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Erfahrung und Verstand zählen immer weniger, während die Wälder Ingwalls ihre Wunder um Palter und seine Gefährten spinnen. Mit jeder Meile wird es schwieriger, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Wie es aussieht, sind sie nicht die ersten Menschen, die derart weit in die Tiefen des Landes vorgestoßen sind. Von einem früheren Versuch, Ingwall der menschlichen Ordnung zu unterwerfen, sind nur noch Ruinen übrig. Doch unter dem Verfall regt sich eine unheimliche Art von Leben … Die Reihe „Das Licht und die Wildnis“ vermischt die Historie einer fiktiven Welt, die unserer eigenen sehr ähnlich ist, mit fantastischen Elementen. Sie erzählt die Geschichte von Hauptmann Palter Calgola, der unwillentlich in einen Konflikt zwischen menschlichem Fortschrittsglauben auf der einen und einer Welt der Mythen und Legenden auf der anderen Seite hineingezogen wird, die sich hartnäckig weigert, Vernunft anzunehmen und endlich unterzugehen.
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Matthias J. Diaz
Die Herrschaft
der Monde
Der vierte Band von
Das Licht und die Wildnis
Impressum
© 2019 Matthias Dahlke, Torstr. 221, 10115 Berlin
Umschlaggestaltung, Illustration: Hans Binder Knott
Korrektorat: Doris Eichhorn-Zeller
Karte: Tania Gomes
Foto: Isabel Dahlke
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Für Niels-Kristian
Inhalt
Kapitel 1 – Rückkehr
Kapitel 2 – Spuren
Kapitel 3 – Festung
Kapitel 4 — Gastfreundschaft
Kapitel 5 – Thermen
Kapitel 6 – Fähigkeit
Kapitel 7 – Aufstieg
Kapitel 8 — Leben
Kapitel 9 — Träume
Kapitel 10 – Aufdeckung
Kapitel 11 — Zusammenhang
Kapitel 12 — Verlassen
Kapitel 13 – Dämmerung
Kapitel 14 – Begegnung
Kapitel 15 – Versuch
Anhang
Ein Personenverzeichnis und ergänzende Erläuterungen befinden sich im Anhang auf den letzten Seiten.
Es war eine eigenartige Art des Erwachens. Eine Art Vor-Erwachen, in dem sein Geist sich regte, während sein Körper noch immer ungerührt im Tiefschlaf lag. Er konnte nicht sehr lange fort gewesen sein. Die Erholung hatte gerade erst begonnen, sich einzustellen. Er konnte spüren, wie der Schlaf in seinem Körper wirkte. Sorgen und Gedanken, am Tag noch fest und unverrückbar, wurden sanft von ihm umspült, aufgelöst und fortgetrieben durch die Wirkung heilender, wundersamer Ströme. Die Götter selbst mussten Schlaf und Traum erschaffen haben, zu eben jenem Zweck. Wie sonst hätte ein Mensch in sich die Ausdauer finden sollen, ein ganzes Leben zu bestreiten? Sich Tag für Tag aufs Neue zu erheben, stets tiefer gebeugt von der Last alles Erlebten, die mit jedem Erwachen weiter zunahm? Einzig der Schlaf machte den Lebensweg erträglich, schuf Raum für Neues und spülte all die Plagen fort, die einen Mann erdrücken konnten.
Mit einem Mal vollzog sich Seltsames. Verwundert nahm er wahr, dass sein Körper unter ihm zurückblieb. Er schien hinaufzuschweben, immer weiter in die Höhe, bis er in der Luft hing wie ein Adler in der Strömung und auf sich selbst herabstarrte. Dort unten lag er. Palter Calgola. Ein auf die Seite gewälzter, im Schlaf verkrümmter Umriss zwischen drei Darmukta auf einer sturmzerzausten Wiese. Der Bursche sah erschöpft aus, geschunden und ausgelaugt von zu vielen Sorgen. Die Strahlen der Abendsonne tasteten über ihn hinweg, über das vom Sturm zerwühlte Gras, über eine Lichtung voller Wurzelschluchten, vorbei an einem gewaltigen Eichenstamm und schließlich über die blauen Wipfel eines Waldes. Der letzte Sonnenstrahl verschwand. Der Himmel über den Bäumen leuchtete in Gold und Purpur.
Plötzlich aber war es, als erwachten rund um ihn die Triebe eines neuen Lebens. Goldene Zungen wie Sprösslinge von Gräsern leckten aus der Wiese. Tastend, Würmern gleich, bogen sie sich mal zur Rechten, mal zur Linken. Immer mehr von ihnen kamen nun hervor, aus dem Gras und aus den Tälern der erstarrten Sturmsee. Dünne Fäden quollen überall empor. Sie wanden sich um Wurzelstränge und rannen wie Ströme zähflüssigen Goldes über Hänge und Böschungen. Nach einer Weile war das ganze Rund der Lichtung mit gleißenden Adern überzogen. Alle Vertiefungen und Grate glühten in einem Widerschein wie von Feuersglut.
Die aufstrebenden Ranken folgten einer einzigen Richtung. Hin zum Stamm der Eiche strömten sie; hinauf über das ausladende Wurzelfundament, das den Fuß des Riesenbaumes wie die verzweifelten Hände eines Bittstellers umklammert hielt. Entlang der schartigen Borke ging es weiter in die Höhe, wie Feuerzungen über die trockenen Stützbalken eines Hauses. Schon hatten die Glutspuren die unteren Äste erreicht und gabelten sich in der Krone zu einem vielarmigen Fluss. Jeder Ast und Zweig, selbst noch die feinste Verästelung, war mit einem Leuchten angefüllt.
Unvermittelt stieg Rauch auf. Von den Spitzen der Zweige schlängelten sich Qualmsäulen empor wie von den Dochten vieler Kerzen, die ein plötzlicher Luftzug ausgeblasen hatte. Knorrig und verdreht waren ihre Formen. Auch das Leuchten der Blätter, in denen dünne Goldäderchen pulsierten, begann in Flammen und im Qualm zu verschwimmen. Nach einer Weile war nicht mehr zu unterscheiden, wo das Astwerk endete und der Rauch begann. Baum und Feuer waren eins. Das Holz brannte, und die Flammen waren Holz.
Entsetzen packte ihn. Ein Teil von ihm wollte aufspringen und davonlaufen. Er spürte, dass etwas Furchtbares bevorstand. Sein Körper aber lag noch immer unverändert still. Kein Brandgeruch hatte seine urzeitlichen Sinne in Alarm versetzt. Keine Hitze auf der Haut hatte ihn erwachen lassen. Vielleicht war alles lediglich ein Traum, eine halb bewusste Einbildung jenseits aller Wirklichkeit.
Sein körperloser Blick wurde ungläubig zum Stamm gezogen. Eine neue Bewegung hatte begonnen, sich in den Tanz aus Glut zu mischen. Dünne rote Rinnsale flossen aus der Höhe an der Borke herab. Die Krone schien zu bluten wie aus vielen Wunden. Wo immer eines der Äderchen auf die Feuerzungen traf, erklang ein Zischen wie von Wasser auf heißen Kohlen. Schwaden von weißem und grauem Dampf umwaberten den Stamm. In beide Richtungen, hinab zum Boden und hinauf zum Blattwerk, verhärteten die Ströme zu einer brüchigen Substanz wie schlechtes Eisen, wie zerfallene Kohle. Der Wind trug den feinen Staub davon und hüllte die gesamte Lichtung in umherwehende graue Schleier. Die Blätter an den Zweigen zerfielen nach und nach zu Asche und trieben in einem leichten Zug davon.
