Die große Odyssee - Lluís Quintana-Murci - E-Book

Die große Odyssee E-Book

Lluís Quintana-Murci

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Beschreibung

Der international renommierte Biologe Lluís Quintana-Murci zeichnet in dieser so bahnbrechenden wie meisterhaften Darstellung die außergewöhnliche Geschichte der menschlichen Besiedlung auf der ganzen Welt nach. Er belegt die Existenz ausgestorbener Menschenarten und enthüllt, wie sich die menschlichen Populationen ständig untereinander, aber auch mit archaischen Menschen wie dem Neandertaler oder dem Denisova-Menschen vermischten. Ohne Vielfalt gibt es keine Evolution und keinen Fortschritt in irgendeinem Sinne des Wortes. Vor etwa sechzigtausend Jahren haben unsere Vorfahren Afrika verlassen, um sich über den gesamten Planeten zu verbreiten. Dies ist die erste große Migration in der Geschichte der Menschheit gewesen: Alle Menschen nicht-afrikanischer Herkunft sind Nachkommen dieser ersten «Migranten». Es war der Beginn einer langen Geschichte von Wanderungen, in deren Verlauf Europa, Asien und Australien vor etwa fünfzigtausend Jahren, Amerika vor weniger als dreißigtausend Jahren und viel später die Inseln des fernen Ozeaniens wurden. Die moderne Populationsgenetik ermöglicht uns, Wanderungsereignisse und andere demografische Prozesse zu datieren. Heute wissen wir, dass Vermischung ein kontinuierlicher Prozess im Laufe der Menschheitsgeschichte war und ist. Wir alle sind, in unterschiedlichem Maße, multiethnisch, da unsere Genome aus einer Vielzahl von DNA-Segmenten unterschiedlichster Herkunft bestehen – ein historischer und geografischer Flickenteppich, in dem sich Völker und Generationen vermischen.

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Lluís Quintana-Murci

Die große Odyssee

Wie sich die Menschheit über die Erde verbreitet hat

Die neuesten Erkenntnisse der Populationsgenetik

Aus dem Französischen von Elsbeth Ranke

C.H.Beck

Zum Buch

Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir? Der international renommierte spanisch-französische Biologe Lluís Quintana-Murci zeichnet in dieser so bahnbrechenden wie meisterhaften Darstellung die außergewöhnliche Geschichte der menschlichen Besiedlung auf der ganzen Welt nach.

Vor etwa sechzigtausend Jahren haben unsere Vorfahren Afrika verlassen, um den Rest des Planeten zu besiedeln. Dies war die erste große Migration in der Geschichte der Menschheit: Alle Menschen nicht-afrikanischer Herkunft sind Nachkommen dieser ersten «Migranten». Aber es war auch nur der Beginn einer langen Geschichte von Wanderungen, die nach und nach die ganze Welt erfassten. Die moderne Populationsgenetik ermöglicht uns, Wanderungsereignisse und andere demografische Prozesse zu datieren. Heute wissen wir, dass Vermischung ein kontinuierlicher Prozess im Laufe der Menschheitsgeschichte war und ist. Wir alle sind, in unterschiedlichem Maße, multiethnisch, da unsere Genome aus einer Vielzahl von DNA-Segmenten unterschiedlichster Herkunft bestehen. Ohne Vielfalt gibt es keine Evolution und keinen Fortschritt in irgendeinem Sinne des Wortes.

Vita

Lluís Quintana-Murci ist ein spanisch-französischer Genetiker, Professor am Collège de France, wo er den Lehrstuhl für Humangenomik und Evolution innehat, und Leiter der Abteilung für Humanevolutionäre Genetik am Institut Pasteur. «Die große Odyssee» war in Frankreich ein Bestseller.

Inhalt

Vorwort – Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir?

Teil 1: Von Darwin zur Genomik

Natura non facit saltus: – Darwins graduelle Evolution

Entstehung der Populationsgenetik

Entdeckung der Erbsubstanz: – Die DNA

Rekonstruktion des Ursprungs für die genetische Diversität

Genomische Faktoren

Demografische Faktoren

Selektive Faktoren

Rekonstruktion der Vergangenheit von Populationen

Eine Geschichte mit 3 Milliarden: – Das Humangenomprojekt

Die Genomik bezeugt die Diversität: – Jedes Individuum ist einzigartig

Der Mensch stammt nicht vom Affen ab … er ist ein Affe!

Die Datierung der Trennung von menschlichen und nichtmenschlichen Primaten

Ein ganz besonderer Affe

Menschliche Populationen: – Ähnlichkeiten und Unterschiede

Die paläogenomische Revolution

Unsere 2 Prozent Neandertaler

Vermischung des Homo sapiens mit heute ausgestorbenen Menschenarten: – Archaische Introgression

Teil 2: Eroberungen und Besiedlung

Die Entwicklungslinie des Menschen und die «kleinen Menschenaffen»

Homo: Eine 2 Millionen Jahre alte Geschichte

Auf der Suche nach der verlorenen Wiege: – Das Aufkommen des Homo sapiens

Fossile Hinweise: Vom ersten Erscheinen zum Auszug aus Afrika

Ein einziger Ursprung, oder mehrere?

Grenzen der Archäologie und der Paläoanthropologie

Der Homo sapiens ist Afrikaner

Out-of-Africa: – Der Homo sapiens verlässt Afrika

Die lange, vielfältige Geschichte Afrikas

Mehrere Wiegen für den Homo sapiens?

Alte Hybridisierungen

Genom-Geschichte der Jäger und Sammler

Entstehung der Landwirtschaft und Expansion der Bantu-Sprachen

Die Diffusion der Viehzucht: Archäologie und Genomik

Vermischung in Ostafrika

Nordafrika, Drehscheibe für Migration

Ein stark vermischtes Europa

Vier große Besiedlungsphasen

Dreiseitige Vermischung

Geografische und genetische Landkarte

Von England nach Frankreich: Grenzen, Vermischung und Isolation in Europa

Das multiple Asien: – Kontraste und Begegnungen

Was die Gene über die Geschichte Asiens verraten

Effekte der Migrationen: Verdrängung oder genetische Kontinuität

Paläogenomik und die Geschichte Ost- und Südostasiens

Die Komplexität Zentralasiens

Südasien und der Indian Cline

Ozeanien: Die letzte Grenze

Australier und Papua

Ohne Karte und Kompass über die Südsee

Ein komplexes Mosaik aus Migrationen und Vermischungen

Das Genomgewirr in Ozeanien

Kon-Tiki: Austausch zwischen Amerika und Polynesien?

