Die Heimwehren und die österreichische Politik 1927 - 1936 - Lothar Höbelt - E-Book

Die Heimwehren und die österreichische Politik 1927 - 1936 E-Book

Lothar Höbelt

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Beschreibung

Die politische Landschaft der Ersten Republik (1918–1938) war wesentlich von paramilitärischen Verbänden geprägt. Die Heimwehren galten dabei oft als die "schwarze" Parteigarde und Pendant zum "roten" Schutzbund. Ihre Zusammenstöße forderten mehrfach Todesopfer. Doch die Heimwehren waren bestrebt, sich von der Christlichsozialen Partei zu emanzipieren und eine lagerübergreifende "christlich-nationale" Volksbewegung zu bilden. In Anlehnung an Mussolinis Italien begannen sie, vom "Austro-Fascismus" und von einem "Marsch auf Wien" zu träumen. Doch der sogenannte Pfrimer-Putsch im Jahre 1931 scheiterte kläglich. Im Bürgerkriegsjahr 1934 erreichten die Heimwehren schließlich doch eine beherrschende Stellung, doch als sich ihr Führer, Fürst Starhemberg, im Jänner 1935 gegen Bundeskanzler Schuschnigg wandte und für eine enge Anlehnung an das faschistische Italien optierte, kam es zum Machtkampf. Die Heimwehren wurden aufgelöst und ihre Wehrverbände in die von Kanzler Engelbert Dollfuß 1933 gegründete "Vaterländische Front" eingegliedert.

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Lothar Höbelt

Die Heimwehren und die österreichische Politik 1927–1936

Vom politischen „Kettenhund“zum „Austro-Fascismus“?

Mit Bildern aus dem Archivvon Mario Strigl

Umschlagabb. Vorderseite: Großkundgebung der Heimwehren in Wien am 14. Mai 1933; im Bild: Bundeskanzler Engelbert Dollfuß (l.) und Heimwehrführer Ernst Rüdiger Starhemberg (Archiv Ecotext Verlag, Wien)

Umschlagabb. Rückseite: v. l. n. r.: Feldmesse in Korneuburg am 18. Mai 1930 (Archiv des Verlages); die Putschisten Steidle (l.) und Pfrimer (Mitte) (Archiv Mario Strigl); Feldmesse in Schönbrunn bei der Türkenbefreiungsfeier am 14. Mai 1933: Rintelen, Starhemberg, Fürstin Marilies Starhemberg, Fürstin Fanny Starhemberg, Dollfuß, Vaugoin (v. l. n. r.); rechts im Hintergrund: Schuschnigg (entnommen aus: Ludwig Jedlicka und Rudolf Neck [Hrsg.]: Vom Justizpalast zum Heldenplatz, Wien 1975)

Abb. Innenteil: Thomas Höbelt: 160, 178, 275 | Entnommen aus: Ludwig Jedlicka und Rudolf Neck (Hrsg.): Vom Justizpalast zum Heldenplatz, Wien 1975: 139, 215, 243, 257, 271, 362 | Entnommen aus: Robert Kriechbaumer: Ein Vaterländisches Bilderbuch, Wien – Köln – Weimar 2002: 291, 319, 349 | Archiv Maria Kröhn: 141 | Bildarchiv Nationalbibliothek: 121, 127, 195, 229 | Archiv Mario Strigl: 27, 30, 37 oben, 47–49, 75, 87, 101, 197, 270, 281, 295, 303, 311, 355, 365, 369, 371, 387, 399, 403 | Archiv des Verfassers: 118, 207, 230, 321

Alle anderen Abb.: Archiv des Verlages

Wir haben uns bemüht, bei den hier verwendeten Bildern die Rechteinhaber ausfindig zu machen. Falls es dessen ungeachtet Bildrechte geben sollte, die wir nicht recherchieren konnten, bitten wir um Nachricht an den Verlag. Berechtigte Ansprüche werden im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Hinweis: Dieses Buch wurde auf chlorfrei gebleichtem Papier gedruckt. Die zum Schutz vor Verschmutzung verwendete Einschweißfolie ist aus Polyethylen chlor- und schwefelfrei hergestellt. Diese umweltfreundliche Folie verhält sich grundwasserneutral, ist voll recyclingfähig und verbrennt in Müllverbrennungsanlagen völlig ungiftig.

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Weitere Informationen finden Sie im Internet unter:

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ISBN 978-3-902732-66-8

eISBN 978-3-990810-90-3

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, des auszugsweisen Nachdrucks oder der Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten.

© Copyright by Ares Verlag, Graz 2016

Layout: Ecotext-Verlag, Mag. Schneeweiß-Arnoldstein, A-1010 Wien Gesamtherstellung: Christian Theiss GmbH, A-9431 St. Stefan

Printed in Austria

Inhalt

Vorwort: Rouge et noir?

I.Einleitung:Die „österreichische Revolution“ und die „Selbstschutzverbände“

II.Die unwiderstehliche Volksbewegung (1927–29)

Der Kontext des 15. Juli 1927 – Einheitsliste und Obstruktion

Der Marsch auf Wiener Neustadt, oder: Alle Wege führen nach Rom

Die Heimwehren, die Parteien und die Verfassung

Starhemberg und die alten Eliten

Der Marsch auf Wien: Von Sankt Lorenzen zum Schottenring

Das Kabinett Schober: „Endlich eine Regierung“

Teilerfolg oder Katzenjammer? „Eine saubere Ohrfeige“

III.Von den Heimwehren zum Heimatblock (1930)

„Richtung und Gesetz der Heimatwehren“: Das Korneuburger Gelöbnis

Schobers Retourkutsche: „Waldemärchens“ Ausweisung

Gegenläufige Entwicklungen: Der Sturz Steidles und der Sturz Schobers

Der Griff nach der Macht? Vizekanzler Starhemberg

Der Heimatblock und die Wahlen

IV.Die Krise (1931)

Die Spaltung der Heimwehren

Das Starhembergsche Interregnum und das Rätsel Pfrimer

„Die große Krise im kleinen Land“: Der Zusammenbruch der Creditanstalt

„Eine getürkte Sache“: Der Pfrimer-Putsch

„Mit Schober nicht ein Sous“: Das Ende des Bürgerblocks

V.Die letzte Chance (1932–1934)

Mit „Ach und Krach“ in die Regierung

„Treue um Treue“: Die Festigung der Achse Dollfuß – Starhemberg

Der Konflikt mit Habicht und der Falke Fey

„Im Beförderungswege kaltstellen“: Hoch- oder Scheinkonjunktur der Heimwehren?

V.Das Gelobte Land und die Vertreibung aus dem Paradies

„Austro-Fascismus“? Vaterländische Front und „Ständestaat“

Der Juliputsch und die Folgen: Keine Machtergreifung

Die Heimwehren an der Macht? Proporz ohne Parteien

Die Reichsidee als Rettungsanker?

Die Heimwehren ohne Wehr: Der Sturz Starhembergs

Exkurs: Das Juli-Abkommen

„Wenn es sein muß, in Wöllersdorf“: Das Ende der Heimwehren

VI.Das Leben nach dem Tode

VII.Resümee

Anmerkungen

Abkürzungsverzeichnis

Quellen- und Literaturverzeichnis

Namenregister

„Wer über Geschichte schreibt,

soll sich nicht aufführen,

als wäre er das Jüngste Gericht.“

Günter Steinbach,

Kanzler, Krisen, Katastrophen (2006)

Vorwort: Rouge et noir?

„Hasch“ und „Resch“, Heimatschutz und Republikanischer Schutzbund, die beiden berühmt-berüchtigten paramilitärischen Verbände der Ersten Republik, haben Eingang gefunden in die volkstümliche Überlieferung als Gegensatzpaar, von Schattendorf und dem Justizpalastbrand 1927 bis zum 12. Februar 1934. Nun ließe sich natürlich gleich anfangs einwenden: In Schattendorf war die Heimwehr überhaupt nicht beteiligt, sondern die Frontkämpfervereinigung; am Bürgerkrieg vom Februar 1934 war die Heimwehr bloß als Assistenzkorps beteiligt, die Hauptlast der Kämpfe trugen die staatliche Exekutive, Polizei, Gendarmerie und Bundesheer. Gleichwohl, das weit gravierendere Mißverständnis liegt in der optischen Täuschung, wie sie von der politischen Farbenlehre Österreichs ausgeht: Der Republikanische Schutzbund war die „Parteiarmee“ der Sozialdemokratie – folglich muß es sich bei der Heimwehr um ihr „schwarzes“ Äquivalent handeln. Allzuviele Darstellungen sind nach wie vor, zumindest unterschwellig, von diesem auf den ersten Blick so einleuchtenden Axiom geprägt.

Wie viele „Legenden“ kommt auch diese nicht von ungefähr. Die Heimwehren sahen sich – zumindest in der Phase ab Mitte der zwanziger Jahre – sehr wohl als bürgerliches Gegengewicht zum Schutzbund, freilich: als bürgerliche, nicht als exklusiv christlichsoziale Formation. Die Juniorpartner des Seipelschen Bürgerblocks, Großdeutsche und Landbund, waren in den Reihen der Heimwehr und ihrer Führungskader vielfach sogar überproportional gut vertreten. Die Heimwehr richtete ihre Stoßrichtung ganz eindeutig gegen die Sozialdemokratie, gegen den „Austromarxismus“, strebte im übrigen aber eine überparteiliche, „christlich-nationale“ Haltung an. Selbst bei politischen Gretchenfragen wie Anschluß und Restauration oder auch dem Antisemitismus bemühte sich die Heimwehr, zumindest in ihrer Hochphase um 1929/30, um merkliche Zurückhaltung. Die Devise lautete: Zuerst müsse man Ordnung im eigenen Haus machen, bevor man an derlei Zukunftspläne denken könne; willkommen sei, wer immer bereit sei, der Gefahr von links entgegenzutreten, ob es sich dabei nun um Arier handle oder nicht.

Der überparteiliche Charakter der Heimwehr, der bald ins antiparteiliche wechselte, hatte dabei noch mit einem weiteren Phänomen zu tun, das spätestens ab 1930 das Erscheinungsbild der Heimwehren prägte. Karl Renner brachte dieses Phänomen auf den einfachen Nenner: Marxistisch betrachtet, sind die Heimwehren nichts anderes als ein Aufstand gegen die bürgerliche Führung, sprich: die Führung der bürgerlichen Parteien (die von den Wählern her übrigens mehrheitlich immer noch bäuerlich waren). In der Heimwehr sammelten sich die alten Eliten der Monarchie, Adel und Offiziere, zusammen mit Teilen der Hochbürokratie und Wirtschaftsgrößen, die nicht nur durch den Zusammenbruch der Monarchie eine scharfe Einbuße an Macht und Einfluß erlitten hatten, sondern mehr denn je politisch heimatlos waren: Aktive Offiziere verfügten vor 1918 nicht einmal über das Wahlrecht; der Hochadel orientierte sich nicht an den Parteien oder Lagern des Abgeordnetenhauses, sondern an den „Gruppen“ des Herrenhauses. Bürokratie und Wirtschaftseliten waren für Kontakte nach allen Seiten offen und mit niemandem, spätestens seit dem Verschwinden der Altliberalen, allzu eng „verbandelt“.

