Die Gutenberg-Elegien - Sven Birkerts - E-Book

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Sven Birkerts

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Beschreibung

Leidenschaftliche und melancholische essayistische Variationen über das Lesen, allen Bücherfreunden zum Trost, die sich den Verheißungen der schönen neuen Bildschirmwelt nicht restlos überlassen wollen. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Sven Birkerts

Die Gutenberg-Elegien

Lesen im elektronischen Zeitalter

Aus dem Amerikanischen von Kurt Neff

FISCHER Digital

Inhalt

Unserem Neuzugang Liam Thomas [...]»Was hat Gott zuwege [...]Einleitung Der LesekulturkampfI Das lesende Ich1 Maa … Vuu … Huu … Puu …2 Die Schnitzeljagd Ein autobiographisches Fragment3 Die Eule ist auf und davon4 Die Frau im Garten5 Blättern im Ich Die intimen Seiten des Lesens6 Das Schattenleben der Lektüre7 Am ZugfensterII Das elektronische Jahrtausend8 Auf dem Weg ins elektronische Jahrtausend9 Der entfesselte Perseus10 Mit gespitzten Ohren11 Hypertext oder von Maus und MenschIII Der Zustand kritischer Masse Drei Betrachtungen12 Eine große Kluft13 Der Tod der Literatur14 Die Luft wird dünnerSchluß: Der TeufelspaktNachwort von Sigurd Martin

Unserem Neuzugang Liam Thomas und dem Rest der Familie – allen drei Generationen

 

Ich möchte auch der Lila Wallace-Reader’s Digest Foundation für großzügige Unterstützung während der Abfassung des Manuskripts und meiner Lektorin Fiona McCrae für Ansporn danken

»Was hat Gott zuwege gebracht?«

Samuel Morse (in seiner ersten telegraphischen Botschaft)

Einleitung Der Lesekulturkampf

Die einfache, wenn auch drastische Prämisse, die der Antrieb zum Schreiben dieser Essays war und sie als roter Faden zusammenhält, sei unverzüglich offengelegt: Im Laufe der unmittelbar hinter uns liegenden Jahrzehnte, in einem historischen Nu, hat sich mit unserer Kultur etwas angebahnt, das einer vollständigen Metamorphose gleichzukommen verspricht. Der triumphale Vormarsch elektronischer Kommunikations- und Informationsverarbeitungstechnologien, für den die stetige Verbesserung des Mikroprozessors die Wege ebnete, hat in kürzester Zeit einen Zustand kritischer Masse herbeigeführt. Auf einmal lebt man in dem Gefühl, daß alles auf dem Sprung ist, sich zu ändern; die langsamere Welt, die viele von uns als Heranwachsende noch kennengelernt haben, schrumpft im Rückspiegel. Die dauerhaften hierarchischen Strukturen der gedruckten Seite – eine der konstitutiven Normen jener Welt – werden von Impulssalven in den allerneuesten »Chips« abgelöst. Die Verdrängung der Druckseite durch den Monitor ist noch keine totale (wie das Buch in Ihren Händen beweist) – und wird vielleicht nie eine totale sein –, aber der generelle Trend in diese Richtung ist wohl für niemanden, der Augen im Kopf hat, zu verkennen. Der Wechsel ist natürlich nur eine Facette eines weiterreichenden Transformationsprozesses, der ganze Volkswirtschaften umfaßt und auf allen Ebenen in das menschliche Dasein eingreift. Aber da wir ja inmitten zahlloser eng verknüpfter Beziehungsgeflechte leben, können wir sagen, daß Veränderungen im unmittelbaren Horizont des Buchdrucks nach draußen auf das große Ganze verweisen; sie bilden den Tumult der sozialen Kräfte in verkleinertem Maßstab ab.

Der Totalansicht fühle ich mich nicht gewachsen – es fehlt mir sowohl an Wagemut wie an technologischem Sachverstand. Statt dessen konzentriere ich mich lieber auf die verschiedenen Formen, in denen der Innovationsschock sich in der literarischen Praxis, vornehmlich der Lesekultur, niederschlägt und fortpflanzt. Dabei gehe ich in zwei Etappen vor. Zunächst entwickle ich – als Extrapolation aus eigenen Leseerfahrungen – eine unsystematische und hochgradig subjektive Ökologie des Lesens, um sodann die verschiedenen Elemente oder Kräfte zu benennen, von denen dieser Komplex empfindlicher Gleichgewichtslagen bedroht wird. Man wird feststellen, daß meine Ausführungen zum Lesen mitunter ziemlich umstandslos in Ausführungen zum Schreiben und späterhin zur Literaturkritik übergehen. Das ist nicht Zerstreutheit oder Nachlässigkeit, sondern der schuldige Tribut an die natürliche Verwandtschaft aller Facetten des literarischen Lebens.

Seit einer Reihe von Jahren breite ich jetzt auf dem Papier und in Gesprächen meine Ideen aus und habe mich mit der Zeit in meinen Grundannahmen so wohnlich eingerichtet wie in einem gemütlichen Zimmer. Sie sind mir so vertraut und in meinen Augen so selbstverständlich, daß ich stets aufs neue verblüfft bin, wenn ich wieder einmal feststelle, daß sie, um das mindeste zu sagen, nicht von aller Welt geteilt werden. Die sogenannte »Maschinenstürmer«-Haltung ist heutzutage nicht sonderlich populär, jedenfalls nicht bei der »fortschrittlichen« Intelligenz. Im fortschrittlichen Lager setzt man Primitivismus oder Antimodernismus in Sachen Technologie gern mit einer konservativen Mentalität gleich, wie sie der Nationale Schützenverein repräsentiert. Offenbar geht man dabei stillschweigend davon aus, daß die neue Technologie eine lupenrein liberale Angelegenheit sei. Wer sich jedoch auch nur einen Moment lang auf die elektronischen Aktionsforen unserer Fernsehevangelisten oder das elektronische Instrumentarium der Denkfabriken unseres Verteidigungsministeriums besinnt, muß an dieser Vorstellung irre werden. Ich glaube nicht, daß sich die Technologiefrage in herkömmliche politische Raster einordnen läßt.

In meinem engeren Umfeld sehe ich Bekannte und Kollegen, die den großen kulturellen Durchblick haben, vielfach so weitermachen, als änderte sich im Grunde sehr wenig, als lebten wir in einem essentiell statischen Milieu. Was ich vorbringe, quittieren sie mit Achselzucken und Anzeichen von Ungeduld, die besagen: »Hackst du immer noch auf den Computern und dem Fernsehen herum?« Und ich kann an Gesichtspunkten und Beweisen offerieren, was ich will, man hält mir auf alles die »Nichts als«-Erklärung entgegen. Der Schreibcomputer, das Notebook? »Nichts als ein Werkzeug, ein effizienteres Mittel für …« Elektronische Bulletin Boards (»Schwarze Bretter« oder »Anschlagbretter«) und Netzwerke? »Nichts als Kommunikationsmedien wie andere auch.« Demnächst Bücher auf CD? »Wo ist der Unterschied? Die Wörter ändern sich ja nicht …« Von denselben Leuten wird man nicht selten auch belehrt, daß es den Schriftstellern ausgezeichnet gehe, die Verlagsbranche gesund sei und das Lesepublikum lese wie nie zuvor. Manchmal frage ich mich, ob meine umsichtigen Bekannten und ich in derselben Welt leben.

Diese Menschen – meine freundlichen Gegner im Meinungsstreit, einschließlich all der wohlmeinenden Empiriker, die mit Blick auf unsere Lebensumstände so gern betonen, daß »plus ça change, plus c’est la même chose« – bilden die vorderste Reihe des Publikums, an das ich mich wende. Ihre Äußerungen und Einwände, wirkliche und gedachte, gehen mir beim Schreiben im Kopf herum. Ich habe lange und angestrengt darüber nachgedacht, warum sie meine These von der grundstürzenden Transformation der Gesellschaft nicht akzeptieren wollen oder können. Leiden sie an der speziellen Kurzsichtigkeit der Empiriker, frage ich mich, oder hänge ich einem Wahn nach? Naturgemäß halte ich mich lieber an die Überzeugung, daß der Fehler bei ihnen liegt – daß sie nicht glauben können, was sie nicht geschehen sehen, und daß sie den Wandlungsprozeß, der um uns herum im Gang ist, nicht sehen können, weil sie sich nicht aus ihrer Verhaftung an ein synchronisches Weltbild zu befreien vermögen. Sie haben zumeist keinerlei Interesse daran, sich im Geist in vergangene oder zukünftige Zeiten zu versetzen – sie halten sich lieber an das Hier und Jetzt.

Ebendiese Leute möchte ich bitten, sich das häusliche Leben in Amerika einmal im Zeitrafferverfahren dokumentiert vorzustellen – sich eine im Schnelldurchlauf vorgeführte filmische Langzeitstudie zu denken, die das Alltagsdasein eines US-Bürgers oder einer Gruppe von US-Bürgern über, sagen wir, vier Jahrzehnte hinweg verfolgt. Lassen wir sie beobachten, was sich im Erscheinungsbild des Alltags tut: wie seit den fünfziger Jahren zahllose neue Technologien aufkommen und sich einbürgern, und wie sich dadurch elementare Verkehrsformen ändern. Um die Jahrhundertmitte besitzt ein durchschnittlicher Haushalt einen Radioapparat und ein Wählscheibentelefon, und in einer kleinen Gruppe von Pionieren hat man außerdem noch einen Schwarzweißfernseher. Sehen wir uns in demselben Milieu in den neunziger Jahren um, finden wir dort mehrere Farbfernseher mit Fernbedienung, Videorecorder und Spielkonsole, dazu PC, Modem, Faxgerät, schnurloses Telefon, Anrufbeantworter, Mobiltelefon, CD-Spieler, Camcorder und anderes mehr. Wird die Zeitraffung hinreichend beschleunigt, tritt der dramatische Wandel unverhüllt in Erscheinung. Innerhalb eines Zeitraums von weniger als einem halben Jahrhundert sind wir aus einem Zustand wesensmäßigen Für-sich-Seins in einen Zustand intensiver und nahezu unausgesetzter Mediennutzung übergewechselt. Eine elektronische Gardine hat sich zwischen uns und die sogenannte »Außenwelt« geschoben. Die Vorstellung, auch nur einen Tag (ganz zu schweigen von einer Woche) abgeschnitten vom Zugriff auf unseren kompletten Gerätepark verbringen zu müssen, hat für uns etwas Unerhörtes, ja Unheimliches.

