Die Masken der Feinde - Matthias J. Diaz - E-Book

Die Masken der Feinde E-Book

Matthias J. Diaz

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Beschreibung

Das Schwarze Feuer ist aufgespürt, der Hort der Feinde Merkeschs ist entdeckt. Palter Calgola aber erweist sich als ein Fluch für alle, die ihm helfen. Das Gesetz des Ingwall ist unerbittlich und fordert seine Opfer. Kein Wunder, dass Bernrots Angebot auf empfängliche Ohren stößt. Es existiert ein Weg, um den Fluch auf seinen Schultern und den endlosen Konflikt zwischen Ingwall und den Herren Merkeschs für alle Zeiten zu beenden. Alles, was dafür noch fehlt, ist ein letzter Akt der Grausamkeit, ein letzter Frieden bringenden Verrat … Die Reihe „Das Licht und die Wildnis“ vermischt die Historie einer fiktiven Welt, die unserer eigenen sehr ähnlich ist, mit fantastischen Elementen. Sie erzählt die Geschichte von Hauptmann Palter Calgola, der unwillentlich in einen Konflikt zwischen menschlichem Fortschrittsglauben auf der einen und einer Welt der Mythen und Legenden auf der anderen Seite hineingezogen wird, die sich hartnäckig weigert, Vernunft anzunehmen und endlich unterzugehen...

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Veröffentlichungsjahr: 2019

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Matthias J. Diaz

 

Die Masken

der Feinde

 

Der dritte Band von

Das Licht und die Wildnis

 

 

 

Impressum

 

© 2019 Matthias Dahlke, Torstr. 221, 10115 Berlin

Umschlaggestaltung, Illustration: Hans Binder Knott

Korrektorat: Doris Eichhorn-Zeller

Karte: Tania Gomes

Foto: Isabel Dahlke

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

 

 

Für B/C.

 

Inhalt

 

Kapitel 1 – Schlucht

Kapitel 2 – Berufung

Kapitel 3 – Gleichgewicht

Kapitel 4 – Prüfung

Kapitel 5 – Feuer

Kapitel 6 – Palisaden

Kapitel 7 – Isringar

Kapitel 8 – Erkenntnis

Kapitel 9 – Reinigung

Kapitel 10 – Erfrischung

Kapitel 11 – Bundestreue

Kapitel 12 – Anrufung

Kapitel 13 – Tarnung

Kapitel 14 – Übergriff

Kapitel 15 – Marsch

Kapitel 16 – Eichen

Kapitel 17 – Gigant

Kapitel 18 – Wogen

Kapitel 19 – Opfer

Anhang

 

Ein Personenverzeichnis und ergänzende Erläuterungen befinden sich im Anhang auf den letzten Seiten.

 

Kapitel 1 – Schlucht

 

Palter starrte hinaus auf die Wasser der Bucht. Regentropfen hinterließen Ringe auf der dunklen Oberfläche. Noch waren es nur einzelne, doch das Grummeln in der Höhe, die für diese Stunde bereits ungewöhnlich fortgeschrittene Dunkelheit, ließen keine Zweifel daran, was ihnen bevorstand. Das Ende dieses Tages würde einen gewaltigen Wolkenbruch mit sich bringen.

Gleichgültig nahm er wahr, dass schwere Tropfen auf seinem Hinterkopf zerplatzten wie überreife Kirschen. Sein Blick war auf die Planken gerichtet, den schwankenden Holzboden des Bootes, der im Laufe vieler Jahre splittrig und aschgrau geworden war.

Die Okori schienen von dem aufziehenden Gewitter in keiner Weise beunruhigt. Mit gleichmäßigen Bewegungen brachten die Männer sie voran. Niemand sprach ein Wort. Keine Eile. Keine Ablenkung. Nichts hielt ihn davon ab, in seinen Gedanken zu versinken.

Die finstere Undurchdringlichkeit in seinem Inneren stand der Beschaffenheit der Wasser in keiner Weise nach. Ein immer stärker werdendes Prasseln mischte sich in das eintönige Geräusch der Ruder. Der Regen. Seine Bewacher. Alles war ihm gleichgültig.

Anfangs hatte er Verzweiflung gespürt. Wut. Ein Aufbäumen gegen die überwältigende Ungerechtigkeit der Welt. Nun aber war nichts als Leere davon übrig. Ein dunkler Riss war in seinem Inneren aufgegangen, dem Zerbrechen eines Gefäßes gleich, dessen Inhalt inmitten von Scherben im Staub zerronnen war. Wohin sie ihn brachten. Was sie mit ihm vorhatten. Nichts von alledem besaß in diesen Augenblicken eine Bedeutung.

Wieder überkam ihn die Erinnerung an den Tod des Abbademers. Erneut traf ihn der Anblick, der leblose Körper seines Freundes, wie er über den Rand der Klippen fiel. Widerstandslos. Ohne ein Geräusch.

Dies war der Moment, von dem an alles schwarz geworden war. Etwas war zerbrochen. Etwas in seinem Inneren war von diesem Augenblick an taub und stumpf geworden. Kein Wunder war eingetreten. Kein rettendes Eingreifen der Götter. Nicht einmal irgendeine Anerkennung dessen, was geschehen war. Still und gleichgültig hatte das Universum dabei zugesehen, wie ein Leben abgeschnitten worden war. Mitgestorben war jegliche Hoffnung auf irgendeine mitfühlende Ordnung, irgendeine höhere Bedeutung, die eine solche Sache haben konnte. Keine Wut war in ihm übrig. Kein Wille zum Widerstand. Nichts als Taubheit. Nicht als Gleichgültigkeit und Leere.

Mit stumpfen Blicken folgte er den Maserungen im Holz. Kleine Pfützen schwappten zwischen den Spanten, vom Regen immer weiter genährt. Glitzernde Ströme troffen von den Rudergriffen, an denen seine Bewacher unablässig arbeiteten.

Es war alles seine Schuld.

Die Erkenntnis umfing ihn wie ein dichtes, weiches Tuch, das ihn zu ersticken drohte. Er wusste, dass es seine Schuld gewesen war. Er hatte geglaubt, sich verweigern zu können. Es zu überlisten. Salau. Das Gesetz des Landes. Doch er hatte sich geirrt. Er war es gewesen, für den der Abbademer hatte sterben müssen. Für seine Schuld war der Mann getötet worden. Für Rabacus. Für das Leben, das er dem Land genommen hatte. Leben für Leben. Blut für Blut. Der Alte hatte ihn gewarnt. Es gab keine Ausnahmen. Nicht für Palter Calgola, nicht für irgendjemand sonst. Das Land trieb immer seine Schulden ein. Für ihn war dieser Mann gestorben. Als Bezahlung für das, was er getan hatte. Und er hatte sich geirrt. Er war für dieses Opfer nicht bereit gewesen.

Schwere Einschläge trafen seinen Rücken. Das Geräusch des Regens hatte sich gesteigert zu einem Trommeln und zu einem Rauschen. Er spürte kaum, wie ihm geschah. Sein Geist war wie in einem schwarzen Netz gefangen, umwölkt von Sorgen, versunken wie in einem trüben Sumpf, aus dem es kein Entkommen gab.

Und dies ist erst der Anfang.

Auch diese Ahnung hatte ihren Anteil an der völligen Betäubung seiner Glieder und Gedanken. Der Alte hatte von Zinsen gesprochen. Davon, dass Rabacus‘ Leben äußerst großen Wert besessen hatte. Was, wenn der Verlust des Abbademers erst der Anfang war? Wenn seine Schuld noch keineswegs beglichen war, sondern, im Gegenteil, im Stillen immer weiter zunahm? Wenn auch jeden anderen, der das Unglück hatte, seinen Weg zu kreuzen, das gleiche Schicksal traf? Die marschierende Legion, die bereits nach Ingwall unterwegs war. Olaikan. Theus. Wie viele Kameraden, wie viele Unschuldige und Unbekannte mussten noch ihr Leben geben für die Vergehen eines Mannes?

Palter Calgola, der Fluch. Die ansteckende Krankheit, die Unheil über jeden brachte, der mit ihm in Berührung kam. Vielleicht war es besser, wenn Bernrot ihm sein Leben nahm. Wenn sie ihn einsperrte und verrotten ließ. Wenigstens konnte er dann niemandem mehr schaden.

 

Vage wurde er sich bewusst, dass sein Efrindir wie Seetang von seinen Knochen hing. Das Kleidungsstück war bereits völlig durchweicht. Schwer und kühl sog der Stoff an seiner Haut. Regen lief in Sturzbächen über seinen Rücken. Die äußere Welt schien in Übereinstimmung mit seinen inneren Gedanken darum bemüht, ihn einzuwickeln und ihm jedwede Luft zum Atmen zu nehmen.

Ja, er war in der Tat gefangen. Nicht nur von diesen Wilden, nicht nur in diesem Boot. Er hatte eine unsichtbare, übergroße Macht herausgefordert und er war ihr unterlegen. Es bedurfte keiner Zellen und Schlösser, um ihn einzusperren, keiner Seile und Ketten, um ihn zu fesseln. Er selbst hatte sich in dieser Sache verstrickt, die er nicht mehr kontrollieren konnte und aus der es kein Entkommen gab. Niemand konnte ihn daraus befreien, kein Mensch und keine List, vielleicht die Götter, doch diese hatten auf den Klippen Kalabats bereits erkennen lassen, wie wenig sie zu Befreiungsakten willig oder in der Lage waren.

Vielleicht hatte der Alte von Anfang an recht gehabt. Vielleicht war es besser, sich aus den Dingen dieser Welt herauszuhalten. Sich nicht durch Wagnisse und Hoffnungen immer wieder neu in ihnen zu verstricken, um letztendlich doch mehr Schaden als Nutzen anzurichten, sogar selbst ein Teil des ganzen Leidenskreises zu werden und mit dazu beizutragen, dass das ganze elende Spiel niemals ein Ende fand. Vielleicht war Auflösung das Letzte, was ihm blieb. Vergehen. Grabesruhe. Vermutlich war es für alle Beteiligten das Beste, wenn Palter Calgola aufhörte zu existieren.