Den Zweck der Heimwehr aus der Sicht der bürgerlichen Parteien hat Ignaz Seipel, unbestreitbar das „Mastermind“ der Ersten Republik, knapp zusammengefaßt: „Wenn die Straße ein Argument ist, darf man sie nicht den Sozialdemokraten als Privileg überlassen.“1 Die bürgerlichen Selbstschutzverbände, wie sie sich lange Zeit offiziell nannten, waren dazu da, das Gleichgewicht des Schreckens wiederherzustellen, mit Paraden, Aufmärschen und militärischen Exerzitien dem Schutzbund in nichts nachzustehen und Präsenz zu zeigen. Mit dieser Funktion als „Kettenhund“ der bürgerlichen Parteien waren die Führer der Heimwehren freilich immer weniger zufrieden. Warum nicht das Übel an der Wurzel packen und eine Gegenrevolution ausrufen, die mindestens so legitim wäre wie die „Revolution“ von 1918? Der niederösterreichische Landesrat Mittermann sekundierte ihnen da prinzipiell ebenso wie Pan-Europa-Gründer Graf Richard Coudenhove-Kalergi: Wer für den Matrosenputsch in Kiel schwärme, dürfe sich nicht über den Kapp-Putsch ereifern, wer den Mord an dem Ministerpräsidenten Graf Stürgkh feiere, dürfe sich nicht über das Attentat auf Kurt Eisner beschweren.2

Vor allem aber lockte die Gegenrevolutionäre der Heimwehr das Beispiel Mussolinis und seines „Marsches auf Rom“, der nur allzuoft mißverstanden wurde: Denn der „Marcia su Roma“ war kein Putsch, allenfalls eine Großdemonstration als wohldosierte Drohung, die den König und das Militär dazu bewegen sollte, es doch mit einem Kabinett Mussolini zu versuchen. Doch für ein solches Manöver fehlten in Österreich die Ansprechpartner. Monarchen gab es keinen mehr. Bundespräsident Miklas war selbst nach der Verfassungsnovelle von 1929 derlei Experimenten abgeneigt: „Democratissimo e timoratissimo“ beschrieb ihn der Nuntius. So brachten es auch die Heimwehren – trotz unablässigen Geredes über einen Marsch auf Wien – im Herbst 1931 bestenfalls auf einen Marsch bis Amstetten, als einem ihrer Führer einmal die Nerven durchgingen.

Der Weg zur Macht öffnete sich im Jahr darauf pikanterweise just auf die Art und Weise, wie sie die Heimwehren immer zu verachten vorgegeben hatten – als parlamentarisches Zünglein an der Waage, gefolgt vom Feilschen um jede einzelne Stimme, denn auch mit der Disziplin der Fraktion war es nicht zum besten bestellt. Den Rest besorgten die Fehler ihrer Gegner, von der Geschäftsordnungspanne des Nationalrates im März 1933 bis zum Aufstand von Teilen des Schutzbundes im Februar 1934, der endgültig den Weg zum autoritären Regime freischoß, nicht mehr bloß als Übergangslösung, sondern als bewußte Alternative zur „Parteiendemokratie“. Die Heimwehren sonnten sich im Ruhm des „Austro-Fascismus“, so wie sie den Begriff eben verstanden; doch bereits zwei Jahre später war alles zu Ende: Bundeskanzler Schuschnigg spielte die Heimwehrführer gegeneinander aus und löste die Bewegung im Oktober 1936 auf.

Dieses Buch bezweckt eine möglichst präzise Verortung der Heimwehren in der politischen Szenerie der österreichischen Zwischenkriegszeit. Es ist die Geschichte einer wechselseitigen Instrumentalisierung zwischen den bürgerlichen Parteien und den Wehrverbänden, die einmal parallele Wege einschlugen, um dann wieder auf Kollisionskurs zu segeln. Dabei ging es um wechselnde taktische Konstellationen und weit weniger, als es oft den Anschein hat, um Ideologie. Eine Sozialgeschichte nicht des Führerkorps, sondern der „Männer in der Doppelreihe“ ließe sich beim gegenwärtigen Stand der Forschung aufgrund der Listen im Starhembergschen Archiv allenfalls für das Mühlviertel schreiben; dazu bedarf es wohl noch einer Reihe weiterer Mikrostudien. Auch der kulturgeschichtliche Aspekt, von der Sachkultur der Uniformen und Abzeichen bis zum Liedgut und der Belletristik, die im Umfeld der Heimwehren Anklang fanden, geht über den Rahmen der vorliegenden Arbeit weit hinaus. Auf regionale Besonderheiten wurde soweit wie möglich Rücksicht genommen; um eine spannende, aber komplexe Geschichte nicht noch weiter zu komplizieren, konzentriert sich die Erzählung jedoch in erster Linie auf den „roten“ (oder „weißgrünen“) Faden in der Bundespolitik.

Die Heimwehren liebten klangvolle Titel. Sie schwärmten für das Führerprinzip, aber nicht für flache Hierarchien. Verbunden mit regionalen Sonderentwicklungen, ergab sich daraus ein Wirrwarr von Bezeichnungen. In manchen Ländern rangierten die Kreise über den Gauen, in anderen war es umgekehrt. Ursprünglich nannten sich die politischen Chefs Landes-, Kreis- oder Gauleiter, die militärischen Landes-, Kreis- oder Gauführer. Da Führer doch viel imposanter klang, beanspruchten die politischen Leiter diese Bezeichnung schließlich für sich, die bisherigen Führer wurden zu „Wehrführern“. Im wesentlichen habe ich versucht, den Leser mit solchen organisatorischen Details nicht über Gebühr zu belasten. „Heimwehr“ ist die in der Literatur wohl am häufigsten gebrauchte Bezeichnung; selbst bezeichneten sich die meisten Verbände als „Heimatschutz“, in der Anfangszeit als „Selbstschutzverbände“. Wiederum habe ich versucht, die Bezeichnungen außer in Direktzitaten zu vereinheitlichen und spreche, um die Vielgestaltigkeit der Bewegung zu unterstreichen, in der Regel von Heimwehren im Plural.

Die Zeitgeschichte leidet – im Vergleich zur Historiographie früherer Epochen – besonders unter dem Phänomen der Wertungsexzesse. Karl Renner schrieb einmal, nichts sei abwegiger, als über die Oktoberrevolution „ein Sittengericht zu halten oder einen Heldengesang anzustimmen“. Diese Warnung wird auch bei weniger geschichtsmächtigen Ereignissen nur selten beherzigt. Die Professoren von anno dazumal, die in ihrer Vorlesung beim Tod des letzten Staufers angeblich regelmäßig in Tränen ausbrachen, gelten als lächerlich. In rezenteren Epochen zählen unreflektiert-emotionale Reaktionen hingegen vielfach zum Standardrepertoire. Dabei ist die Zwischenkriegszeit der Ära persönlicher Betroffenheit längst entrückt. Die dreißiger Jahre sind heute von uns so weit entfernt wie damals der Krimkrieg oder die Revolution von 1848. Daß sich in fast hundert Jahren die gängigen Standards der öffentlichen und veröffentlichten Meinung verändert haben, ist eine Binsenweisheit, die nur allzuoft unbeachtet bleibt. Meines Erachtens tun wir gut daran, unserem Gegenstand ohne prinzipielle Voreingenommenheit zu begegnen. Wer dazu Lust hat, mag mit Rotstift seine ganz persönlichen Zensuren nachtragen.

Die Geschichte der Heimwehren und ihrer Rolle in der österreichischen Politik ist vor genau fünfzig Jahren von einem Dissertanten aus den amerikanischen Südstaaten, der bei Adam Wandruszka in Köln studierte, nämlich Clifton Earl Edmondson, kompetent zusammengefaßt und von seinem Landsmann Bruce Pauley um ein Bild der steirischen Szenerie ergänzt worden. Walter Wiltschegg hat Mitte der achtziger Jahre ein Kompendium vorgelegt, das aus seiner souveränen Kenntnis der Materie aus dem Vollem schöpfte. Sein Buch ist nach wie vor ein unentbehrliches Nachschlagewerk. All diese Werke sind nur mehr antiquarisch erhältlich; Edmondsons Studie ist nie ins Deutsche übersetzt worden. Inzwischen sind alle Zeitzeugen verstorben: Für Pauleys Frau schnitt Walter Pfrimer noch höchstpersönlich Rosen im Garten! Dafür verfügen wir heute über den gesamten Bestand der einschlägigen Documenti Diplomatici Italiani (DDI) für diese Jahre, die eine Fülle interessanter Aufschlüsse zu liefern vermögen. Der Doyen der amerikanischen Österreich-Forschung, R. John Rath (1910–2001), hat sie Ende der neunziger Jahre in einer Artikelserie das erste Mal systematisch ausgewertet. Die österreichischen Ministerratsprotokolle sind weitgehend ediert worden, auch wenn hier noch die eine oder andere Lücke klafft, weil Nachhaltigkeit offenbar nicht zu den Tugenden der Wissenschaftsbürokratie zählt. Soeben komplettiert wurde dafür die Aktenedition der Außenpolitischen Dokumente der Republik Österreich (ADÖ). Zugänglich sind die Parteiarchive der Großdeutschen und der Christlichsozialen, zum Teil auch die auf diverse Bestände verstreuten Protokolle des Landbundes.

Vor allem aber läßt sich aus privaten Nachlässen noch bisher unbekanntes Material schöpfen, das Edmondson, Pauley und Wiltschegg noch nicht zur Verfügung stand. Besonders herzlich bedanken möchte ich mich in diesem Zusammenhang bei Fürst Georg Starhemberg (Schloßarchiv Eferding), Gräfin Hertha und Graf Dominik Revertera (Schloßarchiv Helfenberg) und Hofrat Georg Heilingsetzer, der mich in beide, von ihm betreute Archive begleitete; bei Baronin Gertraud Buttlar und dem inzwischen leider verstorbenen Grafen Heinrich Hoyos (Schloßarchiv Horn); bei Graf Ferdinand Traun-Abensperg für die Gastfreundschaft im Maissauer Familienarchiv; bei Hauptmann Andreas Danner, der mir die Benützung des Nachlasses von Friedrich Mayer, dem langjährigen Bundesstabsleiter der Heimwehren, in Linz ermöglichte. Gräfin Monika Draskovich war so freundlich, mir Einsicht in die Tagebücher ihres Vaters Graf Heinrich Salburg zu gewähren, und Herr Dr. Peter Kröhn, mir die Tagebücher seines Großvaters, des sagenumwitterten Generaldirektors der Alpine-Montan-Gesellschaft, Dr. Anton Apold, zur Verfügung zu stellen.

