Die Zuflucht der Schatten - Matthias J. Diaz - E-Book

Die Zuflucht der Schatten E-Book

Matthias J. Diaz

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Beschreibung

Nach Palter Calgolas alles andere als planmäßigen Ankunft im wilden Land Ingwall geht auch weiterhin alles schief. Raubtiere freuen sich auf gut gereiftes Hauptmannsfleisch. Finstere Legenden erheben Anspruch auf Wirklichkeit. Der Banditenführer Bernrot erweist sich als deutlich gefährlicher als erwartet. Und nun liegt auch noch ein Fluch auf seinen Schultern. Immerhin kommt Hilfe manchmal von unerwarteter Stelle. Für einen guten Preis, versteht sich. Denn des einen Zwangslage ist des anderen goldene Geschäftsgelegenheit. Doch wer Bernrots Lager einmal betreten hat, bekommt nur selten Zeit, um seine Entscheidung zu bereuen …. Die Reihe „Das Licht und die Wildnis“ vermischt erfundene Historie mit fantastischen Elementen. Sie erzählt die Geschichte von Hauptmann Palter Calgola, der unwillentlich in einen Konflikt zwischen menschlichem Fortschrittsglauben auf der einen und einer Welt der Mythen und Legenden auf der anderen Seite hineingezogen wird, die sich hartnäckig weigert, Vernunft anzunehmen und endlich unterzugehen.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Matthias J. Diaz

 

Die Zuflucht der Schatten

 

Der zweite Band von

Das Licht und die Wildnis

 

 

 

Impressum

 

© 2018 Matthias Dahlke, Torstr. 221, 10115 Berlin

Umschlaggestaltung, Illustration: Hans Binder Knott

Karte: Tania Gomes

Foto: Isabel Dahlke

 

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

 

Für alle, die den ersten Band unterstützt und

den zweiten möglich gemacht haben.

 

 

Ein Personenverzeichnis und ergänzende Erläuterungen befinden sich im Anhang auf den letzten Seiten.

 

Kapitel 1 – Verloren

 

Palter hatte nicht bemerkt, dass er eingeschlafen war, doch die Sonne, die rot durch seine Augenlider schien und mit ihren Strahlen seinen Rücken wärmte, war ein deutliches Indiz, dass eine Nacht vergangen war.

„Hrmpf“, stieß er aus und begann vorsichtig, sich zu rühren. Gräser stachen ihm in die Nase. Eine Gruppe Vögel, die es sich auf ihm gemütlich gemacht hatte, stob flatternd empor. Es roch nach Bäumen, Moos und Feuchtigkeit. Er blinzelte und blickte auf noch mehr grüne Halme. Eindeutig ein Fall von Schönheit der Natur. Offenbar lag er mit dem Gesicht nach unten in einer Wiese.

Einen Moment lang überlegte er, einfach so liegen zu bleiben. Es bestand kein Grund, sich den Übeln der Welt früher als nötig auszusetzen, die zweifellos auf der anderen Seite seiner Lider bereits auf ihn warteten und die Klauen wetzten.

„Ah!“ Etwas zwickte ihn in die Wade und ließ ihn sich zur Seite rollen.

Eine Gruppe Ziegen mit glänzenden braun-goldenen Fellen trabte blökend über eine kleine Lichtung davon. Einige waren so schamlos, am Rand der Wiese anzuhalten und herumzulungern, womöglich darauf hoffend, dass sich doch noch eine Gelegenheit ergab, ihn zu verspeisen.

„Verschwindet!“, fauchte er.

Die Tiere schnaubten und machten sich enttäuscht über einige weniger wehrhafte Grasbüschel her.

Palter fuhr sich über die Stirn und sah sich um.Bienen umkreisten summend die Gräser und Feldblumen ringsum. Ein leichter Wind wiegte die Kronen der Bäume am Lichtungsrand. Der angenehm würzige Geruch von Kräutern hing in der Luft. Am hellblauen, wolkenlosen Himmel war die Form des Mondes Halle zu erkennen. Das hier war es also: Ingwall. Jenes finstere Land, über das man ihm all die Schauergeschichten erzählt hatte.

Sieht auf den ersten Blick gar nicht so übel aus.

Ein Brennen ließ ihn den Blick zu seinen Armen senken. Der Palter vom Vorabend hatte ihn schön zugerichtet. Rote und purpurne Kratzer bedeckten seine Haut. Einige davon sahen aus, als erforderten sie die Aufmerksamkeit eines Heilers. Vorsichtig betastete er sein Gesicht und beschloss schnell wieder damit aufzuhören. Auch auf seiner Stirn und seinen Wangen hatte die wilde Flucht vom Vorabend Spuren hinterlassen. Wenigstens schienen sich alle Körperteile noch an ihren angestammten Plätzen zu befinden. Er schüttelte versuchsweise die Beine. Einige Spinnen, die auf seinem Gewand ein Sonnenbad genommen hatten, staksten verärgert davon. Offenbar hatte das ganze Land seine Bewusstlosigkeit als Einladung angesehen, es sich auf ihm gemütlich zu machen. Hätte er noch länger geschlafen, wäre er vermutlich unter einem fertigen Termitenbau erwacht.

Nur langsam kehrte seine Erinnerung zurück. Ein Stöhnen entfuhr ihm. Mit Mühe gelang es ihm, das Gefühl aufkommender Übelkeit niederzukämpfen. Er betrachtete die braunen Krusten auf seinen Händen. Herwans Blut. Wolskins Blut. Sein eigenes. Dann ist das alles wirklich passiert.

Palter schnaufte bitter. Alles, was schiefgehen konnte, war schiefgegangen. Er war ganz allein hier draußen, ohne Vorräte und vor allem ohne Wolskin, der ihn zu Bernrots Lager führen konnte.

Schöne Aussichten. Aber gut. Das Wichtigste zuerst.

Seine Kehle war vollkommen ausgedörrt. Doch wo es Ziegen gab, war auch ein Bach nicht fern.

Er ließ den Blick über die Bäume am Lichtungsrand schweifen. Das Unterholz zwischen den Stämmen war dicht mit Farnen bewachsen. Nirgendwo zeigte sich ein Pfad oder ein Anzeichen menschlicher Besiedlung.

Wenn nur der Hund hier wäre, schoss es ihm durch den Kopf. Wolskin hatte recht behalten. Der Hund aus der Peculari-Zelle war wirklich wieder aufgetaucht, als Palter vom Uluru Patang geflohen war. Das Vieh hatte ihn gerettet, als die Darmukta-Reiter versucht hatten, ihn einzufangen. Aber was hatte es mit dem Tier auf sich, dessen Fell geleuchtet hatte wie ein Sturmgewitter? Und wo steckte es jetzt, wo Palter wirklich dringend einen Führer nötig hatte?

Versuchsweise stieß er einen leisen Pfiff aus. Nichts geschah.

„Hierher, Junge!“, rief er halblaut und schnalzte mit der Zunge. „Gewitterhündchen. Wo steckst du?“

Er fuhr herum, als etwas in denGebüschen hinter seinem Rücken raschelte. Einige Farnblätter zwischen den Stämmen zitterten verheißungsvoll.

Palter wollte nähertreten, als eine plötzliche Erkenntnis ihn zurückhielt. Ein Schauder überlief ihn. In diesen Wäldern kroch bestimmt alles Mögliche herum. Er sah sich nach etwas um, das als Waffe dienen konnte. Sein Blick fiel auf einen armlangen Stock, der in einigen Schritt Entfernung auf dem Boden lag. Ohne den Waldessaum aus den Augen zu lassen, trat Palter heran und hob ihn auf, nur um zu erstarren, als ein Paar gelb schimmernder Augen zwischen den Stämmen erschien.

Palters Herz schlug heftiger, als er den Stock hob und zurücktrat. Was er vor sich hatte, besaß mit einem Hund allenfalls entfernte Ähnlichkeit. Ein Kopf mit spitzen Ohren, eine lange Schnauze und struppiges Fell schälten sich aus den Baumschatten. Vielleicht würden die Nachkommen dieses Biestes in ein- oder zweihundert Generationen einmal treue Begleiter des Menschen werden. Aktuell aber war es ein kräftiger Wolf, der mit gesenktem Haupt auf Palter zutapste.

„Braves Hündchen“, krächzte Palter. „Ich bin nicht dein Mittagessen. Genau gesagt wollte ich gerade gehen.“

Sein Blick schoss zu den umliegenden Bäumen. Das Problem war: Wenn man einen Wolf sah, gab es mindestens noch zwei oder drei weitere, die man nicht bemerkte.

„Schusch“, machte er, bemüht, den Eindruck zu erwecken, es handle sich bei seinem Stock um eine machtvolle Waffe.

Der Wolf hielt inne und beobachtete ihn. Das Tier sah nicht einmal hungrig aus, sondern wohlgenährt und irgendwie selbstzufrieden. Eine Schläue sprach aus seinen Augen, die Grund zur Besorgnis gab.

Palter stocherte mit seinem Stock in Richtung des gelbäugigen Räubers. Das Blut wummerte in seiner Brust und die Härchen auf seinen Armen stellten sich auf.

Jetzt bloß keine Furcht zeigen. Raubtiere riechen, wenn man Angst vor ihnen hat.

Ein Keuchen entfuhr ihm, als der Wolf unvermittelt einen Satz nach vorn tat. Palter wich zurück, spürte zu spät, wie sein Fuß in eine Kuhle rutschte, und strauchelte. Noch während er sich fing, war der Wolf losgestürzt und hatte im gestreckten Lauf bereits die halbe Lichtung überwunden.