 

Ein scharfes Krachen riss ihn aus seinen düsteren Gedanken. Gerade noch gelang es ihm, sich rechts und links an den schwankenden Bordwänden festzuhalten. Die ockerfarbenen Umrisse der auf den Stein gemalten, riesenhaften Kreatur zuckten über die vom Blitz erhellte Felswand über ihren Köpfen. Die Spitze ihres Bugs stieß gerade durch den vertikalen Riss, der die Klippe von der Höhe bis hinab zur dunklen Wasseroberfläche teilte. Einen kurzen Augenblick lang verspürte er das Verlangen, sich noch einmal umzudrehen, zurückzuschauen auf jene Welt, die wie ein hoffnungsvoller Traum hinter ihnen zurückblieb. Dann aber erstarb die kurze Regung wie das letzte Glimmen eines Kerzendochts. Er schloss die Augen und spürte, wie kühle Schatten ihn umfingen. A'belehz Sadarra. Die „Schlucht der Verfluchten“. Bernrot wartete auf sie.

 

Geräuschlos glitt das Boot zwischen den aufragenden Felswänden dahin. Augenblicklich verstummte das Prasseln des Regens. Die Enge der Schlucht ließ nicht zu, dass der Wolkenbruch in der Höhe sie erreichen konnte. Auch die drückende Schwüle der Gewitterluft schien hinter ihnen zurückzubleiben. Er begann zu frösteln, spürte mit neuer Eindringlichkeit den unangenehmen Sog der durchweichten Kleidung auf seiner mit Gänsehaut bedeckten Haut.

Er hob den Kopf und sah sich um. Dünne, glitzernde Ströme von Regenwasser liefen wie silbrige Adern entlang der Felswände zu beiden Seiten in die Tiefe. Abgesehen vom gelegentlichen Eintauchen der Ruder, dem kaum vernehmbaren Plätschern des Wassers vor dem Bug fuhren sie in beinahe vollständiger Stille. Nur gedämpft drang ein Donnern und Grummeln aus der Höhe zu ihnen herab, tanzte der gräuliche Abglanz von Blitzen über die glatt gespülten Klippenwände, so als ereifere das Unwetter sich tobend darüber, dass sie ihm entkommen waren.

Eine Bewegung in der Höhe erweckte seine Aufmerksamkeit. Er legte den Kopf in den Nacken und erkannte dunkle Gestalten. Auf den Pfaden im Fels standen sie versammelt. Okori, dicht an dicht. Die Kreaturen blickten still auf sie herab. Es war zu dunkel, um Gesichter zu erkennen. Dennoch konnte kein Zweifel daran bestehen, dass alle Blicke auf ihr Boot gerichtet waren.

In noch größerer Höhe ergänzten weitere Umrisse das seltsame Spalier. Fackeln brannten in den Händen der Beobachter. Der Lichtschein tanzte über glänzende Helme und Rüstungsteile. Tertiari. Legionäre der verlorenen Legion, die dort oben ihre Wachgänge vollzogen. Offenbar waren in verschiedenen Höhen Pfade in den hellen Stein geschlagen worden. Womöglich war das Betreten der unteren den Okori vorbehalten, ebenso wie das Befahren dieses kalten Stromes. Unter den schweigenden Beobachtern des alten Volkes gab es keinen, der eine Fackel hielt. Die Schatten und der schwache Schein des Flusses schienen ihnen zu genügen.

Er richtete seinen Blick nach vorn und lauschte dem leisen Plätschern vor dem Bug. Erst jetzt wurde er sich bewusst, was es mit den eigentümlichen Reflexionen an den Wänden auf sich hatte. Der Anblick des Wassers war im Spiel aus Licht und Schatten überaus faszinierend. War die Oberfläche der Bucht noch schwarz und undurchdringlich gewesen, so ging von diesem Strom ein Leuchten aus. Selbst jetzt, nach dem Untergang der Sonne, schienen eisblaue Lichter aus der Tiefe ihn von innen zu erhellen, sodass Muster wie von zerbrechenden Eisschollen über die weißen Klippenwände tanzten.

Ohne Überlegung streckte er eine Hand aus und berührte die Oberfläche. Schnell zog er sie wieder zurück und schüttelte den Arm. Die Kälte war scharf und stechend und sandte frostige Fühler bis in seine Schulter. Wellenartige Leuchtmuster wanderten entlang der Felsen empor. Es war, als fahre ihr Boot gleich zweimal über den Strom: einmal in seiner wirklichen Form, dann noch einmal als dunkler Schattenwurf auf dem Hintergrund der Steinwände.

Er richtete den Blick auf seinen Vordermann. Die Bewegungen des rudernden Okori hatten etwas Einnehmendes, überaus Beruhigendes. Sanft und regelmäßig tauchte das Ruder immer wieder durch die Oberfläche. Zwischen den Schulterblättern des Mannes arbeiteten Muskeln wie Schlingpflanzen unter den Bemalungen und verliehen den Mustern etwas eigentümlich Lebendiges. Das Linienspiel der Zeichnungen erinnerte ihn an die Tarnfarben eines nachtaktiven Falters, wie sie sich bei Nacht gerne auf der Rinde abgestorbener Bäume zu verbergen suchten.

Er beugte sich heran, um die seltsame Darstellung genauer in Augenschein zu nehmen. Mit einem Keuchen schreckte er zurück, als dem Bild zwei Flügel wuchsen. Ein Nachtfalter, breit wie der Schultergürtel des Mannes, verließ mit leisem Surren seinen Ruheplatz. Mit offenem Mund starrte er ihm nach. Das Tier stieg taumelnd auf und verschwand in den Schatten zwischen den Klammwänden in der Höhe. Ein Staub wie Blütenpollen rieselte aus den Schuppenbündeln auf ihn herab.

 

Bumm, bumm.

 

Seine Hand fuhr instinktiv zur Brust. Ein Aufwallen von Hitze traf ihn. Ein Glühen wie ein Herzsprung, scharf hervorgehoben durch die Kälte und Erstickung der zurückliegenden Ewigkeit. Wie ein Erwachen war es. Ein seltsames Ergriffensein. Wie damals. Im Gefängniswagen. Als er die „Stimme“ zum ersten Mal vernommen hatte.

 

Bumm, bumm.

 

Da war es wieder. Die Schläge hallten umso lauter in der Abgeschiedenheit der Felsenschlucht, brannten umso heller in der erstickenden Dunkelheit, die sein Herz umfangen hielt. Für einen Moment nur drang ein Lichtschein durch die Benommenheit von Leere und Betäubung. Wiedererkennen. Vertrautheit. War es Vermessenheit, zu hoffen? Lag nicht irgendwo in diesem Pochen die Aussicht auf Befreiung, auf Errettung und Vergebung?

 

Bumm, bumm.

 

Wärme schien sich in ihm auszubreiten. Die Wärme einer unverhofften Flamme. Die erste Ahnung von Erleichterung seit einer ewig langen Zeit. Er schloss die Augen und atmete tief. Für Blicke unsichtbar, dennoch begleitet von einer schwer beschreibbaren Gewissheit, glomm ein Hoffnungsschimmer in seiner Brust inmitten der für einen Augenblick verstreuten Dunkelheit. Er wagte kaum, seine Aufmerksamkeit darauf zu richten, aus Angst, die zarte Glut so ungewollt zu erdrücken.

 

Bumm, bumm.

 

Der Ruf. Der Ruf des Landes. Das Land rief ihn. Sie rief ihn. Der Funken pulsierte und wuchs zu einer schwachen Flamme. Die dunklen Schlingen, die sein Herz so fest umspannt gehalten hatten, schienen sich mit einem Mal zu lockern, zertrennt von Streifen feuerroten Lichts.

Die Herrin. Die Herrin rief ihn. Es war noch nicht vorbei. In ihrer Hand lag Rettung. Wie Albträume, die sich beim Erwachen ins Lächerliche zerstreuen, wirkten seine Sorgen im Licht der plötzlichen Erkenntnis. Es gab noch Hoffnung. Eine einzige nur, aber es gab sie. Rettung lag allein in Bernrots Hand. Die Frau hatte Macht. Über diese Schatten. Über dieses Land. Nur sie war in der Lage, ihn aus diesem Unglück zu befreien. Ihre Hand alleine konnte die Verstrickung lösen, in der er sich verfangen hatte.

 

Bumm, bumm.

 

Er spürte, dass ihn etwas warnte. Dass er im Begriff war, sich in einem Zauber zu verlieren. Dieses Mal aber fehlte ihm die Kraft. Er war gebrochen. Der Kampf dauerte nur kurz.

Worum hatte er gekämpft? Und wogegen? Schon die Erinnerung daran verflog. Die Herrin. Es gab nur noch die Herrin. Die Herrin war geduldig. Nachsichtig war sie und voller Großmut. Ja, er hatte Schuld auf sich geladen. Unverzeihliche Verbrechen und Übertretungen. Die Brust der Herrin aber war voller Vergebung. Wer in ihrem Herzen war, musste keine Sache fürchten. Sie würde ihn anblicken. Sein Herz sehen. Sie würde erkennen, was er war. Dass er bereit war zu bezahlen. Sühne zu leisten für alles, was er angerichtet hatte. Die Schatten, die ihn niederdrückten, musste sie nicht fürchten, denn sie kannte sie mit Namen. Die Dunkelheit der Wasser war ein Mantel um die Schultern dieser Frau. Sie wartete auf ihn. Sie hatte über ihn nachgedacht und sie war zu einem Schluss gekommen. Er fuhr, ihr Urteil zu empfangen. Was immer sie entschieden hatte, er würde sich ihr unterwerfen. Die Herrin allein wusste, was zu tun war.