Von den „Profis“ möchte ich im speziellen danken: Im Wiener Archiv der Republik Heinz Placz, der mir „tellerfertig“ die Unterlagen zum Pfrimer-Putsch 1931 „servierte“, und meinen alten Freunden und Studienkollegen Rudolf Jeřábek, Robert Rill, Roman Eccher und Gerhard Artl, die mir stets mit Rat und Tat zur Seite gestanden sind. Weit über das dienstlich Notwendige hinaus haben mich bei den Recherchen unterstützt: Johannes Schönner im Karl v. Vogelsang-Institut, Cornelia Sulzbacher im Oberösterreichischen, Alois Niederstätter im Vorarlbergischen, Gernot Obersteiner im Steiermärkischen und Christian Fornwagner im Tiroler Landesarchiv; Johann Weissensteiner im Wiener Diözesanarchiv; Harald Tersch als guter Geist der Bibliothek des Instituts für Geschichte; Robert Kaller im Institut für Zeitgeschichte, Michael Winter in der Bibliothek der Landespolizeidirektion Wien und Gunter Perchtold in der Steiermärkischen Landesbibliothek. Justin Cavernelis-Frost half mir effizient und freundlich die gewünschten Materialien im Londoner Rothschild-Archiv aufzuspüren.

Für mündliche Informationen und Einblicke in familiäre Zusammenhänge zu Dank verpflichtet bin ich Frau Dr. Elisabeth Lehner, der Enkelin von Korvettenkapitän Alphons v. Kloss; Gabi Sailer, der Tochter von Staatssekretär Theodor Znidaric; Graf Uli Arco-Zinneberg, Neffe von Graf Max Arco; Gerhard Ambrosz-Rechtenberg, Großneffe Emil Feys; Baron Ernst Fräss-Ehrfeld, Sohn von „Pepino“ Fräss-Ehrfeld und einem Patenkind Starhembergs; Univ.-Prof. Dr. Jo Hanns Pichler als Assistenten von Walter Heinrich und Martin Pfundner als profundem Kenner der österreichischen Industriegeschichte. Die Freiherrn Andreas und Otto Fraydenegg-Monzello verhalfen mir dankenswerterweise zu einem Lokalaugenschein in St. Lorenzen, Michael Schiestl vom Stadtmuseum Judenburg wies den Weg zur Villa Pfrimer. Durch vielfältige Anregungen und Informationen beigetragen zu einem Bild der Epoche haben eine Reihe inzwischen leider verstorbener Zeitzeugen: Graf Kunata Kottulinsky, Franz Olah, Theodor Piffl-Perčević, Reinhard Spitzy, Graf Ernst Strachwitz, Graf Max Thurn-Valsassina, Heinrich Treichl und mein Lehrer Adam Wandruszka.

Durch zweckdienliche Hinweise und vielfache Unterstützung in der einen oder anderen Form haben sich um das Buch verdient gemacht: Isabella Ackerl, Baronin Claudia Fräss-Ehrfeld, Maddalena Guiotto, Zdislawa Röhsner, Marianne Sammer, Martina Winkelhofer, Emil und Elisabeth Brix, Heribert Artinger, Georg Gaugusch, Ernst Hanisch, Peter Melichar, Martin Moll, Paul Mychalewicz, Klaus Reisch, Christian Reiter, Florian Schwanninger, Helmut Wohnout und Christoph Zernatto.

Ein besonderer Dank gebührt schließlich Mario Strigl für seine Bereitschaft, dem trockenen Text durch Beistellung von Photographien und Postkarten aus seinem Archiv auf die Sprünge zu helfen. Mein Bruder Thomas entwarf die Karten, Daneček („Pingu“) half mit den Tükken der Textverarbeitung („Diese Technik …!“). Wie immer war es eine Freude, mit Michael Hummel vom Ares Verlag und Günther Schneeweiß-Arnoldstein als Layouter dieses Buches zusammenzuarbeiten.

Wien/Pardubitz, im Juli 2016

Zum Andenken an meinen FreundWalter Wiltschegg (1914–2004),der noch viel mehr über das Thema wußte.

I.Einleitung:Die „österreichische Revolution“ und die „Selbstschutzverbände“

In Österreich dürfe man sich nicht allzuviel an revolutionären Energien erwarten; hier, im Land der Operette, sei selbst die Republik auf kaiserlichen Befehl ins Leben getreten, schrieb der italienische Gesandte in Wien einmal. Ganz so glatt ging die Sache 1918 auch wieder nicht vonstatten; aber ein Körnchen Wahrheit steckt sehr wohl in dieser Sottise. Kaiser Karl I. ließ die Abgeordneten des alten Reichsrates im Oktober 1918 zu Nationalräten zusammentreten (ohne ihnen freilich gleich die volle Souveränität einzuräumen), er erklärte sich mit der Entscheidung des deutschösterreichischen Volkes über die Staatsform im voraus einverstanden (meinte mit Volk allerdings nicht unbedingt diesen Nationalrat). Seipel soll einmal gesagt haben: Man könne über die Frage, ob die österreichische Republik legal sei oder nicht, zehn Bände schreiben.3 Immerhin: Wenn Revolution laut Kelsen bedeutet: Bruch der Rechtskontinuität, dann wurde dieser Bruch im November 1918 recht gut verkleistert.

Für geeichte Marxisten verbanden sich mit dem ehrerbietigen Terminus „Revolution“ freilich ganz andere Konnotationen. Da ging es nicht um die mehr oder weniger blutrünstige Form des Umsturzes (das, was Karl Renner frei nach Lassalle die „Heugabel-Variante“ der Revolution nannte), sondern um eine grundlegende Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse. In diesem Sinne war der Befund ein zwiespältiger. Otto Bauer kam in seiner Studie zur „Österreichischen Revolution“ (nach wie vor eines der besten Bücher zu den Jahren 1918–23) zwar zu dem Schluß, eine solche Revolution habe es zumindest in Deutsch-Österreich nicht gegeben: „Die Revolution, die das alte Habsburgerreich zerstört hat, war nicht unsere Revolution“, sondern bloß eine bürgerliche, nämlich eine Revolution des nichtdeutschen Bürgertums der Habsburgermonarchie, als Folge der Auflösung der kaiserlichen Armee. Für eine proletarische Revolution, in Nachahmung der Bolschewiki, sei in Mitteleuropa 1918 nicht der gegebene Zeitpunkt gewesen. „Der Sieg der Ententeheere hat die Revolution entfesselt und ihr zugleich unverschiebbare Schranken gesetzt.“4

Eine gesellschaftliche Umwälzung hatte in Österreich allerdings unübersehbar stattgefunden, nicht erst 1918; sondern sie hatte sich schon in den Jahren zuvor angekündigt. Die Mangelsituation des Krieges hatte die Bedeutung der (Ur-)Produzenten grell hervortreten lassen. Arbeiter und Bauern; daneben vielleicht noch die Soldaten, als Herren über die Umverteilung, über Requisitionen und Einquartierungen. Der Mittelstand, das Bürgertum, drohte – bis auf eine dünne Schicht wildumfehdeter „Kriegsgewinnler“ – unter die Räder zu kommen: Die Inflation fraß ihre Ersparnisse; der Mieterschutz entwertete den Hausbesitz; die staatliche Bewirtschaftung verdrängte den Handel. Auch der Bedarf an schöngeistigen Produkten, an Kunst und Wissenschaft, hielt nicht Schritt mit dem Bedarf an Gütern mit einer viel geringeren Nachfrageelastizität wie Brot und Kartoffeln.

Die politischen Veränderungen unterstrichen und beschleunigten diesen Trend nur noch. Das alte Österreich war keine Demokratie gewesen, auch wenn der Reichsrat seit 1907 aus dem allgemeinen (Männer-) Wahlrecht hervorging, aber es kam – bis auf die Jahre des Kriegsabsolutismus 1914–17 – einer funktionierenden Gewaltenteilung relativ nahe. Das Parlament kam seiner Rolle als Legislative nach und verabschiedete Gesetze (die immer noch der kaiserlichen Genehmigung bedurften); der Monarch ließ sich die Kontrolle über die Exekutive, Regierung und Beamtenschaft nicht aus der Hand nehmen. Nicht daß es keine Beschwerden über Protektion und Korruption gegeben hätte, über die Unterwanderung von einzelnen Ressorts mit Gesinnungsgenossen oder Konnationalen des einen oder anderen Ministers; aber im wesentlichen bewahrte die Hochbürokratie ihr Eigenleben, blieb der Einfluß gerade der Massenparteien auf ganz wenige Einfallspforten beschränkt.

Mit der österreichischen Revolution 1918 änderte sich dieser Zustand grundlegend – die tonangebenden Sozialdemokraten mißtrauten der Gewaltenteilung; sahen in ihr einen Hemmschuh der Volkssouveränität. Die 1920 verabschiedete Bundesverfassung kannte zwar ein Staatsoberhaupt (Präsidenten) und eine zweite Kammer (den Bundesrat), beide jedoch ohne wesentliche Befugnisse. Die Regierung war nicht bloß vom Vertrauen des Parlaments abhängig, sie wurde direkt von der „Kammer“ gewählt; die Parteien teilten den Staat unter sich auf, das Parlament ohnehin: Das Persönlichkeitswahlrecht in den Einerwahlkreisen der Monarchie wurde durch das Listenwahlrecht ersetzt; die Zusammensetzung der Liste bestimmten nicht die Wähler, sondern die Parteigremien.

Die Parteienlandschaft der Republik war von politischen Lagern geprägt, die ideologische und ökonomische Kriterien vielfach vereinten. Die Mehrheit der Arbeiter wählte sozialdemokratisch; die Mehrheit der Bauern christlichsozial; die Mehrheit des städtischen Bürgertums national-freiheitlich, das hieß ab 1920: in der Regel die Großdeutsche Volkspartei (zumindest außerhalb Wiens). Die Struktur der drei politisch-weltanschaulichen Lager war eine im ganzen katholischen Europa geläufige. Das Alleinstellungsmerkmal (Deutsch-)Österreichs bestand in der relativen Geschlossenheit dieser drei Lager. Überall sonst in Europa hatte sich die Arbeiterbewegung im Gefolge der Russischen Revolution in Kommunisten und Sozialdemokraten gespalten, oft noch mit einer dritten Gruppe von „Maximalisten“ dazwischen; in Österreich verteidigte die Sozialdemokratie die Einheit der Arbeiterbewegung als höchstes Gut und das mit Erfolg. Die KPÖ kam über eine Nischenexistenz im Null-Komma-Bereich nicht hinaus. Das bedeutete im Umkehrschluß freilich auch: Die radikalen Kräfte, die anderswo das Substrat der Kommunisten ausmachten, waren in Österreich weiterhin Teil der „austromarxistischen“ Sozialdemokratie – ein Befund, den Heimwehrjournalisten nicht müde wurden, ihren Lesern einzuhämmern.