„Gah!“, schrie Palter, fuhr herum und rannte los. Er riss die Arme zum Schutz vor sich empor, als er den Lichtungsrand erreichte und ins schattige Unterholz sprang. Scharfkantige Farnblätter bogen sich um ihn. Seine Schritte rutschten über Mooskissen, fuhren krachend durch trockenes Totholz, und blieben an aufragenden Wurzelkanten hängen. Ein Knacken und ein Hecheln folgten ihm, als er im wilden Lauf durch den Wald stürmte. Er warf den Kopf herum und sah den dunklen Umriss seines Verfolgers wenige Schritte entfernt zwischen den Stämmen dahinhuschen.

„Schusch!“, schrie Pater keuchend und im vollen Lauf. „Verschwinde! Böser Hund!“

Lässig, wie um Palter zu verhöhnen, trabte der Wolf dahin, als hätte er problemlos seine Geschwindigkeit erhöhen und ihn packen können. Der Jäger sprang vor, war mit einem Satz auf einer Erdkante neben Palter, und stand mit einem weiteren Sprung mitten in seinem Weg, sodass Palter panisch ausweichen und seine Richtung ändern musste. Wieder tauchte der Räuber genau vor ihm auf, um wie ein übergroßer Welpe spielerisch zur Seite zu springen.

„Garg!“, stieß Palter aus. Das hatte ihm gerade noch gefehlt: Das Mistvieh spielte mit ihm.

„Hau ab!“, schnaufte er. „Weg von mir!“

Dummerweise schien die Jagd nur einen von ihnen beiden zu erschöpfen. Während Palter um Atem rang und vor Anstrengung zitterte, wirkte der Wolf nicht im Geringsten strapaziert. Palter rutschte einen Hang herab, sprang wieder auf, stürzte fast und bekam irgendwie ein dünnes Bäumchen zu fassen, an dem er sich emporzog. Schnaufend, den Stamm zwischen sich und den Verfolger bringend, hielt er sich aufrecht.

„Mistviech“, stieß er aus und richtete seinen Stock auf den Verfolger. „Was willst du von mir?“

Ein verräterisches Knacken ließ Palter herumfahren.

Ein zweites, spitzes Wolfsgesicht war in einem nahe stehenden Gebüsch erschienen und beobachtete ihn.

„Götter“, entfuhr es ihm. „Habt ihr nichts Besseres zu tun, als einem hageren Hauptmann nachzustellen? Schusch, geht ein paar Rehe jagen! Ich warne euch, ich bin gefährlich.“

Erledigt. Erledigt ist es, was ich bin, erkannte er, als sich ihm noch ein dritter Wolf von der Seite näherte.

Palter stieß ein frustriertes Jaulen aus. Das hier war lächerlich und noch dazu ungerecht. Dreißig Jahre Kriegsdienst hatte er überlebt, Schlachten, Verrat und Seuchen überstanden, und nun fraß ihn eine Meute Wölfe aus reiner Langeweile.

Seine Ferse stieß an einen Stein. Er blickte zu Boden und fühlte sich von Hoffnung heiß durchschossen.

Ein Feuerstein!

Schnell ließ er sich niedersinken, packte die scharfkantigen Bruchstücke, zog mit dem Fuß ein Häufchen Tannennadeln und trockene Blätter zusammen, und schlug die Steine aneinander.

„Na wartet, ihr …“, knurrte er zu seinen Verfolgern, die angehalten hatten und seine Versuche interessiert beobachten.

Feuer. Feuer konnte ihn noch retten. Wilde Tiere hassten Feuer, oder nicht? Wie sonst als mit Feuer hatte es der Mensch geschafft, die Schatten der Wildnis Schritt um Schritt zurückzudrängen?

Schweiß lief über Palters Stirn, als er die Bröckchen wiederholt aneinanderschlug. Die Ohren der Wölfe zuckten bei jedem der scharfen Geräusche. Wussten die Biester, was Feuer war? War ihnen wenigstens bekannt, dass sie sich davor zu fürchten hatten?

Wieder und wieder hallte das Klacken zwischen den Bäumen wider. Kleine Funken sprangen von den Werkzeugen in Palters Händen, doch das Häufchen Zündholz machte keine Anstalten, in Flammen aufzugehen.

„Komm schon“, grummelte er. „Komm schon!“

Seine Finger verloren von den Vibrationen jegliches Gefühl. „Brennt, verdammte Hölzer. Warum brennt ihr nicht?“

Einer der Wölfe schien genug zu haben und tat einen Schritt nach vorn.

„Gaaah!“, schrie Palter seine Enttäuschung in den Wald und schleuderte einen der Steine nach dem Angreifer. Der Wolf machte sich nicht einmal die Mühe, auszuweichen – das Steinchen prallte wirkungslos von seinem dicken Fell ab.

Vielen Dank, Götter. Palter richtete einen wütenden Blick zum blauen Himmel. Wirklich, vielen Dank. Wann immer ich euch bräuchte, seid ihr zuverlässig nicht zur Stelle.

Er fixierte die Wölfe, die ihn umzingelt hatten, und schnaufte durch. Dann war das hier wohl das Ende seines Vorhabens, irgendwann friedlich im Bett zu sterben.

„Nun denn“, sagte er, hob seinen Stock und nahm die Haltung eines Kämpfers an. „Dann kommt. Kommt her, wenn ihr mich wollt. Aber sagt nachher nicht, ich hätte euch nicht gewarnt.“

Er stutzte, als sich etwas hinter den Angreifern regte. Den verworrenen Zweigen eines Busches hinter ihren Rücken schien plötzlich ein Gesicht zu wachsen: alt, schartig, durchzogen wie die Borke eines Baumes, mit einem Bart, der den Vergleich mit einem Vogelnest nicht zu scheuen brauchte. Auch der Körper des Mannes, in ein graues Gewand gekleidet, schien aus dem Gesträuch langsam hervorzuwachsen.

„He!“, zischte Palter. „Ihr da, alter Mann! Passt bloß auf. Hier ist alles voller Wölfe!“

Der Alte antwortete nicht. In seinem Gesicht verzogen sich zwei buschige Augenbrauen, was ihm einen überaus mürrischen Ausdruck verlieh.

Palters Blick schoss zu den Wölfen. Die Tiere hielten ihre Augen fest auf ihn gerichtet und schienen den Alten nicht zu bemerken.

Er leckte sich über die Lippen. Ist der Kerl wirklich da?Leide ich etwa unter Wahnvorstellungen?

„Ihr dort“, setzte er nach. „Wurzelgesicht! Seid Ihr echt? Wenn ja, seid Ihr bewaffnet? Habt Ihr Feuer bei Euch? Vielleicht können wir …“

„Was habt Ihr hier zu suchen?“, fiel ihm der Alte barsch ins Wort.

„Was ich …?“, setzte Palter verblüfft an. „Wölfe“, wiederholte er laut für den Fall, dass der Alte blind oder begriffsstutzig war. „Nur wenige Schritte vor Euch stehen drei Wölfe. Wilde Tiere mit spitzen Ohren und scharfen Zähnen.“

„Beantwortet meine Frage“, beharrte der Alte. Sein Tonfall klang vorwurfsvoll und knurrig, als hätte er Palter beim unbefugten Betreten seines Vorgartens erwischt. „Was habt Ihr in meinem Wald verloren?“

„In Eurem Wald?“, ereiferte sich Palter. „Seid Ihr noch bei Trost? Begreift Ihr nicht, was …?“

Etwas sirrte durch die Luft und traf ihn schmerzhaft mitten auf der Stirn.

„Aaah!“, stieß Palter aus und riss die Hände empor.

„Zum letzten Mal!“, bellte der Alte. „Hört auf, herumzureden und erklärt mir, was Ihr hier zu suchen habt.“

Fassungslos ging Palters Blick zu dem Tannenzapfen auf dem Boden, der ihn getroffen hatte. Er tastete nach seiner Stirn und fand frisches Blut auf seinen Fingerkuppen. Weiße Blitze tanzten vor seinen Augen, vor Schmerzen und vor Wut.

„Ach?“, brüllte er. „Dann ist das hier also Euer Wald? Es stört Euch, dass ich zwischen Euren Bäumen aufgefressen werde? Wie unachtsam von mir. Bitte, lasst mich … Ist das hier Euer Waldgras?“

Palter rammte die Hacke seines Stiefels auf das Gewächs und stampfte darauf herum. „Und diese purpurne Blume, gehört sie ebenfalls Euch? Da. Und da. Da habt Ihr Euren Wald. Und bevor Ihr …“

Er verstummte als sich eine weiße Wölfin, noch gewaltiger als die übrigen Tiere, neben dem Alten aus dem Gebüsch schob. Palter wollte eine Warnung rufen, doch die Hand des Mannes fand den Kopf des Tieres und begann, es hinter den Ohren zu kraulen.

„Oh“, krächzte Palter. „Natürlich. Euer Wald, Eure Haustiere.“

Sein Blick wanderte hinab zu der zerstampften Blume vor seinen Füßen. „Äh“, brachte er hervor. „Ich wollte nicht … Das eben sollte nicht bedeuten …“

„An Euren Händen klebt Blut“, stellte der Alte fest.

„Langsam, langsam“, wiegelte Palter ab. „Bei aller Liebe zur Natur … Oh, Ihr meint, es klebt wirklich Blut an meinen Händen. Es … Ich war in einem Kampf und musste mich verteidigen.“

„Ein Kampf erfordert stets mehrere, die ihn führen“, grollte der Mann. „Ihr bringt meinem Wald Zerstörung und Gewalt. So war es schon immer mit Eurer Art.“

„Nichts dergleichen“, versicherte Palter. „Ich bin ein Flüchtling vor dem Unrecht, den es gegen seinen Willen her verschlagen hat. Bestimmt können wir …“

„Ihr gehört nicht hierher“, unterbrach ihn der Alte. Sein Ausspruch klang wie ein finales Urteil.