Er sah die Formen in der Höhe, vor denen sich die Schwaden teilten. Er wollte den Blick abwenden, doch es gelang ihm nicht. Die Äste trugen eine schwere Last aus regungslosen Körpern. Schlingen um den Hals, das Kinn zur Brust gesenkt, die langgliedrigen Hände schlaff und leblos an den Seiten, baumelten die Riesen an den Enden ihrer Seile. Zu Dutzenden trieben die Gehenkten im Feuerwind, zur Schau gestellt wie aufgeknüpfte Räuber am Wegesrand. Alle, die nicht davongekommen waren. Die es nicht geschafft hatten, auf die Schiffe zu entkommen, als die Götter ihren Blick für einen Augenblick vom wilden Ingwall abgewendet hatten. Als der Feind, der ihnen aufgelauert hatte, aus seinem Versteck hervorgekommen war. Jene böse Macht, die abgewartet, überdauert hatte. Im Verborgenen gelegen, bis ihre Zeit gekommen war.
Wieder wollte er sich losreißen. Dieses Mal hielt ihn etwas anderes zurück. Jemand band mit Zauberkräften seinen Blick.
Einer dieser Körper unterschied sich von den anderen. Größer war er, majestätischer, mit einer Aura von Befehlsgewalt. Die Seilschlinge umfasste seine Fußgelenke. Sein Scheitel deutete hinab zum Boden. Kopfüber, wie ausblutendes Schlachtvieh, baumelte der Gigant von einem Ast herab, die Hände mit Fesseln hinter dem Rücken festgezurrt. Seine Haut glänzte wie Bronze. Langes silbriges Haar hing wie Seegras um sein Haupt. Seine Augen waren zwei dunkle Kohlen in dem gezeichneten, von dichtem Bart umfassten Gesicht. Blut lief entlang der Beine über ihn herab, über seinen Bauch, über seinen ganzen Körper und von dort aus weiter über sein Gesicht. Es troff von seiner Stirn und schlängelte sich in kochenden, Blasen werfenden Strömen entlang der Rinde hinab zum Fundament der Wurzeln.
Der Riese hob den Blick. Das Starren der Glutaugen hielt ihn fest. Palter fühlte sich gefangen, unfähig zu irgendeiner Rührung, dem Blick des Wesens vollkommen ausgeliefert. Dann erst wurde er sich bewusst, dass der Blick der schwarzen Kohlen nicht ihm galt, sondern durch ihn hindurchging. Jetzt begriff er. Der Riese sah ihn nicht. Die Kreatur erahnte ihn, doch sie konnte ihn nicht sehen. Ihre Leben waren nicht verbunden. Sie vollzogen sich nicht zur gleichen Zeit. Äonen lagen zwischen ihnen. Endlose Generationen trennten ihre Wirklichkeiten wie eine tiefe Schlucht. Zu der Zeit, als all dies hier geschah, war an Palter Calgola noch nicht einmal zu denken gewesen. Nicht an seine Eltern, Großeltern und auch nicht an deren Eltern. Merkesch war noch nicht geschaffen, Bronzegas, ihr Grundsteinleger, noch lange nicht geboren. Über den klaffenden Abgrund unzähliger Zeitabschnitte blickten sie einander an, sich erahnend, ohne einander wirklich zu erkennen.
Mit einem Mal bewegte sich der Mann. Etwas löste sich von ihm und fiel entlang des Stammes glitzernd in die Tiefe. Die Arme des Giganten waren plötzlich frei und breiteten sich wie die Flunken eines Ankers zu den Seiten aus. Die rechte Hand, bisher zur Faust geballt, öffnete sich und gab den Blick frei auf ein Zeichen: drei Striche, einer gerade und zwei gebogen, eingebrannt wie eine Wunde, leuchtend wie flüssiger Stahl aus dem Ofen eines Schmiedes.
Die andere Faust öffnete sich in der gleichen Weise. Palter bemühte sich, das Zeichen zu erkennen, doch es gelang ihm nicht, die eingebrannte Glutform zu erfassen.
Ein eigenartiges Gefühl der Orientierungslosigkeit stieg in ihm auf. Beinahe wusste er nicht mehr, an welchem Ort, in welcher Zeit er sich befand. Dichte Rauchfahnen hatten begonnen, den Baum in seiner ganzen Höhe zu umfassen. Immer schwieriger wurde es, dahinter noch die Form des blutüberströmten Riesen zu erkennen. Lediglich die glühenden Schriftzeichen in seinen Handflächen drangen noch durch die umherwirbelnden Wolken.
Dann, durch eine plötzliche Verwehung, traten die Umrisse des Körpers noch einmal klar hervor. In dem Moment, in dem die Feuerzeichen in den Handflächen erloschen, öffnete der Riese seine Kiefer. Zum Vorschein kam ein Schlund von tiefster Schwärze. Ein Knurren drang daraus hervor, ein Brodeln wie von Magmaströmen. Der Laut steigerte sich zu einem Donnern, zu einer Stimme, die berstend, markerschütternd wurde, über alles Land hereinbrach, die Erde beben ließ, Wellen über das Meer trieb und immer weiter zunahm, bis Palter sich bewusst wurde, dass er selbst es war, der schrie.
„Soldat!“ Jemand rüttelte an ihm. Er riss die Augen auf. Der Netmaharu stand über ihn gebeugt. Der Ausdruck des Darmukta war müde und sein Gesicht zerfurcht. Das graue Licht des Morgens ließ ihn eigentümlich ausgelaugt erscheinen. „Bleibt ruhig, Soldat“, setzte der Mann nach. „Ihr seid nicht in Gefahr. Ihr hattet einen Albtraum.“
Palter warf den Kopf herum. Dort drüben stand die Eiche. Der Baum war grau und unbelebt. Ein leichter Windzug ließ die Blätter schwanken. Überall ringsum waren Asche und verdorrtes, schwarz verbranntes Holz verstreut. Von Blut und Feuer, von Glutfäden und Rauchvorhängen, besonders aber von einem furchterregenden, übermenschengroßen Wesen fehlte jede Spur.
„Ihr habt schlecht geträumt“, knurrte der Darmukta und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Ihr seid nicht der Einzige. Es ist dieser verdammte Ort.“
„Karpadoor!“ Palter wollte auffahren, doch ein stechender Schmerz hielt ihn zurück. An seinem ganzen Körper gab es keine Stelle, die nicht wie Feuer brannte. „Janta!“
Die Kriegerin lag, wo er sie zurückgelassen hatte, und schien zu schlafen. Jemand hatte eine Decke über sie gebreitet und die Überreste eines Bündels unter ihren Kopf geschoben.
„Karpadoor“, stieß er noch einmal aus. Der Körper ihres jungen Kameraden war nirgends zu erkennen.
„Karpadoor ist tot“, erklärte Respetschi düster.
Jetzt erst fiel ihm auf, dass die Arme des Darmukta-Offiziers voller frischer Erde waren. Er warf den Kopf herum. Ein Stück abseits zur Rechten war ein frischer Steinhaufen errichtet worden. Eine Darmukta-Klinge ragte aus dem Grab. Karpadoors Halskette mit der gesegneten Münze glitzerte an ihrem Griff.
„Ich habe ihn begraben“, erklärte der Netmaharu mit geröteten Augenrändern. „Wegen der Tiere. Götter. Ich hatte nicht einmal Zeit, ein anständiges Himmelsfeuer für ihn zu errichten.“
Mit einem Stöhnen ließ Palter sich zurücksinken. Die Schwärze drohte, ihn zurückzurufen.