Freilich: Ganz ähnlich war es auch um die Parteien auf der Rechten bestellt. Die Christlichsoziale Reichspartei vereinigte Lueger-Schüler und alpine Konservative, Republikaner und Monarchisten, Nutznießer und Verlierer des Umsturzes von 1918, Anhänger und Verächter der Demokratie, Agrarier und städtische Konsumenten; der vielbeschworene Gegensatz von Arbeit und Kapital, der Theoretiker der christlichen Soziallehre so sehr in Atem hielt, war verglichen damit vernachlässigenswert. Das national-freiheitlich-bürgerliche Lager war auf dem Boden der Republik (sprich: nach dem Verlust seiner Hochburgen in den Sudetenländern) eben nur mehr das „dritte Lager“ und immer schon berühmt für seine Uneinigkeit und Zersplitterung. Doch selbst hier gelang 1920 mit der Gründung der Großdeutschen Volkspartei ein Schulterschluß, der ganz unterschiedliche Temperamente in einer Fraktion vereinigte; von unentwegten Schönerianern, die Katastrophenpolitik betreiben wollten, bis zu bürgerlichen Pragmatikern, die retten wollten, was noch zu retten war, von „altem“ und „neuem“ Mittelstand, Beamten und Industrie: eine Zeitlang segelten selbst die antiklerikalen Bauern, der spätere Landbund, unter ihrer Flagge.

Die Folgen dieser auf den ersten Blick so kompakten und übersichtlichen politischen Landschaft werden deutlich im Vergleich mit der Weimarer Republik, der sich Deutsch-Österreich ja früher oder später anschließen wollte. Dort gab es je eine sozialistische, katholische und liberale Partei, die sich im Rahmen der Weimarer Koalition unter die „schwarz-rot-goldenen“ Gründungsväter der Republik einreihte (Sozialdemokraten, Zentrum, linksliberale DDP), und eine andere, die zumindest in den Anfangsjahren in der Opposition verharrte: Kommunisten, (katholische) Bayerische Volkspartei und Liberal-Konservative (DVP und DNVP). In Österreich hingegen ließ sich das prinzipielle, „weltanschauliche“ Bekenntnis zu einem „Lager“ und die pragmatische, aus der Einschätzung der augenblicklichen Lage erwachsende Wahl der jeweiligen Partei nur schwer voneinander trennen. Die eigentlichen Auseinandersetzungen verlagerten sich innerhalb der Parteien, wurden im Konklave der Hinterzimmer, der „smoke-filled rooms“, unter Ausschluß der Öffentlichkeit erörtert.

Damit waren auch die Möglichkeiten einer parlamentarischen Mehrheitsbildung auf einige wenige Varianten reduziert: Die Christlichsozialen hatten noch 1911 über 50 %, 1907 sogar fast 60 % der Stimmen auf dem Gebiet der späteren Republik auf sich vereinigt; das Jahr 1919, die Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung, stellte für sie ein Wahldesaster dar, das allenfalls noch durch die Stimmen der erstmals wahlberechtigten Frauen einigermaßen aufgefangen wurde. Eine absolute Mehrheit verfehlte die Sozialdemokratie bei den Männern 1919 nur um Haaresbreite. Rund 20 % verteilten sich auf die diversen Listen des freiheitlichen Spektrums; 1920 dann immerhin 12 % auf die Großdeutsche Volkspartei. Der Konzentrationsregierung der Umsturzwochen folgte 1919/20 eine Große Koalition von „Rot“ und „Schwarz“; ab 1922 der „Bürgerblock“ zwischen Christlichsozialen und Großdeutschen (1927 ergänzt um den Landbund, der sich inzwischen selbständig gemacht hatte).

Eine „rot-blaue“ Kombination wurde hin- und wieder angedacht; vorerst aber für zu riskant befunden: Die Sozialdemokraten wollten sich nach 1920 zunächst überhaupt nicht an einer „bürgerlichen“ Regierung beteiligen; die Großdeutschen fürchteten bei einer Links-Koalition das Wegbrechen eines Großteils ihrer Wähler. Als einzige Alternative behalf man sich 1920–22 mit einem Muster aus der Monarchie; einer Beamtenregierung, die sich politisch neutral verhalten sollte, allenfalls einzelne „Aufpasser“ aus den Reihen der Parteien ins Kabinett aufnahm. Johannes Schober, als letzter kaiserlicher Polizeipräsident von Wien, erwies sich schon 1921/22 als prädestinierter Kandidat für eine solche Lösung. Die Parteien konnten so die Verantwortung für unpopuläre Entscheidungen delegieren (oder gänzlich abschieben), freilich nur bis zu einem gewissen Grad: Denn wirkliche Weichenstellungen oder einschneidende Maßnahmen ließen sich von derlei Regierungen nicht umsetzen.

Einschneidende Maßnahmen ließen sich 1921/22 freilich nicht mehr länger hinausschieben. Deutsch-Österreich lebte seit 1918 zwar keineswegs gut, aber immer noch über seine Verhältnisse. Auf einen einfachen Nenner gebracht: Das Territorium der Republik war es gewohnt, Rohstoffe und Nahrungsmittel aus den Gebieten der alten Monarchie zu beziehen und dafür mit Dienstleistungen zu bezahlen, für die es nach 1918 keine Nachfrage mehr gab. Das galt nicht nur für die staatliche Verwaltung, die „verländert“ wurde; auch die Privatwirtschaft in den Nachfolgestaaten war dem Gebot der „Entösterreicherung“ unterworfen. Im Falle des Anschlusses hätte das Deutsche Reich für die Zahlungsbilanzlücke aufkommen müssen, die sich hier auftat. Das war nicht das eigentliche Motiv für den Anschlußgedanken; aber immerhin eine bequeme Ausrede: Wenn die Entente diese Lösung untersagte, sollte eben sie für das Defizit aufkommen. Ist der Ruf einmal ruiniert, lebt sich’s gänzlich ungeniert: Inzwischen kaufte Österreich zu Weltmarktpreisen die Nahrungsmittel ein und gab sie verbilligt an die Konsumenten ab. Diese Lebensmittelsubventionen umfaßten 1921 schon fast die Hälfte des Budgets. Die Inflationsspirale drehte sich immer schneller; der Kurs der Krone fiel ins Bodenlose – bis sie Ende 1921 im Ausland einfach nicht mehr gehandelt wurde, sprich: man überhaupt nichts mehr einkaufen konnte.

Damit war der sprichwörtliche Punkt erreicht: Es muß was g’schehen, sonst g’schiecht was. Das Problem – und seine Lösung – klingt heutzutage vielleicht nicht mehr ganz so exotisch wie noch in den siebziger Jahren, im Vollgefühl keynesianischer Machbarkeitsphantasien. Österreich brauchte kurzfristig einen Überbrückungskredit, um die Versorgung sicherzustellen; mittel- und langfristig ein Sanierungsprogramm, das bei Budget und Handelsbilanz für schwarze Zahlen sorgte. Das war der Moment Ignaz Seipels, seit 1921 Obmann der Christlichsozialen Partei. Seipel sorgte, unter der Ägide des Völkerbundes (Genfer Protokolle vom Oktober 1922), im Frühjahr 1922 für die erste wirkliche bürgerliche Koalition der Ersten Republik mit den Großdeutschen und für den Kredit; beides, indem er das Schreckgespenst an die Wand malte, der Staat werde sonst zerfallen oder auf die Nachbarn aufgeteilt werden. (Für die Großdeutschen wurde diese Parole auf die Formel gebracht: Wer am Anschluß festhalte, müsse dafür sorgen, daß späterhin überhaupt noch etwas da sei, was man anschließen könne.)

Vor allem aber sorgte Seipel für Kontrolle. Der neue Kanzler traute seinen Landsleuten nicht zu, einen rigorosen Sparkurs auch wirklich durchzuhalten. Dieses Mißtrauen erstreckte sich nicht bloß auf die Sozialdemokraten, sondern auch auf den Koalitionspartner und seine eigenen Parteifreunde in den Ländern. Einer seiner Vertrauten, der Großhändler Julius Meinl, ließ in London die Katze aus dem Sack: Österreich brauche die Kontrolle mehr als die Kredite! Hermann Kandl, der Obmann der Großdeutschen, brachte es auf den Punkt: „Wir verfügen über keine Gewalt. Wir brauchen darum den auswärtigen Druck.“5 Seipel setzte mit der Genfer Sanierung eine „virtuelle Gegenrevolution“ in Gang; eine Gegenrevolution, gestützt auf die Bedingungen der Auslandsgläubiger. Das war nicht populär, aber effektiv. Otto Bauer zollte dem „waghalsigen Spiel“ seines Gegners allen Respekt: „Der 4. Oktober 1922 war Seipels Revanche für den 12. November 1918.“ Das Gleichgewicht der Klassenkräfte sei in dem Moment aufgehoben worden, als sich „die Staatsgewalt unter den Schutz des Auslands flüchtete“.6

Freilich, um die Kontrolle des Budgets auf eine auswärtige Instanz zu übertragen, und sei es auch auf einen Kommissar des Völkerbundes, bedurfte es einer Bestimmung im Verfassungsrang, sprich: einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Nationalrat. Da führte folglich erst recht kein Weg an der Sozialdemokratie vorbei, die Seipels Strategie mit einem ebenso hintergründigen Manöver beantwortete. Die Sozialdemokraten argumentierten, man könne sich auch am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen, wenn nur der Wille vorhanden wäre, anstelle des Kredits auf die Guthaben der Bourgeoisie zurückzugreifen; daß sie mit diesem Vorschlag bei der Regierung auf keine Gegenliebe stießen, dürfte sie kaum verwundert haben. Deshalb entfesselten sie zugleich eine Kampagne gegen die Unterwerfung unter das Finanzkapital der Entente, die insbesondere auf die Emotionen der großdeutschen Wählerschaft zielte, bloß um am Ende verächtlich festzustellen, das nationale Bürgertum fühlte und dachte gar nicht mehr national, sondern nur noch bürgerlich.7 Schließlich aber stimmten die Sozialdemokraten im Parlament zwar gegen die Genfer Protokolle – ließen die Verfassungsbestimmungen, die zu deren Umsetzung nötig waren, aber passieren: Man wollte der Regierung Seipel ganz offensichtlich Leine geben, um sich daran zu erhängen.