„Damit habt Ihr völlig recht!“, stimmte Palter zu. „Glaubt mir, ich sollte überhaupt nicht hier sein. Zeigt mir einfach nur den Weg zur Via Abbadema. Von dort aus werde ich schon selbst …“

„Ah“, brummte der Alte und rümpfte die Nase, was den dichten weißen Bart auf seiner Oberlippe tanzen ließ. „Ihr seid einer aus Merkesch. Ja. Das dachte ich mir schon.“

„Ja!“, stieß Palter hervor, neue Hoffnung schöpfend. „Merkesch! Ihr habt davon gehört? Große Stadt. Sehr reich. Viele Soldaten. Mit Sicherheit vermisst man mich dort bereits. Wenn Ihr mich also einfach …“

„Dies ist nicht euer Land“, unterbrach ihn der Alte. „Eine Lektion, die ihr immer wieder zu vergessen scheint. Darum spart Euch Eure Worte, so wie ich mir die Belehrung spare. Auf Nimmerwiedersehen, Mann aus Merkesch.“

„Wartet!“, rief Palter, doch der Alte war innerhalb eines Augenblicks wieder mit den Zweigen verschmolzen. Leider hatte er vergessen, seine Tiere mitzunehmen. Die Wölfe traten mit gesenkten Köpfen vor, mit zuckenden Lefzen und bedrohlich aufgestelltem Fell.

„Das mit Euren Blumen tut mir leid!“, rief Palter. „Ehrlich! Und Ihr habt überhaupt kein Wurzelgesicht! Im Gegenteil: Ihr seht jung aus für Euer Alter!“

Er hob seinen Stock auf und wich zurück. Die Tiere hatten einen Halbkreis gebildet, der sich langsam enger um ihn zog.

„Kommt schon, alter Mann!“

Er schlug nach dem Tier, das sich am weitesten herangewagt hatte. „Das war alles nicht persönlich gemeint! Ihr wisst ja nicht, in welcher Lage ich mich ... Man wird ja wohl noch … Verdammt!“

Der Alte war und blieb verschwunden. Palter leckte sich die Lippen. Jetzt konnte nur noch der überlegene menschliche Intellekt die Rettung bringen.

„Guckt mal, ein Reh!“, rief er.

Er wartete nicht ab, sondern rannte los. Mit gesenktem Kopf, ohne sich umzusehen, schaffte er es zwischen die Büsche, stolperte fluchend und um sich schlagend ins Unterholz. Zweige brachen hinter seinem Rücken. Die Geduld der Jäger war am Ende. Dieses Mal kamen sie nicht, um zu spielen.

„Verschwindet!“ Palter schlug Haken, sprang über Wurzelschlingen und verlor doch zunehmend an Atem.

„Böse Hunde! Bleibt weg. Ich mache Bettvorleger aus euch!“

Ein Büschel riesenhafter Farne tauchte vor ihm auf. Gerade noch konnte er die Arme schützend emporreißen. Ein blitzender Schauer schwerer Tropfen ergoss sich über ihn, als er durch die scharfkantigen Blätter sprang, vom Schwung hinabgetragen, rutschend und stolpernd über einen Abhang voller feuchtem Unterholz und zerfallender Rinde, die Farnblätter hinter seinem Rücken raschelnd auf den Fellen der Tiere, die auf ihrer Jagd kaum einen Laut von sich gaben.

Dort vorne! Eine breite Senke lag am Fuß des Abhangs, in der ein verwitterter Felsen ruhte, kantig und hoch wie ein Haus, in der Mitte auseinandergebrochen wie der geteilte Brotlaib eines Riesen, gekrönt von einer krummen Tanne im Licht goldener Sonnenbalken. Moos und Sträucher drangen aus den Rissen im Stein, hingen festgeklammert auf schmalen Vorsprüngen und Terrassen.

Keuchend, das Blut wummernd zwischen seinen Schläfen, sprang Palter das Gefälle hinab, von Furche zu Furche, immer weiter, das Hecheln der Jäger hinter seinem Rücken. Kühle Schatten empfingen ihn, als er in den Spalt zwischen den Felsenhälften tauchte. Er streckte sich, soweit er konnte, bekam, Götter, eine herabhängende Wurzel zu fassen, und zog sich an ihr empor.

Kiefer schnappten unter ihm zusammen, derart dicht an seinen Sohlen, dass er den Luftzug spüren konnte. Strampelnd kämpfte er sich weiter, mit aller Kraft, die seine müden Arme aufzubieten in der Lage waren, stemmte sich in die Höhe, bohrte seine Stiefelspitzen in die Felsvorsprünge und stieß sich empor.

Immer wieder nahmen die Wölfe Anlauf, sprangen knurrend an der Wand in die Höhe und versuchten jaulend, ihn zu fassen zu bekommen. Die Jäger überboten sich darin, übereinander zu klettern, um ihn doch noch mit ihren scharfen Zähnen zu erreichen, doch er hatte gesiegt, zog sich empor über die Kante, rollte sich mit letzter Kraft ins sonnenbeschienene Moos der Oberfläche, außer Atem, doch in einem Stück.

„Ha!“, stieß er mit brennenden Lungen aus und reckte triumphierend eine Faust zum überhängenden Blätterdach.

Ein Palter Calgola pflegte nicht, verspeist zu werden. Ein Palter Calgola pflegte, seine Feinde in ihre Grenzen zu verweisen. Auf allen vieren richtete er sich auf und kroch zurück zum Rand.

Auf Seiten der Verfolger war weitere Verstärkung eingetroffen. Insgesamt fünf gelbe Augenpaare starrten vorwurfsvoll zu ihm empor. Ganz offenkundig betrachteten die Tiere seine Flucht in die Höhe als Regelverstoß und appellierten nun an sein Ehrgefühl, doch bitte schön hinabzusteigen und sich verschlingen zu lassen. Eines der Biester leckte sich die Pfote. Es schien sich auf der Jagd eine Blessur zugezogen zu haben.

„Oh“, flötete Palter. „Hast du dich verletzt? Warte! Der Onkel hat etwas für dich …“

Der Wolf wich Palters hingeschleudertem Stein aus. Dennoch schienen die Verfolger zu dem Schluss zu kommen, dass es klüger war, etwas entfernt zu lagern. Die Tiere trabten die sonnenbeschienene Anhöhe hinauf, über die sie hergekommen waren, und ließen sich im glitzernden Gras nieder, um Palter erneut die Köpfe zuzuwenden.

„Feiglinge“, knurrte Palter. „Eine Belagerung wollt ihr? Bitte sehr. Palter Calgola ist ein Meister der Belagerung. Ihr habt keine Ahnung, wie viel Lebenszeit ich mit Belagerungen zugebracht habe.“

Er ließ sich in die Hocke sinken. Die Oberfläche des Felsens war flach genug, um sich darauf auszustrecken. Er legte sich auf den Rücken, breitete die Arme zu den Seiten aus und erlaubte sich, durchzuatmen. Sonnenstrahlen blitzten zwischen den tanzenden Zweigen in der Höhe.

So weit, so schlecht.

Mit der Rückseite seiner Hand fuhr er sich über die Stirn und blickte an sich herab. Das Gewand, in das ihn die Darmukta für den Gefangenentransport gesteckt hatten, war von der Flucht tief eingerissen. Er fühlte sich geschwächt, hungrig und durstig. Wie zur Bestätigung ließ sein Magen ein Knurren hören. Hatte das ganze Unglück wirklich unbedingt noch vor dem Frühstück über ihn hereinbrechen müssen?

Stöhnend richtete er sich auf. Zu trinken gab es hier oben nichts. Keine Gottheit hatte es für angemessen befunden, eine Quelle aus dem Fels hervorspringen zu lassen. Auch das Nahrungsangebot des Steinblocks war alles andere als reichhaltig. Die wenigen gelblichen Gräser und schmalen Flechten schienen nicht für den Verzehr geeignet. Einige Mücken summten friedlich über den Gräsern und Moosen, doch die Insekten waren die Jagd kaum wert, selbst wenn das eine oder andere von ihnen recht wohlgenährt am Blut von fragwürdigen Lebewesen erschien.

Dann erinnerte er sich: Hatte er beim Aufstieg nicht einige Pilze in den Schatten der Felswand sprießen sehen? Er robbte hinüber zum dunklen Spalt und blickte hinab. Tatsächlich. Die bläulichen Gewächse, die dort terrassenartig aus den Ritzen quollen, sahen allerdings alles andere als appetitanregend aus.

Er fand ein dünnes Ästchen und stocherte versuchsweise in den fleischigen Pilzköpfen herum. Eine gelbliche, gallertartige Masse drang daraus hervor. Angewidert warf er den Stock in die Tiefe und wandte sich ab.

Etwas, das er bisher übersehen hatte, fing seinen Blick ein. Weiter hinten, an der am weitesten abgewandten Seite des Felsens, fiel die Steinoberfläche zu einer schattigen Terrasse hin leicht ab. Ein gedrungener Strauch versuchte dort, sich vor ihm zu verbergen, eine Pflanze mit schimmernden dunkelblauen Blättern. Als er näherkam, bestätigte sich sein Verdacht. Auch die Blätter hatten Geheimnisse vor ihm und versuchten eine Fülle kleiner roter Beeren vor ihm zu verbergen. Eine ganz ordentliche Anzahl war es, die dort hing. Eine Handvoll bekam man allemal zusammen. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen. Die Früchte sahen appetitlich aus. Aber waren sie auch sicher?

Konzentrier dich, Palter!

Die Nahrungsfindung in der Wildnis war Teil seiner Grundausbildung gewesen. Wie lautete noch gleich der Merkspruch? Sind die Blätter rund, Beeren in den Mund?Wird dein Darm dir wund? Haben Blätter Ecken, lass dir die Beeren schmecken?Haben Blätter Zacken, muss man davon ...?