Denisova-Land

Wiederholte archaische Vermischungen

Die Eroberung Amerikas: – Der Übergang über die Beringstraße

Die Clovis-Kultur

Sprachfamilien und Migration: Genetische Signaturen

Besiedlung in vier Schritten

Das genetische Erbe der Sklaverei und der Kolonialzeit

Koloniale Katastrophe in der Karibik

Eine lange Geschichte der Vermischungen

Teil 3: Adaptation an die Umwelt

Herausforderungen der Adaptation

Natürliche Selektion: – Prinzipien und Formen

Negative Selektion: Tilgung nachteiliger Mutationen

Positive Selektion: Als die Menschen sprechen lernten

Lokale Adaptation von Populationen an ihre Umwelt

Milchverdauung: Paradebeispiel der positiven Selektion

Sonne auf der Haut: Klima und menschliche Pigmentierung

Kälte und Omega-3

Wachstum im tropischen Regenwald? Feuchtigkeit und Körpergröße

Körpergröße in Europa: Polygene Selektion?

Bergkrankheit: Hypoxie in großen Höhen …

… und beim Apnoetauchen

Und die Adaptation geht weiter

Ausgleichende Selektion: – Der Nutzen der Diversität

Mensch und Schimpanse gegen Rosenkohl

Ausgleichende Selektion: Ein häufiger Mechanismus?

Teil 4: Menschen und Mikroorganismen

Alice und die Rote Königin: – Ein Wettrüsten

Infektionskrankheiten, Sterblichkeit und natürliche Selektion

Louis Pasteur, Vater der Keimtheorie

Humangenetik und Infektionskrankheiten

Menschen und Schimpansen gegenüber Pathogenen

Spuren früherer Pathogene in unseren aktuellen Genomen

Ein sorgsam gehütetes Erbe

Die Liebe in Zeiten der Malaria

Zwischen Pest und Cholera

Mortui vivos docent: – Die Toten belehren die Lebenden

Von fossiler DNA zur Tuberkulose

Vom Nutzen eines Genverlusts

Beispiel Malaria

Beispiel Aids

Noroviren und Gastroenteritis

Vollständiger Genverlust und Septikämie

Natürliche Selektion und immunologische Relevanz

Gemeinsam mutiert es sich besser

Teil 5: Vermischung, Kultur und Medizin

«Nichts in der Biologie macht Sinn, außer im Licht der Evolution»

Wir sind alle Mischlinge

Vermischung als Adaptationsbeschleuniger und Überlebensfaktor?

Bei Pflanzen und Tieren

Vermischung und Adaptation beim Menschen

Adaptive Vermischung in Afrika: Beispiel Bantu

Überleben bei Malaria: Beispiel Pygmäen und Fulbe

Immunantwort: Auch vermischt

Was wir den «archaischen» Menschen verdanken

Der Nutzen der Introgression vom Neandertaler

Denisova in großer Höhe

Archaische Introgression und Immunität

Die Abwehrkräfte des Denisova-Menschen im Pazifik

Archaische Allele zum Virenschutz

Ein zweischneidiges Erbe … für heutige Merkmale

Vom Neandertaler zur COVID-19-Pandemie

Sind die Ostasiaten besser an das Coronavirus «adaptiert»?

Kulturelle Praxis und genetische Diversität: – Wie die Kultur unsere Gene verändert

Austausch von Wörtern, Austausch von Genen

Unterschiedliche Migration der Geschlechter

Genetische Effekte von Ehe- und Abstammungsregeln

Das Kastensystem in Indien

Und der Mensch kleidete sich

Das Aufkommen der Landwirtschaft: Ein Beispiel für Gen-Kultur-Koevolution

Bäuerliche Lebensweise: Ursache oder Folge der Bevölkerungsexplosion?

Jäger und Sammler oder Bauern: Unterschiedliche Adaptation an Pathogene

Landleben, Stadtleben: Auswirkungen auf die Immunität

Zusammenhang von sozialem Status und Immunantwort?

Epigenetik: – Noch eine Antwort auf Umweltveränderungen

DNA-Methylierung und phänotypische Variabilität

Was die DNA-Methylierung uns über Populationen verrät

Epigenetik und Lebensweisen in Afrika

Natürliche Selektion damals – Immunantwort heute

Genetische Diversität und Immunität: Der Beitrag der Genexpressionsstudien

Entzündungsreaktion: Unterschiede zwischen europäischen und afrikanischen Populationen

Natürliche Selektion und unterschiedliche Immunsysteme

Kollateralschäden: Autoimmunerkrankungen, Entzündung und Adipositas

Von Claude Bernard zur Systemimmunologie: – Wege zur personalisierten Medizin

Nachwort

Dank

Bibliografie

Teil 1 – Von Darwin zur Genomik

Teil 2 – Eroberungen und Besiedlung

Teil 3 – Adaptation an die Umwelt

Teil 4 – Menschen und Mikroorganismen

Teil 5 – Vermischung, Kultur und Medizin

Nachwort

Fußnoten

Vorwort

Woher kommen wir? Was sind wir? Wohin gehen wir?

Diese drei Fragen verfolgen den Menschen, seit er auf der Welt ist. Seitdem sucht er Antworten in Religion, Philosophie, Kunst, der Geschichte, und auch in den Naturwissenschaften. Aus diesen drei Fragen besteht auch der Titel von Paul Gauguins Meisterwerk D’où venons-nous? Que sommes-nous? Où allons-nous? (1897) im Bostoner Museum of Fine Arts. Bei seinen Reisen nach Tahiti hatte der Maler sich auf die Suche nach anderen Werten als denen der westlichen Gesellschaft gemacht. Sein Gemälde liest sich von rechts nach links, entgegen der Richtung, die europäischen Leserinnen und Lesern geläufig ist. Als Darstellung der Frage «Woher kommen wir?» sehen wir rechts eine Gruppe von Frauen mit einem Baby; die Frage «Was sind wir?» illustriert in der Mitte der Alltag junger Erwachsener und ihr Verhältnis zur Natur; links wird durch eine Darstellung von Alter und Jenseits die Frage nach der Zukunft, «Wohin gehen wir?», beantwortet.

