die heimliche furcht vor der fremde - Brigitte Tobler - E-Book

die heimliche furcht vor der fremde E-Book

Brigitte Tobler

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Beschreibung

Viele Themen, Orte und Szenarien tauchen in diesen berückenden Prosatexten von Bri­gitte Tobler auf. Diese Miniaturen fangen die großen Gesellschaftsthemen im Kleinen auf, machen sie sichtbar. Beispielsweise die Einsamkeit der Menschen, die zunimmt, uns alle bedroht. Brigitte Tobler hat geradezu poetische literarische Protokolle über das Altwerden, das Zunehmen der Vergesslichkeit, das Zerrinnen der Zeit (als Wohltat empfunden) verfasst (»wenn schweigen in sprache fliesst und in ein lauschendes ohr«). Tagebuchschreiben oder malen erscheinen als Tätigkeiten, die einzig noch ein (altes) Leben zusammenhalten. Eine Buchstabenheimat …

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es ist morgen. der wind reisst an den läden. polternd gegen die hauswand. der regen läuft mit leisem schritt über die dächer. rinnt ihm in die gedanken. er liegt auf dem bett. die zeiten verschieben sich stetig. nach innen. sein körper ist seine uhr. seine zeit liegt nicht mehr hinter ihm. sie liegt neben ihm. in seiner deckelmütze, die er sich übers gesicht zieht.

er hört den wind rütteln. an den läden. in den ästen.

schlürfende autoräder. hinter den gardinen die dunklen wolken. davor die elektrische kerze. auf seinem schreibtisch. damit nichts geschieht. auch wenn er einschläft kann nichts geschehen. sie flackert regelmässig. gleichmässig. das flackern ist programmiert.

der pc wirft ein gesicht in sein gesicht. eine schwarze fläche. manchmal sitzt er davor. betrachtet den betrachter. der wunsch, sich mit der welt zu treffen, ist in ihm erloschen. wie die fläche des bildschirms. es bewegt sich nichts dahinter. gleichmässige leere. seine augen treffen seine augen. sein mund seinen mund. der beinahe kahle kopf seinen kahlen kopf. das auge ohne leben glänzt mehr. eine glaskugel, die ihm das fehlende ersetzt. ein skiunfall.

in den erinnerungen klaffen löcher. die kinderzeit am bahnhof. der vater stationsvorstand. schwestern. brüder. in der weite seines lebens verloren gegangen.

wenn er vergisst, ob es abend oder morgen ist, fällt der abendrhythmus des fernsehens ins bewusstsein. nachrichten. hören. sehen. die welt. in seinem zimmer. die welt. die er bereiste. entdeckte. aufgedeckte zeit. gefüllte zeit. die schule. die hieroglyphen der stenografie. seine tagebücher sind voll davon. seine zeit ist in den tagebüchern. erschrecken ihn zuweilen. seine zeichnungen. der genaue strich. die farben, die ihm den tag erhellten.

jetzt ist die zeit neben ihm. er kann sie berühren. mit den buchstaben zudecken. das kleine büchlein mit den schwarzen buchstaben. darin seine zeit. die dusche am morgen. die berührung des wasserstrahls. eine zärtliche geste. gesprächsfetzen beim morgenessen. einertisch. auf wunsch. ehepaare reden umeinander. um sich herum. ins leere ohne seinen kopf.

die spatzen auf dem dach. vogelgespräche. erhörte.

das licht liegt auf seinem zeichenstift. wirft konturen in die zeit. morgenzeit. und lange nachmittage. über den spaziergängen hängt die sehnsucht des lebens. ganz verborgen.

im kleinen raucherzimmer die persönliche galerie. jedes bild ein lebenswerk. die farben im schlierigen rauch. der duft von kräutern, die keine gesprächspartner sind. der wortlose ort. das vermischte schweigen der bewohner. und die zeit neben ihm. der freund.

in den strassen ist ein lautes wünschen. bis er wieder fremd sein zimmer sucht. es ist abend. und kein wort gesprochen. das gelernte wollen wird immer leiser. nur lauter das leben der anderen. diese mäandernde trauer sinkt in die gegenstände. im zimmer die bilder. die tagebücher mit ihrer zeit. die geige. die flöten. mit den tönen der zeit. die einsamkeit der hände. brechen leise zusammen. oder summen die zeit. legen sie ihm in die arme. auf den bauch. keine erschütterung. schweigen nur. schweigen im wind. der an den läden reisst. gegen die hauswand poltert.

die flocken der freude klopfen den takt. öffnen lautlos eine tür. schliessen die gedanken auf wie ein wieder gefundenes portefeuille. wenn schweigen in sprache fliesst und in ein lauschendes ohr.