Nur zum Teil greift dieser enorme Wandel in den Literaturbetrieb direkt ein. Die globale Umgestaltung der Rahmenbedingungen des gesellschaftlichen Lebens hat jedoch zwangsläufig immense Auswirkungen auf die Kultur des Schreibens und Lesens. Das vordem stabile System – die Achse Schriftsteller-Leser mit der Trias Lektor-Verleger-Buchhändler in der Mitte – wird langsam zur Brezelform umgebogen. Was der Schriftsteller schreibt, und wie er schreibt, wie er redigiert und verlegt und verkauft und dann gelesen wird – all die alten Selbstverständlichkeiten stehen ausnahmslos zur Disposition. Und das sind nur die äußeren Symptome. Noch tiefer greifende Veränderungen finden im subjektiven Bereich statt. In dem Maße, wie sich die Situation des gedruckten Buches und der Buchkultur – des Bücherschreibens und -lesens – verändert, weil elektronische Medien erfolgreich die Vorherrschaft beanspruchen, ändern sich auch »Stimmungslage« und »Erlebnisqualität« der Beschäftigung mit Literatur. Schreiben und Lesen bekommen anderen Sinn und andere Bedeutung. Während die Welt weiterwirbelt, ihrem geheimnisvollen Stelldichein entgegen, wird der altbekannte Akt des langsamen Lesens eines seriösen Buches zu einem elegischen Unterfangen. Das Nachdenken über diesen Akt führt uns zwangsläufig vor inhaltsschwere Fragen nach unseren erklärtermaßen humanistischen Werten, nach dem Zwiespalt zwischen geistigem und materiellem Interesse und nicht zuletzt nach der Subjektivität selbst.

Diese und viele andere Dinge fasse ich in den folgenden Essays ins Auge. Ich erhebe freilich keinen Anspruch auf Unparteilichkeit. Ja, ich habe mich sogar nach Kräften bemüht, den Ton von jemandem zu vermeiden, der allem etwas Gutes abzugewinnen sucht. Ich spreche als unverbesserlicher Leser, als einer, der nach wie vor glaubt, daß nicht die Technik, sondern die Sprache das wahre Wunder der Evolution ist. Ich habe mich noch nicht von der Überzeugung verabschiedet, daß das Erleben von Literatur eine Weisheit vermittelt, die nirgends sonst zu finden ist, daß Tiefgründigkeit allein schon in der Begegnung mit den Wörtern liegt, unabhängig davon, was ein Autor darüber hinaus an Tiefgründigkeiten zu bieten hat, und daß das gebundene Buch für das geschriebene Wort das ideale Medium ist.

Es sind in mancher Hinsicht pessimistische Perspektiven, die hier aufgetan werden. Pessimistisch auf jeden Fall, wenn wir die Lage der Dinge am alten humanistischen Axiom von der Souveränität des Individuums messen. Die einschlägigen Essays sind Extrapolationen, Prognosen, Warnungen. Sie finden allerdings ein Gegengewicht – wenn auch leider nicht ihre Widerlegung – in einer Anzahl von Stücken, die im Geist der Feier geschrieben wurden. Wenn die Vorzeichen der schönen neuen Zukunft mir Mut und Kraft zu rauben begannen, suchte ich Zuflucht bei den Büchern. Ich las und dachte über das Lesen nach, und in einer Anzahl von Betrachtungen zu dem Thema ließ ich meinen alten Vorlieben und Neigungen die Zügel schießen. Diese Abschnitte stellen das glaubensfeste Herz meines nicht immer freudebringenden Unternehmens dar.

Mein Buch umkreist zwar eine zentrale Prämisse, ist aber gleichwohl nicht das, was in der Sprache meiner fünfjährigen Tochter »Kapitel-Buch« heißt. Will sagen: Das Sujet wird nicht in linearer Folge entwickelt, sondern in einer Form dargeboten, die sich in meinem Denken als organische Büschelung nach Art von Trauben oder Dolden abbildet. Jeder Essay wurde als selbständige Einheit konzipiert; jeder erwuchs aus einem speziellen privaten Zwang. Da aber viele in der ein oder anderen Hinsicht auf der zentralen Prämisse aufbauen, waren gewisse thematische Reprisen nicht zu vermeiden. Sie auszumerzen käme einem Sabotageakt an den einzelnen Essays gleich. Ich hoffe – zuversichtlich –, daß die Reprisen nicht simple Wiederholungen sind, sondern tatsächlich unterschiedliche Perspektiven auf eine kulturelle Situation, der gar nicht genug Beachtung zuteil werden kann. Die gleiche Nachsicht erbitte ich, ohne etwas zur Entschuldigung anführen zu können, für die Mischung aus diskursiver und autobiographischer – oder unparteiischer und parteiischer – Schreibweise. Das Thema Lesen fesselt mich zu stark und betrifft zu sehr den Kern meiner Persönlichkeit, als daß ich ihm gegenüber die Objektivität des unbeteiligten Beobachters wahren könnte. Die intimeres Gepräge tragenden Essays am Anfang des Buches sollten als der Humus verstanden werden, in den die Keime der späteren Betrachtungen eingebettet wurden. Alles auf diesen Seiten entspringt letzten Endes dem privaten Ich – dem Ich des verträumten Gesellen mit einem aufgeschlagenen Buch auf den Knien.

I Das lesende Ich

1 Maa … Vuu … Huu … Puu …

Virginia Woolf war es, die mich wieder zum Nachdenken über das Denken brachte, mich veranlaßte, die Vorzüge der abstrakten Analyse und die Reize eines umschweifigeren, subjektiveren Zugangs zu den Dingen gegeneinander abzuwägen. Der Vergleich diente der Befriedigung einer rein theoretischen Neugier. Die Möglichkeit des abstrakten Analysierens ist mir seit geraumer Zeit verschlossen – ich habe festgestellt, daß ich nicht mehr in der Lage bin, auf einen einzelnen Hasen Jagd zu machen. Fragen und Probleme scheinen nur mehr gebündelt auf mich zukommen zu wollen. Sie zeigen sich unlösbar mit den Umständen verflochten, und es gelingt mir nicht, sie für das Denken zu isolieren. Ebensowenig vermag ich meine eigene Perspektive auszuklammern. Alles ist relativ, relational, einsteinianisch. Denken ist für mich heute nicht mehr etwas, was ich tue, sondern etwas, woran ich partizipiere. Es ist eine komplexe Erzählhandlung, deren Entfaltungsschritte mich ebensosehr interessieren wie ihr Ergebnis. Ich bin offenbar ein Essayist und kein Philosoph.

Ich hatte diese diversen Abgrenzungen nun schon eine ganze Weile im Kopf, aber lediglich als ein Geflimmer von vagen Ahnungen. Der Magnet, der mit seinen Kraftlinien die Partikel zu einer Figur ordnete, war Woolfs klassischer Essay A Room of One’s Own (dt. Ein Zimmer für sich allein). Nicht sein Was, sondern sein Wie. Beim Lesen dieser Prosa fand ich mich mit einem Paradox konfrontiert, unter dessen Eindruck ich mich, jede Faser meines Leibes gespannt, in meinem Sessel aufrichtete. An Ideen bietet Woolf eigentlich wenig und – zumindest von unserem historischen Standpunkt aus gesehen – ziemlich Selbstverständliches. Aber dennoch beeindruckt bei ihr zutiefst der Denkprozeß als solcher, imponiert die Eindringlichkeit des lebendigen Denkens auf der Buchseite. Wie haben wir uns das zu erklären? Wie kann ein Stück Schriftstellerei, das nur schlichte Ideen enthält, den Leser mit seinem Denken packen und erregen? Die Antwort ist nach meinem Dafürhalten, daß Ideen nicht das A und O des Denkens sind; das Denken besteht ebensowohl in der Bewegung über den Bach wie in den Trittsteinen, die sie ermöglichen. Denken ist eine verschlungene Choreographie von Bewegung, Übergang und Ruhe, ein Aufscheinen der Muskulatur des Geistes. Und ebendies finde ich in überreichem Maße und inspirierender Form in der Prosa Virginia Woolfs. Sie liefert den Kontext mit, zeigt sowohl das Problem als auch ihre eigene Beziehung zu ihm. Während sie dann von ihrem zunehmenden Engagement erzählt, enthüllt sie Erregenderes und Kostbareres, als bloße Begriffe je vermitteln könnten. Sie zeigt, wie ein beiläufiges Erlebnis auf die aufnahmebereite Sensibilität treffen und die Triebfeder der Kreativität auslösen kann.