Dieses Gemälde ist ein Loblied auf das Unterwegssein, das Anderssein, die menschliche Diversität – Vielfalt der Individuen, der Geschlechter, der Generationen, Vielfalt der Lebensorte und -zeiten. In dieser Hinsicht steht es in tiefem Einklang mit dem Bild, das auch die Populationsgenetik von der menschlichen Welt zeichnet. Gegenstand dieser wissenschaftlichen Disziplin ist die Untersuchung der genetischen Diversität unserer Spezies, des Menschen – und gleichzeitig erzählt sie uns auch von seinen Reisen. Dank der Fortschritte der Genetik in den vergangenen Jahrzehnten verfügen wir heute über ein sehr leistungsfähiges Forschungsinstrument: Wendet man es auf unsere Spezies an, legt es die enorme Diversität zwischen Individuen und Völkern offen, die schillernde Vielfalt des menschlichen Gewebes, das den Planeten überzieht. Es dringt in das molekulare Geheimnis der Organismen vor und erhellt die auf den Gegebenheiten der geografischen und ökologischen Umwelt basierenden Unterschiede mit einer Präzision, die für das Wissen über die Menschheit eine ganz neue Dimension eröffnet. Denn wir sehen hier nicht einfach nur eine Momentaufnahme der aktuellen Situation, sondern können auch den Blick in die Vergangenheit richten, von der ein plastisches Bild entsteht, das im Detail beleuchtet, wie sich im Lauf der Zeit und der allmählichen Eroberung der gesamten Erdoberfläche durch unsere Artgenossen die menschliche Vielfalt herausgebildet hat.

Wie wir in diesem Buch immer wieder feststellen werden, lässt sich über die Frage nach der menschlichen Diversität auch unsere Geschichte, unsere Evolution und unsere Anpassung an sich verändernde Umweltbedingungen nachvollziehen. Außerdem eröffnet sie Perspektiven für die Medizin, die dieses Wissen zur Vorsorge und Heilung unserer Krankheiten nutzbar machen kann.

Dieses Buch ist selbst als eine Art Allegorie der menschlichen Diversität angelegt: Unsere Spezies setzt sich aus zahlreichen Völkern zusammen, und diese Vielfalt ist ein Reichtum. Unser Hauptaugenmerk wird auf der genetischen Diversität liegen, aber nicht ausschließlich. Um nämlich die menschliche Vielfalt erkennen, analysieren und interpretieren zu können, fragt die Populationsgenetik auch nach anderen, nichtgenetischen Ursachen von Unterschieden – das kann die geografische Diversität der Individuen sein, ihre Sprachzugehörigkeit, ihre Lebensweise und ihre Subsistenzform sowie die Gesamtheit ihrer Sitten und ihrer soziokulturellen Organisation.

Die Genetik weist heute über den Rahmen der Biologie weit hinaus. Sie dient auch der Geschichtsschreibung – und das ist ganz entscheidend, wenn wir an die berühmte Formulierung von Theodosius Dobzhansky denken: «Nichts in der Biologie macht Sinn, außer im Licht der Evolution.» Damit meint er, dass es nur einen gemeinsamen Rahmen aller biologischen Forschungsarbeit geben kann: die Evolution – Lebewesen sind das, was sie geworden sind. Wer sie kennen möchte, muss also auch ihre Geschichte nachzeichnen.

Die Geschichte des Menschen reicht in so alte Zeiten zurück, dass die ältesten erhaltenen Belege sich auf ein paar Knochen beschränken. Ein kümmerlicher Rest: «Ach, armer Yorick!», ruft Hamlet beim Anblick des Schädels … Doch wenn man sich einmal mit der tragischen Endlichkeit des menschlichen Lebens abgefunden hat, ist er eigentlich gar nicht so kümmerlich; denn wenn wir nach Jahrhunderten und manchmal Tausenden von Jahrhunderten, die uns von ihrer Lebenszeit trennen, die Überreste der Toten ausgraben, finden wir auch etwas von den Lebenden, die sie einst waren. Mithilfe der Genetik können wir aus diesen Knochen ein kleines Stück von ihrer Geschichte und von der Geschichte der Spezies rekonstruieren, zu der sie gehören, und sie uns damit wieder aneignen, sie in die große biologische Familie der Spezies Mensch hereinholen. Denn Knochen sprechen – zumindest mit Naturwissenschaftlern.

Knochen sind ein fossiles Archiv, das erst einmal entschlüsselt werden will. Im Lauf der Jahrhunderte haben wir gelernt, vergrabene Überreste zu erkennen und zu datieren: Heute ist die Erde ein riesiges Raum-Zeit-Puzzle mit unzähligen Indizien, die von der Geschichte der Lebewesen und unserer Spezies berichten. Wir müssen sie nur noch ordnen: Und genau da kann die Genetik neue Daten liefern. 1953 eröffnete die Entdeckung der DNA-Struktur die Ära der Molekularbiologie und der Genetik, die die Biologie schon bald revolutionieren sollten. Übrigens auch die Medizin: Ohne sie gäbe es keine mRNA-basierten Impfstoffe gegen das Coronavirus. Erkenntnisse über die Lebewesen: aber paradoxerweise auch über die Toten, also über unsere Geschichte. So unrealistisch Michael Crichtons fiktives Szenario in Jurassic Park auch sein mag, immerhin popularisierte er mit seinem Film eine grundlegende wissenschaftliche Tatsache: Die DNA von Lebewesen, die vor mehreren Millionen Jahren gelebt haben, lässt sich extrahieren und wiederherstellen. Die Genetik informiert uns über die Lebenden; aber sie kann uns auch über Fossilien informieren, und das mit außerordentlicher Präzision.

Und es geht noch weiter. Die fulminanten Fortschritte der Gentechnik und des Wissens über die Gene haben uns in die Lage versetzt, mit ganzen Genomen zu arbeiten, und nicht nur mit Genomen von Individuen, sondern mit denen von ganzen Populationen. Unser Jahrhundert begann 2001 mit der Sequenzierung des menschlichen Genoms. Dessen 3 Milliarden Buchstaben oder Nukleotide transportieren die gesamte biologische Information, die uns zu dem macht, was wir sind: Menschen. Der Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert war in der Populationsgenetik auch der Übergang von der Genetik zur Genomik. Genome wurden entziffert, man konnte sie vergleichen: ein signifikanter Sprung in der Biologie. Genetisch in Dimensionen von Populationen zu denken: ein Schritt vom Jahrhundert des Gens (so das Buch von Evelyn Fox Keller) ins Jahrhundert der Genome. Die Genomik umfasst die Diversität in ihrer absoluten Ausdehnung: Sie ist bewusst inklusiv, breit, multipel. Sie hält immer neue Überraschungen parat, denn unsere Spezies lässt sich nicht etwa auf ein Genom reduzieren, sondern sie besteht aus zahllosen Genomen. Selbst aufs Individuum bezogen ist das Genom eines jeden von uns nämlich ein Mosaik aus mehreren Genomen – und damit bezeugt es eine mindestens 200.000 Jahre alte Geschichte.