„Ihr solltet wach bleiben, Soldat“, mahnte ihn der Netmaharu. „Wir müssen fort von hier.“
„Janta.“ Palters Stimme war belegt. „Was ist mit ihr? Geht es ihr gut?“
„Sie schläft.“ Der Netmaharu hatte sich bereits halb abgewandt. „Sie ist … sie war sehr schwer verwundet. Die Götter wissen, wie sie die Nacht überstanden hat. Ihr werdet schon noch sehen, was ich meine.“ Der Mann senkte den Kopf und steuerte in Richtung Waldrand.
Ächzend richtete Palter sich auf, so gut es eben ging. Er warf einen weiteren Blick zu ihrer Kameradin. Einer ihrer Arme lag oberhalb der Decke. Ihre Brust hob und senkte sich ruhig. Sie sah sehr friedlich aus.
„Ich habe ihn gewarnt, wisst Ihr?“ Der Netmaharu hatte kurz vor den Bäumen angehalten und bedachte das Grab mit einem fast schon vorwurfsvollen Blick. „Ich habe ihm gesagt, dass dieser ganze Aberglaube gefährlich ist. All das Gerede von Geistern und Dämonen.“ Der Offizier schüttelte fassungslos den Kopf. „Es muss sein Herz gewesen sein. Sein Körper trägt sonst keine Wunden. Sein Herz muss angehalten haben. Vor Schreck. Aus Angst vor diesem ganzen … diesem ganzen Wahnsinn hier.“ Der Darmukta gestikulierte ärgerlich in Richtung der Wurzelmassen. Dann wandte er sich fahrig ab. „Ich muss noch mehr Steine holen“, murmelte er. „Für sein Grab. Damit die Tiere ihn nicht holen können.“ Wie ein Schlafwandler taumelte der Mann hinüber zu den Bäumen.
Palter machte keinen Versuch, ihn aufzuhalten. Jeder hatte seine eigene Art, mit Trauer umzugehen. Wenn körperliche Arbeit ihrem Führer dabei half, nicht den Verstand zu verlieren, sollte er sich ruhig damit beschäftigen.
Er senkte den Blick zu seinem eigenen geschundenen Körper. Die Okori-Bemalungen waren bis zur Unkenntlichkeit verschmiert. Seine Brust und seine Arme waren bedeckt von frischen Schnitten. Mit der linken Hand tastete er nach der Halskette mit Mangitas Pfeilanhänger, die kühl auf seiner Haut lag. Was die Rechte anging … nein, eine Spontanheilung hatte die Nacht leider nicht gebracht. Der Körperteil war ebenso gefühllos wie zuvor. Wenigstens waren alle Arme und Beine noch an Ort und Stelle. Wenigstens hatte Salau darauf verzichtet, sich noch weiter in ihm auszubreiten.
Er schaffte es, sich vollends zu erheben. Seine Knie und Beine waren steif, als er zu ihrer Kameradin stapfte und an ihrer Seite in die Knie ging. Unter der Decke hing ein blutiger Verband hervor. Vorsichtig hob er den Stoff an. Am Vorabend hatte er nicht einmal daran gedacht, sie auf Verwundungen zu untersuchen. Er erstarrte und sog scharf die Luft ein. Ein handbreiter, purpurner Riss mit scharfkantigen Rändern zog sich von ihrem Rippenbogen bis hinab zum Oberschenkel. Es sah aus, als sei das Ende eines Astes nah der Hüfte in den Bauchraum eingedrungen und habe ihre Flanke aufgerissen. Er kannte Wunden dieser Art von Schlachtfeldern. Es gab keinen Raum für Zweifel. Diese Verletzung hätte tödlich enden müssen, entweder durch den Schock oder durch nachfolgendes Verbluten. Vor ihm jedoch erstreckte sich eine breite Narbe aus weichem, weißlichem und rosafarbenem Fleisch. Wie durch ein Wunder schien sich der Riss über Nacht geschlossen zu haben. Ungläubig streckte er die Hand vor und tastete über den Rand der …
„Karpadoor!“ Die Hand der Frau schoss vor und umklammerte sein Handgelenk. Ihre Lider flogen auf. Die Pupillen fanden ihn und durchsuchten stürmisch sein Gesicht. „Karpadoor“, wiederholte sie. „Wo ist er? Ich muss … argh!“ Der Versuch der Kriegerin, sich aufzurichten, endete in einem Ächzen. Sie sank zurück und blieb schwer atmend liegen. Ihre Augen verschwanden wieder unter den zitternden Lidern. „Karpadoor“, wiederholte sie angestrengt. „Ich muss … wo habt ihr ihn hingebracht?“
Er senkte den Blick. Die Darmukta fixierte ihn mit einer jähen Bewegung. Dann schien sie zu begreifen. „Dieser Dummkopf!“, stieß sie aus. Wut klang aus ihrer Stimme. „Antwortet mir, Soldat. Zeigt ihn mir. Ich muss wissen, wo er ist.“
„Janta ...“
„Wo ist er?“
Palter lehnte sich zurück und sah sich um. Der Netmaharu kehrte gerade aus dem Wald zurück. In seinen Armen lag ein Felsbrocken. Der Darmukta ließ ihn polternd auf das Grab fallen, rieb die Hände aneinander und hob den Blick. „Ah.“ Ein schwaches, beinahe verlegenes Lächeln trat in sein Gesicht. „Janta. Ihr seid wach.“
Die Frau schüttelte den Kopf und richtete sich auf den Ellenbogen auf. Fassungslos betrachtete sie die mit Steinen abgedeckte Stelle. „Nein“, erklärte sie bestimmt. „Was macht ihr da? Ihr macht ja alles falsch. Hört auf damit. Nehmt die Steine weg!“
Der Blick des Netmaharu wurde ausdruckslos. Dann schien er zu begreifen. Verweigerung. So war es häufig. Die meisten Menschen reagierten mit Verweigerung auf Umstände, die einfach nicht sein durften. Der Offizier trat vor und wischte sich die Hände an der Lederhose ab. Er sah die Frau ernst an. „Karpadoor ist tot, Janta“, erklärte er sanft. „Er ist gestern Abend gestorben. Es tut mir leid.“
„Nein.“ Wieder schüttelte die Darmukta entschlossen den Kopf. Obwohl sie sichtlich Schmerzen litt, stützte sie sich auf. „Was soll das?“, ereiferte sie sich, so als seien sie diejenigen, die nichts begriffen. „Wie soll er ...?“ Die Kriegerin ruderte mürrisch mit der Hand. „Nehmt sie weg“, forderte sie scharf. „Nehmt die Steine weg. Wie soll er aufstehen, wenn schwere Steine auf ihm liegen?“
„Janta.“ Dieses Mal versuchte es Palter. „Ihr habt viel Blut verloren. Es ist ein Wunder, dass Ihr noch am Leben seid. Wir werden ihn anständig bestatten. Alles zu seiner Zeit. Doch zuerst müsst Ihr Euch erholen.“
„Nein.“ Die Frau schüttelte energisch den Kopf. „Ihr versteht mich nicht. Es geht mir gut. Ich bin gesund und sehe alles klar. Karpadoor ist nicht tot. Ich weiß, wie man ihn zurückholt.“
Ein gequälter Laut drang aus der Kehle des Darmukta-Offiziers. Der Mann senkte den Kopf. „Wir alle wünschen, dass es nicht so wäre“, erklärte er, um Festigkeit bemüht. „Doch was geschehen ist, ist geschehen. Wir können es nicht ändern. Wir dürfen nicht zulassen, dass falsche Sehnsüchte uns … “
„Netmaharu!“ Der Ausdruck und der Tonfall ihrer Kameradin waren überraschend scharf. „Ich bin wach und bei Verstand“, beharrte sie. „Ich weiß, was mit Karpadoor geschehen ist. Glaubt mir, wenn ich euch sage: Er ist nicht tot. Ich kann ihn retten. Ich werde es euch zeigen. Also nehmt jetzt diese Steine von ihm weg!“
Das Gesicht des Netmaharu verzog sich. Unverkennbar hatte auch seine Nachsicht Grenzen. „Wir müssen weiter“, erklärte er mit erzwungener Geduld. „So schnell wie möglich. Es ist dieser Ort. Der Rauch und all die schlimmen Dämpfe. Sie verwirren unseren Geist. Könnt Ihr stehen, Janta? Helft ihr auf, Soldat.“
Die Frau schlug Palters Hand zur Seite und sah ihn wütend an. Erst sah es aus, als wolle sie etwas erwidern. Dann aber verengten sich ihre Pupillen. Kurz darauf wurden ihre Augen weit. „Soldat“, stieß sie aufgeregt aus. „Ja! Ich sehe es. Ich erkenne es in Eurem Blick! Ihr wisst, wovon ich spreche. Ihr habt es ebenfalls gesehen. Ihr wisst, dass ich die Wahrheit spreche. Sagt es ihm. Sagt Netmaharu, dass Ihr ihn ebenfalls gesehen habt.“
„Gesehen?“ Seine Kehle war mit einem Mal sehr trocken. „Was meint Ihr? Was … wen soll ich gesehen haben?“
„Den Mann“, beharrte die Darmukta ungeduldig. „Den Mann im Baum. Den Riesen. Den Riesen mit den Runen in den Händen!“
Schweigen schloss sich an. Palters Blick ging ungläubig zum Baum. Verwehungen von weißem Rauch hingen unter der Krone. Er öffnete den Mund, doch es fehlten ihm die Worte. Der Raum zwischen seinen Wangen war wie ausgedörrt.