Es ist hier nicht möglich, den Text so ausführlich zu zitieren, wie es nötig wäre, um den Leser von dem Gesagten anschaulich zu überzeugen, aber ich kann zumindest ansatzweise das Arom von Virginia Woolfs Sinnieren, ihre spezielle Art und Weise, Bericht und Spekulation ineinander zu verweben, evozieren. Sie hat, wie sie uns eingangs mitteilt, zugesagt, ihre Ansichten zu dem Thema Frauen und erzählende Literatur darzulegen. Auf den ersten Seiten ihres Essays rekapituliert sie die Verlegenheit, in die sie sich damit gebracht hat. Sie ist jetzt eine Schriftstellerin auf der Suche nach einer Idee. Und ihre Vorgehensweise unterscheidet sich nicht sonderlich von dem klassischen Schachzug der Studienanfängerin, die ihre Seminararbeit mit einer Reflexion über die Schwierigkeit, eine Seminararbeit zu schreiben, einleitet. Indes, Virgina Woolf ist Virginia Woolf und ihre stilistische Verve unübertroffen:

Da war ich nun vor ein oder zwei Wochen (nennen Sie mich Mary Beton, Mary Seton, Mary Carmichael oder wie immer Sie wollen – das ist unwichtig), saß bei herrlichem Oktoberwetter am Ufer eines Flusses, in Gedanken verloren. Dieses Joch, von dem ich sprach, Frauen und erzählende Literatur, die Notwendigkeit, über ein Thema zu einem Schluß zu kommen, das alle Arten von Vorurteilen und Leidenschaften hervorruft, drückte mich nieder. Rechts und links von mir glühten irgendwelche Büsche, karmesinrot und golden, ja schienen, von der Hitze entfacht, in Flammen zu stehen. Am anderen Ufer trauerten Weiden in unaufhörlicher Klage, das Haar um die Schultern wallend. Von Himmel und Brücke und flammendem Baum spiegelte der Fluß wider, was ihm gerade paßte, und wenn der Student sein Boot durch die Spiegelbilder hindurchgerudert hatte, schlossen sie sich wieder, vollständig, als hätte es ihn nie gegeben. Man hätte dort rund um die Uhr sitzen können, in Gedanken verloren. Mein Denken – um es bei einem stolzeren Namen zu nennen, als es verdient – hatte die Angel in das strömende Wasser ausgeworfen. Minute um Minute tanzte der Schwimmer zwischen den Spiegelbildern und den Wasserpflanzen, hierhin und dorthin, ließ sich vom Wasser heben und senken, bis sich – mit dem bekannten leichten Ruck – am Ende der Schnur ein Gedanke ballte: und dann das behutsame Aufwinden der Schnur und das vorsichtige Ablegen des Fangs am Ufer? Ach, als er da auf dem Gras lag, wie unbedeutend nahm sich mein Gedanke aus – ein Fang, wie ihn jeder gute Angler ins Wasser zurückwirft, damit er noch zunehmen kann, um eines Tages zum Gekocht- und Gegessenwerden zu taugen.

Kurze Zeit später wird Woolf sich erheben und ein Rasenstück überqueren wollen, mit dem Erfolg, daß sie einem diensteifrigen Universitätspedell in die Arme läuft, der sie nicht nur auf für ihresgleichen zum Begehen freigegebenes Terrain zurückscheucht, sondern auch in ihrem Innern einen Wachtraum um männliche Macht und männliche Privilegien in Gang setzt. So kommt sie im Triumph an ihr Ziel: durch Vertrauen auf den glücklichen Zufall, der zur rechten Zeit die erleuchtende Beobachtung, den beflügelnden Einfall beschert, ein Vertrauen, das sich bei Lichte besehen als der bedingungslose Glaube an die verwandelnde Kraft des schöpferischen Intellekts entpuppt. Was immer A Room of One’s Own über Frauen und Männer, das Handwerk des Schriftstellers und die Gesellschaft zu sagen weiß, der Essay gibt darüber hinaus auch perfekten Anschauungsunterricht in etwas, was man »Ästhetik nach Art der Elster« nennen könnte. Woolf ist hier die flickschusternde Bosselerin, die als Material verwendet, was ihr gerade unter die Finger kommt, sie ist die flâneuse, die das Unscheinbare und Nebensächliche errettet, indem sie es in seinen wahren Bedeutungskontext stellt. Sie exemplifiziert in der eigenen Person einen neuen Kurs für das Bewußtsein und die Sensibilität, gibt Wege zu bedenken, die zu beschreiten wir nun, da die Philosophen, die altbekannten Liebhaber der Wahrheit, sich auf dem immer schmaler werdenden Pfad der Abstraktion in die unwirtlichen Höhen jenseits der Baumgrenze entfernt haben, bei einiger Überlegung vielleicht auch für uns selbst nicht ausschließen.

Spätestens jetzt dürfte der gewitzte Leser mein Spiel durchschaut und gemerkt haben, daß es mir nicht allein darum zu tun ist, ein Loblied zu singen auf Woolfs geschicktes Verfahren der indirekten Annäherung an ein Thema, sondern daß ich es auf meine eigene, ungelenke Weise nachzuahmen suche. Woolf wurde ihr »Joch« (»Frauen und erzählende Literatur«) von fremder Hand auferlegt; in das meine – nennen wir es »Lesen, Sinn und Bedeutung« – habe ich mich aus freien Stücken selbst hineingezwängt. Ich weiß, daß ich vor einer unlösbaren Aufgabe stehe. Wer darf hoffen, über eine unermeßlich umfangreiche Materie wie diese etwas Endgültiges sagen zu können? Ich habe mich jedoch für einen Gegenstand unermeßlichen Umfangs eben deswegen entschieden, weil er mir die Möglichkeit gibt, diese mir noch unvertraute essayistische Methode zu sondieren. Eine Methode, die nicht in dem Streben nach Endgültigkeit, sondern in unsystematischen Kreuz- und Querzügen der forschenden Neugier gründet; die sich den Grundsatz zu eigen gemacht hat, daß das Denken nicht einfach nur auf Nutzeffekte aus ist, sondern auch so etwas wie eine narrative Reise sein kann, die genügend Freiheit für Picknicks unterwegs läßt.

In Virginia Woolf beschwöre ich den Spiritus rector. Ihr Beispiel setzt die Tonart für eine Untersuchung, die darauf abzielt, den Stellenwert des Lesens und der Sensibilität innerhalb der aufziehenden elektronischen Kultur zu bestimmen. In dem Koordinatensystem, auf das ich die Verhältnisse beziehe, bezeichnet Woolf beinahe einen Grenzwert. Tatsächlich steht ihr Werk für manches von ebendem, was in der gegenwärtigen Epoche vom Untergang bedroht ist: die differenzierte Subjektivität, das träumerische Denken, die sprachliche Nuanciertheit, die geistige Leidenschaft …

Ehe ich fortfahre, muß ich ein Geständnis ablegen, das einen paradoxen Sachverhalt betrifft: Den Anstoß, A Room of One’s Own zu lesen, gab mir eine Bearbeitung des Buches für das Fernsehen, die ich mir ansah. In der Rolle von Virginia Woolf, die – so der fiktionale Rahmen – als Rednerin vor Studentinnen des Girton College auftritt, bestritt Eileen Atkins die Sendung mit einem aus ausgewählten Textpartien zusammengesetzten Monolog, der eine geschlagene Stunde dauerte. Atkins agierte den Part mit minimalem Aufwand an Requisiten, aber einem dafür um so außergewöhnlicheren gestischen Repertoire. Und ich, in meine Sofaecke geklemmt, war hypnotisiert. Von der Kunst der Schauspielerin, keine Frage, aber noch mehr von der puren Kraft und Schönheit des gesprochenen Worts. Das war, ohne altfränkisch oder übermäßig theatralisch zu wirken, eine Sprache, wie man sie sonst nie zu hören bekommt – jedenfalls nicht im Fernsehen. Ich war gefesselt. Und sobald die Sendung zu Ende war, machte ich mich auf die Suche nach dem Buch.

A Room of One’s Own stand seiner Fernsehfassung erfreulicherweise in nichts nach – ja ließ sie mit Abstand hinter sich. Und hat inzwischen viele Nächte auf meinem Nachttisch verbracht. Das Paradox bleibt indessen bestehen: Im selben Maße, wie Woolfs gefühlsintensive Prosa uns demonstriert, was die Sprache alles kann, zwingt sie uns auch, der völligen Verarmung unserer eigenen Rede ins Gesicht zu sehen. Und bei dem Versuch zu erklären, wieso heute Eintönigkeit und Fadheit regieren, müssen wir zumindest einen Teil der Schuld unseren allmächtigen Medien zuweisen. Und dennoch, dennoch – in diesem Fall hat niemand anders als die Übeltäterin Technologie selbst mich von neuem mit der Sprachkraft einer Virginia Woolf bekannt gemacht.

Es ist dieserart Sachverhalt, dem ich mich im folgenden vorzugsweise zuwende. Ich sinne über das Paradoxe nach – fixiere es mit dem Blick, als wäre es ein Gegenstand vor mir auf dem Schreibtisch. Ich fasse es fest ins Auge und warte darauf, daß sich in meinem Kopf Ideen und Intuitionen formen, lasse jedoch mein Verstandesinstrumentarium unausgepackt. Denn in meiner Sicht hat diese kleine Trias Ich/Fernsehen/Buch einen potentiellen Bezug zu allen Aspekten unserer derzeitigen Lebensform und unserer Sinnerfahrung. Mit dem analytischen Besteck an die Sache heranzugehen, hieße die Fäden des Beziehungsgeflechts zerstören.

Ich werde folglich einige Notizen vorlegen, Denkanstöße anekdotischer Natur, um dann zwischen ihnen hin und her zu schweifen. Der Leser wird feststellen, daß die Zielpunkte meines Interesses sämtlich eine Verbindung zu meiner unmittelbaren Alltagserfahrung aufweisen; sie sind in meinen Lebensumständen verwurzelt. Aber es gibt auch einen erkennbaren thematischen Zusammenhang zwischen ihnen. Denn es ist ja nun einmal so, daß ich seit geraumer Zeit auf Schritt und Tritt eine einzelne – unscharf ins Allgemeine zielende – Frage mit mir herumtrage. Das Fragezeichen wurde auf den Kopf gestellt und, um das Bild von Virginia Woolf aufzugreifen, in die Wasser meines Alltagsdaseins hinabgelassen. Da hängt es nun immerzu, und dann und wann erregt es aus irgendeinem Grund die Aufmerksamkeit von etwas Vorbeischwimmendem. Ich spüre einen Ruck: Papier wird hervorgeholt, eine Notiz wird hingekritzelt, und der Haken wird erneut ausgeworfen.

