Die Heimsucher - Véronique Bizot - E-Book

Die Heimsucher E-Book

Véronique Bizot

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Beschreibung

Einwandfrei ungeordnete, irrsinnig logische Erzählungen, verfasst von einer Schriftstellerin, deren Einsamkeitsforschung tröstliches Lachen hervorruft. In diesen merkwürdigen Geschichten von Véronique Bizot liegt einerseits etwas beruhigend Vertrautes und andererseits eine Qualität des Entrückten, die im hexenhaften Sinne des Wortes bezaubert. Auf ruhige und unverdächtige Weise täuschen sie Normalität vor, nur um die Oberfläche zu durchstoßen und sich in einem Frontalangriff den dunkelsten Schrecken, den schlimmsten Herausforderungen zu widersetzen. Sie verwandelt eine Romanfigur in eine neue Liebe, einen Gewaltverbrecher in einen Clown und Engel in Spießer. Dabei kultiviert diese scheinbar schlichte Prosa den Widersinn: Je schwärzer sie ist, desto mehr lacht der Leser, je merkwürdiger es wird, desto eher erkennt er sich wieder.

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Véronique Bizot

Die Heimsucher

Inhaltsverzeichnis
Die Heimsucher
DIE GÄRTNER
DAS HOCHHAUS
DAS HOTEL
AUF DEM LAND
DIE FRAU VON GEORGES
LAMIRAULT
SOPHOKLES
DAS BLINKLICHT
WALSER
DIE ELSÄSSERIN
PAULINE AM TELEFON
DANTON
DIE FISCHE
DER KONTRABASS

DIE GÄRTNER

Wenn die Gärtner dann weg sind, werde ich allein im Haus bleiben. Oder ich setze mich ganz hinten in den Park, ans Bassin, stumm wie die Karpfen. Karpfen wie Gärtner sind nicht aus eigenem Antrieb gekommen, sie wurden bestellt, alles hier ist bestellt, wie auch dieses Beet, hinter dem ich die gebeugten Gärtner sehe. Diese Gärtner stören mich. Ich rechne damit, dass sie Blumen pflanzen, die ich verabscheue, dieser Garten war perfekt, wie er immer gewesen ist, früher. Ich hasse dieses Wühlen in der Erde, wie der Garten in Unruhe gerät, diese ganze Unruhe. Die Gärtner tun erbarmungslos ihre Arbeit, sie ließen sich nicht wegschicken, sie würden gewalttätig, wir wissen, was wir zu tun haben, würden sie mir sagen und ihre Spaten, ihre Forken und ihr ganzes Mordwerkzeug schwenken. Ein paar Hiebe mit den Hacken in den Nacken, und sie müssten mich nur noch vergraben, an Stellen fehlte es ihnen nicht, auch nicht an Gartenerde, danach würden sie säen, ein paar Quadratmeter ganz dicht mit ihren Blumen, wer würde vermuten, das ich darunter liege, verscharrt unter dieser wunderbaren Rabatte? Die meisten Gärten sind voll mit Leichen, keine Frage.

Es gab eine Zeit, da schritt ich über Beton, da hatten meine Hände nur mit Metall Kontakt, da stammte alles, was mit meinem Körper in Berührung kam, aus Fabriken, gab es immer einen Knopf zu drücken, eine Richtung einzuschlagen, mir scheint, man wusste immer wohin gehen, was mit sich anfangen. Solche Orte existieren immer noch, sie vermehren sich sogar, das weiß ich wohl, besonders in Südamerika, da kennen sie nichts, die Südamerikaner. Aber hier will man Gärten. Mehr als alles andere will man Gärten, Ziergärten nennt man sie, wo Gärten doch nichts anderes sind als Fallen. Wir stürzen uns auf Gärten wie in die Höhle des Löwen, und wenn wir unseren Irrtum bemerken, sind wir den Gärtnern schon ausgeliefert.

Früher sah ich riesige Schiffe in Häfen einfahren, Frachter sich langsam ihren Weg durch den Beton der Reede bahnen. Dort sorgte sich auch niemand um einen Garten. Blumen wuchsen unkontrolliert, nach Belieben, niemand kümmerte sich um sie. Es gab Kisten zu entladen, Winden zu bedienen, niemand war glücklich oder unglücklich.

Wenn die Gärtner dann ihr Massaker beendet haben, werde ich die Betonierer kommen lassen, mit Betonierern kann man sich verständigen, gießen Sie mir das alles in Beton, werde ich ihnen sagen, ich will Beton bis zum Waldrand, eine ordentlich dicke Platte, nicht die kleinste Blume, keinen Grashalm mehr sehen.

Morgens ist das Haus angenehm kühl, das muss man ihm lassen, ich fühle die Kühle oben auf der Treppe, die Gärtner, in ihren Lieferwagen gezwängt, sind noch nicht eingetroffen, zu wievielt passen sie da rein? Wenn ich die Treppe – eine breite Treppe mit Bronzehandlauf – hinuntergehe, ist alles noch intakt und schwebend, auf dem Treppenabsatz halte ich inne, meine Hand streift den Handlauf, ich fasse etwas ins Auge, nichts Genaues, dann legt sich alles, erstarrt alles, und es bleibt nichts anderes übrig als hinunterzugehen, die Fensterläden zu öffnen und das Unheil zu betrachten.