Der Blick des Netmaharu wanderte finster zwischen Janta und ihm hin und her. Dann räusperte sich der Offizier verärgert. „Genug jetzt!“, mahnte er mit Schärfe in der Stimme. „Die Zeit für Diskussionen ist vorbei. Wir brechen auf. Jetzt gleich. Ich lasse nicht zu, dass dieser Wahnsinn weitergeht. Packt eure Sachen. Das ist ein Befehl.“
„Helft mir auf, Soldat!“ Der Griff der Frau fand Palters Oberarm. Er bückte sich und stützte sie empor. Schwankend kam die Kriegerin zum Stehen. Ihr Atem ging schwer. Ihr Ausdruck aber war entschlossen. „Ich kann nicht fortgehen“, erwiderte sie mit fester Stimme. „Ich kann ihn nicht zurücklassen, Netmaharu. Nicht, wenn ich ihn retten kann.“
Ihr Führer wandte sich langsam zu ihnen um. Der Mann sah aus, als traue er seinen Ohren nicht. „Janta Dohashikani“, erklärte er mit erzwungener Beherrschung. „Ich habe an diesem Morgen bereits über viel hinweggesehen. Ich habe viel Geduld mit Euch gezeigt, weil Ihr erschöpft und schwer verwundet seid. Nun aber habe ich genug. Ich habe Euch einen Befehl erteilt. Ihr werdet aufhören, von Karpadoor zu sprechen. Ihr werdet Eure Sachen packen. Und Ihr werdet uns in diese Wälder folgen.“
„Sein Leben ist noch nicht vorbei!“ Janta löste sich von Palter. Die Frau stand schwankend und hielt sich ihre Seite. „Ihr müsst mir glauben, Netmaharu. Ich kann ihn retten. Ich kann ihn nicht zurücklassen. Nicht, wenn ich mir sicher bin, dass er wieder leben kann.“ Die Kriegerin deutete zum frischen Grab. „Er braucht uns, Netmaharu. Ich kann nicht gehen. Ich werde nicht gehen. Nicht ohne Karpadoor!“
Stille schloss sich an. Die Darmukta starrten einander an wie Duellanten. Palter konnte sehen, dass der Atem ihres Führers äußerst langsam ging. Unverkennbar konnte der Mann nur noch schwer an sich halten. „Ich habe Euch einen Befehl erteilt, Janta.“ Die Zahnreihen des Netmaharu schienen sich bei dem Ausspruch kaum zu teilen. „Versteht Ihr meine Worte, Kriegerin? Ich berufe Suvasara. Ihr sagt, Ihr seid klar bei Verstand? Dann werdet Ihr daran gemessen werden. Beugt Euch meiner Befehlsgewalt. Ihr kennt die Strafe, die auf Ungehorsam steht. Zwingt mich nicht ...“
„Dann tötet mich!“ Die Augen der Kriegerin blitzten. „Ich kenne die Strafe, die auf Ungehorsam steht. Auf die Verweigerung von Suvasara steht der Tod. Ich bin bereit für Euer Urteil. Ich habe geschworen zu gehorchen. Aber ich habe auch geschworen, das Leben meiner Kameraden mit meinem eigenen zu schützen. Tötet mich, wenn Ihr müsst. Lieber will ich sterben, als Karpadoor an diesem Ort zurückzulassen.“
Ein metallisches Geräusch ertönte, als die Waffe des Netmaharu aus der Scheide fuhr. Zitternd schwebte die Klinge ihres Führers vor der Stirn der Kameradin. Sein Blick war wutentbrannt.
Jantas Ausdruck blieb unbeirrt. „Wenn Ihr mich töten wollt, dann tut es jetzt“, forderte sie mit belegter Stimme. „Ansonsten lasst mich durch zu seinem Grab.“
Stille schloss sich an.
Er tut es, schoss es Palter durch den Kopf. Götter. Er wird es wirklich tun. Es war dieser Ort. Diese verfluchte Lichtung. Hier standen sie, Verbündete, die letzte Hoffnung Merkeschs, und brachten sich gegenseitig um. Irgendwo in einem fernen Winkel dieses Landes mussten Bernrot und die „Stimme“ hämisch lachen.
„Ich werde es tun.“ Palter war selbst überrascht darüber, den Klang seiner eigenen Stimme zu vernehmen.
Keiner der Darmukta rührte sich. Er räusperte sich. „Ich tue es“, wiederholte er, dieses Mal mit Nachdruck.
Der Netmaharu blinzelte verärgert. „Was?“, wollte er barsch wissen. „Was meint Ihr damit: Ihr tut es?“
„Was Janta gesagt hat“, brachte er heiser hervor. Er wandte sich zum Grab. „Die Steine wegnehmen. Ich glaube ihr. Ich glaube ihr, dass sie die Wahrheit spricht.“
Wieder ging ein flackernder Blick des Netmaharu in seine Richtung. „Soldat …“ Die Stimme des Mannes war beschwörend. Offensichtlich rang er um seine Selbstbeherrschung. „Was redet Ihr da? Ihr werdet bleiben, wo Ihr seid.“
„Ich habe ihn gesehen, Netmaharu. Den Mann im Baum. Den Riesen mit den Runen. Ich weiß nicht, was es mit all dem hier auf sich hat. Aber wenn Janta meint …“
„Stehen bleiben! Keinen Schritt weiter. Ich warne Euch.“
Palter wandte den Blick zum Offizier. Er wusste selbst kaum noch, was er tat. „Ich bin kein Darmukta, Netmaharu. Ich habe keinen Eid auf Euch geleistet. Wenn ich es tue, habt Ihr keinen Grund, sie zu bestrafen.“
Respetschis Blick war ungläubig. Der Offizier sah aus wie jemand, der auf schwankendem Untergrund langsam seinen Tritt verlor. „Bleibt, wo Ihr seid, Soldat. Denkt sehr gut nach. Karpadoor war mein Gefolgsmann. Das dort ist ein Darmukta-Grab. Wagt es nicht … “ Der Mann verstummte. Ein Schweißtropfen rann langsam über seine Schläfe. „Sind denn hier draußen alle wahnsinnig geworden?“, stieß er scharf aus. „Karpadoor ist tot! Was ist nur los mit euch?“
Palter sandte einen stummen Blick zu Janta. Die Darmukta stand noch immer regungslos, die Augen fest auf ihren Anführer gerichtet. Die ausgestreckte Klinge vor ihrem Gesicht schien sie nicht im Geringsten zu beunruhigen.