 

Bumm, bumm.

 

Das Geräusch verklang, einem fernen Echo gleich. Er schlug die Augen auf. Für einen Augenblick spürte er Verwirrung, so als erwache er aus einem Traum. Das Geräusch der Ruder war verstummt. Er legte den Kopf in den Nacken. Eine schwarze Form zog vor dem Riss daher, der Öffnung der Felsenklamm zum Nachthimmel über ihren Köpfen. Ein kantiger Felsbrocken, der zwischen beiden Klippenwänden klemmte, bewachsen mit Moos und dünnen Wurzeln wie herabhängenden Barthaaren. Er kannte diesen Umriss. Erst vor wenigen Tagen waren sie in wilder Flucht darunter hindurchgeeilt, er und Azed, als er noch geglaubt hatte, der Abbademer könnte ihn befreien.

Nun aber gab es nichts zu fürchten, keinen Grund zu fliehen. Was sie zuvor geängstigt hatte, war in dieser Nacht sein Ziel. Die Paddel der Okori rührten sich nicht. Ihr Boot glitt still voran. Von weiter vorne war ein Rauschen und Plätschern zu vernehmen. Obwohl sie gegen die Strömung fuhren, schwebte ihr Kahn geräuschlos weiter, so als ziehe irgendeine unsichtbare Macht nicht nur ihn selbst, sondern auch ihr hölzernes Gefährt mit sanftem Nachdruck einem Ziel entgegen. Dort war die vorstehende Felswand. Das Nadelöhr hin zum Felsenkessel mit dem schwarzen, runden See. Der Bug durchstieß die schmale Stelle. Das dunkle Rund tat sich vor ihnen auf. Vorn der vielstufige Wasserfall, über dessen Anzahl von Terrassen sich der silbrige Strom aus der Höhe in das von Klippen eingefasste Becken ergoss und die Wasser bei den Felsen zu schäumender Unruhe trieb.

Zur Rechten aber …

 

Eine böse Höhle, Kafir. Schau auf keinen Fall hinein.

 

Er erinnerte sich. Er erinnerte sich an die Worte des Abbademers, doch sie fanden keinen Halt. Er unternahm keinen Versuch, sie festzuhalten, als sie ihn durchfielen und verschwanden wie Kiesel durch ein Spinnennetz.

Der Durchgang. Der Sehnsuchtsort aus seinem Traum. Wartend. Einladend. Lockend und noch immer unbewacht. Die Herrin brauchte keine Wächter. Sie wusste stets, wenn jemand zu ihr kam.

Er wollte sich aufrichten. Sein Hintermann hielt ihn zurück. Stattdessen erhoben sich zwei der Okori. Das Boot schwankte, als sie über die Seitenwände ins flache Wasser stiegen. Mit der Kraft ihrer Arme zogen sie das Gefährt weiter voran. Der Rumpf knirschte über Kiesel, rieb über feinen Sand, bis seine Spitze auf dem kleinen Strand vor dem Höhleneingang zur Ruhe kam. Die Wächter warfen ihm auffordernde Blicke zu. Er erhob sich unsicher. Noch immer spürte er die Schwäche seines ganzen Körpers. Mit einem weiten Schritt überwand er die Bordwand, gelangte staksend auf den Strand, halb mit Sand, halb mit Wasser unter seinen Füßen. Das scharfkantige Loch im Fels verlangte nach ihm. Die undurchdringliche Schwärze zog seine Blicke an.

Als er sich umwandte, waren die Männer bereits darin begriffen, das Boot vom Ufer abzustoßen. Die Okori ergriffen wieder ihre Ruder. Der Bug schwang herum, zurück zum Felsendurchgang. Ohne einen weiteren Blick auf ihren Passagier steuerten die Männer das Gefährt zurück zum Strom. Die schlanke Form glitt durch den Felsenspalt. Dann war es ganz hinter dem Steinvorsprung verschwunden.

 

Er atmete tief. Etwas zog seinen Blick hinauf über den sprudelnden Wasserfall. Die Front der Gewitterwolken war weiter ins Landesinnere vorgerückt. Wie zerschlissene Segel waren die Nachzügler am Himmel zur See hin aufgerissen. Zwischen ihren Fetzen trat der dunkle Mond Lakon hervor. Er schien in kränklichem Rot, so als habe das All an seiner Stelle eine Wunde empfangen. Sein heller Bruder Halle war nirgends zu erkennen. Womöglich entzogen die verbliebenen Wolkenbänder den Himmelskörper seinem Blick. Er schüttelte sich und wandte sich ab. Die Höhle, der scharfkantige Bruch im Fels, verlangte ihn zurück.

 

Nicht hineinschauen. Nicht einmal dran denken!

 

„Tut mir leid“, entfuhr es ihm murmelnd. Er wunderte sich über seine eigenen Worte. Für einen Moment war Widerstand in ihm aufgeblitzt. Aus welchem Grund? Er wusste, was er tun musste. Oft genug hatte er hier gestanden, sehnsuchtsvoll und hoffend, endlich das Geheimnis dieser Felsen zu erschließen. Nun endlich war der Tag gekommen. Als Bittsteller, doch nicht ohne Hoffnung stand er hier. Alles andere war nichts als Vorbereitung gewesen. Abschnitte auf dem Weg hierher, für diesen einen Tag.

Hinter seinem Rücken erklang ein Plätschern. Er musste sich nicht umwenden, um zu wissen, was geschah. Die dünnen Härchen an seinen Armen hatten zu knistern begonnen. Etwas näherte sich ihm.

Er stieß einen leisen Pfiff aus. „Komm, Junge.“

Der Hund kroch an seiner Seite an den Strand und schüttelte eine Wolke von glitzernden Tropfen in die Abendluft. Das Tier senkte den Kopf und beschnüffelte den Boden vor der dunklen Öffnung. Blaue Entladungen knisterten in seinem Fell. Selbst der eifrigste Skeptiker hätte eingestehen müssen, dass Pläne hier zu ihrem Ende kamen, die unsichtbare Hände mit Vorsatz über lange Zeit gesponnen hatten.

Ein solcher Hund weiß immer, was geschehen muss.

Er deutete mit dem Kopf in die Schatten. „Sind wir deshalb hier? Wartet deine Herrin dort drinnen auf uns?“

Der Hund stand auf der Schwelle zwischen Licht und Schatten. Das Tier wandte ihm den Kopf zu und hechelte mit herausgestreckter Zunge. Es schien zu warten.

Er seufzte tief. „Nun denn.“ Er nickte ergeben. „Wollen wir?“ Was er wollte, spielte keine Rolle. Die Herrin befahl und Diener folgten. Ohne zurückzublicken, trat er in die Dunkelheit hinter der Schwelle.

 

Es dauerte eine Weile, bis sich seine Augen an die Finsternis gewöhnt hatten. Der Boden zu seinen Füßen war abschüssig und rutschig. Er musste äußerste Vorsicht dabei walten lassen, sich voranzutasten. Ein von der Natur geschaffener Tunnel führte tiefer in den Fels herab, breit genug, als dass mehrere Männer bequem hätten nebeneinander gehen können. Zu Beginn des Abstiegs spiegelten sich noch Überreste des Abendlichts auf den von Feuchtigkeit glänzenden Steinoberflächen. Schwarzes Moos quoll in großen Mengen aus den Rissen und Spalten hervor. Das Rauschen des Wasserfalls hallte gedämpft von den glänzenden Wänden wider und dunkle Steinkanten ragten durch eine feste Schicht aus Sand und Kieseln aus dem Boden. Nach einer Weile aber war der Weg zu seinen Füßen zusehends schwerer zu erkennen. Vorsichtshalber breitete er die Arme aus, um im Falle eines Abrutschens schnell das Gleichgewicht wiederzufinden. Die knirschenden Geräusche unter seinen Sohlen klangen ab. Immer mehr schien sich der Untergrund in festen Stein zu verwandeln. Der Hund bewegte sich beinahe geräuschlos hinter ihm. Nur selten sah er aus dem Augenwinkel, wie das Tier sich zwischen scharfkantigen Felsen hindurchdrückte oder mit geschickten Sätzen Brocken überwand.

Nach einer Weile kam ihm erstmals das Gefühl, dass etwas an der Beschaffenheit des Tunnels seltsam war. Für einen Augenblick unterbrach er seinen Abstieg und trat an eine nahe Wand, um sie mit der Handfläche zu prüfen.

Es waren diese Abdrücke, die schon seit einigen Schritten seine Aufmerksamkeit erregten. In den Hügeln rund um Merkesch war vor langen Zeiten Bergbau betrieben worden. Lagerstätten wertvoller Erze und Metalle, heute längst erschöpft, waren von den Vorvätern unter größten Mühen und mit einfachen Gerätschaften aus dem Fels getrieben worden, um die ewig hungrigen Schmiedefeuer in der Stadt zu füttern. Noch heute wurde ein erheblicher Teil ihrer Gebäude von Nägeln, Klammern und Bolzen zusammengehalten, die aus dem Ertrag der Stollen gegossen worden waren.

Diese Wände hier sahen ganz ähnlich aus. Die Muster im Fels ließen unverkennbar irgendeine Art von Bearbeitung erkennen, die nicht allein den Mächten der Natur zuzuschreiben war.

Er trat zurück und erschauderte unwillkürlich. Die Scharten wirkten wenig planvoll, dafür aber von umso größerer Gewalt in den Stein hineingetrieben. Entweder eine Armee besonders kräftiger Bergarbeiter war in eine wochenlange Raserei verfallen oder es waren andere Mächte am Werk gewesen, die er sich bei genauerer Betrachtung nicht unbedingt vorstellen wollte. An diversen Stellen wiederholte sich ein immer gleiches Muster: fünf breite, übereinanderliegende Risse. Nicht unbedingt die Spur eines Hobels oder einer Spitzhacke. Vielmehr erweckten die Vertiefungen unwohle Vorstellungen von riesigen, krallenbewehrten Klauen, die sich mit unvorstellbarer Gewalt ihren Weg durch das Gestein gegraben hatten.