Jahrelang weit weg von hier und eines Tages eine Art Ruhe, ganz plötzlich, eine Gleichgültigkeit, und nichts kam, die Leere zu füllen. Also bin ich zurückgekommen, und Alice war da, etwas kräftiger, die mich nicht mehr erwartete. Sie erwartete Landschaftsarchitekten, dieser Garten verkommt immer mehr zum Urwald, hat sie verkündet, man sieht überhaupt nicht mehr durch, höchste Zeit, sich darum zu kümmern, alles ist vorgesehen, die Landschaftsarchitekten werden jeden Tag eintreffen. Soweit ich gesehen habe, erscheinen die Landschaftsarchitekten eines schönen Morgens in einem Coupé Cabrio, mit angewiderten Mienen und Zahnpasta in den Mundwinkeln, durchmessen das Gelände im Laufschritt, fuchteln mit den Armen, während ihnen lateinische Wörter aus den Mündern quellen und alle möglichen kleinen spitzen Etiketten aus den Taschen, die sie hier und da wie zufällig einpflanzen, wonach sie sich wieder in ihr Cabrio setzen, mit dröhnendem Motor verschwinden, und man nur noch auf den Lieferwagen der Gärtner zu warten braucht.

Die Gärtner sind inzwischen da, und Alice ist weg. Jetzt bin ich dran mit reisen, hat sie gesagt, erwarte mich nicht so bald, nicht vor Monaten oder Jahren, es kann sogar sein, dass ich gar nicht wiederkomme, vergiss nicht, beim neuen Friedhof vorbeizugehen, und vor allem kümmere dich gut um die Gärtner, achte darauf, dass es ihnen an nichts fehlt, biete ihnen zu trinken an, kümmere dich nur darum, ihnen zu trinken anzubieten, ansonsten wissen sie, was sie zu tun haben, misch dich da nicht ein, bring sie nicht mit deinen Geschichten durcheinander.

Ich spreche die Gärtner nicht an. Wenn sie durstig sind, haben sie Pech, ich werde doch wohl nicht mit einem Tablett voll Erfrischungen zu ihnen gehen, während sie mit ihren Hacken alles zerstören, sollen sie doch am Wasserhahn trinken. Ich mag das Geräusch des Wassers und die Bewegung der Rasensprenger ganz gern; vor dem Nachhausegehen drehen die Gärtner die Sprenger natürlich ab, ich warte, bis ihr Lieferwagen durchs Tor gefahren ist, gehe raus, um die Hähne wieder aufzudrehen, und bleibe einen Gutteil der Nacht dort auf dem warmen Stein der Vortreppe sitzen, die Sprenger zirpen wie Grillen, ich setze den Garten unter Wasser. Am nächsten Morgen sehe ich die Gärtner, die herumwaten und sich am Kopf kratzen, sich gegenseitig beschuldigen, die Sprenger angelassen zu haben. Es gibt keinerlei Harmonie zwischen ihnen, das sind Rohlinge, bewaffnete Rohlinge, Forken, Spaten und Hacken wie im Mittelalter. Als ich Jacques anrufe, erfahre ich, dass er Witwer ist, zurückgezogen auf dem Lande, endgültig Gefangener des Gartens, den seine Frau Nicole auch wollte, zum Schluss. Dabei erinnere ich mich, dass sie in einem Hochhaus wohnte, ihre Tage in Cafés, Metros, Aufzügen verbrachte und auf die Stadt schwor. Aber dann wurde sie älter, ihre Lider begannen zu flattern, und sie wollte einen Garten. Jacques erzähle ich vom Garten, von Alice, von den Gärtnern. Alter Freund, sagt er. Und wir legen auf.