Im Rahmen der Kreditverhandlungen war immer wieder auch das Thema zur Sprache gekommen, wie es denn um die innere Sicherheit der bankrotten Republik bestellt war. Die potentiellen Geldgeber konnten sich da eines gewissen Unwohlseins nicht erwehren. Österreich verfügte aufgrund des Friedensvertrages von Saint-Germain über ein Berufsheer von maximal 30.000 Mann. Die Mannschaft dieses Bundesheeres bestand überwiegend, ja fast ausschließlich aus sozialdemokratischen Parteigängern. Dieser Befund war deshalb so leicht zu erstellen, weil die Soldatenräte der Umsturzzeit als Betriebsräte des Bundesheeres, als Vertrauensmänner weiterlebten, die jährlich neu gewählt wurden. Bloß die „Roten Garden“, die Einheiten, die kommunistisch durchsetzt und 1919 mehrfach an Unruhen beteiligt gewesen waren, waren inzwischen aus dem Verkehr gezogen worden. Was es daneben auch 1922 noch gab, waren Arbeiterwehren, die vor Ort immer wieder einmal das Gesetz in die eigene Hand nahmen, zuweilen auch jenseits der Bestimmungen des Gesetzes auf eigene Faust beispielsweise Requisitionen vornahmen, zum Teil auch in vorauseilendem Gehorsam von ängstlichen Landesregierungen dazu ermächtigt worden waren.

Die Sozialdemokratie war eine disziplinierte Partei: Sie versuchte diese Erscheinungen in den Griff zu bekommen, ihren weit vorgeschobenen linken Flügel zu integrieren; sie vermerkte freilich auch mit Wohlgefallen, daß derlei Übergriffe dazu angetan waren, ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, wie Otto Bauer ohne Heuchelei offen zugab: Man habe die „Hochflut der mitteleuropäischen Revolution, jenen Monat, in dem in Budapest und in München zugleich die Sowjetdiktatur herrschte, ausgenützt, um dem Unternehmertum das Betriebsrätegesetz aufzuzwingen“, ja „weitestgehende Zugeständnisse abgetrotzt, die innerhalb des kapitalistischen Systems überhaupt noch möglich“ seien.8 In diesem Sinne urteilte das Linzer Tagblatt damals gönnerhaft: Die Nationalversammlung „arbeitet, und sie arbeitet – unter dem Druck des drohenden Proletariats – nicht schlecht“. Man könne mit ihr vorläufig das Auskommen finden. „Freilich muß der Pakt mit der Demokratie kein ewiger sein. Er ist uns durch eine besondere Notlage aufgezwungen.“9 Das war so locker formuliert, um den linken Flügel bei der Stange zu halten; es gab die Machtverhältnisse gut wieder.

Freilich: Paramilitärische Verbände und außerparlamentarische Machtzentren gab es nicht bloß auf der Linken. Bereits in den Umsturztagen hatten sich, parallel zu den Ordnern der Arbeiterräte, lokale Selbstschutzverbände bürgerlichen und bäuerlichen Zuschnitts herausgebildet. Diese Formationen waren anfangs mehr gegen den Aspekt der österreichischen Revolution gerichtet, den Otto Bauer als Sieg der nationalen Bourgeoisie in den Nachfolgestaaten umschrieben hatte. Es ging um Grenzstreitigkeiten, wie zum Beispiel in der Untersteiermark oder in Kärnten, daneben um Schutz vor den Massen zurückflutender Soldaten entlang der Bahnlinien, so in Graz oder in Tirol, bis hin zu Flurwachen, wie sie Josef Stöckler, der Chef des Niederösterreichischen Bauernbundes, empfahl. Später nahm die Gemeinde Igls in Anspruch, am 13. November 1918 – dem ersten Tag der Republik – die erste Heimatwehr organisiert zu haben.10 Doch auch der junge Starhemberg schrieb schon ein paar Tage später an seinen Vater, in der Umgebung von Linz hätte sich „gegen herumstreunende Banden eine regelrecht organisierte Bürgerwehr“ gebildet, unter einem Leutnant und einem Grafen Walterskirchen; er selbst sei Kommandant in Auhof, dem Vorort, wo die Familie ein Schloß besaß (das heute die Universität Linz beherbergt).11 Hatten diese Selbstschutzverbände einmal Form angenommen, so lag sehr wohl auch eine innenpolitische Instrumentalisierung nahe, im Sinne eines Gegengewichts zur militanten Linken, in Verbindung mit ähnlichen Bewegungen in Bayern oder Ungarn, wo auch tatsächlich Revolutionen stattgefunden hatten.

Aus diesen ephemeren, grenzüberschreitenden Allianzen entwickelte sich ein bunter Reigen politischer Intrigen und Querverbindungen, quer über die Grenzen der weltanschaulichen Lager hinweg, den Ludger Rape im Detail analysiert hat. Bayerische Separatisten gaben sich ein Stelldichein mit österreichischen Großdeutschen, abgebaute alldeutsche Offiziere mit österreichischen Katholiken. Vermutlich haben alle Beteiligten dabei auch kräftig übertrieben, was ihren Anhang oder die Schlagkraft ihrer Verbände betrifft. Um so erstaunlicher war das vorläufige Endergebnis: nämlich null. Die Selbstschutzverbände der Frühzeit, mit ihren hochtrabenden Titeln und weitreichenden Zielen, hatten keinen Bestand. Die Rückendeckung aus Bayern fiel weg, sobald der Spuk der Räterepublik vorbei war und die Entente dort auf Entwaffnung drängte; das italienische Experiment des „Marcia su Roma“ im Oktober 1922 war noch allzu neueren Datums, um als Exportschlager bereits Werbewirksamkeit zu entfalten.

Standartenweihe der Heimwehren in Klagenfurt am 23. September 1923

In Österreich kam es Anfang 1923 zu einer Weichenstellung: Bundeskanzler Seipel hatte in der Anfangsphase der Sanierung offenbar kurz einmal damit geliebäugelt, den Selbstschutzverbänden eine Rolle in seinem Konzept zu übertragen. Leider bleibt vieles an dieser Episode im Dunkeln; sie wird von allen Beteiligten gleichsam nur im Vorübergehen erwähnt. Auffällig ist, daß es sich bei den damaligen Protagonisten um dieselben handelt, die auch vier, fünf Jahre später die Hauptrolle spielten: Seipel – und den Tiroler Bundesrat Steidle, der Papierform nach beide Christlichsoziale, die damals jedenfalls nicht zueinanderfanden. Seipel bestand auf einer Vereinheitlichung der Selbstschutzverbände, sprich: der Unterordnung Steidles unter eine Bundesführung, ließ den Plan – Angebot oder auch Übernahmedrohung – jedoch erstaunlich rasch fallen, als sich Widerstände zeigten. Der Rückzug des Kanzlers hatte seine Folgen: Es versiegten weitgehend auch die Gelder der Industrie.

Die Selbstschutzverbände (SSV) wurden 1922/23 weitgehend „eingemottet“. Der Verdacht drängt sich auf: Die meisten dieser Einheiten existierten bald nur noch auf dem Papier. Das Muster von „challenge“ und „response“ machte sich bemerkbar: Ohne wirkliche Herausforderung war auch keine nennenswerte Reaktion mehr notwendig. Was nach dem Abflauen dieser ersten Welle übrigblieb, wurde von den Parteien domestiziert, auf den Status Freiwilliger Feuerwehren reduziert. Die Leitungsgremien oder Kontrollausschüsse dieser SSV wurden von den bürgerlichen Parteien in der Regel paritätisch besetzt. In Vorarlberg und Tirol unterstanden sie – im Sinne einer im Bedarfsfall zu mobilisierenden Hilfspolizei – direkt der Landesregierung. Freilich, wenn zwei das gleiche tun, ist es nicht dasselbe: Die Vorarlberger waren mit dieser Rolle zufrieden, während Steidle in Tirol darin nur eine finanzielle Mindestsicherung erblickte und sich zu Höherem berufen fühlte. In Kärnten wurde nach seinem Ausscheiden aus dem aktiven Heeresdienst dem Oberbefehlshaber im Abwehrkampf Feldmarschalleutnant (FML) Ludwig Hülgerth das Kommando übertragen (politisch spielte dort der großdeutsche NR Oberst Thomas Klimann als Generalsekretär des Kärntner Industriellenverbandes die erste Geige). All diese westlichen Verbände bildeten zusammen den Verband der Alpenländischen SSV, 1923 ins Leben gerufen und 1926 erneuert.

Im Osten hielten sich die Landesregierungen zurück, die Parteien etablierten in Eigenregie ihre Kontrollorgane: Wiederum konnte das Resultat nicht unterschiedlicher sein: In Oberösterreich zierte sich der Landeshauptmann, Prälat Johann Nepomuk Hauser, und ließ sich erst 1925 überhaupt dazu überreden, seine Zustimmung zu einem solchen Arrangement zu geben; in der Steiermark hingegen sicherte sich der christlichsoziale Landeshauptmann, Anton Rintelen, eine Vorrangstellung, mit Ausnahme der Obersteiermark, die ein besonderes Biotop darstellte. In Niederösterreich blieben nur „rudimentäre Formationen“12 zurück, mit Baron Ehrenfels von der Landwirtschafts-Gesellschaft an der Spitze. Es war auffällig, daß die christlichsoziale Mehrheit im „schwarzen Kernland“ es lange Zeit offenbar nicht der Mühe wert fand, sich auf diesem Sektor stärker zu engagieren; das Burgenland wiederum war gerade erst zu Österreich gekommen: Paramilitärische Formationen hatten im umstrittenen Deutsch-Westungarn bis dato nur die Ungarn aufgestellt.

Im „roten Wien“, seit 1922 Stadt und Land in einem, konnten die Selbstschutzverbände zum Unterschied von den Ländern selbstverständlich von vornherein auf keinerlei offizielle Unterstützung rechnen. Hier waren Freiwillige gefragt, Amateure, die auch ohne offizielle Rükkendeckung oder milde Gaben bereit waren, die Sache in die Hand zu nehmen. Das Ergebnis war ein buntes Durcheinander von Anwärtern, die dieses Vakuum füllen wollten: Zuallererst die Frontkämpfervereinigung unter Oberst Hermann Hiltl, die bundesweit agierte, ihre Hochburg aber in den Städten hatte; sie wurde aufgrund ihrer Bindung an die alte Armee oft als monarchistisch eingeschätzt, was nicht unbedingt zutraf; dann die „Waffenstudenten“, mit dem Alpenvereinschef Hofrat Eduard Pichl, einem glühenden Bewunderer und Biographen Schönerers, an der Spitze; daneben alle möglichen Gruppen und Grüppchen, die zuweilen in der näheren Umgebung der Stadt ausschwärmten, in der Wiener Politik aber keine Rolle spielten.