So weit also zum Ausgangspunkt dieses Buchs. Es wird den neuen biologischen Wissensstand vorstellen, in den wir mit den Möglichkeiten der Genomik eingetreten sind: Wir können heute nämlich die Milliarden Basenpaare im Genom eines Individuums sequenzieren und analysieren, dieses Genom mit den Merkmalen der aktuell auf der Erde präsenten Populationen in Bezug setzen und es dann im Kontext einer Geschichte verorten – der Geschichte der Individuen sowie der Populationen und ihrer Wanderbewegungen. Zu dieser Geschichte gehört dann auch die Evolution der Spezies, einschließlich der heute ausgestorbenen Arten, von denen wir abstammen. Vor nur zwei Jahrzehnten war das völlig unvorstellbar – und dabei ist auch das erst der Anfang.

Gleichzeitig lernen wir die Überreste einer ausgestorbenen Menschheit kennen, von denen uns häufig lediglich Knochen erhalten geblieben sind. Doch so alt sie auch sein mögen, diese Knochen enthalten immer noch Spuren des Lebens, die wir immer besser auswerten können. Von einem jungen Mädchen, das vor über 50.000 Jahren in Südsibirien gelebt hat, wissen wir heute anhand einer einfachen Knochenanalyse, wie das Team um Svante Pääbo sie 2018 durchgeführt hat, dass sie eine Neandertalerin zur Mutter und einen Denisova-Menschen zum Vater hatte – zwei heute ausgestorbene Populationen der Gattung Homo. Für den Physiker und Astronomen Galileo Galilei war das «große Buch der Natur» in der Sprache der Mathematik geschrieben – für die Biologen von heute, die die Geheimnisse des Lebens aufdecken wollen, dagegen in der Sprache der DNA. Je weiter wir sie entziffern, desto mehr Schätze liefern uns diese Knochenfragmente: Sie erzählen uns von den Menschen, die sie waren, von ihrem Leben, ihrer Welt, und sie reihen sich in die Menschheitsgeschichte ein, die wir Stück für Stück rekonstruieren.

Indem wir entdecken, woher wir kommen, verstehen wir auch besser, wer wir sind. Das Bild, das dieses großartige Forschungsinstrument, die Genomik, vor unseren Augen Gestalt annehmen lässt, ist das Bild der menschlichen Diversität. Und das ist keine ideologische Parole, kein gutgemeintes Mantra, sondern eine wissenschaftliche Feststellung. Und eben dieser Diversität, den biologischen Mechanismen, die sie erzeugen, der Geschichte, die sie werden lässt, und den naturwissenschaftlichen und medizinischen Anwendungen, die sich daraus ergeben können, werden wir in diesem Buch nachgehen.

Einerseits erklärt unsere Herkunft, was unsere Spezies eigentlich ist, aber andererseits klärt die Frage «Was sind wir?» auch die nach unserer Herkunft. Sicher, die Diversität der heutigen menschlichen Genome beweist, dass die Wiege der Menschheit in Afrika liegt, und bestätigt damit, was wir bereits wussten; aber zugleich zeigt sie eben auch, dass unter unseren afrikanischen Vorfahren eine weitaus größere Variabilität bestand, als wir bisher vermuteten. In den 1980er-Jahren untersuchten Populationsgenetiker mitochondriale DNA, die von der Mutter vererbt wird, und DNA vom Y-Chromosom, das vom Vater vererbt wird, und wiesen nach, dass sich die Geschichte unserer Vorfahren in Afrika nachzeichnen lässt. Man sprach damals von der Entdeckung der «genetischen Eva» und des «genetischen Adams» aller Menschen, was in der Wissenschaftsgemeinschaft für ein gewisses Unbehagen sorgte. In den 2000er-Jahren wies dann die Genomik nach, dass wir in Wirklichkeit viele genetische Vorfahren haben. Sie lebten zwar alle in Afrika, doch Spuren können wir nur von denen finden, deren genetisches Erbe bis heute überlebt hat; und da weichen die weibliche Linie und die männliche Linie klar voneinander ab. So ist es also durchaus denkbar, dass die viel zitierten «Evas», also die mütterlichen Vorfahren, deren genetisches Erbe in unserem Genom weiterhin fortbesteht, in Ostafrika lebten, unsere väterlichen Vorfahren, die «Adams», dagegen zum Beispiel in Südafrika.

Bei der Untersuchung der Genome heutiger menschlicher Populationen wird auch deutlich, dass unsere Vorfahren vor etwa 60.000 Jahren Afrika verließen, um den restlichen Planeten zu besiedeln. Es war die erste große Wanderbewegung der Menschheitsgeschichte: Alle nichtafrikanischen Individuen sind also Nachfahren dieser ersten «Migranten». Doch dieser erste Auszug aus Afrika war nur der Anfang einer langen Migrationsgeschichte, in deren Verlauf vor etwa 50.000 Jahren Europa, Asien und Australien kolonisiert wurden, dann vor weniger als 30.000 Jahren Amerika, und erst viel später die entlegensten Südpazifikinseln, die vor 1000 Jahren erstmals besiedelt wurden. Neben diesen großen, kontinentübergreifenden Wanderbewegungen erlaubt uns aber die moderne Populationsgenetik weitaus präzisere Einblicke, lassen sich doch Migrationsereignisse und andere demografische Prozesse in einer bisher ungekannt feinen Auflösung erkennen und datieren. So wissen wir aus diesen Studien heute auch, dass der Prozess der Vermischung sich ununterbrochen über die gesamte Menschheitsgeschichte vollzogen hat und dass wir in unterschiedlichem Ausmaß alle «Mischlinge» sind: Unsere Genome bestehen aus zahlreichen DNA-Segmenten, die aus extrem unterschiedlichen Quellen stammen. Ein historisch-geografisches Patchwork, in dem sich Völker und Generationen mischen.