Er wandte sich ab und schüttelte den Kopf. Leider war die Grundausbildung dreißig Jahre her. Erneut ließ sein Magen ein Knurren hören. Das Sträuchlein schien seine Blicke mit neu erwachter Dringlichkeit anzuziehen.

Und wenn sie giftig sind?

Wenigstens eine Beere konnte er wohl probieren.

Denk an die Gefahr! Welchen Unterschied macht eine Handvoll Beeren beim Verhungern?

Vielleicht den ganzen.

„Also gut“, verkündete er laut und bewegte sich zur Kante, hinter der seine Belagerer warteten. Die Wölfe hoben erwartungsvoll die Köpfe.

„Was meint ihr?“, fragte er. „Verhungern oder vergiften?“

Keines der Tiere gab einen Laut von sich. Eines kratzte sich mit dem Hinterlauf am Ohr.

„Ja. Du da. War das eine Meldung?“

Der Wolf hielt inne.

„Ist das ein ‚Ja‘ oder ein ‚Nein‘?“

Der Räuber blickte verwirrt drein.

„Hehehe.“ Etwas Humor im Angesicht des Entsetzens musste schon sein. Gebückt wandte sich Palter um und stieg vorsichtig auf die Felsterrasse herab. Er ging in die Knie und schob die Blätter des Strauches zur Seite. Mit zwei Fingern zupfte er eine der Beeren ab. Die Haut der Frucht war dünn und elastisch wie die einer Himbeere. Er schnüffelte. Die Beere roch appetitanregend, aber vermutlich hatte sich sein Geruchssinn längst mit seinem Magen verbündet.

„Na dann“, brummte er. „Guten Hunger.“

Er schnippte die Beere in die Luft, fing sie, ungeschickter als vorgesehen, mit dem Mund auf und kaute vorsichtig darauf herum.

„Hm“, machte er und hob erstaunt die Brauen. „Gar nicht schlecht.“

Die bläulichen Blätter erzitterten, als er erneut zugriff. Eine weitere Frucht fand den Weg in seinen Mund. Diese war sogar noch wohlschmeckender als die erste.

Wirklich gut. Wenn man einmal damit angefangen hat ...

Wenige Momente später waren seine Handflächen voll rotem Saft und seine Backen voller Beeren.

„Ah.“ Er kaute zufrieden. „Schon viel besser.“

Ein Schluckauf durchfuhr ihn. Er blinzelte.

Hm. Nicht mehr als eine kurze Rebellion seines leeren Magens. Obwohl … Ein wenig seltsam schmeckten sie ja schon, diese Beeren. Dem anfänglich süßen Geschmack folgte eine unerwartete Spur von Bitterkeit.

„Uff.“ Er schirmte die Augen vor dem plötzlich grellen Sonnenlicht ab, ohne eine spürbare Verbesserung zu erzielen. Vielleicht war es besser, die Lider für eine Weile zu schlie…

„Woooh!“ Er streckte die Arme zu den Seiten aus und fand taumelnd Halt. Für einen Moment hatte es sich angefühlt, als beabsichtige sein Geist, die störende Last des Körpers zurückzulassen und allein zum gleißenden Himmel emporzuschweben.

Durst! Wo bekomme ich hier oben Wasser her?

„Hihihi“, entfuhr es ihm. „Was zum Henker?“

Etwas kitzelte ihn an der Hand. Seine Augenlider flatterten, als er ihnen den Befehl gab, sich zu öffnen, und gaben den Blick frei auf einen grauen Falter, der auf seinem Ringfinger gelandet war. Die Flügel des Tieres schienen von silbernen Drähten umrahmt und unter Wellen zu erzittern wie die Oberfläche eines windgetriebenen Ozeans.

„Wooooh!“, entfuhr es ihm. Er streckte einen Finger aus, um das Tier zu streicheln. Der Falter erhob sich und flog zwischen unerträglich heißen Sonnenstrahlen davon. Palter starrte ihm mit offenem Mund nach, bis sein Genick zu schmerzen begann.

Dieser Falter. Dieser Falter war das Beste, was ihm je passiert war, vermutlich, nein, mit Sicherheit sogar das Beste, was irgendjemandem jemals passiert war, seit die Götter das Universum geschaffen hatten.

„Habt ihr das gesehen?“, wollte er von den Wölfen wissen.

Seine eigene Stimme erschien ihm störend schrill. Seine Knie berührten hart die Felskante, als er sich herabsinken ließ und hinunterblickte zu den wartenden …

„Meine Güte!“, entfuhr es ihm.

Was für wunderbare Felle diese Tiere hatten! Flauschig wie die kostbarsten Decken aus Shugan-Seide, wie dickste Teppiche aus Abbadema, die nur darauf warteten, dass man seine Zehen in ihnen vergrub.

„Wooooh!“, rief er. Wilde Tiere. Wilde Tiere waren zweifellos das Beste, was er je gesehen hatte, vielleicht sogar das Beste im gesamten Universum. Und die Beeren erst! Die Beeren waren fantastisch.

Einer der Wölfe gähnte und entblößte eine rosafarbene Zunge. „Schön für Euch, dass Euch die Welt so wunderbar erscheint“, befand das Tier. „Aber einige von uns haben Heißhunger. Wollt Ihr nicht endlich herunterkommen und Euch fressen lassen?“

Palter blinzelte und blickte argwöhnisch nach rechts und links. Irgendetwas warnte ihn, dass es sich um einen Trick handelte, um ihn zu überschlauen. Überschleuern? War „überschleuern“ ein Wort?

„Ich glaube nicht“, gab er vorsichtig zurück. „Nein. Ich glaube nicht, dass ich mich fressen lassen möchte.“

„Ihr werdet so oder so sterben“, behauptete der Wolf.

„Sterben?“, ächzte Palter und spürte, wie ihm Tränen in die Augen stiegen. „Seid Ihr sicher? Das ist ja furchtbar.“

„Alle müssen sterben“, verkündete der Wolf gelassen. „Warum sorgt Ihr nicht wenigstens dafür, dass Euer Fleisch zu etwas gut ist?“

„Nein, danke!“

Palter stöhnte und streckte sich auf dem Rücken aus. Kein Wunder, dass er sonst nie mit Wölfen sprach. Die Biester hatten ja entsetzliche Vorstellungen von einer angenehmen Unterhaltung. Mit den flachen Händen schlug er sich auf die Wangen. Die Sonnenstrahlen schienen leise zu summen.

Vielleicht waren die Beeren doch keine so gute Idee.

Er drehte sich auf die Seite und zog die Knie vor die Brust. Die Sonne funkelte gnadenlos durch das rauschende Blätterdach. In diesem Wald gab es zu viel, zu viel von allem. Es war kaum zu ertragen.

Etwas flatterte zu seiner Linken. Eine Amsel landete auf der Steinkante und begann, ihr Gefieder zu putzen. Fasziniert beobachtete Palter, wie sich ihre feinen Flügel sträubten und der Schnabel jede krumme Feder einzeln zurechtzog. Manchmal war die Wildnis etwas Wunderbares. Vielleicht sogar das Wunderbarste, was ihm je …

Der Vogel hielt inne und musterte ihn aus einem runden, gelben Auge. „Was gibt’s zu glotzen, Arschloch?“, erklang es krächzend aus dem Schnabel.

„Huch! Meine Güte.“ Palter drehte ich beleidigt auf die andere Seite. „Das hier ist ein verdammt unhöflicher Wald“, beschwerte er sich. „Versteht denn niemand, wie schwer dies alles für mich ist?“

„Hättest ja nicht herkommen müssen“, blaffte ihn der Vogel an.

„Ich war zuerst hier“, wehrte sich Palter. „Du bist neben mir gelandet. Das ist mein Felsen.“

„Einen Scheiß!“

„Dämliches Vieh“, murmelte er, so laut er sich traute.

„Gleich gibt’s Schläge“, verkündete die Amsel, sprang ab und segelte von der Kante in die Tiefe.

„Argh.“ Palter setzte sich aufrecht hin und presste sich die Fäuste gegen die Schläfen.

Was ist hier nur los? Und wie breche ich aus diesem Wahnsinn aus?

„Nö“, verkündete er. „Ich mache nicht mehr mit. Nööö.“

Er genoss den Klang des Wortes. Der Begriff fühlte sich wunderbar an auf seiner Zunge. Er war wohlschmeckend, machte ihn fröhlich und brachte ein gewisses Gefühl des Friedens.

„Nö“, verkündete er fest. „Haha! Das war‘s. Genug davon. Ich gehe zurück. Zurück nach Hause!“

Er richtete sich auf, kniff ein Auge zu und zielte über seinen vorgestreckten Arm, den er auf einer Kreisbahn wandern ließ. Irgendwo dort draußen war er, der Weg zurück nach Merkesch. Bestimmt würde sein Finger kribbeln, sobald er die richtige Richtung fand. Eine Kleinigkeit! In Frohlock Gilbrans Geschichten geschahen ständig solche Wunder. Die Götter gaben einem Helden stets ein Zeichen, wenn er mit ausreichender Hingabe danach suchte.

Ein-, zwei-, dreimal hatte sich Palter um sich selbst gedreht, als er bemerkte, dass er sich verdreht hatte und Gefahr lief, vom Felsen zu stürzen. Kurz entschlossen hielt er inne.

„Aha!“ Da ist es ja, mein Zeichen.

Ein Baum stand vor ihm, eine Platane, wenn er sich nicht irrte, nur ein kurzes Stück entfernt. Einige ihrer Äste ragten ihm entgegen wie vorgestreckte Hände.

„Soll das eine Einladung sein, Götter?“

Ich könnte klettern, oder nicht? Wie ein Affe. Was waren Menschen anderes als besonders schlaue Affen? Und welcher Affe war schlauer als Palter Calgola?

„Hehehe.“ Der Gedanke gefiel ihm. Er würde davonklettern, einfach so. Und wer ihn dann noch verfolgen wollte, würde dumm aussehen.