Er vertrieb den befremdlichen Gedanken und setzte seinen Weg in die Tiefe weiter fort. Das aberwitzige Aufwallen seiner Fantasie war lediglich von kurzer Dauer. Genau genommen empfand er trotz der Dunkelheit so gut wie keine Furcht. Vielmehr umfasste ihn eine unerklärliche, tiefgehende Sicherheit. Dies war der Weg, auf dem er gehen musste. Ohne Zweifel führte dieses letzte Stück ihn an sein Ziel. Er war gerufen worden. Er gehorchte. Kein Unheil konnte ihn befallen, solange er gehorsam war.

 

Nach einer Weile schien es, als schwände schließlich auch das letzte Licht, das bisher noch seinen Weg hinab vom Tunnelausgang in den Fels gefunden hatte. Ihm blieb nichts anderes übrig, als darauf zu vertrauen, dass der Boden vor ihm weiter in die Klippen führte und nicht plötzlich einen Abgrund auftat, um ihn zu verschlingen. Seine Sinne erwiesen sich zusehends als nutzlos. Weder sehend noch mit Tasten war für ihn noch zu ergründen, auf welchen Untergrund er seine Schritte setzte.

Die hoffnungsvolle Art der Fortbewegung wurde jäh unterbrochen, als sein Fuß gegen eine Kante stieß. Ächzend stürzte er vornüber, riss in einem Reflex den Arm empor und verhinderte somit, dass er mit dem Gesicht voran auf die Steine schlug. Knurrend richtete er sich auf. Die Haut auf seiner Hand und seinem Unterarm grüßte ihn mit einem frischen Brennen.

Einige Momente lang hockte er ratlos inmitten der Finsternis. Nichts war in der Stille zu vernehmen außer seinem eigenen Atem und dem gelegentliche Plitschen eines Wassertropfens auf den Steinen. Was nun?

„Wuff“, machte der Hund hinter seinem Rücken, sodass er zusammenfuhr. Das Vieh schien tatsächlich nach Belieben zu verschwinden, sodass man es beinahe vergaß, wenn man es um sich hatte. Er musste die Augen zusammenkneifen. Dicht an die Felswand gedrückt, trabte das Tier an ihm vorüber. Winzige weiße Lichtkugeln, frische Entladungen stiegen entlang der Haarwurzeln aus dem Fell und verglühten mit einem kaum vernehmbaren Zischen an den Spitzen. Die Kreatur schuf ihren eigenen Lichtkreis und bewegte sich mit einer Sicherheit, als kenne sie den Weg in diese Tiefen ganz genau.

Er raffte sich auf und folgte dem Hund. Die ruppige Unterbrechung des Abstiegs, die schmerzhafte Erinnerung an seine eigene Beschränkung hatte ein Zögern, eine Unsicherheit in ihm geweckt. Nur langsam übernahmen wieder Taubheit und schlafwandlerische Ergebenheit die Lenkung seiner Schritte. Er hatte keine Wahl, als zu folgen, wollte er nicht allein in dieser Dunkelheit zurückbleiben.

Eine ganze Weile lang ging es auf diese Weise vorwärts und herab. Der Hund wandte sich nicht ein einziges Mal zu ihm um. Er musste sich beeilen, um in den Ausläufern des Lichtkreises den Weg zu seinen Füßen nicht aus den Augen zu verlieren. Immer weiter abwärts. Wie lange liefen sie nun schon?

Mit einem Mal verlangsamte das Tier seinen Trab, jene grazile Art der Fortbewegung, gegen die sich seine steif und ungelenk ausnehmen musste. Er wurde gewahr, dass seine Lungen pfiffen und die Wände ihm sein Keuchen vorzuhalten schienen. Waren sie endlich angekommen?

Weiter vorne schien Licht. Das Tier hielt vollends inne. Vor ihnen lag ein Durchgang im Fels. Röte. Zuckendes Orange. Der Abschein von Flammen war auf der anderen Seite der Öffnung zu erahnen. Der Hund wandte den Kopf zu ihm. Der Schwanz der Kreatur begann erwartungsvoll zu wedeln. Es war das erste Mal, dass sie eine Äußerung von Vorfreude erkennen ließ.

Langsam legte er das letzte Stück über den Felsboden zurück und presste sich neben dem Durchgang an die Wand. Vorsichtig schob er den Kopf vor und wagte einen Blick.

 

Kapitel 2 – Berufung

 

Eine gewaltige Kaverne lag vor ihm. Im Lichtschein einer Fackel glänzte schwarzes, spiegelglattes Wasser. Ein schmaler Streifen Land führte vom Durchgang aus in die Mitte eines Sees, dessen weite Ausmaße sich in der Dunkelheit des Höhlenraums verloren. Am Ende der Landzunge erhob sich ein scharfkantiger Felsen wie ein zur Hälfte im Boden versunkener, aus dem Weltall herabgestürzter Meteorit. Eine Frau im dunklen Umhang saß darauf. Eine Fackel brannte einsam in einer Halterung neben ihr im Fels. Sie hatte ihm den Rücken zugewandt. Er brauchte kein Gesicht zu sehen, um zu wissen, wen er vor sich hatte.

Unschlüssig blieb er unter dem Bogen des Durchgangs stehen. Er wagte nicht, ohne Aufforderung näher heranzutreten. Das Zucken der Flamme warf eigenartige Spiegelungen auf das Wasser. Ihr Rauch stieg auf zu einer Decke, die jenseits dichter Schleier aus Finsternis nicht einmal zu erahnen war. Er kniff die Augen zusammen. Nur langsam begannen seine Augen, sich vollends an die außergewöhnlichen Dimensionen des Raumes zu gewöhnen. Irgendwo in der Höhe waren, wenn man ganz genau hinsah, weiße Spitzen auszumachen, die scharf zusammenlaufenden Enden von Stalaktiten, die aus der Dunkelheit wie Zähne in die Tiefe zielten.

Über eine lange Zeit hinweg stand er still und dachte kaum daran, zu atmen. Die Frau saß regungslos und abgewandt auf ihrem Felsen. Er zweifelte nicht daran, dass sie sich seiner Anwesenheit bewusst war. Nichts ließ erkennen, ob er zeitnah damit rechnen durfte, in das Privileg ihrer Aufmerksamkeit zu kommen. Es machte keinen Unterschied. Er würde die ganze Nacht hier warten, den ganzen Tag und einen weiteren, notfalls bis zum Hungertod oder bis ihn irgendetwas anderes aus dieser Welt entließ. Wunderbar genug war es, hier stehen zu dürfen und sie aus der Ferne zu beobachten. Die Frau wirkte einsam auf ihrem Felsen, der Schwärze ausgeliefert und dennoch ruhig. Ein wenig war es ihm, als betrachte er den einzigen anderen Menschen in der Welt, die einzig tröstliche Gesellschaft in der Unendlichkeit des anteilslosen Kosmos.

 

Mit einiger Überraschung bemerkte er, dass er sich bewegte. Seine Füße trugen ihn durch den Durchgang. Seine Stiefel stapften über den durchweichten Sandsteg. Verwundert ließ er seinen Blick zu den Seiten schweifen. Wie benommen musterte er die Reflexionen der weißen Stalaktiten im spiegelglatten Wasser, die dünnen Glasschichten der Wellen, die sich lautlos am schmalen Strand der Landbrücke übereinanderschoben. Er richtete seinen Blick empor und bemühte sich vergeblich, die Ausdehnung der schwarzen Kuppel zu durchmessen, die wie ein umgekehrter Abgrund an ihm sog. Kaum weniger überrascht wurde er gewahr, dass er am Fuß des Felsens zum Stehen gekommen war.

Er blickte auf. Die Frau hatte sich ihm zugewandt. Ihre Pose hätte einen Bildhauer ein Leben lang beschäftigen können. Er konnte spüren, wie er unter ihrem Blick erstarrte, unter der Aufmerksamkeit der sanften grauen Augen unter der Kapuze. Schatten verhüllten einen Teil ihrer Züge, doch der andere trat im Abschein der Fackel umso deutlicher hervor. Sie sah verändert aus. Unten in der Zelle war er sich nicht gewahr geworden, wie schön sie wirklich war.

Ohne den Blick abwenden zu können, ohne zu wissen, was er tat, tastete er zerstreut über den Verlauf des Felsens, bis er einen Absatz gefunden hatte. Er ließ sich darauf nieder und blickte zu ihr auf, wartend wie ein Narr auf seiner Treppenstufe vor dem Thron der Königin. Eine solche Frau an einem solchen Ort. Mit ihm. Ihn hatte sie gerufen. Auf ihn hatte sie in dieser Stille ganz allein gewartet.

Niemand sprach ein Wort. Die Stille und die Weite der Höhle waren überwältigend, beängstigend und wundervoll zugleich. Tief wie die Ahnung der Unendlichkeit war der Moment, voll schmerzhafter Süße wie der Augenblick des Todes am Ende eines erfüllten Lebens. Er war froh, dass er gekommen war. Es gab keinen Ort, an dem er lieber hätte sein wollen. Welch unverhoffter Segen, dass er hatte kommen dürfen, um diesen Augenblick mit ihr zu teilen. Die Leere ringsum schien ihre Präsenzen zu verschmelzen. Die geteilte Einsamkeit in all der Finsternis verband sie wie der Druck im Inneren eines Sterns. Nie zuvor war irgendein Mensch ihm derart nahe gewesen.

Erst, als die Frau ihre Augen von ihm abwandte, wurde er sich bewusst, wie lange sie so gesessen und geschwiegen hatten, einander ansehend, verbunden in tiefster Versenkung jenseits aller Vorstellungskraft. Reiche mochten in derselben Zeit gegründet und wieder in den Staub gefallen sein, Epen geschrieben und wieder vergessen worden, Sterne am Nachthimmel geboren und für immer verloschen sein in jener Zeit, in der sie gemeinsam hier gesessen hatten.