Etwas nimmt Gestalt an, dort, zur Linken. Eine Art Hügel in der Mitte des Wegs, um den sich die Gärtner zu schaffen machen, alle auf Knien in der Erde. In kaum einer Stunde sehe ich, wie sich dort etwas erhebt, was aussieht wie ein Kreisverkehr, einer dieser Kreisel, die neuerdings am Rand jeder Gemeinde aufblühen, wie ich bei meiner Rückkehr feststellen konnte. Die Gärtner treten mit zufriedenen Mienen zurück. Ich höre sie lachen. In der Nacht ruft Alice an, von einem Bahnhof oder Flughafen aus, das Leben, schreit sie, das Leben, dann werden wir unterbrochen. Am nächsten Morgen nehme ich meinen Stock und gehe bis zum neuen Friedhof und von dort zum Rathaus, wo ich für insgesamt sechzig Euro vier Grabstellen erwerbe. Der Preis einer Grabstelle ist auf fünfundzwanzig Euro festgesetzt, aber sobald Sie vier nehmen, fällt er auf fünfzehn Euro, das sind die Bedingungen, die der neue Friedhof Ihnen einräumt, ein Grab für fünfzehn Euro. Ich will keine Nachbarn, schreibe ich auf das Dokument, das mir ausgehändigt wurde, keinerlei direkte Nachbarn oder Bepflanzungen jedweder Art, ich datiere und unterzeichne. Als ich zurückkomme, sind die Gärtner nicht mehr da, aber ich treffe auf einen Mann an der Vortreppe, mit einem kleinen Koffer zu seinen Füßen. Ein junger Kerl in Hemd und Krawatte, mit übertrieben blankgeputzten Schuhen, ein auffälliges Modell mit goldenen Schnallen auf senfgelbem Leder. Zweifellos einer dieser Vertreter, wie sie regelmäßig vorbeikommen. Was erhoffen Sie sich eigentlich, sage ich zu ihm, von solchen Schuhen, und ich richte meinen Stock auf seinen Oberkörper, zwinge ihn zurückzuweichen. Warten Sie nur, bis die Gärtner von ihrer Mittagspause zurückkommen und diese Schuhe sehen, sage ich zu ihm, dann sind Sie fällig. Diese Leute sind gefährlich, unkontrollierbar, in dem Moment, wo sie Ihre Schuhe sehen, machen sie Kleinholz aus Ihnen. Der junge Mann lächelt tapfer oder dümmlich, und ich stelle meinen Stock wieder auf den Boden. So viel Geld in solche Schuhe zu stecken, sage ich zu ihm, denn ohne jeden Zweifel haben Sie alles in dieses Paar Schuhe gesteckt, oder täusche ich mich? Nein, sage ich zu ihm, ich täusche mich nicht, dieses Paar Schuhe hat Sie ruiniert, und jetzt kommen Sie zu mir, um Geld von mir zu verlangen, denn Sie haben keinen Sou mehr, dieses Leder, diese Schnallen, die Politur und die Verarbeitung, nicht wahr, Ihre ganzen Ersparnisse sind dafür draufgegangen. Wozu brauchen Sie solche Schuhe, sage ich zu ihm, wo Sie doch wie ich dicke und breite Füße und höchstwahrscheinlich unglaublich große Zehen haben? Das Modell, das Sie tragen, ist überhaupt nicht geeignet für dicke Füße wie unsere, es verbietet sich geradezu. Wenn man, wie Sie und ich, dicke und breite Füße hat, begnügt man sich mit Tretern, einem Paar ordentlicher Treter, die nicht drücken und keinen Sou kosten. So, wie Sie meine Treter hier sehen, haben sie mich nur eine Handvoll Euro gekostet, ein unverwüstliches Modell, ich werde noch jahrelang mit diesen Tretern herumlaufen, und so bequem, das man nicht einmal das Gefühl hat, Schuhe zu tragen, man denkt abends kaum daran, sie zur Nacht auszuziehen. Während Ihre Füße zweifellos von Blasen übersät sind und Sie den ganzen Tag Höllenqualen leiden, nur auf den Moment warten, die Schuhe endlich ausziehen zu können, versuchen Sie nicht, das Gegenteil zu behaupten. Ich kannte mal einen Mann, der trug Schuhe, die haargenau wie Ihre aussahen, und stellen Sie sich vor, der Mann, von dem ich Ihnen erzähle, endete in einem See, der Unglückliche. Dahin führen solche Schuhe, in den See.

Abwechselnd überwacht der junge Mann, an die Hausfassade gepresst, die Bewegungen meines Stocks und starrt mich an, mit diesem schwachen, zögernden Lächeln. Ich bin im Begriff, ihn zu verabschieden, als er ein Tuch aus der Tasche zieht und sich die Stirn abtupft. Die Sonne brennt heute, sage ich zu ihm, bleiben wir nicht hier stehen, gehen wir ins Haus, bevor die Gärtner zurückkommen, ich nehme an, Sie haben nichts gegen ein Gläschen irgendwas, gehen wir rein eine Orangeade trinken oder was Sie wollen, an Getränken fehlt es nicht, Dutzende Flaschen, von meiner Schwester Alice hier gelagert, alle, können Sie sich das vorstellen, für die Gärtner bestimmt. Aber, auch wenn ich mehr oder weniger versprochen habe, sie nicht verdursten zu lassen, die Gärtner bekommen keinen Tropfen, nichts. Ich komme hierher zurück, nach Hause, nach einer halben Ewigkeit, und was finde ich vor? Unerbittliche Wesen, die von früh bis spät kommen und gehen, mit ihren Schaufeln und ihren Rechen, mit ihren stinkenden Düngern, Jauchen, Pottasche, Melasse, was weiß ich nicht alles. Einsamkeit und durstige Gärtner, das habe ich bei meiner Rückkehr vorgefunden. Nichts ist wiederzuerkennen. Bisher keine Blume, nichts als Gräben, aber warten Sie nur auf die Blumen, kistenweise Blumen werden sie bald aus ihrem Lieferwagen laden. Kein Garten ohne Blumen, leider. So wenig Natur wie möglich und so viele Gärten wie möglich, genau das verlangen die Leute hier. Man muss, um endlich nicht mehr auf Gärten zu stoßen, so weit gehen wie ich, aber das riskiert niemand, wir sind sehr wenige, die sich so weit hinaus wagen. Dort triumphiert die Natur. Nicht, dass ich die Natur nicht fürchtete, sage ich zu ihm, die Natur, wie ich sie erlebt habe, ist furchterregend, sie umklammert einen und verschlingt einen, man richtet nichts aus gegen sie, aber trotzdem weniger furchterregend als diese Gärten, die einen auf Dauer nur stumpfsinnig machen. Ich glaube nicht, dass ein Garten irgendwie tröstlich wäre, sage ich, während ich ins Haus trete, es ist ein großer Fehler, das anzunehmen, allerdings merkt das niemand rechtzeitig, jeder versteift sich darauf, ein Garten sei das Heilmittel aller Übel, beim Graben, Harken und Pflanzen werde man inneren Frieden finden, dabei findet man beim Graben, Harken und Pflanzen nur Würmer und Maden.