„Was, wenn Janta recht hat?“, setzte Palter nach. „Wenn sie etwas gesehen hat, das unseren Kameraden retten kann? Wenn das Ganze mehr war als ein Traum?“
„Es war kein Traum“, mischte sich die Darmukta ein. „Es war ein Zeichen. Ich habe gesehen, was zu tun ist. Die Runen. Ich kann sie lesen. Wir können ihn zurück ins Leben holen.“
Der Netmaharu schüttelte den Kopf, langsam wie gegen einen unsichtbaren Widerstand. „Wahnsinn.“ Die Stimme ihres Führers war ein fassungsloses Flüstern. „Was ihr da sagt, ist Wahnsinn. Ungeheuerlich. Glaubt ihr wirklich, ich erlaube eine solche Schändung?“
„Tut es, Soldat.“ Die Augen der Darmukta richteten sich auf Palter. Die Kriegerin ließ ein aufforderndes Nicken folgen. „Ihr müsst es tun. Für unseren Kameraden.“
Der Netmaharu öffnete denMund, blieb jedoch stumm. Schweiß lief über Palters Gesicht, als er sich in Bewegung setzte. Wahnsinn, in der Tat. Dieses ganze Unterfangen war an Wahnsinn nicht zu überbieten. Vielleicht hatte der Netmaharu recht. Vielleicht hatten sie alle hier draußen längst den Verstand verloren. Es dauerte nicht lange, bis seine Fußspitze an frische Erde stieß. Noch einmal blickte er sich um.
Janta und Respetschi standen, wo er sie zurückgelassen hatte. Die Klinge ihres Führers war herabgesunken. Die Blicke beider Kameraden galten dem Hügel angehäufter Steine. Ein stummer Befehl schien sie allesamt ergriffen und betäubt zu haben. Etwas schien in Gang gesetzt, das von keiner Macht der Welt mehr aufzuhalten war.
Langsam ging er in die Knie. Mit der gesunden Hand packte er den ersten Stein und schob ihn zur Seite. Die Kanten pressten schmerzhaft in seine Haut. Dennoch gelang es ihm, den Brocken knirschend zu bewegen. Mit einem Schlag rutschte der Stein ins Gras. Er fand den nächsten und wiederholte das Manöver. Er verspürte einen eigenartigen Druck wie eine schwere Last auf seinen Schultern. Die ganze Lichtung schien ihm bei der Arbeit zuzusehen.
Erst nach einer Weile wurde er sich bewusst, dass Janta an seiner Seite in die Knie gegangen war und ebenfalls entschlossen zupackte. Gemeinsam räumten sie die Schicht aus aufgetürmten Brocken fort. Irgendwann war auch der letzte Stein fortgerollt. Er holte tief Luft. Seine Finger schmerzten. Die Haut war eingerissen und gereizt. Übelkeit drohte aus seinem Magen aufzusteigen, doch er kämpfte sie hinab. Noch waren sie nicht fertig.
Die Darmukta zog ihr Messer und rammte die Klinge in den Boden, um zu graben. Der Stahl drang ohne Schwierigkeiten durch das weiche Erdreich. Auch Palter zückte seine Waffe und begann zu arbeiten. Der Boden war schwer und lehmig. Nach einer Weile legten sie die Werkzeuge beiseite, um mit bloßen Händen weiterzugraben. Er zuckte zurück, als seine Hände Stoff berührten. Nun erst wurde er sich bewusst, dass er am ganzen Körper zitterte.
Die Darmukta legte unbeirrt den Umhang frei, in den ihr Kamerad im Boden eingeschlagen lag. Er hörte, wie der Netmaharu hinter ihnen die Luft einsog. Gemeinsam starrten sie auf die Umrisse des Körpers in dem beschmutzten Manteltuch. Auch die Frau holte tief Luft. Dann gingen ihre Hände entschlossen zum Saum und schlugen ihn zurück.
Palter wich zurück. Seine Kehle war so rau wie eine Feile. Selbst wiederholtes Schlucken änderte nichts daran.
Karpadoors Gesicht war beinahe weiß. Die blutleeren, geisterhaften Züge erinnerten an sonnengebleichtes Holz.
Einige Augenblicke lang kniete ihre Kameradin unbewegt. „Die Runen“, brachte sie schließlich mit belegter Stimme hervor. „Die Runen, Soldat. Sagt mir, wie sie ausgesehen haben.“
„Was?“ Ein Wummern trat in seine Ohren, als das Blut in seine Trommelfelle schoss. „Was sagt Ihr da?“
„Die Runen“, wiederholte die Darmukta drängend. „Die Runen aus dem Traum. Beschreibt mir ihre Form.“
Einige Momente lang brachte Palter keinen Laut hervor. Niemand hatte ihm gesagt, dass er in dieser Sache irgendetwas Inhaltliches beizutragen hatte. „Ich … ich weiß es nicht“, stammelte er.
„Denkt nach, Soldat.“ Die Stimme der Kriegerin war unbeirrt. „Es ist sehr wichtig.“
„Sie haben … geleuchtet“, brachte er hervor. Er fuhr sich durch die Haare. Wie war es noch gewesen? Er erinnerte sich nur äußerst ungenau. „Es war alles sehr …“
„Ihr müsst“, beharrte die Frau. „Ihr müsst Euch erinnern. Konzentriert Euch. Erinnert Euch an die Zeichen, die er in den Handflächen getragen hat. Ich kann sie lesen. Aber ich konnte sie nicht sehen.“
„Uff.“ Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Jetzt auch noch das. Das Ganze war wie ein nicht enden wollender Albtraum. Fahrig ging er in die Knie und hockte sich ins feuchte Gras. Mit der Kante seiner Hand strich er die Erde glatt. Das Zeichen. Das Zeichen in der Hand des Riesen. Wie hatte es noch ausgesehen?
Zögerlich begann er, mit dem Zeigefinger eine Linie in den Schmutz zu malen. Urplötzlich begann der Körperteil, sich wie von selbst zu bewegen. Drei Striche. Einer gerade, zwei gebogen. Zufrieden betrachtete er das Werk im Lehm. „So“, befand er, überrascht davon, wie einfach die Erinnerung hervorgekommen war. „Genauso ist es gewesen.“
Die Frau betrachtete das Zeichen. „Seid Ihr sicher?“, wollte sie mit leuchtenden Augen wissen. „Seid Ihr Euch ganz sicher?“
„Ja. So hat es ausgesehen.“
„Gut“, flüsterte die Darmukta aufgeregt. „Sehr gut, Soldat. Binath. Das erste Zeichen ist Binath. Sehr gut. Jetzt das zweite.“
Verwundert wandte er den Kopf. „Was meint Ihr damit: das zweite?“
„Das andere!“ Ungeduld und Ärger klangen aus ihrer Stimme. „Das andere Zeichen. Wir brauchen beide. Die Rune aus der anderen Hand!“
Entsetzen durchfuhr ihn wie ein Blitz. Mit der verdreckten Hand griff er sich an die Stirn. Bebend, unfähig zu Worten, richtete er sich langsam auf.