Der Blick der Frau galt wieder den Schatten jenseits der Wasser. Er erschauderte. Das plötzliche Fehlen ihrer ungeteilten Aufmerksamkeit ging einher mit Kälte. Schmerz. Verlorenheit. Er fühlte sich verlassen, fröstelnd und orientierungslos, nun, da der Blick der grauen Augen nicht mehr länger auf ihm ruhte. Es war, als sei der Schutz eines wärmenden Mantels unverhofft von seinen Schultern gezogen worden. Ein anderes, vertrauteres Gefühl begann, sich seiner zu bemächtigen. Einsamkeit. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass sie für die Dauer ihrer Verbundenheit von ihm abgefallen war. Wie eine Flut nach dem Wechsel der Gezeiten kroch die Empfindung zurück in seine Brust und begann, ihn zur Gänze anzufüllen. Mit einem Mal fühlte er sich unvorstellbar elend, frisch gewahr all der Bedeutungslosigkeit, aus der sie ihn für eine kurze Zeit erhoben hatte.

Er räusperte sich. „Ihr wolltet mich sehen?“ Sein Einwurf ließ ihn erschaudern. Seine Worte klangen grob und hässlich, wie Fremdkörper in der reinen Stille, die sie zuvor verbunden hatte.

Der Kopf der Frau wandte sich ihm zu. Wieder waren alle Schmerzen und jegliche Verwirrung mit einem Mal verflogen. „Ja“, erklang die Antwort, schön wie Sphärenklang, rein und einfach wie ein Tropfen frischen Regens.

Er schluckte. Die Stille zwischen ihnen verlangte nach noch weiteren Rechtfertigungen für sein grobes Eindringen. „Um mich zu bestrafen?“ Seine Stimme brach und krächzte wie die eines kranken Vogels. „Um mein Leben von mir einzufordern?“ Wieder fühlte er sich schmutzig. Seine Worte nahmen sich wie Lumpen aus gegenüber dem Seidenklang ihres wohlgesetzten Ausdrucks. Jede seiner Äußerungen war wie eine Übertretung ungeschriebener Gesetze.

Das Gesicht der Frau blieb für einige Momente ausdruckslos. Wenigstens wandte sie ihren Blick nicht von ihm ab. Dann ließ sie ein leises Seufzen hören. Mit einer Geste vollkommener Anmut schüttelte sie den Kopf. „Nein“, verkündete sie, und das Wort war wie Oasenkühle, wie ein belebender Trank nach der Durchquerung einer Wüste. „Nicht zum Tode. Ihr werdet leben.“

Er senkte den Kopf, überwältigt von Ehrfurcht und von Dankbarkeit. Die Gnade war so unverdient wie unerwartet. Er hätte jedes Urteil akzeptiert. „Wie Ihr befielt, Herrin.“

Etwas schüttelte ihn. Er nahm es mit Verwunderung zur Kenntnis. Irgendetwas in ihm hatte sich für einen Augenblick wütend in ihm aufgebäumt. Ein kurzes, rasendes Aufflackern von Widerstand, als er die Herrin mit ihrem verdienten Titel angesprochen hatte. Mit Verblüffung beobachtete er, wie sich das Gefühl verflüchtigte, ebenso schnell, wie es gekommen war. Die Frau schien den kurzen Schauer nicht bemerkt zu haben.

„Ich habe Pläne für Euch, Hauptmann“, fuhr sie geduldig fort. „Doch zuerst müsst Ihr begreifen. Ich will Euch Dinge zeigen, die noch kein Mensch gesehen hat. Bevor Ihr dient, müsst Ihr die Wahrheit sehen.“

Er hielt den Kopf gesenkt. Fassungslos wanderten seine Blicke über den feuchten Sand. Pläne! Und für ihn! Dann war er noch nicht ganz verloren. Etwas musste es noch geben. Etwas, das er tun konnte. Etwas an ihm, das noch nicht rettungslos verdorben war. „Alles, Herrin“, brachte er hervor. Die Worte waren nur ein Flüstern. „Alles, was Ihr sagt.“ Dieses Mal blieb die seltsame Empfindung aus. Kein Widerstand regte sich in ihm. Endlich war er ganz bereit, zu dienen.

Die Frau wandte ihren Blick ab und schaute auf den schwarzen See hinaus. Wieder verschwand mit ihm auch das Gefühl von Wärme und Geborgenheit. „Ihr habt mir Umstände bereitet, Hauptmann.“ Die Worte waren sanft gesprochen. Betroffen blickte er zu Boden. Er konnte spüren, dass der Blick der Herrin wieder auf ihm ruhte. Er wagte nicht, ihm zu begegnen.

„Rabacus war von mir ausgewählt“, fuhr die Frau mit unverändert ruhiger Stimme fort. „Vor äußerst langer Zeit habe ich ihn für mich ausgewählt. Ich gab ihm Rettung. Ich zeigte ihm den Weg. Ich habe sehr lange darauf gewartet, dass er zu mir zurückkehrt, um unser beider Schicksal zu erfüllen.“

Er senkte den Kopf noch tiefer. Nur eine Spur von Vorwurf lag in ihren Worten und dennoch waren sie wie Peitschenhiebe. Hätte der Boden sich vor ihm geöffnet, er wäre kurzerhand hineingesprungen. Körperlicher Schmerz war weitaus angenehmer als der Ausdruck der Enttäuschung in der Stimme seiner Herrin.

„Doch dann kamt Ihr“, erklärte die Frau, noch immer ohne jegliche Erregung. „Ich musste lange nachdenken, bis ich es begreifen konnte. Ihr, Palter Calgola, habt Rabacus getötet. Gegen meinen Willen. Gegen den ausdrücklichen Befehl des Landes unter Euren Füßen.“

Ein Laut entfloh seiner Kehle. Es klang beinahe wie ein Winseln.

„Ja, Hauptmann.“ Eine ungeahnte Spur von Härte trat in ihre Stimme. Der Klang war fast nicht zu ertragen. „Ihr wusstet, was Ihr tatet. Ihr wusstet, was Ihr tun musstet, doch Ihr habt Euch widersetzt. Ihr habt mich beraubt. Mir den Mann genommen, auf dem all meine Hoffnung lag. Nach all der Zeit des Wartens. Nach allem, was ich für ihn vorbereitet hatte. Ihr habt ja keine Ahnung, Hauptmann, welche Schuld Ihr mit Eurem Verbrechen über Euch gebracht habt. Welche Strafe Ihr dafür verdient.“ Die Frau verstummte. Ihr Atem war für einige Augenblicke heftiger gegangen. Plötzlich aber geschah etwas Seltsames mit ihr. Ihr Ausdruck wurde mit einem Mal seltsam träumerisch. „Dann aber, Hauptmann, tat ich etwas anderes“, fuhr sie ruhiger weiter fort. „Ich tat etwas, was viel mehr Menschen sehr viel öfter tun sollten. Ich zügelte meine Gefühlserregung. Ich kam hierher, hinab in diese Einsamkeit, und ich lauschte in mich selbst. Viele Stunden habe ich alleine hier verbracht und ich habe nachgedacht. Und dann, nach einer Weile, habe ich begriffen.“

Mit einem Mal bewegte sich die Frau auf ihrem Felsen. Er wusste nicht, wie ihm geschah. Ihr Gesicht schwebte plötzlich vor dem seinen. Nur eine Handbreit trennte sie. Ihr Anblick und ihr Duft raubten ihm beinahe den Atem.

Bernrot lächelte. Es war das Schönste, was er je in seinem Leben hatte sehen dürfen. Sanftmut lag in ihren Zügen. Bestärkung und Ermutigung. Dann aber ging der Blick durch ihn hindurch und über seine Schulter. Offenbar galt ihre Aufmerksamkeit nun etwas hinter seinem Rücken. „Kaios ist ein besonderes Wesen, wisst Ihr?“

Er wandte sich um. Der Hund lag einige Schritte abseits im feuchten Sand der Landbrücke. Der Kopf des Tieres ruhte zwischen seinen Pfoten. Die Augen, das braune und das blaue, wanderten fragend zwischen ihnen beiden hin und her.

Die Frau nickte bestätigend. „Erst glaubte ich tatsächlich, es handle sich bei Eurer Tat um einen Irrtum. Um einen Unfall. Um eine ungeplante Katastrophe. Dann aber sah ich. Ihr müsst wissen, Hauptmann: Kaios irrt sich nicht. Kaios weiß immer, was geschehen muss.“

Die Kreatur wandte den Blick ab und nieste. Anschließend begann sie, auf einer Pfote herumzukauen. All die Lobreden auf ihre Fähigkeiten schienen sie nicht sonderlich zu interessieren.

Heißes Entsetzen durchfuhr ihn, als er sich bewusst wurde, dass die Frau ihre Hände auf seine Schultern gelegt hatte. Ihr Gesicht schwebte vor dem seinen, dieses Mal noch näher als zuvor. Der Blick ihrer Pupillen war fest auf ihn gerichtet: zwei runde, schwarze Punkte mit einem Funkeln von Unendlichkeit. Er meinte, Lichter zu erkennen, die Formationen weit entfernter Galaxien. „Kaios hatte von mir einen Auftrag.“ Er wusste kaum, woher die Stimme kam. Ihr Klang schien sich nicht mehr mit dem Umweg über seine Trommelfelle aufzuhalten. „Er sollte mir den Mann bringen, der meine Truppen in die Schlacht führt. Den Feldherrn für die Niederwerfung meiner Feinde. Den Schlüssel zum Sieg in jenem Krieg, den wir alle haben kommen sehen. All die Jahre dachte ich, es wäre Rabacus. Nun aber habe ich verstanden. Der Feldherr, den ich brauche, ist nicht tot. Kaios irrt sich nicht. Es geschehen keine Zufälle. Mein Feldherr steht an diesem Abend vor mir.“

Er öffnete den Mund, tonlos, überwältigt von den Welten hinter ihren Augen. Es dauerte eine Weile, bis er auch nur beginnen konnte zu begreifen, was sie ihm soeben eröffnet hatte.