Doch die Untersuchung unserer Genome hält noch andere Überraschungen bereit. Der sogenannte «moderne» Mensch, also wir, der Homo sapiens, und der Neandertaler galten lange Zeit als getrennte Arten, die sich per definitionem nie verpaarten und keine gemeinsamen Nachkommen zeugten. Das 21. Jahrhundert erwies das Gegenteil: Homo sapiens und Homo neanderthalensis vermischten sich sehr wohl und zeugten gemeinsame Nachkommen. Wir alle, zumindest alle diejenigen von uns, die nicht afrikanischer Herkunft sind, tragen nämlich heute in unserem Genom 1 bis 3 Prozent genetisches Material, das vom Neandertaler stammt. Doch nicht genug gestaunt. Über einen Fingerknochen, der in einer sibirischen Höhle gefunden wurde und den man zunächst für den eines Neandertalers hielt, konnte allein mit genetischen Methoden per DNA-Sequenzierung eine neue Menschenart identifiziert werden: der Denisova-Mensch. Und es kommt noch besser: Die Vorfahren der heutigen Bevölkerung Asiens vermischten sich sehr wahrscheinlich mit dem Denisova--Menschen, und manche aktuellen Populationen zum Beispiel in Papua-Neuguinea tragen in ihrem Genom einen Anteil von – je nach Messmethode – 3,5 bis 5 Prozent Denisova-Erbe. Es vermischten sich also nicht nur verschiedene Populationen von Homo sapiens, sondern diese vermischten sich außerdem noch mit anderen archaischen Vertretern der Gattung Homo, deren Gene in uns bis heute fortleben.

Diese Diversität wirkte sich sehr positiv aus. So ist der Homo sapiens eine allgegenwärtige, eine expandierende Spezies. Menschen sind auf der ganzen Welt präsent: von der trockenen, heißen Savanne bis in den hohen Norden mit von Kälte und geringer Sonneneinstrahlung geprägtem Klima, von den tropischen Regenwäldern bis in die extremen, unwirtlichen Lebensbedingungen des Hochgebirges mit niedrigem Sauerstoffgehalt, etwa im Himalaya oder in den Anden. In den vergangenen zwanzig Jahren haben wir aus den Genomen der menschlichen Populationen, die solchen Umweltbedingungen ausgesetzt sind, viel über die Fähigkeit des Menschen gelernt, sich genetisch unter anderem an Klima, Nahrungsressourcen und Krankheitserreger anzupassen. Insbesondere zeigte sich, und das ist eine entscheidende Entdeckung: Die Tatsache, dass unsere Vorfahren sich bei ihren Wanderungen rund um den Erdball besser an neue Umweltbedingungen anpassen konnten, verdankt sich sogar ganz wesentlich dieser Vermischung. So erwuchs die genetisch angelegte Fähigkeit der Tibeter, in großen Höhen mit extrem niedrigem Sauerstoffgehalt leben zu können, aus der Vermischung mit dem Denisova-Menschen; und die ersten Europäer erwarben ihre Kältetoleranz und ihre Resistenz gegen Krankheitserreger, vor allem Viren, aus der Vermischung mit dem Neandertaler.

Die Krankheitserreger verdienen in diesem Buch besondere Aufmerksamkeit, weil sie uns seit unseren Anfängen auf der Erde begleiten. Wahrscheinlich waren sie der bedeutendste Mortalitätsfaktor unserer Spezies, bis die Hygienebedingungen sich verbesserten und Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts die ersten Impfstoffe und die Antibiotika entdeckt wurden. Allerdings sinkt die infektionsbedingte Mortalitätsrate nur in den Ländern, die zum medizinischen Fortschritt Zugang haben, was für sehr viele Länder leider nicht der Fall ist. Und sogar in den Industrieländern sehen wir, welchen Schaden ein einfacher Krankheitserreger anrichten kann: Im Dezember 2019 zwang das Coronavirus SARS-CoV-2, das die Atemwegserkrankung COVID-19 hervorruft, ein Drittel der Menschheit in den Lockdown! Ein beeindruckender Weckruf, wie hilflos unsere Spezies einem plötzlichen, unvorhergesehenen Wandel der Umweltbedingungen ausgeliefert ist.

Stellen wir uns einmal die COVID-19-Pandemie ohne Krankenhäuser vor, ohne Atemgeräte, ohne Antibiotika, ohne Hygiene und ohne jede Möglichkeit, einen Impfstoff zu entwickeln. Unter genau diesen Bedingungen verbrachten die Menschen über 99 Prozent ihrer Geschichte. Auf die menschliche Sterblichkeit hat sich das so erheblich ausgewirkt, dass die Spuren davon bis heute in unseren Genomen sichtbar sind. Diese Spuren, die die natürliche Selektion per Krankheitserreger hinterlassen hat, können wir untersuchen; und daraus wird ersichtlich, welche menschlichen Gene wesentlich daran beteiligt waren und noch immer sind, um aus dem ewigen Wettrüsten im Kampf gegen die Infektionskrankheiten als Sieger hervorzugehen.

Doch da die Umweltbedingungen sich im Lauf der Zeit so stark verändern, kann es bei der Anpassung des Menschen an seinen Lebensraum auch zu Kollateralschäden kommen. Eine Anpassung nämlich, die in der Vergangenheit eine Adaptation dargestellt hat, kann nach einer Veränderung der Umweltbedingungen oder der Lebensweise zu einer Fehlanpassung (Maladaptation) werden und künftig bestimmte Krankheiten hervorrufen, zum Beispiel Autoimmunkrankheiten, Allergien, Bluthochdruck oder Fettleibigkeit.

Wie sich herausgestellt hat, können Erkenntnisse über die Evolution unserer Gene – und besonders der Gene, die mit der Immunantwort zu tun haben – Immunologie, klinische Genetik und Epidemiologie ausgesprochen sinnvoll ergänzen. So wird klarer, aufgrund welcher genetischen oder nichtgenetischen Faktoren wir so unterschiedlich auf Infektionen reagieren. Mit den Fortschritten, die die Humangenomik und die Methoden zur Big-Data-Analyse in den vergangenen zwanzig Jahren gemacht haben, wird Theodosius Dobzhanskys Diktum «Nichts in der Biologie macht Sinn, außer im Licht der Evolution» nur umso treffender. Und während immer klarer wird, dass genetisches Wissen offenbar die Wirksamkeit von Therapien erheblich verbessern kann, dürfen wir sogar noch weiter gehen und Dobzhansky so paraphrasieren: «Nichts in der Medizin macht Sinn, außer im Licht der Evolution.»