„Soldat!“
„Nein …“ Wie aus einer Starre erwachend, schüttelte er den Kopf. „Ich sah nur dieses hier. Götter! Ist es das, was Ihr benötigt? Ich habe nur ein Zeichen sehen können!“
„Das kann nicht sein. Denkt nach, Soldat!“
„Es ist so! Ich konnte nur das eine Zeichen sehen. Das andere war … es war verschwommen. Ich schwöre Euch: Ich konnte es nicht sehen.“
„Unmöglich!“ Verzweiflung trat in den Ausdruck seiner Kameradin. „Aber dann …es kann nicht wahr sein. Dann war alles, was wir getan haben ...“
„Ich habe es gesehen.“
Verblüfft wandten sie die Köpfe. Der Ausdruck des Netmaharu war so finster wie sein Tonfall. Der Blick des Darmukta ruhte fest auf dem Gesicht des Toten. Dann nickte er und sah sie beide an. „Ich habe es gesehen“, wiederholte er. „Das Zeichen in der anderen Hand.“
Der Mund der Frau öffnete sich tonlos.
Schnell kroch Palter zur Seite, um dem Netmaharu Platz zu machen. Der Mann ließ sich am Rand des Grabes nieder. Einige Augenblicke lang schwebten seine Finger zögerlich über der Schicht aus loser Erde. Dann strich er sie entschlossen glatt. Mit schnellen Bewegungen malte er Linien in den Boden.
Die Frau beugte sich vor. Ein Keuchen drang aus ihrer Kehle. „Kataum“, verkündete sie atemlos. „Das Zeichen ist Kataum. Binath Kataum! Aber natürlich!“ Die Darmukta schlug vor Freude die Hände zusammen. Das Klatschen war so scharf und unerwartet, dass sie vor Schreck zusammenfuhren.
„Verzeiht.“ Die Kriegerin strich sich eine Strähne aus der Stirn und atmete tief durch. „Binath Kataum. Das ist es. Damit kann ich ihn wieder holen.“
Palter fuhr zusammen. Etwas wie ein ferner Ruf, eine nur im Instinkt gespürte Warnung schien an ihn zu ergehen. Dann war der Moment vorüber, in dem er hätte widersprechen können. Die Frau streckte die Arme vor und legte beide Hände auf die Brust des Toten. Ein kurzer Blick fand ihre beiden Kameraden. Die Kriegerin nickte. Es gab keinen Weg zurück. Sie alle waren dieser Sache auf Gedeih oder Verderben ausgeliefert.
„Binath Kataum!“ Die Stimme der Frau war kräftig und entschlossen. „Komm zurück. Ich rufe dich zurück ins Leben. Steh auf, Karpadoor. Erhebe dich und lebe!“
Palter stürzte zurück, als ein jähes Zucken durch den Toten ging. Ein Keuchen und ein Röcheln. Der Körper des Darmukta schoss ruckartig empor. Furchterregende Geräusche erklangen aus dem Mund des Kriegers, während er sich aus der Grube wand. Erde und Grasnarbe flogen umher, als er sich mit wilden Schlägen aus der Decke kämpfte. Mit einem Mal war der Darmukta aufgesprungen, schwankte, taumelte über das Gras, den Umhang von sich schleudernd, zusammenbrechend, bevor seine Beine ihn noch weiter tragen konnten. Panisch warf der Mann sich auf den Rücken und kroch, halb auf der Seite liegend, weiter. Fieberhaft, getriebene Blicke um sich werfend, bemühte sich der Junge, Abstand zwischen sich und das Grab zu bringen. Der Kopf des Kriegers schoss herum wie der eines tollwütigen Tiers. Aus weiten, ungläubigen Augen blickte er sich um. Tiefe Atemstöße, durchmischt mit feuchtem Husten, ließen seine Brust erbeben. Ihr Kamerad spuckte Erdklumpen und schnappte wild nach Luft. Dann fiel sein Blick auf seine lehmverschmierten Arme. Mit einem Kreischen schlug er nach den Erdresten, als handle es sich um blutsaugende Parasiten.
„Akas amana devat.“ Der Ausstoß des Netmaharu war kaum mehr als ein Keuchen. Erstarrung hatte den Körper ihres Anführers befallen. Die Augen des Mannes schwammen in den Höhlen.
„Karpadoor!“ Die Frau hob beschwichtigend die Hände. Ihr Blick war weit und voller ungläubiger Freude. Mit vorsichtigen Schritten näherte sie sich ihrem Kameraden, so als wäre er ein scheuer Welpe. „Karpadoor.“ Ein Beben lag in ihrer Stimme. „Karpadoor. Ich bin es, Janta. Du brauchst keine Angst zu haben. Du lebst. Du lebst noch!“
Die Pupillen des Darmukta schossen hin und her. Palter meinte zu sehen, wie die Ohren des Jungen zuckten wie die eines Tieres. Langsam schüttelte der Mann den Kopf.
Die Frau aber nickte bekräftigend. „Doch“, beharrte sie. Tränen glitzerten in ihren Augen. „Du lebst. Du lebst, Karpadoor. Du bist wieder am Leben.“
„Ich ...“ Ein Krächzen ertönte aus der Kehle des Jungen, gefolgt von einem Husten, unter dem sein ganzer Körper sich zusammenkrümmte. Die Stimmbänder schienen sich an ihre unvertraute Aufgabe erst wieder gewöhnen zu müssen. „Ja.“ Ein schwaches Murmeln nur, doch klar verständlich. Ein Zucken ging um die Mundwinkel des auferstandenen Darmukta. Die Augen in den bleichen Höhlen rollten wild umher, so als steige aus verborgenen Tiefen eine Erinnerung in ihm auf. „Ja“, wiederholte er dann aufgeregt. Das Zucken in den Zügen des Kriegers wurde zu einem ungläubigen Lachen. „Du hast recht. Janta! Yodeva hatakuro sanga! Ich lebe! Ich lebe ja!“
Mit einem Schritt war ihre Kameradin bei dem Jungen. Karpadoor versuchte erfolglos, sich vom Boden zu erheben, doch die Frau war bereits an seiner Seite in die Knie gegangen und schloss ihn in die Arme. Der Gefallene erwiderte die Geste unsicher, so als sei ihm menschliche Berührung unvertraut. Die Art, in der die Finger des Gefallenen über den Rücken ihrer Kameradin wanderten, sandte einen Schauer über Palters Haut. „Janta“, wiederholte der Krieger schwach, so als freue er sich über die Aussprache des vor langer Zeit einmal vertrauten Namens. „Ich lebe ja. Ich lebe!“ Mit kindlicher Begeisterung betrachtete der Krieger seine Hände.
Palter gelang es nur mit Mühe, seinen Blick loszureißen. Dem Netmaharu schien es ähnlich zu ergehen. Ihr Führer wirkte wie vom Schlag getroffen. Die Lippen des Darmukta bebten und formten stumme Worte. Sein Ausdruck war kaum weniger geisterhaft als der des frisch Erweckten.