Die Frage, wie gesagt, lautet: »Was ist innerhalb unserer Kultur in ihrer derzeitigen Verfassung der Stellenwert des Lesens und der Sensibilität des Lesers?« Und wie die meisten Fragen, die mich ernstlich beschäftigen, hat auch diese, seit sie aufgekommen ist, Zeit genug gehabt, sich zu einem auffälligen topographischen Merkmal in meiner Bewußtseinslandschaft zu entwickeln. Innerhalb meiner bisherigen Lebensspanne habe ich einen gigantischen Transformationsprozeß mitangesehen und mitgemacht, der Dinge, in denen ich jahrhundertealte Daseinsformen erkenne, in Bausch und Bogen umgekrempelt hat. Die menschlichen Primärbeziehungen – zum Raum, zur Zeit, zur Natur und zu den Mitmenschen – sind unter einen verformenden Druck geraten, der etwas beispiellos Neues unter der Sonne ist. Wer dem entgegenhält, das Wesen der Geschichte sei eben Veränderung und der Wechsel das einzig Beständige, trifft nicht den Kern der Sache. Unsere Epoche erlebt eine Beschleunigung des Wandlungstempos, die mit ihrer Rasanz alle Möglichkeiten der evolutionären Anpassung unterläuft. Das Aufkommen des Computers und die erstaunliche Höherentwicklung unserer elektronischen Kommunikationsmedien haben, zusammenwirkend, ein Spektrum isolierter Veränderungen zu einem systematisch strukturierten Zusammenhang umgeschaffen. Die Art, wie Menschen die Welt erleben, hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren stärker verändert als zuvor im Lauf von vielen Jahrhunderten. Die Eruptionen in der ersten Jahrhunderthälfte, der Zeit der Weltkriege und der aufziehenden Modernität, waren so etwas wie Vorwarnungen. In der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg haben wir uns alle zusammen aus uraltem und vertrautem Alleinsein in eine unwägbare Vernetzung gigantischen Ausmaßes hineinbegeben. Wir haben die Technologie geschaffen, die uns nicht nur befähigt, unsere elementare Natur zu ändern, sondern diese Änderung nahezu unvermeidlich macht. Eben deswegen mache ich das Lesen – Lesen im weitesten Sinne genommen – zu meinem Thema. Lesen ist für mich eine Tätigkeit, die exemplarisch die Grenze des alten Begriffs vom Individuum und seinem Verhältnis zur Welt markiert. Genau da, wo das Lesen aufhört, wo es durch andere Methoden, Erfahrungen zu verarbeiten und weiterzugeben, ersetzt wird, läßt sich der Übergang zum Herrschaftsbereich des neuen Systems orten.

Nichts von alledem, fürchte ich, wird dem Zeitgenossen des ausgehenden zwanzigsten Jahrhunderts sonderlich einleuchtend vorkommen. Wäre es anders, würde in der Öffentlichkeit mehr protestiert, mehr debattiert. Die Veränderungen erfolgen im selben Takt wie das Wachstum der Rechnerleistung von einer Computergeneration zur anderen; sie vollziehen sich in unmerklichen Schritten, führen jedoch im Endeffekt zur Umgestaltung unseres Lebens an allen Fronten. Die Wahrnehmung des Vorgangs äußert sich bei der Allgemeinheit indirekt und oft ihrer selbst nicht bewußt als Nostalgie – ein Phänomen, das den Medienmaklern nur allzu gut bekannt ist. Eilends versorgen sie uns mit dem nötigen Seelenbalsam: mit Medienerzeugnissen und Moden, die beruhigend die gute alte Zeit evozieren, wo sich alles noch nicht so bedrohlich, so apokalyptisch ausnahm. Aber das ist ein anderes Thema. Auf Bewußtseinsebene hindern uns Scheuklappen an der Wahrnehmung des Wandels. Soweit sie uns unmittelbar betreffen, passen wir uns den Umwälzungen an. Wir schulen uns im Umgang mit dem Computer, finden Mittel und Wege, wie wir unsere Leistung steigern können, akzeptieren einen höheren Streßpegel als eine Art unabwendbarer Steuerlast, doch im großen und ganzen ignorieren wir die gewaltigen Umbrüche, die im Hintergrund stattfinden. Das ist durchaus zu verstehen. In jedem Augenblick wie ein Schwamm das Vorausgegangene aufsaugend, treibt uns die Gegenwart vorwärts. Nur wenn wir uns ihrem Diktat mit bewußter Willensanstrengung verweigern und die Zeremonie des Erinnerns vollziehen, bekommen wir den Wandel in seinem vollen Ausmaß in den Blick. In unserem Leben, in der Welt. Dann fragen wir uns vielleicht tatsächlich, wohin wir steuern und was diese große Metamorphose des Altvertrauten zu bedeuten hat.

Vor kurzem las ich Graham Swifts Roman Ever After (dt. Von jenem Tage an), in dem der Erzähler, ein Erwachsener, der auf seine Jugend zurückblickt, sich einmal daran erinnert, wie er auf seinem Fahrrad zu einem einsamen Aussichtspunkt zu strampeln pflegte, von dem aus er die großen Dampfloks vorbeirasen sehen konnte. Swift gesteht seiner Erzählerfigur das Privileg der vaticinatio ex eventu zu, wenn er sie sagen läßt:

Zwischen Aldermaston Wharf und Midgham, wo sich die Bahnlinie Reading – Newbury in den Berghang bohrte, um in einen kurzen Durchstich einzufahren (eine meiner Lieblingsstellen für diese Wachen, die unter der blassen Bezeichnung train-spotting, »Züge gucken«, liefen), hatte ich einen Ausblick, der als Vorlage für eines dieser künstlichen Szenarien in den Enzyklopädien für Kinder zur Illustration des Themas »Alt und neu« hätte dienen können. Fluß, Kanal und Eisenbahnlinie boten sich gleichzeitig dem Blick dar. Es wäre durchaus möglich gewesen, in einem einzigen Augenblick im Hintergrund die alte Wassermühle am Kennet zu sehen, vor der ein Pferd ein Feld bearbeitete, im Mittelgrund einen Lastkahn auf dem Kanal und im Vordergrund einen Zug, der auf den Durchstich zugerast kam, während nicht weniger als drei Brücken irgendeinem auf Hochglanz polierten Auto (mitsamt seinem töricht lächelnden Paar auf dem Vordersitz) eine gute Chance boten, auch noch mit ins Bild zu kommen.

Ich muß es gesehen haben – viele Male gesehen haben –, jenes lebendige Palimpsest. Und zweifellos hätte mich ein elegisches Vorgefühl beim Anblick der großen Schnellzüge ergreifen sollen, die doch nur ihrem eigenen Untergang entgegendampften und ein ganzes Zeitalter mitnahmen.

In dieser Passage erblickte ich eine zwingende Analogie zu unserer eigenen Situation, nur daß ich anstelle der Transportmittel das Buch, das Video, den Monitor und alles, was an interaktiven Hypertext-Technologien derzeit auf dem Markt ins Kraut schießt, in das Palimpsest einsetzen würde. Von Swifts Buch aufblickend überlegte ich mir, wie es wohl wäre, unseren kulturellen Status quo von einem, sagen wir, dreißig Jahre in der Zukunft gelegenen Blickpunkt aus zu betrachten. Befinden wir uns nicht in einer ähnlichen Übergangsphase, mit dem einzigen Unterschied, daß es die ganze althergebrachte und vertraute Buchkultur ist, was da an uns vorüberbraust, der nahe bevorstehenden historischen Vergessenheit entgegen? Überall um uns herum sind schon die Technologien in Stellung gegangen, die sie obsolet machen werden.

 

Im Herbst 1992 hatte ich an einem College ein Anfängerseminar über »Ausgewählte amerikanische Erzählungen« zu halten. In einer Lektüreliste stellte ich Titel zusammen, die meiner Meinung nach den Geschmack des durchschnittlichen Studenten ansprechen mußten, und ging die Sitzungen relativ zuversichtlich an. Mit Washington Irving würden wir den Anfang machen, dann Hawthorne, Poe, James und Jewett streifen, ehe wir uns dann leichter zugänglichen Werken des zwanzigsten Jahrhunderts zuwandten. Ich hatte erwartet, daß meine Studenten an der Sage von Sleepy Hollow ihren Spaß hätten, daß sie sich über die karikaturesken Porträts und den Einschlag von schauerromantischem Spuk amüsieren würden. Nichts dergleichen. Ausnahmslos alle fanden Irvings Erzählung überdehnt, geschwätzig, ungenießbar. Ich schob die Schuld an ihrer Reaktion auf den Umstand, daß wir beim ersten Thema standen und die meisten Studenten sich wohl noch nicht eingelesen, noch nicht ihr richtiges Lesetempo erreicht hatten. Bei Hawthorne und Poe wiegte ich mich in der Illusion, daß es ein wenig besser ginge.

Doch dann kam Henry James’ Brooksmith an die Reihe, und ich erlebte mein blaues Wunder. Wie immer leitete ich die Sitzung damit ein, daß ich den Teilnehmern zwanglose Reaktionen in dem Stil »Hat mir gefallen« oder »Fand ich ätzend« zu entlocken versuchte. Die Studenten brachten kaum die Energie für die primitivste Sympathie- oder Antipathiekundgebung auf. Es war, als wären noch die letzten Lebensgeister mit einer Pumpe aus ihnen herausgesaugt worden. »Kein guter Tag heute, was?« bot ich als Aufhänger an. Beharrliches Fragen brachte ans Licht, daß ihnen der Lesestoff aufs Gemüt geschlagen war. Aber warum? Wo lag das Problem? Ich mußte ihrer Betäubung angesichts dieser meiner Meinung nach verhältnismäßig exoterischen Erzählung auf den Grund kommen.