Ich drehe mich um und stelle fest, dass mir der junge Mann nicht nach drinnen gefolgt ist, er ist auf der Schwelle stehengeblieben, also winke ich ihn heran, und wir betreten das Wohnzimmer. Ein kurzer Rundblick, dann kehren seine Augen zu mir zurück. Ich empfange niemanden, müssen Sie wissen, sage ich zu ihm, es ist absolut außergewöhnlich, dass ich jemanden hereinlasse. Im Übrigen kommt niemand mehr, abgesehen von den Gärtnern ist es wie ausgestorben. Es sind Leute gekommen, die ob der Art meines Empfangs sogleich die Beine in die Hand genommen haben, nichts langweilt mich mehr als Besuch. In den unzähligen Städten, in denen ich gewesen bin, wo ein unbeschreibliches Gedränge herrscht, ist es sehr einfach, Besuch zu vermeiden, man könnte geradezu meinen, alles sei dafür geschaffen. Aber hier, auf dem Land, tauchen alle Nase lang Leute auf, einfach so und ohne Entschuldigung, sagen: Wir kommen nur kurz vorbei, sitzen drei Stunden später immer noch da und schlürfen ihre Orangeade. Gleichwohl, sage ich zu dem jungen Mann, bin ich aus mir unerfindlichem Grund alles in allem nicht unzufrieden mit Ihrem Auftauchen, was auch immer der Betrag sein mag, den Sie verlangen werden, um Sie vor dem Bankrott zu retten, in den Sie der unkluge Kauf dieser Schuhe geführt hat, Sie sollen ihn haben. Erstmal setzen Sie sich dorthin, ich gehe uns eine Erfrischung holen.

Als ich in den Salon zurückkomme, steht der junge Mann am Fenster, und in dem Augenblick, da ich zu ihm trete, um ihm sein Glas zu reichen, zuckt er leicht zusammen, als risse ich ihn aus einer Träumerei. Ich bin, sage ich zu ihm, während ich die Orangeade eingieße, heute Morgen zum neuen Friedhof gegangen, wo ich ganz außer Atem angekommen bin. Der neue Friedhof wurde nämlich auf einer Erhebung platziert, im Gegensatz zum alten Friedhof, der sich in einer Senke befand, sodass er eines schönen Tages vom Wasser mitgerissen wurde, Kreuze, Grabsteine, Särge, die Schlammflut hat alles mitgerissen. Gewiss war es scharfsinnig, den neuen Friedhof auf dieser Erhebung zu errichten, wenn man es so sagen kann, eine Lage, die mir recht stark dem Wind ausgesetzt schien, aber schließlich hat er die Modernität, die von einem neuen Friedhof zu erwarten ist. Sie müssen, um ihn zu erreichen, den Schweinestall links liegen lassen und noch ein paar Dutzend Meter eine frisch geteerte Straße hinaufsteigen, dort steht eine hohe Betonmauer, um die Ausdünstungen des unterhalb liegenden Schweinestalls radikal zu stoppen. Es liegt noch niemand auf diesem neuen Friedhof. Wer wird der Erste sein, wer wird ihn einweihen, das ist die Preisfrage. Allerdings gibt es bereits heute kaum mehr verfügbare Plätze, die Leute sind aus allen Richtungen herbeigeströmt, um sich auf die Grabstellen zu stürzen, ich habe persönlich vier Grabstellen für mich allein gekauft, meiner alleinigen Nutzung vorbehalten. Es ist befriedigend zu wissen, wo man, wenn es soweit ist, beigesetzt wird, auf jeden Fall befriedigender, als es nicht zu wissen. Und Sie, sage ich zu dem jungen Mann, der mich nicht aus den Augen lässt, haben Sie eine Vorstellung von dem Ort, an dem Sie beigesetzt werden, nein, ich wette, dass Sie sich nicht darum gesorgt haben, Sie fühlen sich jung, Sie wähnen sich jung und demzufolge unsterblich, das ist ganz verständlich. Es ist schon vorgekommen, dass auch ich mich unsterblich fühlte, sorglos gegenüber allem, was nicht Leben war. Ich habe es, wie man sagt, nie an einem Fleck ausgehalten, ich könnte Ihnen Orte beschreiben, von deren Existenz Sie nichts ahnen, Orte, die man nur zu Fuß erreicht, wo man manchmal einen ganzen Tag braucht, um allen möglichen Gefahren ausgeliefert zwei oder drei Meter voranzukommen, und heute stehe ich hier mit meinem Stock, kurzatmig, schlaflos, dem guten Willen der Gärtner ausgeliefert, was treiben die überhaupt, sie müssten schon zurück sein, für gewöhnlich sind sie nicht so lange weg. Niemand warnt Sie davor, junger Mann, ich meine, vor dem Alter, keine Vorzeichen, eines Tages ist es da, und nichts überrascht einen mehr, glauben Sie mir, egal, wie Sie gelebt haben, nichts verblüfft so wie das Alter, das mit einem Schlag da ist. Sie sind irgendwo, Ihr Finger zeigt auf einen noch unerforschten Punkt der Landkarte, und mit einem Mal, ohne dass es Ihnen überhaupt bewusst ist, rutscht Ihr Finger langsam ab und löst sich von der Karte, Ihre Hand fällt auf Ihr Bein zurück, Sie sehen ein Pferd vorbeiziehen, ein Zebra, eine Robbe oder sogar einen Hund, Sie sehen sie vorbeiziehen, Sie verlangen ein Glas Wasser, ein Bengel kommt und weist Sie darauf hin, dass Ihr Hosenstall nicht zugeknöpft ist, und es ist vorbei.