Fazit: Nur in zwei, drei Regionen blieb ein aktionsfähiger „harter Kern“ zurück, der sich auf entsprechende Bewährungsproben berufen konnte. In Kärnten natürlich der Abwehrkampf; in Tirol unter Richard Steidle 1920 immerhin gegen einen Streik der Bahnen eingesetzt; in der Steiermark hatte Walter Pfrimer in Judenburg mit seinen Leuten 1922 eine Gendarmerieabteilung aus einer Klemme befreit.13 Kärnten und Tirol waren nicht bloß Grenzländer, auch ihre politische Struktur wies gewisse Besonderheiten auf, wie sie der Aufstellung von SSV zugutekamen. Auf einen einfachen Nenner gebracht: Nur in Kärnten war das national-freiheitliche Lager auch auf dem Lande mehrheitsfähig; nur in Tirol gab es umgekehrt von alters her auch ein städtisch-bürgerliches Establishment, das ganz offen und selbstbewußt „schwarz“ war. Stadt und Land bildeten keine Gegensätze, zumindest nicht im Sinne von Parteien, die einander mißtrauisch beäugten. Deshalb handelte es sich bei den jeweiligen Heimwehren noch lange nicht um „schwarze“ oder „blaue“ Parteigarden. Im Gegenteil: Über kurz oder lang gewann in beiden Fällen die Absetzbewegung von den dominanten Landesparteien die Oberhand: Steidle und die Christlichsozialen gerieten 1930/31 ebenso in Konflikt miteinander wie Heimwehr und Landbund in Kärnten.

Ein eigenes Biotop stellte die Obersteiermark dar, die Mur-Mürz-Furche, der Ausläufer der „roten Republik“, die von Wien über das niederösterreichische Industrieviertel und den Semmering bis zum Dreieck Kapfenberg/Bruck/Donawitz und darüber hinaus in die Bergbauzentren am Erzberg oder in Fohnsdorf reichte. Platzhirsch im Revier der Obersteiermark war die Alpine-Montangesellschaft, der größte Konzern Österreichs, der von Kohlengruben bis zu Stahlwerken reichte; er befand sich seit 1926 mehrheitlich im Besitz des Düsseldorfer Giganten „Vereinigte Stahlwerke“, mit einer Minderheitsbeteiligung der Niederösterreichischen Escomptebank unter Kux. Zusammen mit Böhler, Schöller-Bleckmann, Felten & Guillaume und einigen kleineren Firmen bildete die „Alpine“ den Verband der steirischen Eisen- und Stahlwerke. Die Industriellen hatten nach 1918 unter Übergriffen zu leiden gehabt. Im Zentrum des Bezirks, im „Sowjetgebiet“ von Bruck an der Mur, wie es 1927 hieß, herrschte der sozialdemokratische Abgeordnete Koloman Wallisch, dem man auf bürgerlicher Seite gern seine Verwicklung in die Exzesse des Béla-Kun-Regimes in Ungarn vorhielt, in den frühen zwanziger Jahren noch ziemlich unumschränkt. Es konnte nicht verwundern, daß sich die Industrie um Verbündete umsah – und sie in Pfrimers Heimwehren fand. Hier schlug die Geburtsstunde einer regionalen Sonderentwicklung, die ohne politische Mittelsmänner auskam, ohne Landesregierung, deren Einfluß auf die SSV bei den Fischbacher Alpen endete, ohne den Hauptverband der Industrie in Wien, der erst später wieder tätig wurde, ohne Steidles Westschiene, den Verband der SSV.14

Steidle und Pfrimer waren aus der Sicht der dreißiger Jahre kuriose Gestalten; Renner hatte das soziale Substrat der Heimwehr in der Revolte der alten Eliten gegen die bürgerlichen Aufsteiger verortet. Nun: Steidle und Pfrimer waren weder Aristokraten noch Offiziere oder doch nur mit Nachsicht aller Taxen: nämlich Reserveoffiziere und Etappenhengste; in dieser Beziehung traf auf sie die boshafte Bemerkung zu, bei den Heimwehren „drängten sich jene in die ersten Stellen, die nach dem Krieg an Tapferkeit aufholen wollten, was sie während des Krieges zu beweisen versäumt hatten“. Pfrimer war korpulent und schwerhörig; er rückte 1917 ein, wurde aber bald als untauglich entlassen.15 Steidle, „der Riese mit dem Knebelbart“, wurde im Gegensatz dazu einmal sogar als „Marlitt-Schönheit“ gewürdigt; doch seine militärische Laufbahn als Schriftführer des Justizreferats beim Militärkommando in Innsbruck und Hall wurde zur beliebten Zielscheibe des Spotts seiner politischen Gegner: Er habe vier Jahre an „unstillbarer Diarrhoe“ gelitten; keine zehn Ochsen wären imstande gewesen, ihn an die Front zu bringen, so hieß es.16 Er selbst weinte dem Militär keine Träne nach: Zumindest tröstete er die Tiroler Bauern, ein siegreicher Ausgang des Krieges hätte möglicherweise „zu einer Säbelherrschaft, zu Übermut und Überhebung der bisher Herrschenden und zu wahnwitziger Überspannung der Militärlasten geführt“, bis am Ende noch „bei jeder Dachluke ein Offizier herausblinzeln würde“.17

Steidle und Pfrimer waren nur in einer Beziehung typisch für viele Heimwehr-Exponenten: Sie waren „Exulanten“, geboren in Gebieten, die 1918/19 abgetreten werden mußten, insofern vielleicht besonders von der Niederlage betroffen, wie es auch für diverse andere prominente Heimwehrler galt, so für Jakoncig, Neustädter-Stürmer etc. Steidle war in Obermais bei Meran geboren, Pfrimer in Marburg aufgewachsen. Doch ihr Verhältnis zu den neuen Machthabern in der alten Heimat war in der Folge keineswegs in einem antagonistischen Sinne zu interpretieren, wie man vielleicht vermuten würde. Gerade mit Mussolini sollte Steidle gute Beziehungen aufbauen, ja mehr noch, er hatte schon 1919 im Sinne einer nüchternen Realpolitik eine Verständigung mit Italien vorschlagen; Pfrimer wiederum pflegte mit Jugoslawien ein durchaus auskömmliches Verhältnis, nach seinem gescheiterten Putschversuch 1931 fand er in seiner Heimatstadt problemlos Aufnahme. Auf alle Fälle: Beide waren – auch als „Anti-Körper“ – ebenso „Revolutionsgewächse“ wie viele ihrer Gegner, klassische „homines novi“, von denen vor 1918 niemand gehört hatte.

Richard Steidle: der „Riese mit dem Knebelbart“ als „Mussolini von Tirol“

Pfrimer taucht das erste Mal auf dem „Volkstag“ in Judenburg im Juli 1918 auf; Steidle wurde im Dezember 1918 für die Tiroler Volkspartei, den Zusammenschluß aus Konservativen und Christlichsozialen, der in Tirol damals erst zustande gekommen war, in die provisorische Landesversammlung gewählt – ausdrücklich als Vertreter der Intelligenz, nicht der Bauern oder Arbeiter – und gleich auch zu einem der sechs Landesräte bestellt.18 Er erregte Aufsehen, als er im Jänner 1919 das Grundsatzreferat bei der Generalversammlung des Tiroler Bauernbundes hielt, das in einer Tiroler Unabhängigkeitserklärung ausklang, verbunden mit einer klaren Absage an Österreich: „Es gibt überhaupt kein Österreich mehr, Gott sei Dank! […] Nur nackte Gewalt könnte uns zum Verbleiben im alten Staatsverbande zwingen, sei es in der Form des alten Österreich, sei es in der Form des jetzigen, auf die Dauer unmöglichen Deutschösterreich“, das nichts anderes darstelle als „eine Konkursmasse“ und ohnehin „mit einem derart abgelegenen Zipfel nichts anzufangen wüßte“.19 Wie später bei den Heimwehren schwebte ihm als Alternative zur Tiroler Unabhängigkeit schon damals ein Alpenbund vor, allenfalls eine Anlehnung an Zürich oder München, ganz sicher nicht an Wien oder Berlin. Noch auf dem christlichsozialen Parteitag 1926 warf Kunschak seinem „Freunde Dr. Steidle, dem Mussolini von Tirol“ vor, er würde die Wiener am liebsten preisgeben. Seine Haltung ließe sich vielleicht so beschreiben: „Es tut uns sehr leid um Euch, aber den Kerlen ist nicht zu helfen, was sollen wir uns mit einem solchen Ballast beschweren.“20

II.Die unwiderstehliche Volksbewegung (1927–29)

Der Kontext des 15. Juli 1927 – Einheitsliste und Obstruktion

Erst mit den Wiener Unruhen am 15. Juli 1927, dem Brand des Justizpalastes, traten nach einer Unterbrechung von fast fünf Jahren auch die Heimwehren wiederum ins Rampenlicht. Dieser Eindruck ist richtig, wenn man das Stichwort vom „Rampenlicht“ wörtlich nimmt: Der irreführende Eindruck vom roten Umsturzversuch bot ihr eine Bühne und verhalf ihr zur Inszenierung in der Rolle als Drachentöter, der im Handumdrehen den proklamierten Verkehrsstreik niederwarf. Hinter den Kulissen rumorte es freilich schon längst vor dem Justizpalastbrand. Zwar galten die Jahre der „Länderregierung“ Ramek, nach dem strategischen Rückzug Seipels im November 1924, mit Recht als die ruhigen Jahre der Ersten Republik. Der Salzburger Hinterbänkler Ramek präsidierte über ein Kabinett aus Steirern und Niederösterreichern. Die Länder – inklusive des „roten Wien“ – suchten einvernehmlich, mit mäßigem Erfolg, die Folgen der Genfer Sanierung „abzufedern“, die zentrale Völkerbundskontrolle mit der Autonomie der Länder in Einklang zu bringen.