Ich fragte: War es die Sprache, der Stil, was Schwierigkeiten machte? Allgemeines Kopfnicken. Na, das wollen wir doch mal genauer einkreisen. War es das Vokabular, die Satzlänge, der Satzbau? »Ja, etwas in der Richtung«, meinte einer, »aber eigentlich war es die Sache im ganzen.« Hmmmmmm. Na ja, sagte ich, darüber sollten wir nachdenken. Meine nächste Frage: Hatten sie die Grundzüge der Handlung, die Fabel, verstanden? Na klar doch, kam es zurück. Einem Butler stirbt sein Herr weg, und daraufhin findet er keine vergleichbare Stellung mehr. Er wechselt immer wieder den Arbeitsplatz – in der Regel nach Kündigung von seiner Seite –, gerät dann in Verzweiflung und verschwindet, wahrscheinlich um seinem Leben ein Ende zu machen. »Und das finden Sie nicht bewegend?« Ein, zwei Seminarteilnehmer räumten den ergreifenden Aspekt der Geschichte ein, doch dann drängte sich wieder die alte Unzufriedenheit in den Vordergrund, und erneut klang das Lamento auf, daß man sich nicht so sehr mit der Fabel, sondern vielmehr mit der »ganzen Sache« schwertat.

Mit der ganzen Sache? Was für einer ganzen Sache? In meinem Ton mußte meine Erregung, meine Ungehaltenheit über ihre nebulösen Stellungnahmen angeklungen sein. Nach endlosem Hin und Her war es dann schließlich heraus: Diese Studenten hatten vor James’ Prosa und deren unausgesprochenen Prämissen schlichtweg kapitulieren müssen. Das Problem war nicht das Vokabular, denn die einzelnen Wörter verstanden sie zumeist, und auch nicht durchweg die Syntax, wenngleich sie hier ein gewisses Unbehagen und einzelne übersprungene Sätze nicht verhehlen konnten. Das eigentlich Ungenießbare war für sie, was das Vokabular, die Syntax, die ironische Brechung usw. transportierten. Sie kapierten es nicht, und daß sie es nicht kapierten, ärgerte sie, und ihrem Ärger verliehen sie Ausdruck, indem sie sich mit einem Mantel schlechtgelaunter Apathie umgaben. Studenten, die ich bei anderer Gelegenheit als alert und einfallsreich kennengelernt hatte, regredierten plötzlich auf ein mürrisches Analphabetentum. »Ich weiß auch nicht«, sagte der Wortführer, »das Ganze hat mich bloß vergrätzt – ich hab da einfach keinen Zugang gefunden.«

Obwohl die Seminarsitzung verunglückt war, fuhr ich in angeregter Stimmung nach Hause. Mir wurde nach und nach klar, daß ich auf eine Verwerfung in der geistigen Landschaft gestoßen war, die möglicherweise einen Bruch der historischen Kontinuität bezeichnet. Das war mehr als nur eine mißlungene Seminarstunde – das war die Bestätigung eines Sachverhalts, dem ich seit Jahren auf der Spur war. Wäre ich eine Figur in einem Comic gewesen, hätte mein Schöpfer mir jetzt eine brennende Glühbirne über den Kopf zeichnen können.

Worum handelt es sich bei dieser Verwerfung, und was hat sie mit dem Thema zu tun, das ich mir hier gestellt habe? Um die zweite Frage zuerst zu beantworten: Alles. Wie ich schon schrieb: Die Welt, wie wir sie kennengelernt haben, die Welt unserer Mythen, Bezugssysteme und allgemein akzeptierten Selbstverständlichkeiten, ist unter dem Einfluß eines Bündels gewaltiger, wenn auch vielfach ungreifbarer Kräfte in Veränderung begriffen. Wir leben mitten in einem folgenschweren Paradigmenwechsel. Mein Erlebnis im Seminarraum, das genau besehen stellvertretend für Hunderte ähnlicher Erlebnisse in Seminar- oder Unterrichtsräumen stehen kann, läßt sich diagnostisch auswerten.

Man kann den Fall nicht einfach auf die Antithese Studenten kontra Henry James reduzieren. Wir haben es nicht mit dem Aufeinanderprallen zweier unvereinbarer Empfindungsweisen – der ihren und der seinen – zu tun. Vielmehr stehen wir hier an einer Spalte – oder besser gesagt, einer Verwerfungslinie –, die zwei Ordnungen voneinander scheidet. James’ Name ließe sich ohne weiteres durch den von Joyce oder Woolf oder Shakespeare oder Ralph Ellison ersetzen. Die Sache liefe auf das gleiche hinaus. Der springende Punkt ist, daß die kollektive Erfahrung dieser Studenten, die in der Mehrzahl Anfang der siebziger Jahre geboren sind, einen beträchtlichen Teil unseres kulturellen Erbes für sie in unzugängliche Fremdartigkeit entrückt hat. Hier liegt der Bruchpunkt ihrer Einsicht und ihres Auffassungsvermögens: die Stelle, wo sich deren Leistungskraft erschöpft. Zum Problem wird nicht der Stil, nicht der Satzbau, sondern alles, wofür Stil und Satzbau in Dienst genommen werden. Will sagen: ein ganzes System von Überzeugungen, Werten und kulturellen Strebungen.

Bei Henry James finden sich viele Elemente, auf die ich im folgenden noch zu sprechen kommen werde. Er ist feinfühlig und nuanciert, ein Meister der Ironien und Allusionen; in seinem Werk bekundet sich eine ungeheure Sorgfalt, auch noch die differenziertesten Seelenregungen zu erfassen. Und man kann ihn nicht »kapieren«, wenn man nicht gleichsam seismographisch noch seine kleinsten sprachlichen Griffe und Kniffe registriert. Seine Welt und die Dramen, die sich in ihr abspielen, gründen in der Vorstellung von einzelnen, die in organischer Beziehung zur Gesellschaft ihrer Zeit stehen. All diese einzelnen sind in Henry James’ Universum noch von einer Aura der Bedeutsamkeit umgeben; ihre Handlungen und Entscheidungen werden als Angelegenheiten von Belang erlebt.

Ich weiß, daß die Gesellschaft zur Zeit von Henry James für viele auch ein Instrument der Repression war und sich überdies mit gewissen inzwischen diskreditierten Machtansprüchen garnierte. Ich plädiere nicht für ihre Wiederkehr und ganz bestimmt nicht für ihre Wiederkehr in jener Form. Doch darauf kam es nicht an – zumindest nicht in den Diskussionen, die ich damals mit meinen Studenten führte. Denn nach unserer verunglückten Seminarsitzung über James begannen wir nicht nur unsere diversen Lektürestücke, sondern auch das Lesen als solches und ihr Verhältnis zu ihm zu hinterfragen. Und dabei zeigte sich folgendes Bild: Bis auf wenige Ausnahmen waren sie keine Leser – waren es nie gewesen; sie hatten sich immer nur mit Musikhören, Fernsehen und Videos beschäftigt; es fiel ihnen schwer, sich ausreichend zu sammeln, um die für einen Prosatext von einiger Dichte erforderliche Konzentration aufbringen zu können; sie hatten Schwierigkeiten mit dem, was in ihren Augen eine antiquierte Ausdrucksweise war, mit Anspielungen, mit Wörtern, die ihnen »gespreizt« vorkamen; Unbehagen bereiteten ihnen zumal reflexive Textstellen und solche, die innere Zustände wiedergaben, wie überhaupt alle Abschweifungen von der nackten Handlung; und ironischer Stil irritierte sie, weil er Überlegenheit signalisierte und ihnen das Gefühl gab, nicht mitzukommen. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen.

Das alles bestätigte meine alte Vermutung, daß meine in einer elektronischen Kultur aufgewachsenen Studenten bestimmte Fertigkeiten besitzen und andere vermissen lassen würden. Doch in seiner vollen Tragweite, so wurde mir jetzt langsam klar, war dieser Sachverhalt ziemlich beunruhigend, zumal wenn man hier kein generationsgebundenes vorübergehendes Unvermögen, sondern eine bleibende Veränderung erblickte. Wenn das für meine fünfundzwanzig Studenten der unteren und mittleren Semester galt, von denen viele aus einem privilegierten Sozialmilieu kamen, dann, so folgerte ich, traf es wahrscheinlich für die meisten in ihrer Generation zu. Und nicht nur in ihrer Generation, sondern auch in der unmittelbar vorausgehenden und der nachfolgenden. Näher betrachtet bedeutete das zum einen, daß weite Teile unserer Bevölkerung vom Genuß bestimmter literarischer Werke ausgeschlossen waren, zum anderen aber auch, daß eine noch sehr viel bedenklichere Situation im Anzug war. Denn unsere gesamte kollektive Bewußtseinsgeschichte – die Seele des Gesellschaftskörpers – ist ja in gedruckten Zeichen kodiert. Ist in sprachlichen Zeichen kodiert und wird seit unzähligen Generationen in dieser Form tradiert, mit dem Buch als hauptsächlichem Vehikel. Ich rede hier nicht von Fakten und Informationen, sondern von den etwas schwerer zu fassenden »weichen Daten«, den Botschaften, die uns sagen, wer wir sind und wer wir waren, die die Lebenszeugnisse von Individuen der verschiedensten Epochen sind – die praktisch das kumulative Ergebnis des Sinnens und Denkens unserer Spezies verkörpern. Wenn ein Mensch dem gedruckten Buch den Rücken kehrt – weil ihm dieses Medium nicht schnell genug oder zu mühsam ist oder zu den faszinierenden Nervenkitzeln der Gegenwart nicht viel beizusteuern vermag –, wie wirkt sich das auf das Kultur- und Kontinuitätsbewußtsein des Betreffenden aus?