Mein Besucher hat seine Orangeade getrunken, deren leeres Glas er in der Hand behält, da er offensichtlich nicht weiß, wohin damit. Ich befreie ihn davon und setze mich in den Sessel am Fenster, um nach der Rückkehr der Gärtner Ausschau zu halten. Der junge Mann in der Mitte des Zimmers nutzt die Gelegenheit, um die Augen von meinem Gesicht zu lösen und sich umzuschauen. Denken Sie vielleicht daran, mich zu bestehlen?, frage ich ihn. Es gibt in der Tat einen ganzen Haufen Dinge, derer Sie sich bemächtigen könnten und zwar vor meinen Augen, wenn es Ihnen Spaß macht. Nicht, dass ich nicht in der Lage wäre, Sie daran zu hindern, ich bin durchaus in der Lage, Sie auf die Bretter zu schicken, ganz abgesehen davon, dass ich nur dieses Fenster öffnen und pfeifen müsste, damit die Gärtner herbeigerannt kämen. Die Gärtner würden Sie im Handumdrehen unschädlich machen, Sie mit einem einzigen Forkenstich aufspießen und in einen ihrer Gräben schleudern oder in diesen Kreisel, den sie mir da hingebaut haben. Nicht die kleinste Kreuzung, soviel ich weiß, an dieser Stelle des Gartens, nicht das kleinste Vorfahrtsproblem, und dennoch taucht da plötzlich auf, was man wohl einen Kreisverkehr nennen muss. Der Weg ist jetzt hin, keine Chance, diesen Weg zu nehmen, ohne um diesen Kreisel zu müssen. Ehrlich gesagt befürchte ich das baldige Erscheinen einer Gloriette an dieser Stelle, nach den Anweisungen, die zweifellos die Landschaftsarchitekten den Gärtnern gegeben haben, ja, dieser Kreisel wird wahrscheinlich bald von einer Gloriette gekrönt, die vermutlich eine Perspektive schaffen soll. Es war, wenn ich mich recht erinnere, häufig die Rede von Perspektive aus den Mündern der Landschaftsarchitekten. Es ist angebracht, haben die Landschaftsarchitekten unablässig wiederholt, diesem Garten eine Perspektive zu geben. Vordergrund, Hintergrund, haben die Landschaftsarchitekten nachdrücklich erklärt. Transversale. Und so weiter. Alice hat allem zugestimmt. Es gibt in diesem Zimmer nichts, woran mir liegt, sage ich zu dem jungen Mann, da können Sie auch gleich alles mitnehmen. Allein für dieses kleine Bild dort würden Sie genug bekommen, um hundert Schuhschränke zu füllen. Und in dieser Vitrine, sage ich, mit meinem Stock darauf zeigend, dieses Durcheinander von Nippes, ehrlich gesagt, täten Sie mir einen Gefallen, wenn Sie mich von diesem Nippesdurcheinander befreiten. Da ist vor allem ein Kännchen, das Napoleon täglich benutzt haben soll, dieses historische Kännchen, mit dem Napoleon jeden Tag seine Ohren gespült haben soll, hat ihn angeblich bis nach Russland und zurück begleitet, nehmen Sie es ruhig, Sie müssten einen guten Preis dafür erzielen.