Als Falke profilierte sich innerhalb der Christlichsozialen dabei nur der Heeresminister Vaugoin, der einzige Wiener, der aus dem Kabinett Seipel übernommen worden war. Vaugoin betrieb die „Entpolitisierung“ des Bundesheeres, die selbstverständlich – ganz im Sinne der Aufteilung des Staates unter die Parteien – zu einer „Umpolitisierung“ geriet. Anhänger des sozialdemokratischen „Militärverbandes“, deren Dienstzeit abgelaufen war, wurden von Kandidaten des „schwarzen“ Wehrbundes ersetzt; anfangs war dafür noch ein komplizierter Schlüssel ausgehandelt worden. Die Sozialdemokraten durften gegen einen gewissen Prozentsatz der Vorschläge des Ministers ein Veto einlegen; Vaugoin auf einen Teil davon doch noch beharren.21 Die Absicht war dennoch eindeutig – und die Sozialdemokratie reagierte dementsprechend. Sie rief 1923 den Republikanischen Schutzbund ins Leben.

Diszipliniert und uniformiert: der Republikanische Schutzbund

Der „Resch“ erfüllte eine Doppelfunktion: Er faßte die bisherigen Arbeiterwehren zusammen und unterstellte sie dem Befehl der Partei. Diese Zentralisation diente dem Primat der Politik; sie half Extratouren ungebärdiger Funktionäre vor Ort einzudämmen und besaß insofern eine durchaus gemäßigt-stabilisierende Stoßrichtung, die freilich von niemandem so recht gewürdigt wurde. Andererseits bedeutete der Ausbau des Schutzbundes natürlich auch ein Mißtrauensvotum gegen das Bundesheer, das langsam, aber sicher dem Einfluß der Partei entzogen und mit Parteigängern Vaugoins aufgefüllt wurde. In diesem Sinne ging mit dem Ausbau des Schutzbund eine innere Aufrüstung, eine Militarisierung, einher. Der Schutzbund leistete keinen pseudo-administrativen Übergriffen mehr Vorschub – wie die Arbeiterwehren der Umbruchszeit –, aber er veranstaltete Gefechtsübungen (wie zum Beispiel ein Handgranatenwerfen im Prater) und Aufmärsche nicht bloß im ureigenen Revier, sondern demonstrativ und provokant auch in gegnerischen Hochburgen, wie 1925 in der Stadt Krems. Diese Umzüge verbanden gezielte Provokation mit einer Machtdemonstration, der eine gewisse Werbewirksamkeit nicht von vornherein abzusprechen war, denn das Publikum der Zwischenkriegszeit (darunter erst sehr wenige Autofahrer) stand martialischem Gepränge nicht unbedingt ablehnend gegenüber.22

Otto Bauer hatte auf dem Weg zu den notwendigen 51 % der Stimmen ein sozialistisches Agrarprogramm erstellt, die Landarbeiter als Zielgruppe ausgemacht und den Kampf ums Dorf ausgerufen. Die Christlichsozialen nahmen die Herausforderung ernst: Nicht bloß die üblichen Verdächtigen, Vaugoin oder Rintelen, sondern selbst spätere Heimwehrskeptiker wie die Oberösterreicher oder der Vorarlberger Feldkaplan Karl Drexel warnten 1926 im Klub: Auch in den kleinsten Gemeinden würden Ortsgruppen des Schutzbundes gegründet. Körner und Deutsch „gehen jetzt daran, auch die Länder zu organisieren und die Revolution, die nur halb gelungen sei, zu vollenden. Auf unserer Seite seien nur Tirol und Kärnten organisiert. Nieder- und Oberösterreich gar nicht.“ Kunschak nahm zwar die Dinge in Wien „nicht zu tragisch“: Die Stärke des Schutzbunds „brauche uns deshalb nicht zu imponieren, weil die Assentierungen zwangsweise in den Fabriken bei sonstigem Verlust des Postens vorgenommen werden“. Aber auch er warnte vor den 100.000 Gewehren, die für den Schutzbund im Arsenal lagerten.23

Nicht nur auf dem Feld der paramilitärischen Betätigung verschärfte die Sozialdemokratie die Gangart. In der Monarchie war die Arbeiterpartei durch ihre guten Manieren aufgefallen: Während die Nationalisten mal der einen, dann der anderen Seite immer wieder die Arbeit des Reichsrats obstruierten, Pultdeckelkonzerte veranstalteten und durch endlose Interpellationen, namentliche Abstimmungen und Dauerreden jegliche Beratung, geschweige denn Beschlußfassung verhinderten, markierte ausgerechnet die Fundamentalopposition der Sozialdemokratie (von wenigen Ausnahmen abgesehen) die konstitutionellen Musterknaben, die sich naserümpfend von diesem Treiben abwandten. Das Parlament als Institution sollte nicht ad absurdum geführt, delegitimiert und unmöglich gemacht werden, zur Freude der Reaktion, die bloß darauf wartete, das Abgeordnetenhaus heimzuschicken, um endlich ungeniert mit dem Notverordnungsparagraphen weiterregieren zu können. Dieses einleuchtende Motiv für skrupulöses Wohlverhalten fiel inzwischen freilich weg: Es gab keinen Kaiser mehr, ja nicht einmal einen Notverordnungsparagraphen.

Damit ergab sich die Versuchung, das Instrumentarium der Obstruktion nicht bloß für „nationale Hochziele“, für oder gegen Sprachenverordnungen, sondern zur Abwechslung auch einmal für die Anliegen der Arbeiterklasse in Stellung zu bringen. Oder besser gesagt: wohlbedacht für Anliegen, die keineswegs nur den waschechten Proletarier betrafen, nämlich für den Mieterschutz. Damit war die Argumentation der Vorkriegszeit vollends auf den Kopf gestellt. Denn strenggenommen verteidigte die Sozialdemokratie damit die unveränderte Gültigkeit einer kaiserlichen Notverordnung vom Frühjahr 1917. Der Mieterschutz hatte die Mieten auf dem Niveau der sogenannten Friedenskronen eingefroren; der Zins war durch die Inflation auf ein Zehntausendstel des Vorkriegswerts reduziert worden war. Mit der Sanierung war in vielen Bereichen eine Rückkehr von der staatlichen Bewirtschaftung zum freien Markt erfolgt; das galt für die lange Zeit subventionierten Lebensmittel. Nur der Wohnungsmarkt machte weiterhin eine Ausnahme.

Sobald schüchterne Versuche der bürgerlichen Parteien erfolgten, auch auf diesem Sektor eine Änderung eintreten zu lassen, konterten die Sozialdemokraten mit der Obstruktion im Ausschuß: Dauerreden verhinderten den Übergang zur Tagesordnung. Mit ihrer Argumentation, „es gehe nicht an, daß eine Mehrheit von Bauernabgeordneten der Bevölkerung der Städte den Abbau des Mieterschutzes aufzwingt“,24 nahm die Sozialdemokratie in gewissem Sinne die Devise des Ständestaates vorweg. Nicht mehr das Volk, sondern nur mehr die unmittelbar Betroffenen sollten zu Wort kommen, als Krönung einer funktionalen Demokratie, welche „die parlamentarische begrenzt und berichtigt“, als „Resultat der außerparlamentarischen Macht des Proletariats“.25

Die Partei bereitete damit ihren Wahlschlager für die Wahlen des Jahres 1927 vor: Denn vom Mieterschutz profitierten nicht nur ihre Genossen, sondern auch die berühmten Hofratswitwen in ihren geräumigen Innenstadtwohnungen; die Großdeutsche Volkspartei mit ihrer Beamtenklientel wünschte das Thema zum Teufel: Man war natürlich für das Privateigentum, den „Grundsatz unseres Wirtschaftsprogramms“, wie es einer ihrer Abgeordneten ausdrückte;26 doch wie so oft bei Programmen, nicht hier und nicht jetzt. Auch die Industrie war um eine Stellungnahme sehr verlegen: Jede Anhebung der Mieten war für sie unweigerlich mit Lohnforderungen verknüpft, denen sie lieber ausweichen wollte. Bloß die Bauern, gleich welcher Couleur, vom Mieterschutz auf den ersten Blick nicht in erster Linie betroffen, nahmen kein Blatt vor den Mund und forderten prinzipiell die Aufhebung derartiger kriegswirtschaftlicher Relikte. Der Landbund setzte 1927 sogar extra den Präsidenten des (zweifelsohne überwiegend städtischen) Hausbesitzerverbandes, den Grazer Franz Pistor, auf seine Liste.

Inzwischen hatten sich die politischen Rahmenbedingungen wiederum verändert. Die Länderregierung war 1926 im zweiten Anlauf gescheitert, nicht unbedingt aus eigener Schuld. Ihr fiel die Konjunktur auf den Kopf, besser die Schubumkehr der Konjunktur. Die Inflationszeit war von einer Scheinkonjunktur begleitet worden: Die sprichwörtliche Flucht in Sachwerte, wie sie jede Inflation auslöst, hatte die Nachfrage angekurbelt; Sachwerte, das waren letztlich auch Wertpapiere, Aktien, die man ankaufte; einfach, weil alles besser war als die Banknoten, die morgen schon nur mehr die Hälfte wert waren. Mit der Sanierung, mit dem Ende der Inflation, war dieses unkritische Investitionsklima vorbei. Der reale Zinsertrag stieg wiederum in lichte Höhen; die Aktienwerte rasselten in den Keller. Das Ergebnis war: Für alle Banken, die nicht sehr vorausschauend disponiert hatten, erwies sich die Genfer Sanierung als das genaue Gegenteil, nämlich als Weg in den Bankrott.

Betroffen davon waren eine Reihe von Glücksrittern, aber auch mehr oder weniger biedere Provinzbanken, die es den Finanzhaien gleichtun wollten und jetzt auf der Strecke blieben, wie zum Beispiel die Steirerbank und die Zentralbank der deutschen Sparkassen mit dem großdeutschen Tycoon Viktor Wutte im Hintergrund. Im Wahlkampf skandierten die Sozialdemokraten: „Es riecht zum Himmel der Gestanken von den christlich-deutschen Banken“. Diese hatten sich in ihrer Not an ihre politischen Freunde gewandt – und der Misere einen Hautgout von politischer Korruption verschafft. In der Steiermark kandidierte 1927 deshalb eine eigene Antikorruptionsliste unter einem Priester, Johannes Ude, dem „Savonarola von Graz“, der von Monsignore Seipel und seinem Bischof vergeblich zur Ordnung gerufen wurde.