Die Frau nickte bestimmt. In ihren Augen lag das Verglühen vieler Sterne. „Ihr seid es, Hauptmann Palter Calgola. Ohne jeden Zweifel weiß ich jetzt, dass Kaios‘ Wahl auf Euch gefallen ist. In dem Moment, in dem Ihr Rabacus sein Leben nahmt, verspann sich Euer Schicksal mit dem meinen. Mit der Bestimmung dieses Landes, das wir gemeinsam retten werden.“ Die grauen Koronen schienen von innen her zu glühen. „Ihr habt Salau über Euch gebracht, Hauptmann. Schuld jenseits aller Vorstellung. Wenige Leben sind mir jemals wertvoller gewesen als das jenes Mannes, dessen Blut an Euren Händen klebt. Doch mit Eurer Tat habt Ihr zugleich den Weg geöffnet, der zu Eurer Rettung führt. Ihr habt ihn töten können, weil Ihr stärker seid als er. Weil Ihr dazu bestimmt seid und das Land nach Euch gerufen hat. Weil Ihr es seid, auf den ich all die Zeit gewartet habe.“

Das Strahlen war nun beinahe unerträglich. Die Stimme der Herrin war erfüllt von Weisheit und Befehlsgewalt. „Ihr seid es, Palter Calgola“, fuhr die Frau bestimmend fort. „Den Platz an meiner Seite hat das Land für Euch bestimmt. Eure Schuld und meine Aufgabe sind untrennbar verbunden. Meine Berufung ist die Befreiung dieses Landes. Eure ist die Tilgung Eurer Schuld. Die Einnahme Eures vorbestimmten Platzes an der Spitze einer Armee, dem Ihr Euch all die Jahre verweigert habt. All die Jahre glaubte ich, Rabacus würde meine Truppen in den Kampf führen. Doch schon die ganze Zeit über war diese Aufgabe für Euch bestimmt.“

Sein Hals war trocken. Nur ein ausdrucksloses Krächzen kam hervor.

„Habt Ihr schon einmal Männer in den Kampf geführt, Palter Calgola?“

„Viele, Herrin.“ Die Antwort kam wie von selbst über seine Lippen. „Viele Männer.“ Schwerter. Lanzen. Katapulte. Jeder der Begriffe brachte eine Flut von Bildern mit sich. Blutige Klingen, die sich hoben und senkten. Schnappende Ballistenarme. Verzerrte Gesichter. Lärm, Staub und Schreie.

Die Frau nickte zufrieden. Mit einer schnellen Bewegung ließ sie sich vom Felsen gleiten. Ihre Hand auf seiner Schulter war mit einem Mal sehr schwer und drückte ihn hinab. Mit einem Knie sank er hinab auf den feuchten Sand. „Ich brauche Euch, Palter Calgola“, verkündete die Frau. Ein neues, Ehrfurcht gebietendes Leuchten strahlte von ihr aus. „Und Ihr braucht mich. Das Land hat einen Dienst für uns bestimmt, den wir nur gemeinsam leisten können. Es wird Zeit, dass Ihr Euren vorbestimmten Platz einnehmt. Als Kommandeur an der Spitze meiner Tertiari. Meiner Hilfstruppen und Okori. Gemeinsam werden wir den Sieg erlangen. Seid Ihr bereit dafür? Seid Ihr bereit, mir diesen Eid zu schwören, General Calgola?“

 

Bumm, bumm.

 

Die Haare an seinen Armen stellten sich auf. Ihre Worte ließen ihn erzittern. Die Frau war ganz vom Felsen aufgestanden. Ihr Umriss ragte vor ihm auf. Die Frau vollführte eine auffordernde Geste mit beiden Händen, wie ein König, der einen Knappen hat niederknien lassen und darauf wartet, dass ein Ritter sich erhebt. „Besiegelt unseren Bund!“, forderte sie. Ihre Stimme klang euphorisch. „Ihr und ich! Zusammen werden wir das Schicksal erfüllen, welches für uns vorgezeichnet ist. Unsere Feinde werden vor uns zittern und sich nicht zu helfen wissen. Eine Macht, die sie nicht kennen, folgt jedem unserer Schritte. Bernrot und Calgola. Unsere Namen werden gefürchtet werden. Wir aber werden nichts zu fürchten haben. Die Dunkelheit wird mit uns sein. Leistet mir den Schwur, General, und es gibt nichts mehr, was Ihr fürchten müsst. Unser Weg liegt ganz klar vor mir. Folgt mir und ich führe uns auf ihm.“

Sie kannte ihn. Ihr Ausdruck war beinahe zu schrecklich, um sie anzusehen. Sie kannte ihn wie nie jemand zuvor. Ihre Macht und Schönheit ließen ihn am ganzen Körper zittern. Aus ihren Augen strahlte silbernes Licht. Gebannt und hilflos wie in einem Traum streckte er die Hand vor, um seinen Schwur zu leisten und sich ganz an sie zu binden.

 

Bumm, bumm.

 

Er gefror mitten in der Bewegung. Verwirrt starrte er auf die dünnen Härchen unterhalb seiner Handwurzel. Etwas war dort in die schmutzbedeckte Haut gestochen. Drei dünne Striche, schwarz und blau, gerade oberhalb des Handgelenks. Er runzelte die Stirn und starrte auf das Zeichen. Eine Art Glühen schien davon auszugehen. Die Tintenzeichnung tat etwas mit ihm. Aus irgendeinem Grund erschien sie ihm bedeutsam. Nur konnte er sich ums Verrecken nicht daran erinnern, was sie zu bedeuten hatte.

Die Frau musste bemerkt haben, dass etwas in ihm vor sich ging. Ihr Ausdruck war für einen Augenblick verwirrt. Ihre Augen suchten seinen Blick, so als tastete sie in seinem Kopf nach der Ursache für sein unerwartetes Zögern. „General?“ Die Frau streckte die Hände nach ihm aus. Instinktiv wich er davor zurück. Der Mund der Herrin öffnete sich stumm. Ihr Blick verriet ungläubige Bestürzung. Das Licht in ihren wunderbaren Augen begann zu flackern. Es war, als betrachte man das Verschwinden einer zerbrechlichen Kostbarkeit.

„Ich …“ Er unterbrach sich. Mit der Hand fasste er sich an die Stirn. Was tat er hier? Warum bereitete er ihr derartige Leiden? Aus welchem Grund widersetzte er sich seiner heiligen Berufung?

Er bemühte sich, das unerwartete Störgeräusch beiseite zu wischen. Er wollte es. Er wollte ihr die Treue schwören. Etwas aber widersetzte sich in ihm. Die Zeichnung unter seinem Handgelenk schmerzte, so als habe er sich dort die Haut verbrannt. Sein Arm weigerte sich, die Geste zu vollführen. Seine Zunge rebellierte gegen den Befehl, den Eid zu leisten. Erneut versuchte er das Störgeräusch beiseite zu wischen. Die Regung aber weigerte sich, betäubt zu werden, überspült zu werden von den einschläfernden Wellen, die aus den grauen Augen dieser Frau in seinen Körper strömten, wohlig durch seine Brust wanderten wie Wellen auf der Oberfläche einer Strömung, wie die Brandung eines Ozeans, der sich donnernd gegen aufragende Klippen warf, Treibgut umherspülend, die Körper von Seemännern aus einem fernen Land und den herabgestürzten Körper von ...

 

„Azed!“

Er zuckte zurück, aufspringend, halb nach hinten stolpernd, erschreckt von seinem eigenen Ausruf. Seine Schultern waren kalt. Es war, als hätten Eisblöcke anstelle von Händen sie berührt. Schützend umklammerte er die Brust mit beiden Armen. Seine Blicke wanderten wild umher. Wo zum Henker war er? Was bei allen Göttern geschah mit ihm?

Die Augen der Herrin! Instinktiv suchte er die vertrauten Kreise, doch etwas …

„Nein“, formten seine Lippen, während er weitere Schritte rückwärts taumelte. Herrin? Woher kam dieser Begriff? Bis vor einem Augenblick war er ihm noch selbstverständlich erschienen, natürlich und vertraut. Plötzlich aber schien etwas daran falsch zu sein. An ihr. An dieser ganzen Sache. Seine Glieder waren eigentümlich steif. Ein wenig war es, als erwache er aus einer Starre. Als habe er sich seit Stunden nicht bewegt.

Der Blick der Frau lag fassungslos auf ihm. Ihre Arme waren vorgestreckt, um ihn zurückzuhalten. Er aber wich immer weiter vor ihr zurück.

„Nein“, murmelte er, den Kopf mit Mühe schüttelnd. „Nein!“ Woher kam all die Verwirrung? Ein Ringen schien in seinem Brustkorb stattzufinden. Etwas in ihm begann sich aufzulösen. Etwas, das über ihm gelegen hatte wie eine erstickende Decke. Wie eine dunkle Wolke, ein Netz aus Schatten, das seine Gedanken gefangen hielt. Seine Stirn glühte. Salzige Ströme von Schweiß brannten in seinen Augen.

Das Wort. Das Wort zum Zeichen. Was war es gewesen?

„Azed“, wiederholte er unsicher. Erinnerungen. Bruchstücke von Erlebtem. Klippen. Trümmer. Körper. Ein schief grinsendes Gesicht. Wir sehen uns, Sha'hir.