Aber der junge Mann, der mich immer noch nicht aus den Augen lässt, interessiert sich anscheinend nicht für die Vitrine, also zeige ich ihm mit der Stockspitze einen Stuhl, auf dem er schüchtern Platz nimmt, die Pobacken am Polsterrand, der Rücken aufrecht und immer noch dieses schwebende, unergründliche Lächeln. Ah, sage ich, und wende den Kopf von diesem Lächeln ab, da sind die Gärtner wieder, sehen Sie nur, wie sie aus ihrem Lieferwagen springen, schwankend, wahrscheinlich betrunken. Tatsächlich legen die Gärtner ein ungewöhnliches Verhalten an den Tag, die sich, anstatt die Arbeit wieder aufzunehmen, aufs Gras setzen, manche strecken sich sogar aus. Eine Schachtel Zigaretten geht von Hand zu Hand, und ich höre ihr grobes Lachen, dann herrscht Stille. Sie halten ein Schläfchen, sage ich dem jungen Mann, der zum ersten Mal nickt. Die Gärtner haben heute wohl im Gasthaus gegessen, mittags ist das Gasthaus voll, man serviert dort in einem kleinen Nebenraum das, was sie hier das Arbeitermenü nennen, um Längen besser, sage ich Ihnen, als das, was auf der Karte steht, und überaus deftig. Rindfleisch mit Karotten, Frikassee, Bœuf Bourguignon, solche Gerichte, alles mit einer sämigen Soße nach Art des Hauses übergossen, niemals Fertigsoße beim Arbeitermenü. Wohingegen, wenn Sie die Dummheit begehen, ein Gericht à la carte zu nehmen, die Ente mit Orange zum Beispiel oder auch nur ein einfaches Steak mit Schalotten, schon beim ersten Bissen besteht kein Zweifel, dass die Soße direkt aus der Dose kommt. Natürlich wird das Arbeitermenü nicht im großen Saal serviert, wenn Sie sich in den großen Saal setzen, wird man Ihnen niemals das Arbeitermenü anbieten, es steht übrigens nicht auf der Karte. Hingegen ist es keineswegs zwingend, Arbeiter zu sein, um in den Genuss des Arbeitermenüs zu kommen, sage ich dem jungen Mann, niemand belästigt Sie damit, Sie können genauso gut in Limousine und Dreiteiler statt Blaumann ankommen, um das Arbeitermenü zu genießen, müssen Sie sich nur in den kleinen Nebenraum setzen, deutlich angenehmer als der große Saal, besser geheizt im Winter und deutlich frischer im Sommer, mit Fenstern zu einem netten kleinen Hof, und in dem Sie sicher sein können, schnell bedient zu werden, deutlich schneller, das ist unbestreitbar, als die Gäste im großen Saal, wo sich das Ganze endlos hinziehen kann. Im Nebenraum ist es übrigens erlaubt zu rauchen, während es im vorderen Saal strikt verboten ist, abgesehen von dem Tisch direkt vor den Toiletten, berüchtigt wegen der Zugluft. Unter diesen Bedingungen ist es verwunderlich, dass so viele Gäste nicht einmal daran denken, sich in den Nebenraum zu setzen, die sich weiterhin spontan in den vorderen Saal setzen, während ihnen ständig der köstliche Duft des Arbeitermenüs in die Nase steigt, das auf randvollen Tellern flink in den kleinen Raum getragen wird, während man Ihnen noch nicht einmal den Brotkorb gebracht, ja auch nur einen Blick geschenkt hat. Wenn man weiß, dass es Tote im großen Vordersaal gab, der von der Nationalstraße nur durch ein schmales Trottoir getrennt ist, sodass die Autos förmlich die Mauern streifen und jeder vorbeifahrende Lastwagen die Scheiben zittern lässt. Und es war genau einer dieser Lastwagen, der an einem Tag mit Glatteis geradewegs in den großen Saal gerast ist, mit rund fünfzig Sachen, und auf einen Schlag vierzehn Personen getötet hat, die dort eine Erstkommunion feierten. Nur die Erstkommunikantin hat überlebt, weil sie gerade Pipi machen gegangen war, der Priester wurde sauber enthauptet, die anderen in Brei verwandelt, alle auf dem alten Friedhof begraben, von wo sie, keinen Monat später, die Schlammflut weggetragen hat. Sie können sich wohl vorstellen, sage ich zu dem jungen Mann, der immer noch sehr aufrecht sitzt und, wenngleich schweigend, ganz Ohr zu sein scheint, Sie können sich wohl vorstellen, dass jedes Mal, wenn die Gärtner zum Mittagessen ins Gasthaus gehen, ich mir wünsche, ein Lastwagen möge vorbeikommen, der mich endgültig ihrer entledigen würde. Ich würde mit Vergnügen zum Begräbnis der Gärtner gehen, sage ich. Aber die Gärtner setzen sich höchstwahrscheinlich im Nebenraum zu Tisch, wo man, dieses Drama hat es bewiesen, keinesfalls riskiert, einen Lastwagen auftauchen zu sehen. Niemals, seit sie hier sind, haben die Gärtner das kleinste Schläfchen gehalten, sage ich dem jungen Mann. Und was Sie angeht, sage ich zu ihm und stehe auf, auch wenn Sie mir außerordentlich aufmerksam vorkommen, haben Sie mir immer noch nicht gesagt, weshalb Sie gekommen sind, ist das nicht seltsam?

Ich trete zum Fenster und stelle fest, dass sich die Gärtner endlich entschließen, sich zu rühren. Da strecken sie sich und stehen auf, sage ich, während ich sie beobachte, jetzt, wo sie ihren Rausch ausgeschlafen haben, werden sie ihre Verwüstung fortsetzen. Man meint die Dinge zu verbessern, aber man verschlimmert sie nur, sage ich und kehre zu meinem Sessel zurück, man bildet sich ein zu erschaffen und zerstört doch nur. Hier war vor der Ankunft der Gärtner alles grün, sage ich zu dem jungen Mann, nichts als ein Durcheinander von Grün, an das ich fortwährend gedacht habe, in all den Jahren, die ich fort war. Ich dachte, ich müsse den Planeten durchstreifen, ich war so alt wie Sie, sage ich zu ihm, und ich habe tatsächlich den Planeten durchstreift. Aber was ich ständig vor Augen hatte, war dieses Grün, von dem ich jede Nuance und jede Beschaffenheit kannte, ich wusste genau, wie dieses Blattwerk zitterte und jene Zweige sich neigten, wo immer ich war, ich musste nur die Augen schließen, um in Gedanken das zu erreichen, was niemand einen Garten zu nennen gewagt hätte, nur eine Fläche voll ungezähmtem, verwurzeltem Grün. Die Gärtner zu bestellen, sage ich dem jungen Mann, war die Strafe meiner Schwester Alice, die Strafe, die sie wegen meiner allzu langen Abwesenheit gegen mich verhängt hat. Kaum hat Alice von meiner Rückkehr erfahren, hat sie die Landschaftsarchitekten bestellt, wonach die Gärtner eingetroffen sind. Alice hat all die Zeit, die ich weg war, über das Grün gewacht, sage ich zu dem jungen Mann, sie hat darüber gewacht, dass alles unverändert bleibt, wie ich es verlassen hatte und wiederzufinden dachte, und in der letzten Minute hat sie dieses Gemetzel angeordnet und mich, ohne auch nur eine Spur ihrer früheren Sanftheit, der Unerbittlichkeit der Gärtner ebenso wie der Einsamkeit ausgeliefert. Sie müssen, sage ich dem jungen Mann, der junge Gehörlose aus der Einrichtung sein, dessen Ankunft man mir in der Tat, jetzt fällt es mir ein, angekündigt hat. Der junge Mann nickt lebhaft, wie erleichtert. Nun, sage ich, Sie überrumpeln mich etwas, ich hatte Ihre Ankunft völlig vergessen, noch so eine Idee von Alice natürlich, als wäre ich nicht imstande, allein zurechtzukommen. Ich gestehe, dass ich nicht so recht weiß, womit ich Sie beschäftigen soll. Die Stirn des jungen Mannes legt sich leicht in Falten, aber sein Blick bleibt klar, von Erwartung erfüllt, keineswegs ungeduldig. Da wären natürlich, sage ich nach kurzem Schweigen zu ihm, all diese Bücher, die Sie mir helfen könnten zu sortieren, ich hatte nicht den Mut, mich daran zu machen, allein würde ich Monate brauchen. Und einige andere Aufgaben dieser Art, für die Sie mir, nehme ich an, nützlich sein könnten. Sie sehen mir wie ein intelligenter Junge aus, intelligent und aufmerksam. Aber denken Sie bloß nicht daran, mit den Gärtnern zu paktieren, sage ich zu ihm, wenn ich auch nur sehe, dass Sie sich den Gärtnern nähern, schicke ich Sie auf der Stelle in die Einrichtung zurück. Und jetzt holen Sie Ihr Gepäck, dann zeige ich Ihnen Ihr Zimmer.