„Netmaharu!“ Ihr Anführer erschrak sichtlich, als sich Karpadoors Blick auf ihn richtete. Das Lächeln im Gesicht des jungen Kriegers verwandelte sich in ein breites Grinsen. „Und Palter Calgola! Was für eine Freude. Dann haben wir es alle geschafft. Ein Wunder. Ein Segen der Götter! Was für eine Freude, euch alle lebend wiederzusehen.“
Der Netmaharu blieb stumm. Ausdrücke von ungläubiger Freude und tiefster Verunsicherung wechselten sich in seinen Zügen ab. „Karpadoor!“ Seine Stimme war kaum mehr als ein Stammeln. Es war das erste Mal, dass Palter ihren Anführer derart verunsichert erlebte. Der Darmukta-Offizier presste sich die Arme an die Seiten und verbeugte sich steif. „Bitte verzeiht mir“, brachte er mit gesenktem Kopf hervor. „Verzeiht mir. Ich wusste ja nicht, dass Ihr noch ... ich wollte ja nicht …“
Karpadoor schob Janta sanft zur Seite und erhob sich. Dieses Mal hielt er sich aufrecht. Der Netmaharu versteifte sich, als der Junge mit unsicheren Schritten auf ihn zuhielt. „Nicht doch, Netmaharu!“ Das Grinsen lag noch immer in den Zügen des Erweckten. Unter anderen Umständen wäre der Ausdruck freundlich gewesen. Nun aber wirkte der Anblick der entblößten Zähne in dem lehmbeschmierten Gesicht geisterhaft und furchterregend. Etwa eine Armlänge vor seinem Vorgesetzten kam der Mann zum Stehen. Dann trat er unversehens vor und umarmte ihren Führer. „Netmaharu!“, wiederholte er überschwänglich. „Es ist nicht Eure Schuld. Ich bin ja so froh, Euch zu sehen. Ich wusste selbst nicht, was mit mir ist. Aber ich lebe wieder. Ihr habt mich gerettet. Ich bin wieder am Leben!“
Ihr Führer verharrte wortlos in der Umklammerung, angespannt und sichtlich unwohl. Schließlich hob er unsicher eine Hand und klopfte dem Darmukta auf den Rücken. „Ja“, brachte er hervor. „Ich auch. Ich freue mich ebenfalls. Bitte vergebt mir. Ich dachte ...“
Der junge Krieger trat zurück und hielt seinen Vorgesetzten an den Schultern fest. „Euch trifft keine Schuld, Netmaharu. Es ist ein Wunder. Ein Wunder der Götter!“
Anstatt eine Antwort abzuwarten, wandte sich der Junge um. Mit einem Mal stand Palter im Zentrum der Aufmerksamkeit des Totgeglaubten. Der Krieger unternahm einen weiten Schritt nach vorn. Mit aller Willenskraft gelang es Palter, nicht zurückzuweichen, als der Junge ihn an beiden Schultern packte. „Palter Calgola!“
„Ja. Hehe. Ebenfalls sehr erfreut, wenn ich das so sagen darf.“
Der Darmukta schüttelte ihn vergnügt.
Palter versuchte, so etwas wie ein Lächeln aufzusetzen, inständig hoffend, dass der Mann sein Zittern nicht bemerkte. Es war unmöglich, den Geruch von Erde und von Feuchtigkeit zu ignorieren.
„Auch Ihr, Soldat!“, freute sich der Junge. „Dann haben wir es wirklich alle geschafft. Es ist ein Wunder. Kaum zu glauben, nicht wahr?“
„In der Tat. Hehe. Kaum zu glauben. In der Tat.“
Über die Schulter des Darmukta konnte er sehen, dass Janta sich erhoben hatte. Die Kriegerin wischte Tränen der Erleichterung fort, die in schmutzigen Bahnen über ihre Wangen rannen. Was zum Henker war hier gerade nur geschehen? Was, bei allen Göttern, hatten sie getan?
Mit einem letzten, bestärkenden Schütteln löste sich der Griff der kalten Finger von ihm. Palter widerstand der Versuchung, die Stellen abzuwischen.
Karpadoor wandte sich zurück zu ihrer Kameradin. Einige Momente standen sich die beiden wortlos gegenüber. Dann lagen sie sich wieder in den Armen.
Aus dem Augenwinkel linste Palter zum Netmaharu. Der Blick des Offiziers lag düster auf seinen Kameraden. Auch Palter wurde Ziel eines misstrauischen Blicks, als er sich aus seiner Erstarrung löste und näher an den Mann herantrat. Einige Momente lang musterten sie einander wortlos.
„Was ist hier gerade geschehen, Soldat?“, wollte der Darmukta flüsternd wissen. „Sagt es mir, bevor ich den Verstand verliere. Bin ich verrückt geworden? Sind wir es alle?“
Palter stieß einen leisen Seufzer aus. „Ich weiß es nicht. Ich habe wirklich keine Ahnung. In einer Sache aber stimme ich Euch zu. Wir sollten uns beeilen, von hier fortzukommen. Etwas an diesem Ort … ich kann es kaum erwarten, dies alles hinter mir zu lassen. Alles andere kann warten, bis ein ordentliches Stück Weg zwischen uns und dieser Lichtung liegt.“
Der Darmukta nickte langsam. Wieder gingen ihre Blicke zu Janta und zu Karpadoor, die sich angeregt unterhielten und miteinander scherzten.
„Ein ordentliches Stück“, wiederholte der Darmukta. Eine Erschöpfung lag in seinem Ausdruck, die allein mit körperlicher Müdigkeit nicht zu erklären war. „Und dann noch etwas weiter.“ Der Mann wandte sich ab. „Sie sollen ihre Sachen packen“, kommentierte er fahrig. „Bernrot wartet sicher nicht auf uns. Jede Stunde, die wir hier verschwenden, ist sie uns auf dem Weg zum Gurdon voraus. Wenn Karpadoor wieder atmen und marschieren kann, kann er auch wieder gehorchen. Ein Darmukta muss gehorchen, solange er am Leben ist. Und das ist er ja nun wieder. Offenbar.“
Ihre wenigen Habseligkeiten waren schnell gepackt. Es gab nicht viel, was der Sturm und das Getrampel der Tertiari von ihrer Ausrüstung übrig gelassen hatten. Der größte Teil ihrer Verpflegung lag verstreut und in den Matsch getreten umher. Die verbleibenden Vorräte waren kaum noch der Rede wert. Angesichts der bevorstehenden Anstrengungen waren sie besorgniserregend spärlich.
Während Janta und Karpadoor das Gepäck zusammensuchten, machten sich Palter und der Netmaharu daran, den Decas der Tertiari-Patrouille zu bestatten. Der Mann mochte ein Feind gewesen sein, doch er hatte Besseres verdient, als auf dieser Wiese zu verrotten. Den Legionär in der gleichen Grube zu bestatten, in der schon Karpadoor gelegen hatte, erschien ihnen schändlich. Trotz ihrer Erschöpfung machten sie sich daran, ein neues Loch im Boden auszuheben; gerade außerhalb des Birkenkreises und nur ein kurzes Stück von jener Stelle, an der Karpadoors Speerwurf den Soldaten niedergestreckt und getötet hatte.
„Netmaharu.“
Der Offizier hob fragend den Blick.
Palter nickte zu den erdverkrusteten Händen seines Gegenübers. „Es ist mir eben schon aufgefallen. Euer Arm. Ihr könnt Euren verletzten Arm wieder bewegen.“
Der Mann hielt inne, starrte auf den frisch geheilten Körperteil und ließ die Finger wandern. Für einen Augenblick wanderte ein schwaches Lächeln über seine Züge. „Sieh an“, bemerkte der Offizier. „Ich hatte nicht einmal mehr daran gedacht. Wenigstens ein gutes Zeichen.“ Der gelöste Ausdruck verschwand so schnell, wie er gekommen war. Apathisch griff der Krieger nach dem nächsten Stein. Auch Palter machte sich wieder an die Arbeit. Wahrscheinlich war es gut, das Positive zu sehen. Wenn der Darmukta eine solche Heilung erfahren konnte, gab es vielleicht auch für ihn selbst noch Hoffnung.
Ihre Arme waren ganz bedeckt von Staub und Erde, als das Werk vollendet war. Der Wurfspieß, der das Lebenslicht des Decas ausgelöscht hatte, markierte nun den Ort seiner letzten Ruhe. Fahle Sonnenstrahlen glänzten über den Legionshelm mit dem roten Kranz am Ende des hölzernen Schaftes, den sie zwischen den Gesteinsbrocken in den Boden gerammt hatten. Der Netmaharu blickte zurück zu ihren Kameraden. Unter gewöhnlichen Umständen hätte er Karpadoor vielleicht gebeten, ein paar andächtige Worte zu sprechen. Nach den Ereignissen des Morgens schien er keine derartige Regung zu verspüren.