„Wie sieht‘s aus mit uns, Baum?“, murmelte er.

Der Baum antwortete nicht, wie es Bäume meistens taten.

Etwas in Palter schien Warnungen auszustoßen, doch sie drangen wie durch eine dicke Watteschicht an ihn heran. Einen Augenblick zögerte er. War die Lücke bis zum Ast wirklich schmal genug, um hinüberzuspringen? Besser war es, erst einmal in aller Ruhe Maß zu nehmen und sich das Ganze gründlich zu …

Mit Verwunderung nahm er zur Kenntnis, dass er bereits durch die Luft flog. Wind rauschte ihm um die Ohren. Blätter peitschten über seine Wangen. Zweige stießen ihn zurück, schienen ihn abzulehnen wie die Hände einer widerwilligen Menge, doch er bekam den gesuchten Ast zu fassen, der sich unter seinen Griffen knarzend bog, nachgab, gerade noch haltend, bis …

„Nö“, sagte der Baum. Der Ast brach ab.

Kapitel 2 – Legenden

 

Palter fiel, zwischen Blättern und Geäst, vorbei an scharfen Kanten im grauen Fels, bis die Welt genug von seinem Unsinn hatte und sich ihm entgegenwarf. Mit einem harten Stoß schlug er inmitten von zerbrochenen Zweigen auf den federnden Waldboden.

Stöhnend, halb benommen, rappelte er sich auf. Verdammtes, nichtsnutziges Erdgewächs, mit seinen viel zu zerbrechlichen …

„Argh!“ Die Verfolger jagten bereits heran: drei, vier, fünf lang gestreckte Schatten mit gesenkten Köpfen und raumgreifenden Läufen.

Palter wirbelte herum, taumelte in die kühlen Schatten des Felsspalts, sprang hoch, und streckte sich erfolglos nach den Wurzeln über seinem Kopf. Seine Beine waren zu erschöpft. Seine Finger strichen nutzlos über das raue Gestein unterhalb der herabhängenden Pflanzen. Geradezu spöttisch hielten sich die Gewächse außerhalb der Reichweite seiner Hände.

Nichts blieb ihm übrig als eine Flucht noch tiefer in den Spalt. Hinab über den rutschigen, sich zunehmend absenkenden Boden voller fauliger Blätter ging es, doch mit einem Mal fiel er, rutschte, rollte, sich überschlagend den Untergrund hinab, immer weiter, voran ins Dunkle, in die Schatten zwischen den aufragenden Felsen. Instinktiv versuchte er, sich so klein wie möglich zu machen, die Arme schützend über den Kopf zu reißen. Dennoch schlug er rechts und links an, mit sämtlichen Körperteilen und in allen Richtungen, bis er plötzlich nicht mehr rollte, sondern fiel, einen Moment lang verloren in der Finsternis schwebte, dann schmerzhaft mit dem Rücken zuerst in etwas landete, das krachend unter ihm zerbarst.

 

Er blieb liegen, die Lider zusammengekniffen, während prasselnde Geräusche rings um ihn erstarben.

Langsam, Palter.

Es war gefährlich, die Welt vorschnell davon in Kenntnis zu setzen, dass er noch am Leben war. Ein Hustenreiz durchkreuzte seine Pläne und krümmte ihn zusammen. Schatten umzingelten ihn. Eine aufwirbelnde Staubwolke erhob sich über ihm. Zwischen ihren funkelnden Körnchen fielen Balken von Tageslicht herein. Er lag auf einem Stapel aus hartem Gestänge, einem Haufen aus zerbrochenem Geäst. Über seinem Kopf, einige Manneslängen in der Höhe, spannte sich ein Loch mit gleißenden Kanten.

Stöhnend wandte er den Kopf zur Seite und gefror. Unmittelbar neben seiner Schläfe ragte die Spitze eines armdicken Asts aus dem Haufen unter seinem Rücken. Er schloss die Augen und schickte ein Stoßgebet zu allen Göttern. Hoffentlich ragten keine weiteren Pfähle aus seiner Brust, von denen sein Schmerzempfinden lediglich noch nicht den Mut besessen hatte, ihn in Kenntnis zu setzen. Erst nach einer Weile ohne einsetzende Todesqualen wagte er, sich langsam umzuschauen.

Es war eine Höhle, in der er sich befand. Dünne Wurzeln hingen von den Rändern des Loches, durch das er gestürzt war, herab, so als erkundeten die Gewächse zögerlich die schattige Kaverne. Viel trockenes Unterholz lag hier herum, ebenso wie …

Er blinzelte, um sich zu versichern, dass seine Augen ihn nicht täuschten. Ein Knochen, anscheinend ein Teil von einem Bein, baumelte nur wenige Handbreit über ihm von einem Faden an der Decke. Ein weiterer hing nur ein kurzes Stück neben dem ersten. Immer weitere Gebeine schälten sich aus den Schatten, eine ganze Galaxie von Knochenteilen wie ein absonderlicher Sternenhimmel. Tierknochen, wie Palter mit einiger Erleichterung feststellte. Dicht an dicht, befestigt in unterschiedlichen Höhen wie die Unterseite einer morbiden Welle, hatte man sie aufgespannt. Einige von ihnen waren glänzend und wie glatt poliert. Andere hatten die Beschaffenheit von sprödem Holz, waren überzogen mit dünnen Rissen und perforiert von winzigen Löchern.

Der Haufen unter Palters Rücken gab ein Knarzen von sich, als er sich aufrichtete. Die Äste, Zweige und Blätter, die ihm Laufe der Zeit hier herabgerutscht waren, hatten ihm das Leben gerettet. Er hob den Blick zum Loch in der Höhe. Keine Bewegung war dort zu erkennen. Wenigstens die Wölfe hielten sich anscheinend von hier fern – was nicht unbedingt ein gutes Zeichen sein musste.

Eine Gänsehaut wanderte über seine Arme. Es war kühl hier unten. Ein leichter Zug ging durch die Kammer. Die Knochen drehten sich an ihren Fäden und schlugen klackend aneinander wie ein Windspiel.

Ein verwunschener Ort, fiel ihm ein. Wie in Frohlock Gilbrans Geschichten. Leide ich etwa immer noch an Halluzinationen?

Er schlug sich auf die Wangen. Hoffentlich war er wirklich hier und lag nicht sabbernd mit gebrochenem Rückgrat oben im Felsspalt.

„Au!“ Die frische Wunde an seiner Stirn wirkte auf jeden Fall echt.

Waffe, mahnte ihn ein Teil seines Verstandes. Ich muss mich bewaffnen.

Er sah sich um. Das Holz unter seinem Rücken war zum größten Teil versprödet. An einem der Fäden an der Decke aber fand er einen Knochen, der einmal einem Wesen als Oberschenkel gedient haben musste. Palter löste ihn mit einem Ruck und betastete ihn. Gut. Der Hüftkopf an der Spitze war ausreichend schwer für einen Knüppel und die scharfe Bruchkante an der Unterseite war zum Zustechen geeignet.

Mit einer Waffe in den Händen fühlt man sich doch gleich viel besser.

Erneut hob er den Blick hinauf zum Loch. Es lag eindeutig zu hoch für einen Aufstieg. Zu beiden Seiten der Öffnung zog sich die Decke in die Dunkelheit zurück, ohne eine Möglichkeit, hinaufzuklettern.

Ganz abgesehen davon, dass dort vermutlich die Verfolger auf mich lauern.

Diese Hoffnung aufgebend, wurde er sich erneut des Luftzugs bewusst. Er feuchtete einen Finger an und versuchte, seine Herkunft zu bestimmen. Vorsichtig unternahm er einige Schritte, bis er den richtigen Weg gefunden hatte. Eine dünne Schicht aus grauen Blättern, kaum noch als solche zu erkennen, bedeckte den schweren Lehmboden. Ein Hauch kam ihm entgegen, ein leichter Zug, der die Knochen über seinem Kopf leise klingen ließ.

Ruhig, Palter. Das hier ist keine Gruselgeschichte.

Ein plötzliches Knurren ließ ihn aufschrecken. Panisch richtete er seine Waffe in die Schatten, bis er sich bewusst wurde, dass das Geräusch aus seinem Magen stammte. Ein unterdrücktes Lachen entfuhr ihm.

„Alles gut“, versicherte er sich. „Alles gut.“ Der Klang seiner Worte verhallte in der Dunkelheit.

Er hielt den Atem an. War es ein leises Plätschern, das er da vernahm? Er folgte dem Geräusch mit großer Vorsicht und noch größerem Durst. Tatsächlich. Weiter vorne an der Wand glitzerte etwas.

Wasser. Ein dünnes Rinnsal, kaum mehr als ein durchscheinender Film auf dem schwarzen Fels. Ungläubig streckte er die Hand vor, berührte die Kühle und kostete den Geschmack.

Waldboden. Erde und Gras. Aber frisch und kalt und wunderbar.

Er presste seine Wange an den Fels, fing auf, was immer er fangen konnte, schluckte Luft und Wasser, herrliches Nass, immer und immer wieder, bis sein Magen glucksend verkündete, dass der Tod durch Verdursten abgewendet war. Er rülpste laut. Das Geräusch wanderte vor ihm durch die Dunkelheit, einem Herold gleich, der laut verkündete, dass hier jemand kam, dem es an Manieren fehlte. Das Geräusch des Echos half ihm bei der Orientierung. Mit der Rechten tastete er sich an der Wand entlang, über feuchtes Moos und scharfe Kanten.

Ja, eindeutig. Von hierher stammte der Luftzug. Die Höhlendecke schien in dieser Richtung niedriger zu werden. Er musste sich ducken und die herabhängenden Gebeine wie einen Vorhang vor sich teilen. Schließlich ertasteten seine Finger eine Kante, eine Vertiefung von einiger Größe, ja, eine Abzweigung in einen Gang. Ein kühler, nach Feuchtigkeit und Erde riechender Luftzug wehte ihm daraus entgegen.