DAS HOCHHAUS

Mein Freund Saez wird nur eine knappe Stunde seines Lebens in Gesellschaft seines Schwiegervaters verbracht haben, die Zeit, ihn am Flughafen abzuholen und in die Wohnung im sechsundzwanzigsten Stock zu bringen, die er mit seiner Frau Marie bewohnt. Kaum hatte er die Wohnung betreten, lief der Schwiegervater, der bis dahin noch nie aus den Bergen des armenischen Kaukasus herausgekommen war, geradewegs auf die Fensterfront zu, beugte sich vor, um vermutlich das Panorama zu betrachten, und verflüchtigte sich auf der Stelle. Saez erklärte mir später, er habe in dem Moment den Koffer seines Schwiegervaters aus dem Fahrstuhl geschleppt, sodass er nichts hörte, keinen Schrei, keinen Fluch irgendeiner Art. Um genau zu sein, war es Saez, der fluchte, als er den Griff ohne den gewaltigen Koffer in der Hand behielt, während die Fahrstuhltüren sich plötzlich um seine Schultern schlossen, und nachdem er endlich den Koffer über die gesamte Länge des Flurs bis in die Wohnung geschoben hatte, war sein Schwiegervater verschwunden. Er dachte, er fände ihn im Schlafzimmer oder im Bad, kehrte ins menschenleere Wohnzimmer zurück, dann rief er ihn - es war das erste Mal, dass er seinen Schwiegervater sah, das erste Mal, dass er seinen Namen aussprach. Daraufhin dachte er, der alte Mann, der seit dem Flughafen nichts geäußert hatte, hätte sich vielleicht wieder nach unten begeben, aber der leere Fahrstuhl hatte das Stockwerk nicht verlassen, daher lief er die Treppe bis zum Erdgeschoss hinunter mit dem Gedanken, ihn in irgendeinem Winkel kauernd zu finden, nichts. Er fuhr wieder in die Wohnung hinauf, öffnete den Kleiderschrank, dann Wandschränke, suchte unter dem Bett, ging sogar so weit, ein oder zwei Schubladen aufzuziehen, und blieb schließlich mitten im Wohnzimmer stehen, langsam erfüllt von einem zunächst unbestimmten Gedanken, der gleichwohl konkreter wurde, bis er ihn einen seltsamen Laut ausstoßen ließ, eine Art heiseres Glucksen, wonach er ein Kribbeln in den Händen bemerkte und ein leichtes, unkontrollierbares Wiegen seines Kopfes. Mit verkrampftem Kiefer näherte er sich der Fensterfront und blickte nach vorn, als könnte sein Schwiegervater gerade durch die Lüfte fliegen oder auf der Spitze eines anderen Hochhauses landen. Der Himmel war leer. Dieses Himmels wegen hatten Saez und Marie die Wohnung genommen, wie auch wegen des, wenngleich sehr eingeschränkten, Blicks auf die Basilika Saint-Denis. Wenn man am äußersten rechten Rand der Fensterfront steht, den Oberkörper hinauslehnt und den Hals reckt, ist tatsächlich auf der linken Seite ein Stück der Basilika zu sehen, die jahrhundertealten Steine, die Glasfenster sowie die angrenzende kleine Grünfläche, nur das, erklärte mir Saez, hatte seinen Schwiegervater in Bann schlagen können, wie ein unbestimmt vertrautes Bild in dieser ihm unbekannten, sicher beunruhigenden Stadtlandschaft, auf die er übrigens, präzisierte Saez, seit dem Flughafen kaum einen Blick geworfen hatte, sehr aufrecht auf dem Beifahrersitz, die Augen aufs Handschuhfach gerichtet.