5.1.12

ich betrachte mich im spiegel. hinter mir die badetücher. an der warmen heizröhre. ich werde mich in ihre wärme hineinschmiegen. nach der dusche. vor dem zubettgehen. schuberts unvollendete wirft die töne an die badezimmerwände. unvollendet. denke ich. 1 mal ist sie vollendet. wenn sie gespielt wird. ist sie vollendet.

das thema erinnert mich an einen text. die eigenen texte rücken manchmal in weite ferne. sind wie vergessen. jetzt kommt einer nah heran. wie ein tier, das liebkost werden möchte. ich denke erstaunt. diesen text. einen eigenen. fremden. oft. das bild des alten mannes. der die zeit neben sich hat. sie mit sich herumträgt. unter der mütze versteckt. sie in die hand nimmt. über dem körper abstreift. der alt ist. welk.

ich betrachte meinen körper. die kleinen brüste. über den hüften ansätze zu rundungen. die arme kräftig. die beine. vereinzelt weisse haarsträhnen. erinnerung. beinahe verblasst. ein schwarzweissfoto. aus den fünfziger jahren. angegilbt. gezackter rand. ein kind, das in die kamera lacht. die mütze um den hals gebunden. dicker mantel. fausthandschuhe. stiefel. das kind lacht. es lacht laut. ich kann es hören. es schallt in schuberts unvollendete. hallt in die heizungsröhren & gurgelt.

ich bin das kind. mager & fröhlich. & still. nach dem lachen. hochgezogene schultern. atemnot nach dem lachen. unvollendet. das leben unvollendet. die zeit neben sich. hinter sich. eine ins tragische kippende musik. das gekippte leben. das verstummte. stille. die vergessenen wünsche. die vergessenen freuden. menschen. verloren.

das texttier schmiegt sich an meine wangen. um die ohren. klettert in die augen. mit den augen in den spiegel. salü. der teufel sitzt im spiegel. 1 ich schaue. das gesicht lacht. lächelt eher. ein bisschen selbstverliebt. hallo.

horch. sagt das texttier. ich horche. stille. horch. sagt es. stille. horch. stille. die zeit. sagt das tier. hörst du die zeit. ich höre schubert. horch. sagt das texttier. ein kind schreit irgendwo. die zeitung von b. raschelt. der hahn tropft. plopp. die musik wird leise. horch sagt das tier.

der alte mann im altersheim. fernseherton. volksverblödungsanstalt. denke ich. der große schreibtisch voller kleiner zettel. gedächtnis auf zetteln. herausgeschrieben in die zeit. die mutter mit der katze. sie darf nicht mehr ins freie. weil es dunkel ist. die mutter sich fürchtet. das pouletbrüstli als trost für die katze. die katze als trost für die mutter. für den verlorenen vater. die verlorene zeit. oder eine fischmahlzeit als köder. damit die katze ins bett kommt. damit die leere stelle gefüllt bleibt. vollendet.

wie sich alles ändert. mit der zeit. horch. in der zeit. unvollendetes glück. siehst du. er geht am stock. unsicher. hat die ohren voller hörgeräte. horch. wenn er malt, ist er jung. wenn er denkt, ist er nah. wenn er klagt, wächst mein haar um einige millimeter. weiss. ungewusst weiss.

das kind lacht mit hochrotem gesicht. schwarzweiss auf dem foto. aber hochrot. ich sehe das texttier. salü. langsam wird mir kalt. ich wickle mich in die warmen tücher. die musik. das tier in den lampen. in den fenstern. die mutter allein. mit der katze, die mault. e. sitzt im rollstuhl am tisch jetzt. allein. hat alle worte vergessen. die zeit vergessen. es ist immer ein tag ohne morgen.