Er zögerte. Noch einmal blickte er über die Schulter zurück zum Loch an der Decke. Nein. Das Licht war und blieb zu weit entfernt. Hier entlang musste es gehen. Es gab keinen anderen Weg.

Er atmete tief und umfasste seinen Knochen fester.

Etwas Gefährliches geht um in diesen Schatten, erinnerte er sich. Und sein Name ist Palter Calgola. Ich bin hier unten das größte Ungeheuer.

Er knurrte ein wenig, um seiner Versicherung Nachdruck zu verleihen. Die Art, in der die Wände das Geräusch zu ihm zurückwarfen, sorgte dafür, dass er schnell wieder damit aufhörte.

„Ich bin der Jäger, nicht die Beute“, flüsterte er. „Hütet euch, sonst wird es übel mit euch enden.“

Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Finsternis und begannen, Einzelheiten auszumachen: Wurzeln, die aus den Wänden ragten. Dünne Wasserfäden, die wie glitzernde Quarzadern von der Decke rannen. Der Art nach, wie sich die Steinschichten übereinanderfügten, musste der Gang natürlichen Ursprungs sein. Unverkennbar war jedoch, dass an vielen Stellen jemand nachgeholfen hatte. Menschenhände. Die Wände waren mit Werkzeugen geebnet worden. Der Boden wirkte ausgetreten von den Schritten vieler Füße.

Wann wohl zuletzt jemand hier unten war?

Weiße Pilze glommen in schattigen Ecken und Aussparungen. Bei genauerem Hinsehen zeigte sich, dass haardünne, bläuliche Adern ihre bleichen Köpfe durchzogen, die ein schwaches Licht aussandten.

Schritt für Schritt bahnte sich Palter seinen Weg, den Knochen vor sich ausgestreckt. Mit einem Mal stieß die Spitze seiner Waffe auf Widerstand. Etwas lag vor ihm in der Mitte des Ganges, im schwachen Widerschein der Wasserläufe und fluoreszierenden Pilze: Zwei gekreuzte Planken.

Nein. Er erschauderte. Keine Planken: Knochen. Aber welches Tier verfügt über Knochen dieser Größe?

Die Gebeine waren lang genug, um den Gang in seiner ganzen Breite zu versperren. Jemand hatte sie in Scharten in den Wänden gerammt, am Schnittpunkt mit grauer Schnur umwickelt und festgezurrt. Die Sperre sandte eine eindeutige Botschaft.

Palter stöhnte. Typisch Gilbran. Jeder wusste, was geschah, wenn man ominöse Verbote in verwunschenen Höhlen überging. Er wandte sich um und spähte in alle Richtungen. Nein, der nächste Akt war unvermeidbar. Es sei denn …

„Hehehe.“

Er sank herab auf alle viere. Damit hatte der alte Gilbran sicher nicht gerechnet. Ein Held würde sich nie dazu herablassen, auf die Knie zu gehen und unter einem Hindernis hindurchzukriechen.

Leider ging Palters Plan nicht auf. Er versuchte es mit Verrenkungen, bis er sich eingestehen musste, dass die Öffnung unter den Knochen zu schmal war. Verärgert rieb er sich das Genick. So einfach gebe ich mich nicht geschlagen.

Er drückte sich an die Wand und versuchte, an der Seite über die Streben zu steigen. Auch dieser Versuch war nicht von Erfolg gekrönt. Missmutig trat er zurück.

Du glaubst, du hast mich, Alter, was? Mal sehen, was du hiervon hältst.

Er stocherte mit seiner Waffe auf die Scharten in den Wänden ein, die die Barriere hielten. Das Durchbrechen dieser Sperre war vielleicht verboten, aber niemand konnte ihm einen Vorwurf machen, wenn sie von selbst aus ihren Halterungen fiel. Er stocherte noch etwas fester.

Komm schon!

Konnten die Legenden nicht einmal eine Ausnahme machen für jemanden, der einfach nur nach Hause wollte? Er legte die Waffe aus der Hand und rüttelte versuchsweise mit beiden Händen an den Knochen. Nichts bewegte sich.

„Also gut“, verkündete er bitter. Die Regeln weigerten sich also, sich für ihn zu biegen. Blieb nur noch der Weg, den alle Leser von Geschichten längst erwarteten.

„Klopf, klopf“, knurrte er, nahm Anlauf und trat mit der Ferse gegen die Knochen, gerade unterhalb der Stelle, an der die dünne Schnur sie wie ein Kreuz zusammenhielt. Es knackte vielversprechend, aber die Barriere fiel nicht.

„Verfluchte …“

Ein erneuter, heftigerer Tritt, dann erst folgte das erwartete Krachen. Splitter flogen umher. Die geborstenen Gebeine sanken schlaff aus ihren Ritzen und fielen klappernd auf den Boden. Natürlich verzichtete das Geräusch nicht auf die Gelegenheit, wie ein übereifriger Welpe von Wand zu Wand zu springen, irgendwo in ungeahnten Tiefen zu verhallen und vermutlich unfassbar Böses aus einem traumlosen Schlaf zu reißen.

„Nichts für ungut“, grummelte Palter. „Mir gefällt das hier genauso wenig wie dir.“

Er bückte sich nach einem der herabgefallenen Knochen, zupfte die Schnur ab und wog ihn in der Hand. Noch besser als meine alte Waffe. Beinahe wie ein Speer, wenn man ein Auge zukniff, und dann auch noch das zweite, bis beide ganz geschlossen waren. Hoffentlich nahm es das namenlose Böse nicht persönlich, wenn man ihm bewaffnet mit dem Schienbein seines Urgroßvaters entgegentrat.

„Ich bin übrigens kein Held“, informierte er die Schatten. „Ich interessiere mich weder für Ruhm noch für Schätze und will nur kurz passieren. Wäre das wohl möglich?“

Die Höhle gab keine Antwort. Palter blieb nichts übrig, als sich weiter an der feuchten Wand entlangzutasten. Ein leises Winseln entfuhr ihm. Das spärliche Licht hatte ein weiteres Hindernis freigegeben.

„Ach, kommt schon!“

Wenigstens etwas Einfallsreichtum hätte man sich wünschen können. „Noch ein Kreuz aus Knochen? Ist das wirklich alles, was euch einfällt?“

Die neue Blockade war so hinderlich wie unnötig. Glaubten die Erbauer etwa, er sei schwer von Begriff? Er verharrte einen Moment vor der Absperrung und schüttelte den Kopf. Dieses Mal reichte ein Tritt, um die morschen Knochen umherfliegen zu lassen.

„Nächstes Mal baut verdammte Drehtüren ein!“

Er hielt inne und lauschte. Weiter vorne im Gang schien Licht. Mit noch einmal verstärkter Vorsicht schlich er weiter. Der Gang verbreiterte sich zusehends. Die Felsen an den Wänden sahen seltsam aus. Eindeutig hatten Handwerker an verschiedenen Stellen Quader in den natürlichen Verlauf der Gesteinsschichten eingefügt. Was zuvor nur ein diffuser Schimmer gewesen war, erwies sich bei weiterer Annäherung als Tageslicht, als graue und bläuliche Balken, die aus großer Höhe in eine Felsenkammer von beachtlichen Ausmaßen fielen. Nachdem er sich lauschend versichert hatte, dass niemand mit röchelndem Atem darauf lauerte, ihn beim Betreten zu ermorden, trat er durch den Durchgang.

Mehr Knochen hingen von der Decke herab, gewaltiger noch als die in der ersten Kammer. Größer als alle, die er je zuvor gesehen hatte. Beckenknochen, Schienbeine und komplizierte Körperteile unbestimmter Zuordnung drehten sich an den Enden dünner Schnüre geräuschlos um sich selbst. Eingelassen in der hinteren Wand war eine mit Zeichen beschriebene Grabplatte unter einer Art Regalbrett voller Menschenschädel. Die Strahlen gefilterten Tageslichts, in denen Staubflocken tanzten wie Sedimente unter der Oberfläche eines Teiches, fielen auf einen einzigen Punkt in der Mitte des Raumes: ein erhobenes, steinernes Podest, eine Art Altar, auf dem etwas verführerisch schimmerte und glänzte.

„Hahaha“, entfuhr es Palter. „Nein. Nein danke. Auf gar keinen Fall.“

Er wandte sich ab und starrte demonstrativ an die Wand, dem Altar den Rücken zugewandt. Ohne Zweifel hätte Gilbran an dieser Stelle feuchte Augen bekommen. Das allzu leicht durch unvorsichtige Berührungen heraufbeschwörbare Böse musste glauben, Palter Calgola sei erst seit gestern auf dieser Welt. Alte Artefakte von unglaublicher Macht waren etwas, das man am besten weiträumig umging. Jegliche Berührung, ja selbst interessiertes Schauen oder zu begehrliches Darandenken mussten untrüglich Entsetzliches nach sich ziehen, wie etwa das Wiederlebendigwerden ihrer rechtmäßigen, auf Rache sinnenden Besitzer.

„Kein Bedarf“, versicherte er. „Wirklich nicht. Ich will zu keinem schauerlichen Abenteuer aufbrechen. Ich bin nur auf der Durchreise.“

Es scheint sich um eine Art Halskette zu handeln.

„Ich sagte: Kein Interesse.“

Bestimmt verdammt mächtig.

„Bestimmt verdammt verdammt!“

Niemand berührte ungestraft Halsketten aus Tierfängen und glänzenden Klauen in verlassenen Höhlen, ohne unter urzeitliche Flüche zu fallen.