Die nächsten Stunden verliefen, wie man es sich vorstellt. Der Leichnam wurde am Fuße des Hochhauses aufgesammelt, in einen Plastiksack gestopft und in die Leichenhalle transportiert, wonach Saez an mein Fenster klopfte. Ich wohne, ein paar Straßen von ihm entfernt, in einer Erdgeschosswohnung ohne die geringste Aussicht, was er immer für absurd gehalten hatte, diesmal aber offenbar nicht. Kaum eingetreten, verlangte er einen Schnaps, den er in einem Zug trank, trat ans Fenster und musterte den grob zementierten Boden des kleinen Hofs, die vor der Ziegelmauer aufgereihten Mülltonnen, und enthielt sich des Kommentars, mit dem er mich gewöhnlich bedenkt. Er schien nervös, nun ist Saez aber - ich kenne ihn seit mehr als zwanzig Jahren - ein ruhiger Junge, im Gegensatz zu Marie, seiner Frau, mit der ich vor ihm zusammengelebt habe. Ein ruhiger und bedächtiger Junge, selten außer Fassung, dekoriert wie ich mit trockenen Diplomen, von denen zu guter Letzt keiner von uns beiden Gebrauch gemacht hat, da Marie unverzüglich verfügt hatte, diese Diplome versprächen ein erbärmliches Leben, das uns geradewegs in die Depression führen würde. Wir müssten unverzüglich, so hatte Marie gleich bei unserer Begegnung erklärt, unsere beiden Gehirne entprogrammieren, sie vollständig von den Dummheiten leeren, die wir dort sich hatten anhäufen lassen wie Laub, wir würden reisen, ein Jahr, zwei Jahre, so lange, bis sich etwas abzeichne, etwas, von dem wir noch keine Vorstellung hätten, was aber unweigerlich am Ende aufkeimen und uns, so zumindest interpretierten wir, Maries würdig machen würde. Und wenn sich nichts abzeichnet?, hatte ich damals Saez zu bedenken gegeben. Wenn nichts aufkeimt? Was beweist uns, dass wir nicht gerade für ein erbärmliches Leben geschaffen sind? Saez hatte keine Ahnung, trotzdem hatte er die Nacht damit verbracht, unsere Lebensläufe und Bewerbungsschreiben zu verbrennen, bis hin zu unseren Métro-Monatskarten, wonach wir aufbrachen, das heißt wir beide brachen auf, ohne Marie, die eben ihre erste Rolle beim Film ergattert hatte und gerade noch die Zeit fand, uns samt unserer Taschen am Flughafen abzusetzen, sie würde so bald wie möglich nachkommen, was sie niemals tat. Von da an waren wir an diversen, immer dreckigeren und abgewrackteren Orten der Welt anzutreffen, bis hin zu jenem kleinen Restaurant in Krakau, wo Saez auf dem Papiertischtuch und in der Verlängerung eines Fettflecks gedankenlos seinen ersten Bleistiftstrich zog, eine Art Skizze von uns beiden, die wir mit erstaunten Mienen betrachteten. Saez hatte uns als das struppige und verschlafene Hochschullehrerpaar gezeichnet, das wir, ohne Marie, wahrscheinlich geworden wären, dennoch konnte das, so schien uns, ein ausgezeichnetes Selbstporträt sein, dem ich, in dem Fettfleck, der so etwas wie eine Blase bildete, mit Kuli einen Kommentar hinzufügte, den ersten Kommentar, der mir in den Sinn kam. Saez riss das Stück Papiertischtuch ab, und einen Monat Arbeit später verließen wir Krakau, um in der Haut der beiden Comic-Autoren, zu denen wir geworden waren, zu Marie zurückzukehren. Das hatte ich nicht erwartet, begnügte Marie sich zu erklären, als sie unsere Blätter betrachtete. Dann zog sie für einige Zeit zu mir.

Zwanzig Jahre später bin ich für meinen Teil nicht sicher, gänzlich der Depression entgangen zu sein, die, wie mir manchmal scheint, mit zunehmendem Alter auch meine Umgebung zu ergreifen scheint, außer Marie, aber Marie ist eine Frau voller Fröhlichkeit und überzeugend, sie hat mich in Fröhlichkeit verlassen, um Saez zu heiraten, und hat mich überzeugt, daraus kein Drama zu machen, und tatsächlich habe ich kein Drama daraus gemacht, ich habe nichts daraus gemacht, ich bin der Freund von Saez geblieben, der gerade mit einem zweiten Glas Rum in meinem Sofa versank und mir berichtete, dass sein Schwiegervater aus dem Fenster gestürzt sei und wie er ihn in der ganzen Wohnung gesucht und schließlich auf dem Rasen geborgen habe, sechsundzwanzig Stockwerke tiefer. Autsch, sagte ich. Aus dem Fenster gestürzt, wiederholte Saez mit einem kurzen, wahrscheinlich dem Rum zuzuschreibenden Lachen. Er ist geradewegs auf die Fensterfront zugelaufen und pffff, niemand mehr da. Und Marie, fragte ich. Unmöglich, sie zu erreichen, sagte Saez. Sie dreht irgendwo auf dem platten Land, was weiß denn ich wo, ich habe ihr eine Nachricht hinterlassen. Was für eine Nachricht?, fragte ich. Hm?, fragte Saez, der sich offenkundig nicht mehr erinnerte.