„Gah!“ Blitze schossen durch seine Nervenbahnen, durch das brennende Zeichen in seiner Haut, Glutströme wie heißes Magma durch eine verkrustete Schicht aus Teer. Eine Präsenz schoss unaufhaltsam zurück in seinen Körper, mitten durch die Täuschung und den Zauber dieser Frau, die nicht länger imstande waren, seine Rage zurückzuhalten. Ein neuer, alter Jemand, der sehr wütend war. Der diesen alten Körper sehr gut kannte. Einen Körper, den er höchstpersönlich durch dreißig Jahre Kriegsdienst geschleppt hatte. Und den er, verdammt noch mal, nicht für irgendeine Hexe hergeben würde, ohne wenigstens in den Genuss eines anständigen Ruhestandes gekommen zu sein.

„Argh!“ Er kniff die Augen zusammen und presste die Hände gegen die Schläfen.

Palter Calgola. Das war er. Palter Calgola. Er war kein Diener. Alle ihre Worte waren Lügen! Kein Schicksal hatte ihn hierhergebracht, sondern schmerzende Füße und gerechte Wut. Ein Zauber. Wieder einer ihrer Zauber. Lass dich nicht auf ihre Lügen ein!

Ein schrilles Fiepen zwischen seinen Schläfen ließ ihn taumeln. Er ging in die Knie, fand gerade noch Halt, bevor er rückwärts über die Uferkante ins Wasser stolpern konnte. Mit geschlossenen Augen, zusammengekauert unter Schmerzen, kniete er im feuchten Sand, während der Nachhall des Geräusches in seinem Kopf verklang, umhertanzend wie das Echo in den Gängen einer weitverzweigten Höhle. Nur langsam ließ das Lärmen nach, verlor sich irgendwo in der Distanz und ließ ihn nach einer verwirrenden Spanne an Zeit in vollständiger Stille zurück. Vorsichtig schlug er die Augen auf und hob den Blick.

 

Die Frau stand regungslos vor ihrem Felsen und starrte auf ihn herab. Die Ausdrücke der Verletzung und Zerbrechlichkeit waren verschwunden. Dasselbe galt für jedes sonstige Zeichen irgendeiner menschlichen Gefühlsregung. Nichts war mehr übrig von der Wärme und dem früheren Verständnis.

„Hexe!“ Wie eine Waffe richtete er seinen Zeigefinger auf die stolz und aufrecht stehende Gestalt, nicht zuletzt als Ermahnung an sich selbst. Gemeinschaft. Schicksal. All das hatte sie ihm eingeredet. Um ihn gefügig zu machen. Um seine Schwäche schamlos auszunutzen, seine Erschütterung nach dem Tod des Abbademers. Das Zeichen. Das Schwurzeichen des Abbademers hatte ihn gerettet.

„Nein“, hörte er sich keuchen. „Weg von mir. Weg von mir, Hexe. Raus aus meinem Kopf!“ Die Verwirrung in seinem Inneren war noch immer äußerst groß. Es war wie beim Erwachen aus einem fiebrigen Traum. Er spürte, dass sie ihn gewähren ließ. Die Kälte spüren ließ, in die er sich zurückbegab. Das Elend und die Lasten, die er durch seine Verweigerung erneut auf seine Schultern lud. Schmerz wallte in ihm auf. Der plötzliche Entzug des Glücksgefühls war, als trete man aus einer Hütte ohne Kleidung in einen Schneesturm.

„Hexe!“ Er zwang sich, die Augen zu schließen. Das Blut wummerte rauschend zwischen seinen Schläfen. Er atmete angestrengt und vernahm das dumpfe Pochen seines Herzens. Wärme und Bequemlichkeit riefen ihn zurück.

Was tust du, Palter? Warum? Sie kann dir alles geben. Welchen Grund hast du, das alles wegzuwerfen? Noch blieb ihm die Wahl, das Ringen aufzugeben. Wieder zu versinken in den wohligen Tiefen eines schönen Traums. War es nicht viel besser, gehorsam zu sein, als selbst zu denken? Den Weg zu gehen, den jemand anders einem zeigte, als stets zu kämpfen, herumzuirren und enttäuscht zu werden?

„Nein“, brachte er zwischen den Zähnen hervor. Seine Knie zitterten. Sein Rücken schmerzte wie unter einer schweren Last. Er konnte spüren, wie seine Geisteskräfte ihn zu verlassen drohten. Beinahe wäre er erneut in die Knie gesunken, auf den nassen Sandsteg, hier vor ihr, die sie anteilslos bei seinem Ringen zusah.

Es gelang ihm, eine Erinnerung hervorzurufen. Die Erinnerung an eine Welt, in der er sein eigener Herr war. Stück für Stück kehrte sie zu ihm zurück. Eine Welt voller Mühen und unerfüllter Sehnsüchte, voller Enttäuschung und ohne Sicherheit bezogen auf den Zweck. Nur ein Narr würde sich aus freiem Willen für eine solche Welt entscheiden. Andererseits war es die Welt, in der er selbst das Sagen hatte. Ihre Mühen waren seine Mühen. Alle Irrtümer und Fehler waren seine eigenen, für die er selbst sich entschieden hatte. Außerdem war es weder das erste noch das letzte Mal, dass die Welt Palter Calgola einen Narren nannte.

Die Ohrfeige traf ihn umso überraschender, als es seine eigene Hand war, die ihn schlug. „Argh!“ Seine Wange brannte. Er betrachtete den verräterischen Körperteil mit einigem Erstaunen. Der Schmerz aber brachte Klarheit. Das frische Brennen seiner Haut war wie ein Notanker. Das also hatte sein Körper vorgehabt. Schmerz war gut. Körperlicher Schmerz war etwas, an dem man sich festhalten und orientieren konnte. Er schlug erneut zu, dieses Mal noch kräftiger. „Hexe“, brachte er zischend hervor. „Zauberin!“

Jetzt erinnerte er sich. Er erinnerte sich an alles. „Lügnerin“, stieß er hervor, einen unsicheren Finger als Drohung vor sich ausgestreckt, während er einen weiteren Schritt zurücktrat. „Schon wieder. Ihr habt schon wieder versucht, mich zu verhexen! Nichts von dem, was Ihr versprecht, ist wahr. Ihr interessiert Euch nicht für mich. Genauso wenig wie für Rabacus. Ihr interessiert Euch einzig und alleine für Euch selbst!“

Er fuhr zurück. Unversehens war Leben in die regungslose Form der Frau geschossen. Sie bewegte sich mit einer Schnelligkeit, mit der er nicht gerechnet hatte. Ihre Hände schossen zum Rand ihrer Kapuze und warfen sie zurück. Glänzende schwarze Locken fielen über ihre Schultern herab. Ihre Augen leuchteten wie zwei Kohlenfeuer mit einer Glut, die keine Wärme, nur Verzehrung kannte. Schon hatte sie die Fackel aus der Halterung im Stein gerissen und steuerte geradewegs auf ihn zu.

„Wartet!“ Mit einer derart selbstbewussten Reaktion hatte er nicht gerechnet. Unwillkürlich wich er einen weiteren Schritt vor ihr zurück. „Bleibt zurück! Keinen Schritt weiter, Bernrot!“

„Oder was?“ Ihr Tonfall stand dem Lodern ihrer Augen in nichts nach. Aufrecht waren ihre Bewegungen, sicher und bedrohlich wie die eines Raubtiers auf der Jagd. „Was habt Ihr vor, Hauptmann Calgola? Wollt Ihr mich töten? So wie Ihr Rabacus getötet habt? Oder Euren Freund aus Abbadema?“

„Ihr!“ Dieses Mal schrie er fast. „Ihr habt ihn getötet und nicht ich.“

„Unsinn!“ Die Schärfe ihrer Stimme überbot noch die der seinen. „Sie alle. Alle, die gefallen sind und die noch fallen werden, sind für Euch gestorben. Für Euren sturen, dummen Kopf! Weil Ihr Euch weigert, zuzuhören und nachzudenken. Was ist Euer Problem mit der Vernunft, Palter Calgola? Warum weigert Ihr Euch beständig …?“

„Vernunft?“ Er keuchte fassungslos. „Ihr habt versucht, mich zu verzaubern! Mich mit Kunststücken willenlos zu machen. Und dann sprecht Ihr von Vernunft? Ihr solltet … verdammt! Bleibt zurück, Bernrot! Ich warne Euch. Lasst mich in Ruhe! Ich kenne Eure Zauber. Noch einmal schafft Ihr es nicht, mich zu betrügen!“

Zu seiner Verwunderung hielt die Frau tatsächlich inne. Mehrere Atemzüge lang standen sie einander feindselig gegenüber. Die Wellen lecken fast geräuschlos an dem schmalen Steg aus Sand. Sein Blick schoss zum Ausgang, zum dunklen Loch im Fels. Der Hund war verschwunden. Es gab niemanden, der ihn aufhalten konnte.

Der Blick der Frau ging in die gleiche Richtung. „Ihr wollt davonlaufen?“ Verbitterung und Spott lagen in ihrer Stimme. „Nur zu, Hauptmann.“ Sie vollführte eine Geste mit der Hand. „Bitte sehr. Dann geht. Ich halte Euch nicht auf.“

„Ha!“ Er biss die Zähne zusammen. Was sollte dies nun wieder? Nichts als eine weitere List.

Die Frau hob das Kinn und verschränkte herausfordernd die Arme.

Ungläubig schüttelte er den Kopf. Diese Dreistigkeit! Es konnte nur Verzweiflung sein, die aus ihr sprach. Auch Bernrot musste wissen, dass sie ihn nicht würde zurückhalten können. Dennoch stand er noch immer hier.

„Ihr seid noch immer hier“, stellte die Frau fest.

„Ihr sollt zurückbleiben!“ Er ballte die Fäuste. Etwas aber ließ ihn tatsächlich zögern. Warum? Warum stand er noch immer hier?