„Aha!“

Zur Linken hatte er einen Ausgang aus der Kammer erspäht. Zielgerichtet, den Blick zum Altar mit der rechten Hand abschirmend, steuerte Palter über den mit Steinplatten belegten Boden. An einigen Stellen hatten Wurzeln das Pflaster aufgebrochen und nach oben gedrückt, doch irgendwie schaffte er es, ohne zu stolpern, auf die andere Seite. Ein Türrahmen aus glatten Steinquadern lag vor ihm. Den Knochenspeer im Anschlag wagte er, den Kopf hindurchzuschieben und einen Blick auf die andere Seite zu werfen.

„Verfl…!“

Er hatte es nicht rechtzeitig geschafft, die Augen zu schließen, um auch dieses Zeichen zu ignorieren. Gegenüber der Tür lag ein menschliches Skelett, der Länge nach ausgestreckt mit den Füßen zu ihm auf einer erhöhten Steinplatte, gebettet wie zur letzten Ruhe vor einem klaffenden Abgrund. Die Knochen des Toten waren von Kopf bis Fuß mit blauem Diamantstaub überzogen, sodass die sterblichen Überreste glitzerten wie ein Scherbenhaufen.

Palter atmete tief durch.

Irgendein Held oder König, keine Frage.

Heldenhafte Tote waren fast so schlimm wie mächtige Artefakte. Sie verzichteten nach ihrem Ableben so gut wie nie darauf, Probleme zu bereiten.

Ich kann es schaffen, erinnerte er sich. Solange ich es vermeide, versehentlich irgendetwas Heldenhaftes zu tun.Oder, schlimmer noch: etwas, das ein unvorsichtiger Grabräuber tun würde, der vom Helden nur noch als warnendes Skelett in einer Stachelfalle gefunden wird.

Er umklammerte seine Knochenwaffe fester und trat durch den Türdurchgang hinaus auf eine steinerne Plattform, die wie eine Halbinsel über einem Abgrund hing, vielleicht fünf Schritte tief und ein Vielfaches davon in der Breite. Der Untergrund bestand aus unebenen, mit Mörtel verstärkten Steinplatten. Aus der Finsternis unter der Decke hingen knorrige Wurzeln herab, verwoben wie zerfetzte Fischernetze.

Das Skelett ignorierend, trat Palter rechts an der Steinplatte vorbei, auf der der Tote lag, und spähte in den Abgrund. Kühle zog ihm aus dem Schlund entgegen und vermittelte ein Gefühl von gewaltiger Tiefe. Den Blick hebend, entdeckte er einen Lichtpunkt in einiger Entfernung an der rechten Höhlenwand unterhalb der Decke: ein Loch, ein Durchbruch zurück in seine Welt. Kritisch musterte er die armdicken Wurzeln über seinem Kopf. Wie es aussah, führte der einzige Weg in die Freiheit über …

„Nicht doch“, beschwerte er sich beim Universum. „Nicht auch noch eine Kletterpartie über einen tödlichen Abgrund. Das ist etwas für junge Helden.“

Seufzend stützte er sich mit der linken Hand auf dem Totenbett ab, nur um erschreckt zurückzuspringen, als ein Knacken daraus erklang.

„Nein“, hauchte er, als spröder Mörtel nachgab, sich die vorderste Reihe der Bodenplatten löste und in die Tiefe stürzte.

„Neineineinein!“

Mit beiden Händen versuchte er, die Steinplatte mit dem Toten festzuhalten, die sich ebenfalls in Richtung Abgrund senkte. Wie auf einer zur Seebestattung geneigten Planke rutschten die verzierten Knochen von der Platte, über den Rand und verschwanden als glitzernde Spur in der schwarzen Tiefe.

„Nein!“, stieß er aus. „Das ist ungerecht. Ich habe nichts gemacht.“

Ein weiteres Krachen ertönte, dieses Mal aus dem Raum, aus dem er hergekommen war. Es klang, als zerberste eine mit machtvollen Schriftzeichen versiegelte Grabplatte unter dem Schlag einer gewaltigen Faust.

„Halt! Nein! Es war ein Versehen! Ich habe nicht … argh!“

Ein Tapsen erklang wie von schweren Schritten, dann ein Klirren von den Fragmenten der Grabplatte, die mühelos beiseite gefegt wurden.

„Ich habe nichts angerührt! Jedenfalls nicht mit Absicht.“

Die schlurfenden Schritte aus dem Nebenraum hielten auf den Durchgang zu. Palters Blick schoss zum Wurzelgeflecht an der Decke.

 

Und so kam es, dass er sprang, und auf Iasnins Geheiß hin, die über alle Wälder herrscht, bot Eiche ihre Wurzeln dar, und ließ sich von ihm ergreifen.

 

„Wer spricht da? Das hier ist keine Geschichte!“

 

Denn, ach!, wie ruhmlos war Hergis‘ treue Wache zu ihrem Ende gekommen, die edlen Knochen und kostbaren Steine zerstreut und in die Dunkelheit gefallen, die Macht der Runen auf dem Grab von unachtsamer Hand zerbrochen. Die Kreatur aber, die er geweckt hatte, todlos, garstig anzusehen und auf Rache aus, heftete sich an des ruchlosen Eindringlings Fersen.

 

„Es war ein Versehen! Ich …“

 

Er sprang!

 

„Verflucht sollst du sein, Gilbran!“

Palters Knochenspeer fiel klappernd auf den Boden, als er zur Wand sprang, in den Ritzen nach Halt suchte, eilig emporkletterte und nach einer Wurzel an der Decke griff, die unter seinem Gewicht nachgab, aber nicht abriss. Er packte auch mit der zweiten Hand zu und zog sich empor. Ohne nachzudenken, hangelte er sich weiter voran. Ein tiefes Knurren erklang hinter und unter ihm, übertönt vom Keuchen seines eigenen Atems und dem Knarzen der Wurzeln. Ohne zurückzublicken …

 

… denn zurückzublicken hätte seinen Tod bedeutet …

 

… kämpfte er sich weiter, bis kein Steinboden mehr unter ihm war …

 

… sondern nur noch der Abgrund, dessen Tiefe verlangend an ihm sog.

 

„Halt endlich den Mund!“

Ein plötzlicher Ruck der Wurzel ließ ihn beinahe abstürzen. Nur noch mit der Linken am Strang hängend, bekam er mit der Rechten eine andere Masche zu fassen und hängte sich an diese. Ihm wurde heiß und kalt, als er ein Knarzen hinter sich vernahm. Die Wurzeln zu seiner Rechten zuckten und sandten einen Schauer loser Erde in die Tiefe.

Jemand folgt mir.

Jemand Schweres hatte die Wurzeln ergriffen und kletterte hinter ihm unter der Decke entlang.

Bloß weiter!

Das Blut pochte heiß in seinen Ohren.

Weiter, weiter! Nicht zurücksehen!

 

Rani, Göttin der Heilung, war es, die in diesen Augenblicken der Bedrängnis zu seiner Rettung kann. Sie erlaubte es, dass die Last der Jahre von seinen Schultern fortgenommen wurde und die Kraft der Jugend erneut in seine Glieder fuhr. Mit jedem Griff fanden seine Hände, von den Göttern geleitet, auch in der Dunkelheit ihr Ziel. Auch die Arme ermüdeten ihm nicht, sodass die Tiefe wütend und vergeblich an ihm zog.

 

Das Loch in der Decke war fast erreicht. Dort vorne, rettender Sonnenschein, kaum noch zwei oder drei Griffe entfernt …

„Haa!“

Plötzlich fiel er, die Wurzel nachgebend, dann ruckend wieder Halt findend, wobei Erde und kleine Steine auf ihn niedergingen. Der Strang in seinen Händen knarzte bedenklich, doch entschlossen schwang er sich erneut hinauf, mit beiden Händen in die Höhe greifend, in das braune Geflecht, hinauf zum Licht. Hin zur Seite des Tageslichts packte er entschlossen, tastete durch Gras und trockene Tannennadeln, spürte Sonnenschein, fand festen Halt, zog seinen Körper empor, keuchend, über die Kante kriechend. Licht blendete ihn. Steine kratzten über seine Hände.

Das Loch. Ich muss es verschließen, bevor der Andere …

Er richtete sich auf, sah sich panisch um und fand …

 

… einen Baum, im Winter zerbrochen von Gralmos‘ Winden, geknickt dicht über der Erde für eben diesen Tag, die Wurzeln ausgerissen und vertrocknet, der Stumpf wartend und der Fäulnis verwehrt durch Iasnins kundige Hände …

 

Palter sprang vor, stemmte sich hinter den alten Baumstumpf und schob mit aller Kraft. Gelbe Erde gab unter seinen Füßen nach. Irgendwann bewegte sich der schwere Stamm tatsächlich, rutschte, sich überschlagend, hinab und verschloss mit einem knirschenden Geräusch das dunkle Loch, sodass die Wurzeln emporragten wie Zungen eines Feuers, wie die Zacken einer übergroßen Krone.

Palter taumelte rückwärts, schwitzend und verwirrt.

Verdammte Beeren. Was, zum Henker …

 

… und erblickte dann aus weiten Augen zum ersten Mal das Land, in das die Erhabenen ihn gesendet hatten, die abfallende Böschung der schwarzen Nadelwälder, hinabführend zur dunklen Fläche eines Sees, in dem die Spiegelung eines Gebirges schwamm, hohe Gipfel, gekrönt mit Wolken, glühend wie der Untergang des Tages, der blaue Kranz der Tannen im Dunst, umschließend seine Ufer, verschwindend hinter Kälte und aufsteigenden Nebeln zum Gruß der Nacht.

 

Benommen machte er sich an den Abstieg hinab zur weiten Wasserfläche, die ihn anzog. Er stand am Ufer auf dem Sand, ließ sich nieder auf die Knie, schöpfte klares Wasser mit den Händen, wollte trinken …

 

… doch Rani gewährte ihm Einsicht, sodass er erkannte, dass diese Wasser nicht zum Trinken waren, dass er fortmusste, dass das Lied der Vögel längst verstummt und die Schatten lang geworden waren und finstere Dinge sich zu regen begannen.