Wir sind das Produkt unserer Vergangenheit, unseres Auszugs aus Afrika, unserer Anpassung an unseren Lebensraum, unserer zahlreichen Vermischungen sowohl mit heute ausgestorbenen Formen der Gattung Mensch wie mit anderen Populationen des Homo sapiens. Um diese Geschichte nachzuvollziehen, diese Kombination aus natürlicher Evolution und menschlichem Handeln, das durch die neuen Lebensweisen wiederum die Umwelt verändert, hat die Genomik neue Methoden entwickelt, mit denen sich Ablauf und Ergebnis dieser Entwicklung in ungekannter Genauigkeit und Präzision erforschen lassen. Noch wertvoller wird dieses Wissen durch das Versprechen, das es birgt: Es wird uns die Mittel an die Hand geben, um eine besser an das Individuum angepasste Medizin zu entwickeln, die sogenannte «personalisierte» oder «Präzisionsmedizin». Je genauer wir ein Individuum und seine genetische Disposition kennen, desto gezielter und punktgenauer kann es behandelt werden. Je besser wir die Natur und ihre Mechanismen kennen, desto wirksamer lassen sie sich einsetzen, um unsere Schwächen auszugleichen oder die Erreger von Infektionskrankheiten zu bekämpfen. Louis Pasteur, der weltweit bekannteste französische Naturwissenschaftler und Vater der Mikrobiologie, drückte es augenzwinkernd so aus: «Der beste Arzt ist die Natur, sie heilt drei Viertel aller Krankheiten und zieht nie über ihre Kollegen her.»

Teil 1

Von Darwin zur Genomik

Woher kommen wir? Auf diese Frage wurden in der Geschichte der Menschheit schon viele Antworten gegeben. Mythen und Religionen legten Darstellungen unserer Herkunft vor, die die Fantasie ansprachen und die Kulturen dauerhaft prägten. Die Wissenschaft liefert heute ganz andere Antworten. Sie will ganz schlicht beschreiben und erklären, was wir aus unseren stetig zunehmenden Erkenntnissen zu den biologischen Prozessen über unsere Herkunft schließen können. Den allgemeinen Rahmen dafür bildet die von Charles Darwin entwickelte Evolutionstheorie. Sie ist unser Ausgangspunkt. Dazu tritt die Entdeckung der DNA und der Grundlagen der Genetik, dann die der Populationsgenetik; das alles führt zum heutigen Kenntnisstand über die Diversität unserer Genome, ein außerordentlich hilfreiches Instrument zum Verständnis des heutigen Menschen mit allem, was er seiner Vergangenheit verdankt.

Für die Populationsgenetik beginnt alles im Jahr 1859 mit der Veröffentlichung des Meisterwerks Über die Entstehung der Arten von Charles Darwin, der damit die evolutionistische Ära einläutet. Knapp eineinhalb Jahrhunderte später erfolgt mit der Sequenzierung des menschlichen Genoms 2001 die genomische Revolution. Zwischen diesen beiden Daten konnten wir dank vieler Entdeckungen und theoretischer und technologischer Entwicklungen die Evolution des Menschen nachvollziehen und neue Antworten auf die Frage «Was sind wir?» vorlegen.

Die Populationsgenetik stützt sich auf zwei Disziplinen: die Evolution und die Genetik. Diese beiden Wissenschaften wurden Mitte des 19. Jahrhunderts getrennt begründet, nämlich von Charles Darwin und Gregor Mendel. Allerdings sollte es noch Jahrzehnte dauern, bis die Biologen zwischen dem grundlegenden Evolutionsprozess und den Grundlagen der Vererbung eine Verbindung herstellten. Natürlich gab es für den Gedanken der Evolution eine ganze Reihe von Vordenkern und Intuitionen. Bereits in der Antike näherten sich Philosophen wie Anaximander von Milet oder Empedokles zaghaft dem Begriff einer Evolution, einer Veränderung, eines nicht übernatürlichen Ursprungs des Lebens. In der Aufklärung dann gab es Geistesblitze wie etwa bei Denis Diderot. Doch der dauerhafte Einfluss von Vorstellungen, die auf einem göttlichen Ursprung der Lebewesen beharrten, und ganz besonders der Einfluss von 2000 Jahren Christentum verhinderten in Europa bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts das Aufkommen evolutionistischen Gedankenguts.

Als dieses Hindernis einmal beseitigt war, keimten die von Darwin gesäten Samen schnell. Das 20. Jahrhundert brachte eine Fülle an Erkenntnissen: Es entdeckte die Prinzipien der Populationsgenetik, die Grundlagen für die Vererbung: die DNA, sowie ein erstes Verständnis für die Diversität unserer Art, ihre Wanderbewegungen, ihre Adaptation an ihre Umwelt. Schließlich zeigte die Sequenzierung fossiler DNA, dass unsere Spezies im Lauf ihrer Geschichte genetisches Material mit anderen, heute ausgestorbenen menschlichen Spezies ausgetauscht hat, etwa mit dem Neandertaler oder dem Denisova--Menschen. Und das ist erst der Anfang.

Natura non facit saltus:

Darwins graduelle Evolution

Die Frage der Evolution hatten bereits andere Wissenschaftler angesprochen. Jean-Baptiste de Lamarck (in seinem Buch Philosophie zoologique), Georges Louis Leclerc de Buffon, Benoît de Maillet oder auch Erasmus Darwin (der Großvater von Charles) hatten vermutet, Arten könnten sich womöglich verändern, und damit deren Unbeweglichkeit infrage gestellt. Doch erst Charles Darwin wird die Begründung der Evolutionstheorie zugeschrieben, obwohl er selbst in seinem Werk das Wort «Evolution» meidet und lieber von «Abkunft mit Veränderung» spricht.

Darwins Evolutionstheorie fußt auf zahlreichen Beobachtungen, die er hauptsächlich während seiner fünfjährigen Reise an Bord des Forschungsschiffs Beagle (1831–1836) vornahm; diese Reise betrachtete er selbst als das wichtigste Ereignis seines Lebens. Unter dem Kommando von Kapitän Robert FitzRoy, der ihn als jungen Naturforscher einstellte, um einer kartografischen Expedition rund um die Welt zuzuarbeiten, sammelte und beobachtete Darwin überall, wo er hinkam: von den Kapverdischen Inseln bis ins Amazonasbecken, von Feuerland bis zu den Galapagos-Inseln und in den Pazifik. Zurück in England, zunächst in Cambridge und dann in der Grafschaft Kent, sollte er dreizehn Jahre damit verbringen, alle seine Erfahrungen und seine Notizbücher in ein veritables Manuskript umzuwandeln, das er schließlich im November 1849 publizierte, weil er befürchtete, Alfred Russel Wallace, der eine recht ähnliche Theorie vorzulegen plante, könnte ihm die Priorität seiner Gedanken streitig machen. Es war eines der Bücher, die die Welt verändern sollten. Sein Titel: Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl (On the Origin of Species by Means of Natural Selection).