Janta schien ihre nachdenklichen Blicke zu bemerken. Die Darmukta trat heran und musterte stumm die Grabstätte. Dann wandte sie sich an ihren Vorgesetzten und salutierte. „Alles ist bereit zum Abmarsch, Netmaharu. Außerdem habe ich eine Meldung zu machen.“
„Eine Meldung?“ Respetschis Antwort enthielt einen Anflug von Spott. Er hatte sicher nicht vergessen, dass seine Untergebene noch vor Kurzem seine Befehle äußerst unmilitärisch übergangen hatte. „Bitte sehr. Ich höre.“
„Ich bringe eine Nachricht von meiner Erkundung“, setzte Janta unbeirrt nach. „Ihr hattet mir befohlen, aus der Höhe das Umland auszuspähen.“
Stille schloss sich an. Der Netmaharu nickte langsam. „Und?“, wollte er wissen. „Was habt Ihr gesehen?“
„Der Wald setzt sich nach Osten noch eine ganze Weile weiter fort“, erklärte die Darmukta. „In der Ferne aber liegt noch etwas anderes. Vielleicht einige Wegstunden von hier entfernt. Ich glaube … nein, ich bin mir sicher. Weiter im Osten habe ich Felder gesehen.“
„Felder“, wiederholte ihr Anführer und bedachte sie mit einem ungläubigen Blick. „Hier draußen.“
„Vielleicht auch Weidegründe“, beharrte die Darmukta. „Auf jeden Fall rechteckig und geordnet. Das Ganze sieht verlassen aus und überwuchert. Doch es sind eindeutig die Spuren menschlicher Besiedlung.“
Der Netmaharu schniefte und wandte sich ab. „Felder“, wiederholte er. „Was soll das nun wieder sein? Eine Okori-Siedlung? Ich dachte immer, unsere Feinde reißen nicht den Boden auf, weil er ihnen heilig ist.“ Der Mann wandte sich zu ihnen um. „Wer sonst?“, wollte er gereizt wissen. „Tertiari? Was meint Ihr, Soldat? Glaubt Ihr, die Männer Eurer verschwundenen Legion betreiben hier draußen Ackerbau?“
Palter schüttelte den Kopf. „Äußerst unwahrscheinlich. Außerdem: Warum sollten sie Felder anlegen und sie dann verwahrlosen lassen?“
Der Netmaharu schnaufte. „Wer sonst? Vielleicht umtriebige Geister und Dämonen mit einer Vorliebe für Landwirtschaft?“
Nachdenkliche Stille schloss sich an. Von einer festen Siedlung in Ingwall war tatsächlich nichts bekannt. Abgesehen natürlich von einer einzigen Ausnahme.
„Eine Möglichkeit gäbe es da noch“, warf Palter schließlich ein. „Ihr wisst schon“, erwiderte er auf die fragenden Blicke seiner Kameraden. „Ich musste gerade an die Geschichte Eurer Tochter denken, Netmaharu. Kapitän Windborg. Der treue Kapitän, der seine Suche niemals aufgegeben hat. Nach Herzog Aurichs Siedlung.“
Der Netmaharu sah ihn finster an. Eine ganze Weile lang sprach niemand ein Wort. „Die verlorene Stadt“, brachte der Darmukta schließlich hervor. „Unzählige haben schon danach gesucht. Und Ihr meint, wir stolpern einfach so darüber?“
Palter zuckte mit den Schultern. „Wir haben in den letzten Tagen viel erlebt, das niemand für möglich gehalten hätte. Vielleicht war noch nie jemand derart tief in diesen Wäldern. Oder vielleicht war nie jemand verrückt genug, um eine Rieseneiche zu besteigen.“
Mehr betretenes Schweigen schloss sich an.
„Wenn es wirklich Aurichs Siedlung ist …“, begann Janta. „Bestimmt gibt es dort Vorräte. Versiegelte Verpflegung. Vielleicht sogar Kartenmaterial für unseren Weg nach Osten.“
„Ausrüstung und Waffen“, steuerte Palter hilfreich bei. Vergessene Schätze, fügte eine Stimme in seinem Inneren hinzu.
„Nein.“ Der Ausdruck des Netmaharu war entschlossen. „Es ist zu gefährlich. Wenn das dort draußen wirklich Herzog Aurichs Siedlung ist, ist sie das Grab von Tausenden. Wir wissen nicht, welche Seuche oder welche … dunklen Kräfte dafür gesorgt haben, dass niemand sie je wiedersah. Wir haben allen Grund, uns von ihr fernzuhalten. Lieber einen Umweg nehmen, als noch mehr von diesem …“ Der Netmaharu wedelte verärgert mit der Hand. Die Blicke aller wanderten zu Karpadoor. Der aus dem Grab Erweckte stand zwischen ihren Gepäckbündeln und war ganz mit sich selbst beschäftigt. Der Junge hielt ein Stück Rinde in der Hand und betrachtete es fasziniert. Schließlich schob er sich die Borke zwischen die Zahnreihen, kaute, verzog angewidert das Gesicht und spuckte Splitter aus. Er wirkte wie ein kleines Kind, das eben erst die Welt für sich entdeckt.
„Davon“, verkündete der Netmaharu wütend. „Besser, wir kochen Wurzeln und kampieren unter Bäumen, als noch mehr davon zu erleben.“
Palter sah zu Janta. Nichts lag ihm ferner, als den nächsten Aufstand gegen die Autorität ihres Führers anzuzetteln. Dennoch … „Haben wir wirklich Zeit für einen Umweg, Netmaharu?“, gab er zu bedenken. „Bernrot wird mit ihrer Armee längst in Bewegung sein, um den Hinterhalt für die Legion zu legen. Jeder Tag Verzögerung spielt unseren Feinden in die Hände.“
„Die Siedlung liegt direkt östlich von hier“, stimmte Janta ihm zu. „Es könnte Tage dauern, sie zu umgehen. Auch unsere Verpflegung … Ihr habt gesehen, wie wüst und leer es rund um diese Lichtung aussieht. Wo Felder sind, ist Korn.“
„Und wo Getreide ist, ist Brot.“ Karpadoor hatte sich unbemerkt genähert. Der Junge blickte strahlend zwischen ihnen hin und her, stolz über die gelungene Assoziation.
Der Netmaharu ließ ein Knurren hören. Der Blick des Mannes wanderte über die Versammlung. Auch ihr Führer musste wohl oder übel anerkennen, dass es nicht besonders gut um sie stand. Die Gruppe war erschöpft und beinahe ohne Nahrung. Der Schweiß von Kampf und Märschen hatte von der Okori-Tarnung nur schmutzig graue Schlieren übrig gelassen. Ein schöner Haufen Retter waren sie. Ein wandelnder Toter. Eine ungehorsame Rebellin. Dazu ein Merkesch-Veteran, der nur noch einen Arm benutzen konnte.
Der Offizier seufzte still und nickte. „So sei es denn“, erklärte er erschöpft. „Nach Osten. Aber mit allergrößter Vorsicht.“ Anscheinend fehlte auch ihm die Kraft für eine langwierige Diskussion. Die anfangs noch stahlharte Entschlossenheit des Kriegers zeigte täglich neue Risse. „Sind alle abmarschbereit?“
„Bereit“, verkündete die Frau. Die Kriegerin trat zum Gepäck und zog sich ein übervolles Bündel auf die Schulter. Wie es aussah, hatte sie sich auch noch einen erheblichen Teil von Karpadoors Last aufgeladen.