 

Der Ruf eines Kuckucks hallte vom fernen Ufer heran. Vereinzelt stiegen Ringe auf, wo Fische nach niedrig fliegenden Mücken und nach Wasserläufern schnappten.

 

… wie die Tiere des Tages sich zurückzogen in dieser Stunde und die Nacht erwachte. Und er sah das Ufer, den dunklen Fluss mit Rändern voller Schilf, der da flüstert von solchen Dingen, wie sie den Ohren der Menschen verboten sind. Und das Geräusch der Ruder, die Barke jenes Einen vom dunklen Volk, des Fährmanns, der die Toten in das Reich der Schatten fährt und auf der Suche ist nach dem, der entkommen ist.

 

„Spukgeschichten“, verkündete er laut. „Ich glaube nicht mehr daran. Hörst du, Mutter?“

 

Zu Rani rief er dann, der Göttin der Heilung und der Nacht, auf dass ihr leuchtendes Gewand den Weg zu seinen Füßen erleuchte, seine Blicke lenke zu Sternen der Weisheit und fern von jenen Lichtern, denen ein Mann nicht folgen darf.

 

„Ach? Tat er das?“

 

Die bleiche Frau.

 

„Hör auf damit!“

 

Kühl und finster ist die Nacht, durch die ich wandere, bis zu jener Biegung. Welch fahles Leuchten, das von dort an meine Augen dringt durch allerlei Geäst. Hochgewachsene, geisterhafte Frau, mit einer Harke aus Eisen durchkämmst du den dunklen Fluss nach deinem Sohn zu dieser späten Stunde?

Wie bleich ist die Haut deiner Beine in den schwarzen Wellen. Du erschrickst nicht und weichst nicht vor mir zurück, als du mich erblickst. Frau, wie lange suchst du schon nach ihm in diesen Wassern? Dein Kleid hängt in Fetzen von dir und ist von einer Art, die man lange nicht gesehen hat.

Du blickst mich an aus Augen, die schimmern wie Perlen. Ich kenne dich seit langer Zeit aus den Geschichten meiner Väter. Dein Sohn versank in diesem Fluss, dem dunklen, der ins Reich der Toten führt. Niemals bist du müde geworden, suchst ohne Unterlass nach ihm mit dem Stab in deiner Hand, mit der Harke, der verzauberten, welche die Götter dir gewährten, auf dein Flehen hin.

Bin ich es, den du suchst? Muss ich selbst wie du werden, in Ewigkeit gebunden an dieses Land im Zwielicht wegen dem, was mir genommen wurde?

Meine Hände hebe ich vor mein Gesicht zur Abwehr deiner schrecklichen Erscheinung. Behalte nur das Werkzeug deines Zaubers, biete es mir nicht länger an. Nimm es fort von mir, auf dass ich es nicht ergreife, auf dass mich seine Berührung nicht verzaubert und mein Leben Sehnen und Verzweiflung wird von diesem Tag an bis auf unabsehbare Zeit.

 

Bumm, bumm.

Kapitel 3 – Waldschrat

 

Palter erwachte mit flatternden Lidern. Gerade noch rechtzeitig besann er sich, hielt die Augen fest geschlossen und versuchte herauszufinden, wo er sich befand. Zweifellos war auch an diesem Tag wieder irgendjemand darauf aus, ihm Unaussprechliches anzutun. Es roch nach kaltem Rauch. Sein Magen war unangenehm gereizt. Sein rechter Fuß schmerzte, als sei er auf einen Igel getreten. Über ihm war eine Decke ausgebreitet. Irgendwo hackte jemand Holz. Wilde Tiere schieden somit als Übeltäter aus. Blieben nur noch Menschen oder handwerklich veranlagte Dämonen.

Vorsichtig spähte er durch die Ränder seiner Lider. Ein kleiner Raum umgab ihn. Dunkle Deckenbalken. Ein Durchgang, etwas zur Rechten, am Fußende seines Bettes. Der Lichtschein einer halb geöffneten Tür, durch die das Geräusch einer Axt und splitternder Scheite hereindrang. Zumindest schien noch niemand bemerkt zu haben, dass er erwacht war. Vielleicht gab es irgendwo eine Hintertür, durch die er sich heimlich …

Das Geräusch des Hackens verstummte. Kein gutes Zeichen. Die Entscheidung musste schnell her. Flucht oder Tarnung? Waren seine Beine überhaupt schon wieder in der Lage …

Das Donnern von Stiefeln erklang auf einer hölzernen Stufe. Die Tür quietschte in den Angeln. Jemand trat herein. Es wurde still. Er konnte spüren, dass ein Blick auf ihm ruhte. Doch der Palter, den er spielte, wusste nichts davon. Dieser Palter Calgola schlief noch immer tief und fest.

Keine weiteren Geräusche. Der Besucher schien auf der Schwelle zu verharren.

Palter versuchte es mit einem leichten Schnarchen.

Ein hartes Klopfen traf ihn schmerzhaft zwischen den Augen.

„Ah!“ Er wollte emporfahren, doch lederne Fesseln hielten ihn zurück.

„Genug geschlafen“, verkündete eine Stimme barsch. Ein hölzerner Stab mit rundem Knauf schwebte drohend über Palters Gesicht. Am Ende des ausgestreckten Armes hing ein bärtiges Gesicht wie ein verwitterter Holzschnitt, verziert mit grauen Brauen, die in Missbilligung verzogen waren.

„Ihr?“, entfuhr es Palter. „Da soll mich doch …!“

Wütend warf er sich hin und her, was lediglich zur Folge hatte, dass die Haltegurte in seine Arme und Beine schnitten.

„Verhaltet Euch ruhig!“, befahl der alte Mann herrisch. Wieder klopfte der Knauf seines Wanderstocks schmerzhaft zwischen Palters Augen.

„Ah! Was soll das! Hört sofort auf damit! Wer … Wo bin ich? Was mache ich hier? Was habt Ihr …“

Er stutzte und hielt inne. Das Gewand, das er trug, war nicht seines. Die zerschlissene Gefangenenkleidung war verschwunden. Jemand hatte ihm ein langärmliges Hemd aus kratzender, grauer Wolle angezogen.

„Wo sind meine Sachen?“, entfuhr es ihm. „Wer seid Ihr? Irgendein Perverser?“

„Ihr sollt den Mund halten!“, fuhr ihn der Alte an. „Was glaubt Ihr, was ich mit Eurem Aufzug angefangen habe? Verbrannt habe ich ihn, bis auf den letzten Fetzen. Habt Ihr irgendeine Vorstellung, in welchem Zustand Ihr wart, als ich Euch aufgegriffen habe?“

„Ich weiß, dass Ihr mich festgebunden habt! Dass Ihr mich …“

„Vergiftet habt Ihr Euch! Ganz alleine, ohne fremde Hilfe“, unterbrach ihn der Alte. „Und meinen Wald gleich mit. Götter, wie seid Ihr überhaupt noch am Leben? Wie viele Unhofbeeren kann man schlucken, ohne umzukommen? Und dann dieses Geschrei mitten in der Nacht. Im Umkreis einer Tagesreise war an Schlaf nicht mehr zu denken. Wie seid Ihr überhaupt dort hoch gekommen, auf die Spitze dieser Tanne? Ihr habt meinen Igel getreten, heulend einen halben Kessel Eintopf verschlungen und meinen Außenabort derart zugerichtet, dass ich den ganzen Vormittag mit Graben beschäftigt war!“

„Was?“ Palter verzog das Gesicht. „Das müsst Ihr geträumt haben, alter Mann. Ich kann mich an nichts erinnern. Vielleicht habt Ihr gestern zu viel vom Wurzelschnaps genasch… Ah! Wehe, Ihr schlagt mich noch einmal mit dem Stock!“

Die Fesseln ächzten und quietschten unter seinem Zerren.

„Überhaupt ist das hier alles Eure Schuld!“, fauchte Palter. „Ihr habt Eure Wölfe auf mich gehetzt! Wisst Ihr eigentlich, was ich hinter mir habe? Höhlen voller Knochen und lebender Toter. Legenden, die mich einwickeln wollten. Ich konnte den alten Gilbran hören, wie er mein Leben zu einer seiner Geschichten machen w... Urgs!“

Ein Gurgeln drang aus seinem Magen.

„Oh nein!“ Der Alte wedelte abwehrend mit der Hand. „Nein! Nicht hier drinnen. Wagt es nicht!“

„Bindet mich los!“

Eilig stürzte der Mann vor und löste Palters Fesseln.

„Schneller!“, forderte Palter. „Schneller! Argh! Ihr müsst noch viel schneller machen!“

„Ich warne Euch“, jaulte der Alte. „Nicht hier drinnen. Los, lauft, raus mit Euch!“

Palter sprang auf, stürzte durch den Türrahmen und über die Treppenstufe nach draußen. Ein Hof aus festgetretener Erde zwischen mehreren niedrigen Schuppen lag vor ihm. Das schmale Häuschen auf der anderen Seite war nicht zu übersehen. Zielstrebig stürzte er darauf zu. Ein Wolf lag quer davor und hob den Kopf.

„Klopapier!“

Das Tier legte die Ohren an und trabte eilig davon.

Palter sprang die Stufen hinauf und schlug scheppernd die Tür hinter sich zu. Eine kleine Aushöhlung in ihrer Mitte spendete etwas Licht. Er hämmerte von innen gegen das Holz.

„Ihr habt versucht, mich umzubringen“, schrie er. „Glaubt nicht, das hätte ich vergessen. Glaubt nicht, wir seien quitt!“

Der Alte brachte mit scharfen Worten seine jaulenden Wölfe zum Schweigen.