Solche umfassenden, inhaltsschweren Fragen sind mit bloßer Analyse nicht zu beantworten; sie sind überdeterminiert. Es ist nicht möglich, einen einzelnen Strang aus ihnen herauszulösen und für sich zu bedenken. Und dennoch, bedenken müssen wir sie, selbst wenn wir uns dabei zuweilen ungeschickt anstellen und Binsenwahrheiten produzieren. Wir leben in einer Gesellschaftsordnung und einer Kultur, die sich in Auflösung befinden. Ich brauche den Leser, was das betrifft, wohl nicht eigens mit den täglichen Schlagzeilen über Verbrechen, Werteverfall, Niedergang von Bildung und Erziehung und über einen Rattenschwanz anderer Symptome zu bombardieren, damit er mir glaubt: Das alles kennt er wahrscheinlich bereits zur Genüge. Es gibt viele Ursachen, viele Erklärungen. Aber hinter allen steht nebelhaft und drohend die Erkenntnis, daß die früher in der Gesellschaft wirksamen unterstellten Selbstverständlichkeiten und stillschweigenden Übereinkünfte nicht mehr als gültig empfunden werden. Die Verhältnisse haben sich geändert, und sie ändern sich weiter. Wir alle spüren ein Verlangen nach Zusammenhang, nach Sinn, aber wie es scheint, wissen wir nicht, was womit in Zusammenhang zu bringen wäre, und völlig im ungewissen sind wir, was unsere Stellung als einzelne im Ganzen angeht. Die verfügbaren Landkarten geben nicht mehr das Terrain wieder, auf dem wir uns bewegen. Der Weg in die Zukunft zeichnet sich nicht klar ab. Wir sind zuversichtlich, daß die Spezies Mensch schon irgendwie weiterstolpern wird, aber wir wissen nicht, wohin. Wir fühlen uns in einem Kraftfeld gefangen, über das wir keine Kontrolle haben.

Ich will nicht behaupten, das komme alles davon, daß man nicht Henry James liest. Ich behaupte jedoch, daß von alledem unsere Unfähigkeit kommt, Henry James oder die Schriften irgendeines anderen Boten aus jener bis vor kurzem lebendigen, aber inzwischen rasch dahingehenden Welt zu lesen. Unser historisch gesehen abrupter Übergang zur elektronischen Kultur hat uns in die Position von Ignoranten katapultiert. Zusammen mit den vertrauten Sitten und Gepflogenheiten sind uns auch die gewohnten moralischen und psychologischen Bezugspunkte abhanden gekommen. Der Blick auf unsere Gesellschaft zeigt uns keine echten Führergestalten, keine überragenden Weisen. Keine schöne neue, sondern eine furchterregende Welt.

Das Konzept des historischen Wandels treibt mich um und beschäftigt mein Denken. Mich interessieren nicht so sehr Kriege und Friedensverträge und Erfindungen, wenngleich dies offenkundig entscheidende Faktoren sind. Worüber ich mir den Kopf zerbreche, hat mehr mit der Phänomenologie des Alltagslebens zu tun. Woran liegt es, daß die Welt jeder Epoche ein anderes Gesicht zeigt, in jeder Epoche anders erlebt wird? Wir können Einzelheiten nennen, in denen sich das äußere Leben seit, sagen wir, 1890 verändert hat, aber können wir sagen, wie sich das Lebensgefühl verändert hat? Wir können Phänomene objektiver Art – Fortschritte im Beförderungswesen, industrielle Neuerungen usw. – dingfest machen, verläßliche Einblicke in den subjektiven Bereich sind uns jedoch verwehrt. Wenn wir ältere Leute seufzen hören: »Früher war das Leben ganz anders«, stimmen wir vielleicht instinktiv zu, aber wie können wir uns einen Begriff davon verschaffen, worin genau der Unterschied besteht?

Andererseits bewohnt jeder von uns mehrere Zeitzonen. Wir haben die Welt unseres Alltags in der Gegenwart, die normalerweise den größten Teil unserer Aufmerksamkeit beansprucht, aber wir sind auch von schattenhaften Streifen Vergangenheit umlagert. Zuerst sind da die Sedimente unserer eigenen Lebensgeschichte. Je älter wir werden, desto umfangreicher wird der Schatten – und desto breiter die Kluft zwischen der Welt unseres aktuellen Erlebens und der Welt, wie sie einmal war. An ihrem äußersten Rand verfließt diese verworrene Masse von Erinnerungen mit einer anderen Masse. Es sind dies die Erinnerungen, zwischen denen wir aufwuchsen, die unserer Eltern und Großeltern. Unser Bild von der Welt, wie sie ist und wie sie einmal war, ist zwangsläufig mitgeprägt von allem, was uns über zahllose von anderen gehörte Glossen und Anekdoten aus dem Damals zufloß, das uns vorausging.

So trage ich als Mann Anfang vierzig bereits ein beachtliches chronologisches Gepäck mit mir herum. Ich bin ein Bürger des Jetzt, der täglich seine Zeitung liest, auf der Bank seine Plastikkarte in den Geldautomaten einschiebt und sich zwecks abendlicher Entspannung im Videoverleih versorgt. Aber ich bin noch andere Ichs: ein Spätstarter, ein Versehrter der Kulturkämpfe der sechziger Jahre, ein ausgeflippter Heranwachsender, der die Popkultur aufsaugt und eskapistische Träume träumt, ein amerikanischer Junge, der in den fünfziger Jahren mit »touch football« und der Fernsehserie I Love Lucy groß wird. Ein amerikanischer Junge? Ich sollte besser sagen, ein Junge, der sich die größte Mühe gab, auch wirklich amerikanisch zu sein. Denn ich bin zwar im Lande geboren, aber meine Eltern stammten beide vom alten Kontinent, aus Lettland, und meine Kindheit war auf teils unmerkliche, teils offenkundige Weise von ihren Erfahrungen durchdrungen – ihren Geschichten vom Aufwachsen in Riga, von Krieg und Entwurzelung. Und ihr Bild von der Welt, wie sie war, floß so auf natürlichem Wege in mein eigenes Bild von der Welt, wie sie war, mit ein.

Doch damit nicht genug. Ich wuchs auch mit Großeltern auf. Und von ihnen eignete ich mir ein wieder anderes Zeitbewußtsein an. Auf Besuch bei ihnen ging ich zwischen ihren Einrichtungsstücken umher, hörte mir ihre Reminiszenzen an. Durch sie kam ich, wenn auch nur indirekt, in Berührung mit einer Welt, die sich von allem, was ich heute kenne, nicht stärker hätte unterscheiden können: einer fester gefügten und zugleich schrofferen Welt, zu der Zerklüftung, weite Räume und große Entfernungen gehörten. Meine Großeltern waren zwar beide in der Stadt aufgewachsen, ihre Wurzeln lagen jedoch auf dem Land. Die Geschichten, die sie erzählten, waren reich an ländlichen, bäuerlichen Motiven. Ja, bis zu einem ziemlich späten Zeitpunkt ihres Lebens besaßen sie weder ein Auto noch einen Fernseher. Selbst das Telefon hatte für sie etwas Neumodisches an sich. In ihren Anekdoten entwickelte sich die Handlung nach einem anderen Prinzip, in anderem Tempo. Sie standen mit einem Bein in der modernen Zeit, mit dem anderen in der wahren Vergangenheit. Mit »wahrer Vergangenheit« meine ich die Zeiten, in denen noch Generation um Generation in mehr oder minder derselben Lebensweise verharrte – sich in kaum merklichen Schritten stattfindende Veränderungen aneignete, das ja, aber ansonsten in einen immergleichen Satz elementarer Rhythmen eingebunden blieb.

Es ist ein Unterschied zwischen dieserart Nachdenklichkeit und jenem stärker das Gefühl beteiligenden Gemütszustand, den wir als Nostalgie oder nostalgische Sehnsucht bezeichnen. Nostalgie ist spontan und richtet sich in der Regel auf einen enger umgrenzten Objektbereich. Sehr oft wird sie durch einen Kurzschluß im Erleben ausgelöst: In unsere Wahrnehmung gegenwärtiger Phänomene platzt jäh ein Bild, ein Gefühl, eine Empfindung aus der Vergangenheit hinein. Ein Lied, das wir im Radio hören, eine alte Ansichtspostkarte, die wir zwischen den Seiten eines Buches finden. Die Vergangenheit überfällt uns ohne Vorwarnung, und wir werden von Sehnsucht gepackt – Sehnsucht nach einer Sache, einem Menschen, einem Ort, aber mehr noch nach dem Ich, das wir damals waren.

Wie jedermann bin auch ich solchen handstreichartigen Überfällen ausgesetzt. Sie sind für mich etwas anderes als jene ausdauerndere und kontinuierlichere Art von Exhumierungsarbeit, der ich mich in jüngster Zeit gewidmet habe. Meine Suche gilt nicht persönlichen Empfindungen, sondern einer Erkenntnis. Ich möchte wissen, wie das Leben in einer bestimmten Epoche ausgesehen haben könnte, wie die Menschen jener Zeit ihren Alltag erlebt haben könnten, damit ich einen Vergleich mit der Gegenwart anstellen kann. Warum das? Wahrscheinlich, weil ich glaube, daß es hier einen verborgenen Sachverhalt zu entdecken gibt, den Schlüssel zum Rätsel der Gegenwart.

In der Phase meines intensivsten Nachdenkens über das Thema Zeit und über die Lebensformen der Vergangenheit fügte es der Zufall, daß ich mir ein Video des Kinofilms Fools of Fortune (dt. Narren des Schicksals) auslieh, einer Adaptation des gleichnamigen Romans von William Trevor (dt. Toren des Glücks). Es war eigentlich ein blinder Griff ins Regal, motiviert einzig durch das Bedürfnis nach irgend etwas, womit ich die letzten Rückstände eines nervenaufreibenden Tages in meinem Kopf auslöschen konnte. Aber sobald ich die Kassette in den Schacht eingeschoben hatte, fühlte ich meine Obsession wieder Gestalt annehmen. Die Anfangssequenzen des Films sollen den Eindruck von altem 8-Millimeter-Material machen. Verwackelt, sprunghaft, durch das Alter verblaßt und verkratzt. Ein kleines Kind tappt über den imposanten Rasen vor einer herrschaftlichen Villa. Eine Frau in Kostüm und Haartracht der Zeit in einem Gartenstuhl. Alles natürlich kinematographisches Kunstprodukt, für das ich jedoch in höchstem Maße empfänglich war.