Das grundlegende Postulat von Darwins Evolutionstheorie ist das der Veränderung und Transformation der Arten durch natürliche Zuchtwahl, und das graduell, in kleinen Schritten entsprechend den in der Natur beobachteten Gradienten und dem von Gottfried Wilhelm Leibniz postulierten Kontinuitätsprinzip, das auf das aristotelische Axiom Natura non facit saltus («Die Natur macht keine Sprünge») zurückgeht. Damit war Darwin der Erste, der behauptete, dass alle individuellen Lebewesen auf der Erde einen gemeinsamen Vorfahren besitzen und dass die Unterschiede, die jede Spezies auf der Erde charakterisieren, unter dem Einfluss der natürlichen Selektion erworben wurden; die Selektion ist in seinen Augen der Grundmechanismus der Veränderung, der Anpassung an die Umwelt und der Artbildung.

Charles Darwin zufolge waren der wichtigste limitierende Faktor für das Wachstum einer Population die Ressourcen, etwa die Nahrung. Demnach besteht zwischen Individuen oder Arten ein Wettbewerb um diese Ressourcen, die ihre Überlebens- und Fortpflanzungsfähigkeit begrenzen. Außerdem postulierte Darwin, die beobachteten Unterschiede zwischen Individuen oder Arten würden an die folgenden Generationen «übertragen», wobei der Begriff der Übertragung unklar und unverstanden blieb; zur Genetik bestand damals keine Verbindung. Doch eben diese Unterschiede entschieden über die Fähigkeit von Individuen oder Arten, zu überleben und sich fortzupflanzen – heute spricht man von der adaptiven Fitness. Im Lauf der Zeit, so Darwin, bewirke die natürliche Selektion bei der Population graduelle Veränderungen, und die am besten angepassten Individuen würden immer zahlreicher.

Diese damals revolutionäre und heiß umkämpfte Theorie markierte den Beginn des Evolutionsgedankens, wobei Darwins Zeitgenosse Alfred Russel Wallace unabhängig zu denselben Schlussfolgerungen gekommen war. Die beiden Wissenschaftler verfassten sogar gemeinsam einen Artikel über die Theorie der natürlichen Selektion, der 1858 publiziert wurde. Nach der Veröffentlichung seines Buchs führte Charles Darwin ein einsames Leben in Kent und grämte sich über die Reaktionen und die Polemik, der er ausgesetzt war. Er starb 1882 im Alter von 73 Jahren.

Darwins Zeitgenosse, der mährische Abt Gregor Mendel, ist der Begründer der Genetik – der zweiten Disziplin, auf der die Populationsgenetik aufbaut. Dank seiner Arbeiten über die Übertragung von erblichen Merkmalen, die er 1865 publizierte, wird die Erblichkeit, die Darwin zwar erwähnt, aber unerklärt lässt, zu einem wissenschaftlichen Begriff für die Beschreibung einer beobachtbaren und beeinflussbaren Realität. Mendel führte Tausende Experimente an Erbsen mit unterschiedlichen Merkmalen in Farbe, Textur usw. durch: Er kreuzte sie und beobachtete die Verteilung dieser Merkmale in den Folgegenerationen. Mendel wies nach, dass bestimmte «Faktoren» – man nannte sie damals noch nicht Gene – auf vorhersagbare Weise von einer Generation an die nächste übertragen werden, und stellte drei Vererbungsgesetze auf, die sogenannten «Mendel’schen Regeln». Diese Gesetze blieben zunächst relativ unbemerkt, wurden aber 1900 von Hugo de Vries, Carl Correns und Erich von Tschermak wiederentdeckt. Sie schienen nur für diskrete Merkmale zu gelten und nicht für kontinuierlich variierende, quantitative Merkmale, weshalb sie Darwins Theorie zu widersprechen schienen, die grundsätzlich quantitativ angelegt war. Übrigens prägte Hugo de Vries den Begriff «Pangen» für die physische Einheit zur Merkmalsübertragung, und Wilhelm Johannsen die Begriffe «Genetik» und «Gen».

Anders als Darwin, dessen Arbeit umfassend rezipiert wurde, wurde Mendels Werk von seinen Zeitgenossen kaum beachtet: Dreißig Jahre lang blieb es so gut wie unbemerkt, und Charles Darwin las es nie. Die Verbindung zwischen Vererbung und Evolution war also noch nicht hergestellt.

Entstehung der Populationsgenetik

Die Verbindung von Darwinismus und Mendels Theorien beginnt in der Zeit zwischen den Weltkriegen mit jungen Forschern an der britischen biometrischen Schule um Francis Galton, etwa Ronald Fisher (1890–1962), Sewall Wright (1889–1988) und John Burdon Sanderson Haldane (1892–1964). Gemeinsam begründen diese drei die Populationsgenetik, eine Disziplin, in der Evolutionsbiologie und Genetik ein zusammenhängendes Ganzes bilden, das sich mathematisch modellieren lässt.

Ronald Fisher legte die Grundlagen der quantitativen Genetik; diese Disziplin ist heute mit der Erforschung der genetischen Ursachen für komplexe Erkrankungen sehr stark auf dem Vormarsch. Die quantitative Genetik beschäftigt sich mit der statistischen Untersuchung kontinuierlicher Merkmale, zum Beispiel der Größe. Sie geht von der Hypothese aus, dass die Variabilität des Merkmals durch ein Zusammenspiel zahlreicher Gene bedingt wird. Einer der wichtigsten Beiträge von Ronald Fisher war der Nachweis, dass die Variabilität eines kontinuierlichen Merkmals sehr wohl mit den Mendelschen Vererbungsregeln kompatibel ist. In seinem Buch The Genetical Theory of Natural Selection entwickelt er seinen Lehrsatz und behauptet, dass die Evolution über die natürliche Selektion genetischer Mutationen verläuft. Er nimmt an, dass Mutationen, die sich stark auf den Phänotyp auswirken, mit höherer Wahrscheinlichkeit die Fitness der Individuen mindern, während Mutationen mit schwächerer Wirkung das Individuum in der Hälfte der Fälle verbessern und so mit größerer Wahrscheinlichkeit von der natürlichen Selektion bevorzugt werden. Evolution und Transformation der Merkmale würden damit über das Zusammenspiel mehrerer schwächerer Mutationen graduell verlaufen – wie schon Darwin gesagt hatte: Natura non facit saltus!

Sewall Wright verbinden wir heute vor allem mit zwei Begriffen: Gendrift und Fitness-Landschaften. Als Gendrift bezeichnet man die zufällige Fluktuation in der Frequenz von mutierten Allelen[1] innerhalb einer Population im Lauf der Generationen. Sie bildet eine der Hauptmotoren für die genetische Diversität. Das Konzept der Fitness-Landschaft wird in der Evolutionsbiologie verwendet, um die Beziehungen zwischen genetischen Mutationen und dem Fortpflanzungserfolg einer Population in Form einer topografischen Landkarte visuell darzustellen.