Auch aus einer ganz anderen Richtung drohte Ungemach: Die österreichische Krone im freien Fall hatte die Importe verteuert und wie ein Schutzzoll gewirkt. Mit der Seipelschen Sanierung war Österreich wieder am Weltmarkt angekommen. Die Sanierungspartnerschaft basierte nicht zuletzt auf der Entschlossenheit der Agrarier, die genug hatten von den Bevormundungen der Kriegswirtschaft. Doch die Kur erwies sich als zweischneidig: Die Rückkehr zur Vorkriegsqualität ließ auch die ausländische, überseeische Konkurrenz wieder zur Geltung kommen. Die Landwirtschaft war deshalb schon lange vor dem Krach des Jahres 1929 von Preisverfall betroffen. Der oppositionelle Landbund machte sich die Stimmung zunutze und veranstaltete im Herbst 1926 eine Reihe großer Demonstrationen, auf denen die Redner schon mal über das Ziel hinausschossen, mit dem Steuerstreik drohten oder antiklerikale Fanfarenstöße vom Stapel ließen.27

Kanzler war zu diesem Zeitpunkt schon wieder Seipel, der im Herbst 1926 das Amt mit dem berühmten Satz übernommen hatte, es ginge der Republik nicht so schlecht, daß er annehmen müsse, aber auch nicht so gut, daß er ablehnen dürfe. Die Korruptionsaffären hatten den Koalitionsfrieden nachhaltig gestört: Das Duo Seipel – Dinghofer wurde als Retter in der Not zurückgerufen. 1923 hatten die Großparteien – trotz erbitterter Polemik um Genf – immer noch Zeit gefunden, das Wahlrecht zu novellieren, zum Schaden der Kleinparteien, die ihre Listen nicht mehr koppeln konnten und in Hinkunft auf teure Restmandate angewiesen waren. Seipel bot den gefährdeten Großdeutschen, deren Beamtenklientel unter der Sanierung in erster Linie gelitten hatte, jetzt die Kandidatur auf einer bürgerlichen Einheitsliste an und garantierte ihnen alle ihre bisherigen Mandate.

Beide Seiten verbanden mit den Wahlen vom April 1927 unrealistisch hohe Erwartungen. Die Sozialdemokraten erwarteten sich als Resultat der Proteststimmen vielleicht keine 51 %, aber jedenfalls einen großen „Sprung nach vorne“; Bürgerliche träumten von der Zwei-Drittel-Mehrheit an Mandaten als Prämie der Einigkeit, die zwar vielleicht auf den ersten Blick Reibungsverluste vermeiden half; auf den zweiten Blick aber erst recht provozierte, weil sich die Anhänger für eine Einheitsliste nicht sonderlich engagierten. „Der lokale Vertrauensmann will für die reine Sache kämpfen, wenn er das nicht kann, verliert er die Lust.“28 Gewinner war in erster Linie der Landbund, der sich der Einheitsliste nicht angeschlossen hatte; die Einheitsliste verfehlte sogar knapp die absolute Mehrheit an Stimmen. Die Sozialdemokraten legten leicht zu – und erreichten mit 42 % der gültigen Stimmen ihr bestes Ergebnis in der Ersten Republik (vom Revolutionsjahr 1919 einmal abgesehen).

Mit 85 von 165 Sitzen hatte die Einheitsliste ihre regierungsfähige Mehrheit nicht eingebüßt, doch Seipel holte den Landbund ins Boot, der zwar nur neun Sitze erobert hatte, aber auf dem Vizekanzler bestand, den mit Karl Hartleb ein obersteirischer Großbauer übernahm. Für die Großdeutschen mußte ein Ausgleich geschaffen werden durch Schaffung eines eigenen Justizministeriums, das bisher aus Ersparnisgründen dem Bundeskanzleramt unterstanden hatte und für Dinghofer vorgesehen war. An diesem Punkt setzten die Sozialdemokraten ein: Sie verweigerten der Novellierung des Ministeriengesetzes ihre Zustimmung, mehr noch: sie brachten gegen das Bagatellgesetz die schärfste Waffen in Stellung, die ihr zur Verfügung stand. Sie drohten mit der Obstruktion, nicht mehr bloß im Ausschuß, sondern auch im Plenum des Nationalrates, der deshalb im Frühjahr wochenlang nicht mehr zusammentrat. Allenfalls gegen Zugeständnisse in den Heeresfragen (oder gegen eine Inkraftsetzung der Altersversicherung) wären sie zu einem Einlenken bereit. Seipel berichtete über ein Gespräch mit Otto Bauer, der zugab: „Die Frage des neuen Justizministeriums sei überhaupt nicht zweifelhaft“, aber: „Die Sozi seien in Schwierigkeiten […] Deutsch braucht irgend etwas.“29 In der Monarchie hatte sich für diese Taktik der Begriff der „Trinkgeld-Obstruktion“ eingebürgert, unternommen nicht mehr zur Verteidigung der heiligsten Güter der Nation, sondern um politisches Kleingeld zu lukrieren.

Es ergibt sich in diesem Zusammenhang ein kurioser Befund auch in der Historiographie: Die Debatten auf dem Parteitag der Sozialdemokratie in Linz im Jahr davor – mit ihren Kontroversen über den richtigen Zeitpunkt, an dem man zur Diktatur des Proletariats greifen sollte, richtig wohlgemerkt im Sinne marxistischer Dialektik, nicht politischer Taktik – sind als Paradebeispiel des Verbalradikalismus in die Geschichte eingegangen und wurde noch Jahrzehnte später gern aufgewärmt.30 Die politische Eskalation des Frühsommers 1927, im Prinzip ein viel gewichtigerer Anschlag auf die „politische Kultur“ einer parlamentarischen Demokratie, ist dagegen kurioserweise in Vergessenheit geraten. Die Wochen vor dem Justizpalastbrand waren von Verhandlungen darüber ausgefüllt, wie man die Sozialdemokraten von der Geltung des Mehrheitsprinzips überzeugen könne. Otto Bauer, später zum Sündenbock des Linzer Parteitages gestempelt, verhandelte mit Seipel weiterhin über einen Kompromiß – und mußte gestehen, daß er damit bei seinen Genossen nicht durchkomme: „Bauer ist sehr betroffen zu mir gekommen, weil er sich in seinem Vorstand nicht durchgesetzt hat.“31

Dieses Patt auf allen Linien, die politische Blockade, die nur durch ein Zurückweichen der einen oder anderen Seite aufgehoben werden konnte, bildete den Hintergrund für die Juli-Ereignisse: Der Hergang der Geschichte ist bekannt. Im Jänner 1927 war es im burgenländischen Schattendorf, einer sozialdemokratisch dominierten Gemeinde an der ungarischen Grenze, zu einer Schießerei gekommen, der zwei Unbeteiligte – ein Greis und ein Kind – zum Opfer fielen. Angehörige des Frontkämpferbundes, von einer nicht genehmigten Gegendemonstration des Schutzbundes in die Defensive gedrängt, hatten aus einem Gasthaus das Feuer eröffnet.32 Die Todesschützen waren zunächst nach Ungarn ausgewichen, hatten sich dann aber gestellt. Am 14. Juli 1927 wurden sie von einem Wiener Geschworenengericht freigesprochen. Vielleicht lag der Fehler daran, daß die Anklage auf Mord, nicht Totschlag lautete; vielleicht lag es auch daran, daß die Geschworenen der Ersten Republik in politischen Prozessen fast immer für Freispruch entschieden, sobald den Tätern kein persönliches Motiv unterstellt werden konnte.

Die Sozialdemokratie befand sich in einem Dilemma. Sie konnte schlecht gegen die Institution der Geschworenengerichte polemisieren, lange Zeit eine ihrer zentralen Forderungen, um der „Klassenjustiz“ der bürgerlich-akademischen Berufsrichter zu entgehen. Sie wollte aber auch der Empörung ihrer Anhänger über das „Schandurteil“ gerecht werden. Sie beließ es deshalb bei einem feurigen Leitartikel der AZ, rief aber nicht selbst zu einer Demonstration auf – und bot deshalb am nächsten Tag auch nicht den Schutzbund auf, der dafür prädestiniert gewesen wäre, eine solche Kundgebung in die rechten Bahnen zu lenken und Ausschreitungen zu vermeiden. Allerdings gab es Indizien dafür, daß die Bediensteten der Gemeindebetriebe am Morgen zur Arbeit erschienen, von den Betriebsräten dann aber auf die Straße geschickt wurden. Doch die Parteispitze war nicht involviert. Bauer empfing eine Delegation angeblich nicht, Seitz soll sich gewundert haben: „Was sagen Sie dazu, jetzt laufen mir meine Leute fort.“33

„Da die Parteileitung offiziell schwieg, kam die Stunde der mittleren Funktionärsschicht, die nun aktiv wurde.“34 Das Ergebnis war: Die Kundgebung geriet in der Gegend um das Parlament außer Rand und Band; die Teilnehmer steckten den Justizpalast in Brand (ein herber Verlust für die Geschichtswissenschaft, lagerten dort doch auch die Akten des Innenressorts seit den Zeiten Maria Theresias). Geheimnisumwittert blieb die Rolle der winzigen Kommunistischen Partei als Katalysator der Unruhen; angeblich soll Gottlieb Fiala, ihr Präsidentschaftskandidat ein Vierteljahrhundert später, als erster einen Schuß abgegeben haben. Der spätere KP-Chef Johann Koplenig lieferte der gegnerischen Propaganda jedenfalls bereitwillig Munition, wenn er davon sprach, es habe sich um eine Revolution gehandelt, wenn auch um eine Revolution, niedergeschlagen durch den Verrat der sozialdemokratischen Führer.35

15. Juli 1927: Der Justizpalast in Flammen

Die ausgebrannte Bibliothek des Justizpalastes

Sobald die Demonstranten allen Beschwörungen des Wiener Bürgermeisters Seitz zum Trotz den Feuerwehren die Durchfahrt verweigerten, gab die Exekutive den Schießbefehl. (Erst im Ministerrat danach erkundigte man sich nach den Möglichkeiten des Einsatzes von Tränengas oder Panzerautos.) Noch in der Nacht erfolgten weitere Überfälle auf Wachlokale. Das Ergebnis der Auseinandersetzungen waren an die hundert Tote; die politische Verantwortung für das rigorose Vorgehen der Polizei teilten sich Schober als Polizeipräsident, Hartleb als Innenminister und Seipel als Regierungschef. Seitz wurde zum Vorwurf gemacht, nicht rechtzeitig um Militärassistenz angesucht zu haben. Der Kanzler resümierte vermutlich zutreffend, die Sozialdemokraten hätten wohl einen „Wirbel“ inszenieren wollen, aber einen relativ kleinen. Sie hätten dabei vielleicht noch mit der Demolierung der Redaktionen von Reichspost und Wiener Neuesten Nachrichten gerechnet, der Parteizeitungen der Regierungsparteien, doch: „An die Erstürmung des Parlaments, Anzünden von Sicherheitswachstuben und des Justizpalastes hat niemand gedacht.“ Übel nahm er der Opposition allerdings die Forderung nach dem Rücktritt der Regierung als einer „politischen Kompensation“: „Bei dem Lichte des brennenden Justizpalasts eine Regierung zu beseitigen, ist eben Revolution.“36