Der Film spielt im Irland des beginnenden zwanzigsten Jahrhunderts, vor dem Hintergrund des Bürgerkriegs. Am meisten beeindruckte er mich mit seiner offenbar echten Sensibilität für die Bedingungen, unter denen sich das dargestellte Leben in der Provinz abspielte. Mit langen Einstellungen auf stille Zimmer, auf Menschen, die in dauernder Einsamkeit ihrer Arbeit nachgingen, auf Menschen, die endlose Strecken zu Fuß zurücklegten, auf langsam dahinrollende Fuhrwerke. Mag sein, daß ich mir die Erinnerung an den Film nach meinen Bedürfnissen zurechtstutze, doch das hat nichts zu sagen. Und es hat auch nichts zu sagen, daß ich im Jahre 1990 in meinem elektrifizierten Einfamilienhaus saß und mir mit Hilfe meines Videorecorders Schauspieler ansah, die in einer kommerziellen Produktion mitwirkten. Für eine kurze Weile erlag ich der angestrebten Illusion: Ich sah durch ein Fenster in die reale Vergangenheit, auf die Dinge, wie sie einmal gewesen waren. Und ich war tatsächlich überwältigt vom Ausmaß des Wandels, den ich dabei erkannte. Innerhalb von Jahrzehnten – von der Epoche meiner Großeltern bis zur Gegenwart – haben wir allesamt den Weg auf die andere Seite des Spiegels zurückgelegt.

An einer Stelle der Filmhandlung geht der Protagonist an einem Backsteingebäude entlang in Richtung Rathausplatz. Eine unscheinbare Szene, reine Füllung und Überleitung. Und dennoch war dies, ich weiß nicht warum, die Stelle, die mich zum Erwachen brachte. Ich dachte: Wenn ich es schaffte, mich in der Vorstellung einfach nur ganz in diese Szene zu versetzen und meine Umgebung mit den Augen dieser Figur zu sehen, dann wüßte ich mehr. Ich versuchte auf verschiedenerlei Weise, das Manöver auszuführen. Zuerst, indem ich blindlings einen großen Sprung rückwärts in die Zeit machte, meine Vorstellungen ganz auf mögliche Wahrnehmungen des Protagonisten beschränkte, mir den Geruch von Mist und Kohlenrauch in der Frühlingsluft, das Gefühl des Kopfsteinpflasters durch die Schuhsohlen, die von Hammerschlägen, dem Knarren von Karrenrädern und Hufgeklapper unterbrochene Stille ringsum vergegenwärtigte. Ein nahezu aussichtsloses Unterfangen, aber bei dem Versuch erkannte ich, wieviel von der Bewußtseinslage der Gegenwart für die Einfühlung in eine vergangene Lebenswelt gewaltsam ausgelöscht werden müßte.

Außerdem versuchte ich mich schrittweise von der Gegenwart in die Vergangenheit zurückzuarbeiten, indem ich die Überlagerungen Schicht für Schicht abtrug: Fernseher und Telefone eliminierte, desgleichen Flugzeuge, Autos, Plastikmaterialien, Synthetikfasern, leistungsfähige Sanitäranlagen, Asphaltbeläge, Armbanduhren, Kugelschreiber und so weiter und so fort. Dabei ergibt sich ein ganz seltsamer Effekt. Ich fühle, wie der Raum sich mehr und mehr weitet und die Stille sich vertieft und wie zugleich den Dingen eine spezifische Würde zuwächst. Je tiefer ich in die Vergangenheit eindringe, desto nachdrücklicher schiebt sich der Schauplatz in den Vordergrund der Aufmerksamkeit; die Besonderheiten der Örtlichkeit bringen sich mit wachsendem Abstand zum Horizont immer prononcierter und fordernder zur Geltung. So vieles muß wieder in das Lebensgefüge integriert werden: das Vorhandensein von Nachbarn; die Kategorien von Wissen, die ein Leben mit sich bringt, das ganz in eine einzige, enge Sphäre gebannt bleibt; die Aura des unerreichbar Fernen, die den Namen entlegener Weltteile anhaftet – Indien, Ceylon, Afrika … Und wie war es, in solcher Nähe zum Tod zu leben? Und was ist mit allem ANDEREN: dem Gefühl von Kattun am Körper, dem anderen Geschmack des Essens, der Getränke, des Pfeifentabaks? Vom Zentrum des Lebens aus, das ich imaginiere, eines Lebens, das nicht einmal ein volles Jahrhundert zurückliegt, ist das Leben, das ich heute führe, für mich unausdenkbar. Der Spiegel blickt nach beiden Seiten.

Die Assoziationskette ist der Lebensnerv und Schicksalsfaden des Denkens. Eines führt zum anderen, aus Eindrücken erwachsen Ideen und beginnen auf geheimnisvolle Weise die Schritte zu lenken. Nach meinem Erlebnis beim Anschauen von Fools of Fortune kam ich zu dem Schluß, daß ich mir einen Roman aus der Epoche suchen müsse. Um ihn mit Blick speziell auf jene »Hintergrund«-Faktoren zu lesen – und so meinen Eindruck vom Lebensgefühl im präelektronischen Zeitalter zu vertiefen. Meine Wahl fiel auf Thomas Hardys Jude the Obscure (dt. Juda der Unberühmte; auch u.d.T. Herzen im Aufruhr und Im Dunkeln).

Liest man ihn so – mit ebensoviel Aufmerksamkeit für die Lebensbedingungen wie für die Lebensgeschichten –, wird der Roman zu einem weiteren Fenster zum »Wie es war«. Von den allerersten Sätzen an webt die Vergangenheit ihren Zauber:

Der Schulmeister zog weg aus dem Dorf, und jedermann schien betrübt. Der Müller in Cresscombe lieh ihm für den Transport seiner Habe zur zwanzig Meilen entfernten Stadt, wo es hingehen sollte, das Wägelchen mit der weißen Plane und das Pferd, ein Fuhrwerk, das sich als durchaus groß genug für den beweglichen Besitz des scheidenden Lehrers erwies.

Um überhaupt den Einstieg in das Werk zu schaffen, müssen wir unsere moderne Bewußtseinslage suspendieren; wir müssen praktisch unseren Horizont neu abstecken und alle unsere Annahmen über die Verhältnisse zwischen den Dingen revidieren. Hardys zwanzig Meilen sind nicht unsere zwanzig Meilen. Der Lehrer stapelt seine Habe nicht auf der Ladefläche eines Jeep Cherokee. Sein »beweglicher Besitz« findet bequem auf einem kleinen Planwagen Platz, den er sich geliehen hat. Die Stadt, die in dem Roman Christminster heißt, liegt nur einen Fußmarsch von dem Dorf Marygreen entfernt, doch es ist eine Distanz, die etwas bedeutet. Schon bald wird der Held des Romans, Jude Fawley, auf einem Hügel beim Dorf stehen und sich anstrengen, die Kirchtürme der Stadt am Horizont auszumachen. Er träumt davon, eines Tages selbst dorthin zu übersiedeln: Für Jude bezeichnet Christminster den äußersten Rand der Welt. Nicht etwa, weil er nicht mit etwas Beherztheit den Fußmarsch zu der Stadt machen und sie sich mit eigenen Augen ansehen könnte, sondern weil er wie jedermann weiß, daß ein Ort ein in sich geschlossenes Ganzes ist. Christminster ist nicht einfach ein Punkt auf der Landkarte: Es ist ein Mikrokosmos mit eigenen Gesetzen, seinem eigenen verwirbelten Energiefeld – es ist eine »andere Welt«. Und beim Lesen von Hardys Roman beginnen wir solcher Abgrenzungen inne zu werden.

Es würde den Rahmen dieses Buches sprengen, nach Gebühr auf all die zahllosen Einzelheiten einzugehen, in denen sich Jude Fawleys Welt von der unseren unterscheidet. Mit fortschreitender Lektüre finden wir uns indessen in einen Reigen von halbvertrauten Empfindungen hineingezogen. Weil die Figuren zu Fuß gehen, gehen auch wir zu Fuß, weil sie auf der Straße oder dem Marktplatz trödeln, tun wir das gleiche. Und in unmerklichen Schritten werden wir überwältigt. Überwältigt von den Dimensionen der Welt. Ist es nach Christminster ein Ausflug, so nach London, das kaum je erwähnt wird, schon eine Reise. Und nach Amerika oder sonst einem anderen Land ist es eine halbe Weltreise. Der Erdball weitet sich aus, und gleichzeitig vertieft sich unser Eindruck von Stille. Keine konstante Geräuschkulisse, keine Umgebungsgeräusche. Wenn die Menschen einander etwas mitzuteilen haben, tun sie es von Angesicht zu Angesicht. Oder per Brief. Es gibt keine Telefone und keine Autos, mit denen die räumlichen Distanzen schnell überbrückt werden könnten. Wir hören Stimmen, und wir hören Schritte, die sich in der Ferne verlieren. Die Tage verstreichen mit für uns fast unvorstellbarer Gemächlichkeit. Ein Brief trifft ein, und das ist ein Ereignis. Das Geräusch von Papier beim Entfaltetwerden, das Geräusch des Winds im Gezweig vor dem Fenster. Und dann die Dinge in ihrer »Dinglichkeit«. Judes kleiner Schatz von Latein- und Griechischlehrbüchern, die speckigen Schwarten, für deren Anschaffung er sich krummlegte und von denen er sich bis zum letzten Tag seines Lebens niemals trennte. Seine Steinmetzwerkzeuge: sorgfältig gepflegt, über alles geschätzt. Mir fallen unversehens Verse aus Elizabeth Bishops Gedicht Crusoe in England ein. Der Schiffbrüchige ist nach langen Jahren auf der Insel in die »Heimat« zurückgekehrt:

Now I live here, another island,

that doesn’t seem like one, but who decides?