r. schläft. durch alle zeiten. es gibt nur noch keine zeit. unvollendet. die ins tragische kippende musik. er zieht sich die mütze ins gesicht. legt ein buch ums andere in den bücherwagen zurück. rührt keines mehr an. die geschichten interessieren ihn nicht mehr. berühren ihn nicht mehr. sie sind unvollendet. unvollendet seine eigenen text- & zeichenbücher. angefangen. wiederholungen. aus allen welt gegenden. verstaubt. allein in schubladen. zu grosse erinnerungen. verdrängen die zeit. die mutter holt die scheiter. feuert. für den herd. für die suppe. am mittag. der einsame tisch mit der katze. die herzkranke katze. jeden tag bekommt sie tropfen. ein pouletbrüstli. das sie nicht frisst. lieber den fisch hat. teilweise. die mutter bürstet ihr das fell. am abend. stellt den volksverdummungsapparat laut. hört nicht zu.

ich schaue noch einmal in den spiegel. horch. sagt das texttier. mein gesicht hat tiefe falten. die brüste verblüht. der körper welk. das gesicht einer meerkatze. ich lache. laut. ohne den geringsten anlass. b. schlüpft zu mir ins bett. warm wie ein nest voller mäuse.

19.1.12

ich kam erst auf die welt, als er schon alt war.

wir kennen uns sehr gut. er erzählt mir viel aus seinem leben. jeden morgen setze ich mich zu ihm ins zimmer. er erzählt, wie er mäuschen im brunnen badete. die rosse schnaubten, wenn sie ihre hufe herzeigen mussten. der vater war der dorfschmied. nicht der vater. die esse singt. sagt er. er schlief auf einem strohsack. manchmal erwachte er, weil sein gesicht brannte. heiss und rot war die haut. er weinte im schlaf. die mutter wollte ihn nicht zu sich nehmen. so blieb er in der dorfschmiede.

die kinder waren scheu. die italiener einsam. sie standen immer in gruppen zusammen. oder sassen am bahnhof. zählten die heimwehzüge. bis der schlaf ins gesicht einzog. oder die resignation. die bauern gaben ihnen kein brot. sie mussten es kaufen. beim bäcker mit den mehlhänden. der metzger hatte keine salami. bratwürste oder cervelats. das gibt es bei uns. er sagte es mürrisch. das dorf wuchs mit den häusern. kleine weisse häuser neben den grossen bauernhäusern. die bauern waren nicht grösser als die anderen. aber sie hatten tiere und grüne äcker.

nur der vater hatte keine äcker. er hatte keinen vater. keine mutter. seine kinder freuten ihn nicht. vielleicht muss man sterben, um sich besser zu kennen.

jeden morgen steht ein kalender im korridor. eine zeichnung und das genaue datum. samstag 18. februar 2012. alle wissen, dass es samstag der 18. februar ist. er aber weiss es nicht. hat es einmal gewusst. jetzt weiss er es nicht. er kennt alle züge, die vor dem haus vorbeifahren. er kennt sogar leute, die jeden tag mit dem zug an seinem haus vorbeifahren. der lehrer hat ihn so geschult, dass er lehrer geworden ist. alle schüler waren gerne in seinem zimmer. er sprach viel. er lachte viel. die pfeife lag immer in griffnähe. er geht immer mit dem stumpen ins raucherzimmer. seine bilder hängen tief. er malt sein leben. er zeichnet am esstisch. die zeit wird ihm langsam zuviel. so schwer sind die hände geworden. die füsse einsam. er hat niemanden, mit dem er gehen kann. ich gehe mit ihm zu den spatzen. er hat hartes brot in der manteltasche. lautes zirpen. flattern. er lacht wie der nikolaus und redet wie ein pfarrer. manchmal gehen wir ins restaurant. er bezahlt den espresso. der kellner redet laut und unhöflich.

immer wenn es morgen wird, wechselt das blatt am kalender im korridor. aber er weiss es nicht. manchmal schreibt er etwas in sein notizheft. das sind lange geschichten vom tag. das sind seine kinder. diese sätze halten ihn zusammen. die wörter sind wie seine zeichnungen. häuser für sein herz. und seine grossen hände. den kopf lässt er über der tür hängen und ist sich fremd. wenn er singt, wackeln alle zähne. ohne dass ihm schwindlig wird. so könnte ich niemals singen. so still und leise. wenn über den feldern die sonne untergeht, stehen die kleinen zähnchen am rand. sie wackeln im wind, der die vögel zu ihren nestern bringt. so unbeflügelt schläft er ein. das dorf riecht danach.