoren sehen vieles nicht. Auch sie verzerren und sind einseitig. Aber sie heben mehr denn je die Unterschiede zwischen uns hervor, sie singularisieren uns. In Zukunft werden wir uns nur noch als extrem differenzierte Singularien verstehen können. Darin besteht die Differenz-Revolution.

Diese Revolution macht uns das Leben schwer – nicht nur wegen der allgegenwärtigen Überwachung, die sie ermöglicht. Zum einen werden wir mit scheinbar »objektiven« Messungen konfrontiert, die ihre Überzeugungskraft aus der Tatsache beziehen, dass sie für alle gleich sind und scheinbar frei von subjektiven Verfälschungen. Ob das tatsächlich der Fall ist, bleibt meist unklar, denn wer versteht schon die genaue Funktionsweise von Sensoren und Algorithmen. Aber zunächst einmal treten die Daten mit objektiver Wucht auf und dem Anspruch, die Verzerrungen der menschlichen Wahrnehmung zu vermeiden.

Die Unterschiede, die zutage kommen, sind also nicht nur granular, sondern auch sehr schwer anzuzweifeln. Soziale Situationen setzen sich üblicherweise aus den unterschiedlichen Beobachtungen der Beteiligten zusammen, alles ist stets »irgendwie subjektiv« und innerhalb gewisser Grenzen verhandelbar – nun bringen Geräte plötzlich »Gottes Sicht« ins Spiel, die alle Unterschiede gnadenlos und scheinbar unbestechlich offenlegt. Es ist, als hätte man sich einen unheimlichen Fremden ins Haus geholt, dessen Urteil man ausgeliefert ist.

Hinzu kommt, dass die maschinelle Beobachtung die sozialen Verhältnisse enorm beschleunigt. Die Daten aus den Maschinen werden verzögerungsfrei erhoben und ausgewertet und können bei Bedarf sofort wieder in das soziale Geflecht eingespeist werden – Feedback in Echtzeit. Ben Wabers Mitarbeiterin Tamie Kim hat beispielsweise den sogenannten Meeting Mediator entwickelt, der die Beobachtungen der technischen Geräte in ein Meeting füttert, noch während dieses im Gange ist. Jemand hält sich in einer Gruppenrunde zu sehr zurück? Noch in der Pause erhält er die Auswertung seines Datenprofils mit der Aufforderung, sein Verhalten zu verändern. Eine Teilnehmerin schaut ihr Gegenüber zu selten an? Eine Mail legt ihr mehr Empathie nahe. Ein Chef dominiert alle anderen? Sofort wird er algorithmisch zurückgepfiffen.

Die schnellen Maschinen erzeugen einen enormen Druck. Wir werden »tiefen« Beobachtungen ausgesetzt, die wir angesichts der vermeintlichen »Objektivität« der Daten nur schwer abweisen können, und die uns rasche Verhaltensänderungen abnötigen. Die ersten Experimente mit dem Meeting Mediator deuten darauf hin, dass die Beteiligten dies als sehr zweischneidig wahrnehmen. Zum einen sind sie für brauchbare Hinweise durchaus dankbar. Zum anderen erfahren sie die Beobachtung als fremdartige und irritierende Zumutung.

In der Einleitung habe ich von einer »extremen« Welt gesprochen, in die wir geraten. Die Sociometer und der Meeting Mediator sind ein Beispiel dafür: Gemessen an den bisherigen Verhältnissen, kommen wir unter extremen Druck, uns als sehr flexibel, wandlungsfähig und selbst-optimierbar aufzufassen. Die Vorgaben erhalten wir dabei von Maschinen, deren Verhalten wir nur ungenügend verstehen. Kein Mitarbeiter weiß ja, ob in die Maschinen ein bestimmtes Interesse (etwa des Arbeitgebers) einprogrammiert wurde, ob die Empfehlungen des Meeting Mediators also hilfreiche oder eher unzulässige Manipulationen darstellen. Oder kurz gesagt: Die Maschinen führen Unsicherheit in unsere Kommunikationen ein. Diese Ungewissheit müssen wir ertragen lernen.

Es wäre unklug, Anwendungen wie den Meeting Mediator per se zu verdammen: richtig angewendet, können sie das Leben erleichtern und Konflikte mindern. Aber so oder so: Wir werden lernen müssen, unser Verhalten an solchen intelligenten Maschinen auszurichten. Und aushalten, dass wir mit singulärer Präzision betrachtet werden.

Man ist versucht, darin eine zunehmende Vereinsamung, eine digitale Isolation zu erkennen – und zu beklagen. Wir werden unverwechselbar – aber verlieren dadurch auch den Halt in der Gemeinschaft. Das ist ein geläufiges Argument gegen die Differenzierungen der Moderne und wurde bereits gegen die ersten Individualisierungsschübe im 19. Jahrhundert angeführt. Aber auf die Singularisierung trifft es weniger zu denn je.

Denn eine der Paradoxien der digitalen Differenzierung besteht darin, dass sie gerade ein Effekt der zunehmenden Vernetzung ist. Ben Waber kann die Einzigartigkeit nur messen, weil sie sich aus den zahlreichen Interaktionen zwischen den Menschen ergibt. Das gilt für alle digitalen Vereinzelungen: Jeder hat ein einzigartiges Profil auf Facebook, das ihn oder sie zu einem Singularium macht, aber dies nur dank der Freunde und Verknüpfungen, die es sichtbar werden lassen.

Der Mediziner Eric Topol schreibt dazu: »Es ist ein faszinierendes Paradox, dass unser heutiges Verständnis von Individualität von vernetzter Wissenschaft abhängt – je mehr Daten man einsammeln und verarbeiten kann, umso schärfer tritt der Einzelne hervor.« Wir verschwinden nicht in der Masse der Daten, auch wenn das zuweilen behauptet wird. Vielmehr trifft das Gegenteil zu: Je mehr Daten es gibt, desto deutlicher werden unsere Eigenheiten sichtbar. Je mehr Fülle, desto mehr Singularien. Je mehr Vernetzung, desto mehr Vereinzelung.