My blood was full of them; my brain

bred islands. But that archipelago

has petered out. I’m old.

I’m bored, too, drinking my real tea,

surrounded by uninteresting lumber.

The knife there on the shelf –

it reeked of meaning, like a crucifix.

It lived. How many years did I

beg it, implore it, not to break?

I knew each nick and scratch by heart,

the bluish blade, the broken tip,

the lines of wood-grain on the handle …

Now it won’t look at me at all.

The living soul has dribbled away.

My eyes rest on it and pass on.

(Hier lebe ich jetzt, wieder eine Insel, / ohne daß sie wirkt wie eine, aber wer will das entscheiden? / In meinem Blut wimmelte es von ihnen; mein Gehirn / gebar Inseln. Aber jener Archipel / hat sich verloren. Ich bin alt. / Und mir ist langweilig, wie ich da meinen richtigen Tee trinke,/umstellt von ödem Plunder. / Das Messer da auf dem Bord – / es war sinnträchtig wie ein Kruzifix. / Es lebte. Wie viele Jahre lang/beschwor ich es, flehte ich es an, nicht zu zerbrechen. / Ich kannte alle Scharten und Kratzer auswendig, / die bläuliche Klinge, die abgebrochene Spitze, / die Maserung des Hefts … / Jetzt sieht es mich gar nicht mehr an. / Die lebendige Seele ist ausgeronnen. / Mein Blick ruht auf ihm und gleitet weiter.)

Das ist es, oder nicht? Die einstmals vorhandene, inzwischen verdunstete Sinndichte. Unser Weg in die glorreiche Jetztzeit hatte seinen Preis: Je komplexer und raffinierter unsere Systeme der Kommunikation in der horizontalen Ebene, desto größer das Opfer an Tiefgang. Man lese Jude the Obscure, und man wird, so meine ich, staunen über den stofflichen Detailreichtum von Hardys Welt. Man wird das Gewicht der Dinge, ihre Körperlichkeit spüren. Man wird auch den Stillstand, die schier unerträgliche Langeweile der beschränkten Verhältnisse spüren.

Vorzüge und Nachteile – wie könnte es anders sein? Ich spreche wie sehnsüchtig von jenen Zeiten, aber würde ich im Ernst die schnelle und leichte Verfügbarkeit von Gebrauchsgütern, Dienstleistungen und Informationen und was mein derzeitiges Leben sonst an Komfort bietet, für die Rauheit und Eigenart eines Lebens im Damals eintauschen? Ich bezweifle es. Aber freilich genieße ich das Privileg der vaticinatio ex eventu. Ich bin in der Position des Erwachsenen, der gefragt wird, ob er ein für allemal in seine Kindheit zurückkehren würde. Die Antwort lautet ja und nein.

Und wozu dieser umschweifige Exkurs? Beklage ich bloß den Verlust einer vergangenen Welt, deren Restitution ich gar nicht aushalten würde? Nein. Was mir vorschwebte – dunkel, wie einem so etwas beim Schreiben vorzuschweben pflegt –, war eine Abschweifung, die wegführen sollte von dem Schreckgespenst meines Seminars über die amerikanische Erzählung, bis zu dem Punkt, wo die Erinnerung des Lesers daran fast verblaßt sein und ich dann das Bild jener Studenten von neuem vor die Vorstellung rufen würde. Um noch einmal zu versuchen, meine Ahnung zu gewichten, daß ihrem Unbehagen angesichts Henry James’ Brooksmith eine weitreichende Bedeutung zukommt: daß es nicht einfach nur ein weiterer Beleg dafür ist, wie irritierend James’ Grundannahmen über die Zivilisation für den Geist jugendlicher Leser sein können, sondern daß dieses Unbehagen einen zentralen Punkt der gegenwärtigen Verfassung unserer Kultur und ihrer Zukunftsaussichten beleuchtet.

Man würde es sich fraglos zu einfach machen, wollte man das Versagen der Studenten vor James und darüber hinaus vor anspruchsvoller Literatur überhaupt irgendeinem einzelnen Faktor zur Last legen – dem Fernsehen, den Videospielen, unzulänglichen höheren Schulen oder was auch immer. Das hieße verkennen, daß die Problemlage ein Globalphänomen ist, das in Systemveränderungen gründet und die Kultur auf allen Ebenen berührt. Die Situation sperrt sich somit zwar gegen flinke Analysen, hat aber gleichwohl für uns alle die schwerwiegendsten Konsequenzen und muß auf irgendeine Weise angegangen werden. Wir stehen an einer historischen Wegscheide. Ein Informationsverarbeitungsmodus weicht einem anderen. Mit jedem von beiden verbunden ist ein umfangreiches System spezifischer Fertigkeiten und stillschweigender Annahmen und Voraussetzungen in bezug auf die Welt.

Wir können die Sache in das Schema der Gewinn- und Verlustrechnung fassen. Als Gewinne, die die elektronische Postmoderne dem einzelnen bringt, ließen sich unter anderem nennen: 1) zunehmendes Gewahrwerden des »Gesamtbilds«, eine Globalsicht, die mit dem Anerkennen der außerordentlichen Komplexität bestehender Wechselbeziehungen einhergeht; 2) erweiterte Leistungsfähigkeit des Nervensystems, die Fähigkeit, ein breites Spektrum von Reizen simultan zu verarbeiten; 3) relativistisches Auffassen von Situationen, das alte Vorurteile abtragen hilft und oft in Gestalt von Toleranz zum Ausdruck kommt; und 4) nüchterne, unvorbelastete Offenheit, die Bereitschaft, sich auf neue Situationen einzulassen und neue Konstellationen zu erproben.

In der Verlustspalte stehen dem gegenüber: 1) Fragmentierung des Zeitgefühls und Verlust der sogenannten Erfahrung der Dauer, jenes Tiefenphänomens, das für uns mit der Träumerei verbunden ist; 2) Verkürzung der Aufmerksamkeitsspanne und generell zuwenig Geduld für lange dauernde Untersuchungen; 3) Zerstörung des Glaubens an Institutionen und explikative Erzählformen, die früher den subjektiven Erfahrungen Form und Gestalt gaben; 4) Loslösung von der Vergangenheit, vom lebendigen Bewußtsein der Geschichte als eines kumulativen oder organischen Prozesses; 5) Entfremdung vom eigenen geographischen Ort und von der Gemeinschaft; und 6) das Schwinden jedweder befeuernden Vision von der persönlichen oder kollektiven Zukunft.

Das sind zugegebenermaßen großzügige Verallgemeinerungen. Aber sie halten fest, was die große Mehrzahl meiner Studenten über sich selbst und ihre Erfahrungen erzählte. Außer über ihre Reaktionen auf literarische Texte sprachen wir nämlich auch ausgiebig über ihre Lebensweise. Sie interessierten sich ebensosehr wie ich für die Frage, wie ihr Weltverständnis in ihrer Art zu lesen zum Tragen kam. Mich überraschte, wie kritisch sie sich selbst betrachteten.

Doch das sind alles abstrakte Überlegungen, während der innere Druck, der mich zwingt, dieses Buch zu schreiben, großenteils von meinen konkreten Alltagserfahrungen und Besorgnissen herrührt. Ich befürchte nicht nur, daß die Welt für mich zunehmend fremdartig und unwirtlich werden wird, sondern auch, daß ich nach und nach in einen meiner Natur völlig konträren Lebensstil gedrängt werde, daß ich gezwungen sein werde, mich einem Tempo und einem Niveau technischer Komplexität anzupassen, die mir nicht gemäß sind, und daß ich gehalten sein werde, meinen Verkehr mit anderen in bestimmten vorgeschriebenen Formen abzuwickeln. Eine Zeitlang habe ich versucht, ohne einen Anrufbeantworter auszukommen, und währenddessen sorgte meine Umwelt dafür, daß ich mich wie ein Paria fühlte. Ich tippe diesen Text auf einer IBM Selectric und fühle mich dabei wie ein Steinzeitmensch: Von Lektoren und Redakteuren bekomme ich zu hören, daß ich mit meiner maschinenstürmerischen Verschrobenheit mir und ihnen unnötig das Leben schwermache und den ganzen Betrieb aufhalte.

Das sind banale Beispiele, aber sie sagen etwas aus. Auf der einen oder anderen Ebene arrangieren wir uns; wir zucken die Achseln und beugen uns dem Fortschritt. Es ist jedoch nicht daran zu rütteln, daß wir uns mit jeder Kapitulation tiefer in das Netz hineinziehen und von ihm umgarnen lassen. Gewiß, keine der Veränderungen macht für sich genommen groß was aus – aber die fortschreitende Verstrickung tut es. Je weiter wir uns einlassen, desto mehr von unserer persönlichen Initiative und Entscheidungsfreiheit geben wir preis, desto mehr integrieren wir uns als Funktionselemente in einen Spezies-Organismus. Mit jedem Ja zur Welt der Chips schrumpft die Sphäre der autonomen Individualität.

Mir als Schriftsteller ist dabei naturgemäß nicht wohl. Diese weitreichenden Veränderungen verheißen dem Schriftstellerhandwerk nichts Gutes, zumindest nicht in der Sparte, in der ich ihm obliege. Bekanntlich nimmt die Leserschaft seriöser Literatur immer mehr ab. In den Verlagshäusern schwindet zusehends die Bereitschaft, Bücher zu publizieren, von denen absehbar ist, daß ihr Absatz etliche Tausend Exemplare nicht übersteigen wird. Allein, nur sehr wenige Werke von einigem künstlerischen Rang erreichen höhere Verkaufszahlen. Und diese wenigen Tausend Leser – zu einem sehr großen Teil sind sie in den mittleren Jahren oder noch älter. Für die jüngeren Generationen war die Begegnung mit dem Lesen nicht gewohnheitsbildend.