Die Dame seufzte und blies sich eine schwarze Strähne aus der Stirn. Mit einer unerwarteten Bewegung ihrer Hand warf sie ein ganzes Bündel dunkler Locken über ihre Schulter. „Ich sage es Euch“, verkündete sie eisig. Es klang, als zwinge sie sich mit Mühe zur Nachsicht. „Ihr seid noch hier, weil Ihr verstanden habt, dass ich die Wahrheit spreche.“

„Ha!“

Wieder folgte Stille. Noch immer aber rührte er sich nicht.

Die Frau hob bedeutungsvoll die Brauen und senkte den Blick zum Boden. Verwirrt sah er mit an, wie sie die Fackel in den Grund rammte und den Saum ihres Gewandes etwas anhob, um sich mitten auf dem feuchten Sandsteg niederzulassen. Die Frau blickte zu ihm auf und vollführte eine einladende Bewegung mit der Hand. „Setzt Euch, Palter Calgola.“

„So weit kommt es noch!“

Die Dame rollte mit den Augen und ließ erneut ein Seufzen hören. „Ich bin zu großzügig mit Euch. Dennoch. Ich bitte Euch, dass Ihr mir zuhört. Zu Eurem eigenen Guten. Bevor Ihr eine Dummheit begehen könnt, die nicht mehr umzukehren ist.“ Die Dame hob den Blick. Ihr Ausdruck war beharrlich.

„Warum muss ich dafür sitzen?“ Verärgert nahm er wahr, dass er klang wie ein patziges Kind.

Bernrot hob in einer Geste der Ergebenheit die Hände. „Ich kann wohl kaum darauf hoffen, dass Ihr mir zuhört, solange Ihr herumlauft wie ein gehetztes Tier.“

„Ach?“ Seine Stimme machte aus dem Ärger keinen Hehl. „Reden wollt Ihr? Jetzt plötzlich wollt Ihr reden. Nachdem ich Euch durchschaut habe? Nachdem all Eure Zauber gescheitert sind? Jetzt plötzlich sucht Ihr ein ehrliches Gespräch?“

Die Frau musterte ihn aus glitzernden Augen. Anscheinend wartete sie noch immer darauf, dass auch er sich auf dem Boden niederließ. Entschlossen verschränkte er die Arme vor der Brust. Sie sollte ruhig wissen, dass er sich von ihr nichts mehr befehlen ließ.

Die Dame seufzte erneut. Wieder wischte sie sich in einer mädchenhaft anmutenden Geste eine Strähne schwarzer Locken aus der Stirn. „Es war ein Fehler, Hauptmann“, behauptete sie. „Es war ein Fehler, auf diese Art mit Euch zu reden. Ihr seid nicht Rabacus. Ihr seid Palter Calgola. Das habe ich begriffen. Spät, vielleicht. Doch Ihr müsst mir glauben, dass meine Absichten für Euch die besten waren. Ihr wisst sehr wohl, dass in Eurem Herzen Dinge vor sich gehen, die Ihr nicht verstehen könnt. Dass diese Reise tiefe Fragen in Euch aufgerissen hat, die nicht zulassen, dass Ihr als derselbe Mann zurückkehrt, als der Ihr aufgebrochen seid. Ich bin bereit, Euch damit zu helfen. Es sei denn, Ihr zieht es vor, hier und jetzt vor mir davonzulaufen.“

Er musterte die Sitzende mit Misstrauen. Schnell verzichtete er darauf, in ihren Augen nach Antworten zu suchen. Zu groß war die Gefahr, erneut darin in einen Hinterhalt zu tappen. „Und warum?“, stieß er missmutig aus. „Etwa aus reiner Freundlichkeit? Warum schert Ihr Euch darum, was mit mir passiert? Ihr habt mit Sicherheit genügend Männer, um Eure Pläne auszuführen.“

„Nicht was ich mir vorgenommen habe, ist entscheidend, Hauptmann“, verkündete die Dame ungeduldig. „Nicht was Ihr wollt. Wir müssen beide unsere Pflicht erfüllen. Begreift das endlich. Glaubt Ihr wirklich, dass allein der Zufall will, dass Ihr hier vor mir steht?“

„Möglich.“ Mit einiger Verärgerung wurde er sich bewusst, dass er mit dem Hintern auf dem feuchten Sandsteg saß.

Die Frau beobachtete ihn stumm. Ihr Blick verriet nicht, was in ihr vor sich ging.

Mit einem Mal kam ihm ein neuer Gedanke. Das Feuer. Bromkalk. In seiner eigenen Bedrängnis hatte er beinahe das eigentliche Ziel seines Auftrags vergessen. Das Feuer war noch immer irgendwo hier, in ihrem Besitz. Derart nahe kam er kaum wieder heran.

Er schluckte. Für einen Augenblick spürte er den kühlen Glaskörper der Phiole mit dem Bromkalk vor seiner Brust, der unter dem Gewand verborgen lag. Er musste sich hüten, durch Blicke oder Worte irgendetwas preiszugeben. Dennoch konnte es nicht schaden, sich mit dieser Dame gut zu stellen, und sei es nur, um einen neuen Weg für die Umsetzung seines eigentlichen Plans zu finden. Schnell verdrängte er die entsprechenden Gedanken. Seine Gegnerin sah ihn noch immer an. Bei einer Frau wie Bernrot war es gefährlich, an solche Dinge auch nur zu denken.

„Also gut“, räumte er betont missbilligend ein. „Dann lasst hören, was Ihr mir zu sagen habt. Aber ich warne Euch: Keine Tricks mehr. Ansonsten seht Ihr mich nie wieder.“

„Ganz wie Ihr meint.“ Die Frau senkte den Kopf. Einige Momente schien sie in ihren Gedanken ganz versunken. „Die Dinge, von denen ich Euch berichten werde, nehmen ihren Ursprung vor äußerst langer Zeit. Lange, bevor an diese Generation überhaupt zu denken war. Wir alle sind nur flüchtige Bestandteile in etwas Großem, Hauptmann. Es ist erforderlich, dass Ihr das begreift.“

„Bitte konzentriert Euch auf das Wesentliche.“ Er musste sich nicht verstellen, um ungeduldig zu klingen. „Mir steht nicht der Sinn nach ausufernden Gutenachtgeschichten.“

 

Kapitel 3 – Gleichgewicht

 

Einige Augenblicke saß die Frau schweigend vor ihm auf dem Steg. Ihre Augen waren zum Boden geschlagen. Mit der Hand fuhr sie über eine Falte in ihrem Gewand. „Vor vielen Altern“, begann sie schließlich, „lange, bevor an diese Generation überhaupt zu denken war, gab es in dieser Welt einen Mann mit dem Namen Bronzegas. Dieser Mann hatte einen Traum. Von einer Stadt, die alle anderen von Menschen gegründeten Reiche übertreffen sollte. An Schönheit und auch an Gerechtigkeit. Manche sagen, die Götter selbst hätten ihm den Einfall dazu eingegeben.“ Die Frau ließ ein kurzes, hartes Lachen hören. Es war unverkennbar, dass sie den Einfall albern fand. Dann aber fixierte sie ihn erneut. „Die Stadt, von der ich spreche, ist selbstverständlich die Eure, Hauptmann. Auch wenn in diesen Tagen wenig von ihrem einstmals hehren Ziel erkennbar ist.“

„Selbstverständlich.“ Er konnte spüren, dass seiner beabsichtigten Ironie der Biss fehlte. „Frohlock Gilbrans ‚Von der großen Stadt Merkesch‘ ist mir wohlbekannt“, fuhr er fort. „Ich hoffe, Ihr habt nicht vor, mir das gesamte Buch …“

„Zur gleichen Zeit“, unterbrach die Frau ihn scharf. „Und diese Dinge stehen nicht in euren Büchern. Zu der Zeit, als Bronzegas ans Tir Kalossi kam, um seine Stadt zu gründen, gab es an dieser Küste bereits ein Volk. Hat man Euch je davon erzählt? Nein? Nun, ich bin nicht verwundert. Ein altes Volk war es. Älter sogar als das Erscheinen Eurer Götter.“

Die Frau warf ihm einen prüfenden Blick zu. Dieses Mal war er es, der ein bitteres Lachen hören ließ. „Nur zu“, forderte er. „Die Zurückhaltung könnt Ihr Euch sparen. Ich bin niemand, der für die Götter eine Lanze bricht. Beruht auf Gegenseitigkeit, wie ich Euch versichern kann.“

Die Frau ließ ein kaum merkliches Nicken sehen. „Dann kann ich offen sprechen. Wie ich sagte: Bronzegas und sein Gefolge waren nicht die Ersten in diesem Land. Das alte Volk hatte lange vor ihnen sein Heim in diesen Wäldern eingerichtet. Die Okori, wie man sie in eurer Sprache nennt. Sie verbargen sich vor Bronzegas, als sie ihn kommen sahen, um ihn und sein Gefolge zu beobachten. Ihr müsst verstehen, Hauptmann: Das alte Volk denkt nicht an Dinge wie ‚Besitz‘ und ‚Eigentum‘. Es sah keinen Grund, den neuen Menschen ihren Siedlungsplatz streitig zu machen. Obwohl ich Euch versichern kann: Hätte ihnen der Sinn danach gestanden, sie hätten Eure Vorväter mühelos vernichtet.“

„Und dennoch haben sie darauf verzichtet. Also?“

„Es sind gute Wesen, Hauptmann.“ Aus der Stimme der Frau klang Wut. „Besser, als Ihr es Euch vorstellen könnt. Nicht nur räumten sie die Küste und ließen euch gewähren. Sie blieben euch sogar gewogen, als immer neue Menschen in die neue Siedlung kamen. Bis hierhin, nach Ingwall, zogen sie sich vor euch zurück, obwohl sie diese Länder stets gemieden hatten. Ingwall ist ein Land, in dem sehr alte Schatten wohnen. Wilde, ungezähmte Mächte haben hier seit frühsten Zeiten ihre Heimat. Die Okori