Der dritte Begründer der Populationsgenetik ist schließlich John Burdon Sanderson Haldane. Er entwickelte einen mathematischen Ansatz für das Verständnis, wie die natürliche Selektion auf die Häufigkeit von mutierten Allelen einwirkt und wie Selektion, Mutation und Migration miteinander interagieren. Bekannt ist er auch für seine Hypothese, die einen Zusammenhang zwischen natürlicher Selektion und Malaria-Resistenz postuliert, wenngleich wir diese Beobachtung von 1949 eigentlich dem italienischen Genetiker Giuseppe Montalenti verdanken. Diesem war nämlich aufgefallen, dass Erkrankungen der roten Blutkörperchen wie Thalassämien oder die Sichelzellenanämie vor allem in solchen Regionen auftreten, in denen Malaria endemisch ist. Bestätigt wurde die Hypothese erst 1954 durch Anthony Allison; heute gilt es als Schulbeispiel für natürliche Selektion, dass Erkrankungen der roten Blutkörperchen gegen Malaria schützen können, was wohl ihr häufigeres Auftreten in Regionen erklärt, in denen Malaria sehr verbreitet ist.

Fußnoten

1 Ein Allel ist eine Variante eines gegebenen Gens: Jedes Gen kann nämlich in verschiedenen «Versionen» auftreten, die dann zu unterschiedlichen Ausprägungen im Phänotyp führen, zum Beispiel bei der Augenfarbe.

Entdeckung der Erbsubstanz:

Die DNA

Zwar hatten Ronald Fisher, Sewall Wright und John B. S. Haldane die Grundlagen der Populationsgenetik gelegt, doch zum echten interdisziplinären Konsens kam es erst in den 1930er- bis 1960er-Jahren, als Biologen, Paläontologen, Mathematiker und Genetiker gemeinsam die «synthetische Evolutionstheorie» entwickelten. Als neodarwinistische Theorie stellte sie die Krönung von Darwins Überlegungen dar. Maßgeblich an ihrer Entwicklung beteiligt waren Ernst Mayr (1904–2005), Theodosius Dobzhansky (1900–1975) und Julian Huxley (1887–1975). Für sie ist die Evolution, wie von Darwin vorgeschlagen, ein gradueller Prozess, der sowohl mit den bekannten genetischen Mechanismen als auch mit den Beobachtungen der Biologen vereinbar ist. Zur Variabilität zwischen Individuen einer Population kommt es durch Mutation, Rekombination und Genfluss. Evolution ist das Ergebnis einer Kombination von zwei Mechanismen: Zunächst treten innerhalb einer Population Allele mit neuen Mutationen auf, an denen dann natürliche Selektion oder Gendrift greifen und ihre Frequenz in der Population verändern. Diese Theorie bekräftigt vor allem den Gedanken, dass die Hauptkraft der Evolution die natürliche Selektion ist: Sie wirkt sich je nach den aktuellen Umweltbedingungen auf den Phänotyp der Individuen aus und führt zu Veränderungen in der Frequenz von mutierten Allelen, die diesen Phänotyp beeinflussen.

Doch während das theoretische Wissen in der Populationsgenetik stetig zunahm und die Disziplin sich entsprechend konsolidierte, waren empirische Daten weiterhin rar und die Substanz, in der das Erbgut materialisiert war, unbekannt. Die Entdeckung der Doppelhelixstruktur im Jahr 1953 veränderte die Zukunft der Populationsgenetik radikal. Francis Crick (1916–2004), Rosalind Franklin (1920–1958) und James Watson (*1928) wiesen nach, dass die DNA aus Sequenzen von vier unterschiedlichen Nukleotiden besteht, die sich jeweils aus einem Zucker mit einem Phosphatrest und einer stickstoffhaltigen Nukleinbase zusammensetzen; diese bezeichnet man als A, T, G und C. Diese Nukleotide sind in einer Doppelhelix angeordnet, deren Skelett aus den Zuckern und Phosphatresten besteht. Die Basen sind nach innen gerichtet, und jede von ihnen ist durch eine Wasserstoffbrücke mit einer komplementären Base vom gegenüberliegenden Strang verbunden.

Dank dieser molekularbiologischen Entdeckungen und der Genetik insgesamt konnte der japanische Forscher Motoo Kimura (1924–1994) theoretische Ansätze mit empirischen Daten kombinieren und damit 1968 die neutrale Theorie der Evolution formulieren. Diese Theorie postuliert, dass die meisten evolutionären Veränderungen auf Gendrift zurückzuführen sind, während die synthetische Evolutionstheorie die Triebkraft eher in der natürlichen Selektion sieht. Allerdings greift auch die neutrale Theorie auf die molekulare Evolution zurück, und Kimura selbst räumte ein, dass die Evolution des Phänotyps nicht ohne den Einfluss der natürlichen Selektion erfolgen kann.

Das Natura-non-facit-saltus-Paradigma der Populationsgenetik lieferte immer neue Entdeckungen, häufig in Verbindung mit technologischen und methodologischen Fortschritten. In den letzten fünfzig Jahren kam es so zu weiteren prägenden Ereignissen, von denen einige in diesem Buch ausführlich vorgestellt werden. Erwähnt seien vor allem:

1977: die Veröffentlichung der ersten Methoden zur DNA-Sequenzierung, die es erlauben sollte, die auf der DNA gespeicherte Information zu entschlüsseln.

1984: die auf DNA-Analyse beruhende Erkenntnis, dass Mensch und Schimpanse einen gemeinsamen Vorfahren besitzen.

1987: erster genetischer Beweis für die afrikanische Herkunft unserer Spezies.

1997: erste Sequenzierung eines fossilen DNA-Segments des Neandertalers.

2001: Veröffentlichung der menschlichen Genom-Sequenz.

2010: Entdeckung einer neuen Homo-Population, des Denisova-Menschen, allein aufgrund der Sequenzierung seiner DNA (ausgehend von einem kleinen Fingerglied).

2010: Erstveröffentlichung des 1000-Genome-Projekts, das die Untersuchung der genetischen Diversität des Menschen in bisher ungekannter Breite in Gang brachte.

2018: Abschluss des Projekts UK Biobank, das 2006 in Großbritannien lanciert wurde und durch die Untersuchung von 500.000 Individuen klären soll, inwieweit die Variabilität des menschlichen Phänotyps einschließlich seiner Erkrankungen jeweils auf die Genetik und auf Umwelteinflüsse zurückzuführen ist.