Die Hexe von Burg Weißenstein - Michael Seitz - E-Book
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Die Hexe von Burg Weißenstein E-Book

Michael Seitz

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Beschreibung

Inquisition, Macht, Intrigen.
Ein Mordfall im bayerischen Mittelalter - Anno 1467/68: Nach Jahren in der Fremde kehrt Lambert von Bärnstein, ein junger Ritter, auf die Burg seines Vaters zurück. Sein Weg kreuzt sich mit Annas - einer jungen Frau, die wegen dem "bösen Blick" als Hexe verfolgt wird. Kaum zu Hause angekommen, trachten alte Feinde ihm nach dem Leben. Er muss fliehen. Auf der Suche nach dem Mörder seiner Mutter gerät er immer tiefer in den dunklen Sog, der zwischen den Fronten der bayerischen Herzöge entsteht. Auf der anderen Seite zieht die geheimnisvolle Herrin von Burg Weißenstein ihre Fäden in einem dunklen Intrigenspiel. Der junge Mann muss sich entscheiden! Als dann auch noch Anna spurlos verschwindet, erkennt Lambert die Wahrheit - jenen Weg, den die alten Göttinnen ihm gewiesen haben ...
Meinungen
"Dieser erste Roman von Michael Seitz zeigt, dass der Autor Potenzial hat und er das Erzählen, was seine Stärke ist, liebt." (histo-couch.de)
"Von dem schlichten Cover dürfen sich Fans von historischen Romanen nicht abschrecken lassen, denn dafür ist die Handlung umso bildgewaltiger." (leser-welt.de über die Originalausgabe, September 2013, Morsak-Verlag)
"Ein historischer Roman mit WOW-Effekt" (chattys bücherblock, 2. November 2013)

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Michael Seitz

Die Hexe von Burg Weißenstein

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Über den Autor

Michael Seitz, Jahrgang 1976, hat seine Kindheit und Jugend in München und im ländlichen Niederbayern verbracht. Schon als Kind wollte er Schriftsteller werden und hielt an diesem Traum fest. Während andere ein »vernünftiges Studium« absolvierten, schrieb er in seiner wenigen freien Zeit, die ihm als Gesundheits- und Krankenpfleger blieb, in jeder Minute an seinen Manuskripten. Der Autor lebt seit 2005 in Wien. Er schreibt vorwiegend historische Romane und Gegenwartskrimis. Er genießt es, mit seiner Frau und seinen beiden Kindern durch Wien zu flanieren und in Buchgeschäften zu schmökern. Seit Kurzem besitzt die Familie einen Kater namens »Mizzi«. Seitz wird von der Literaturagentin Lianne Kolf vertreten. »Man muss schon verrückt sein, wenn man Schriftsteller werden will!«, so Seitz’ Lebensmotto.

Weitere Bücher

Der Psychiater des Königs (historischer Roman)

Die verlorenen Kinder (Knaur* 2017)

Der Falter (Knaur* 2018)

 

 

 

 

 

Die Hexe von Burg Weißenstein

 

 

Historischer Roman

 

 

Michael Seitz

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

Lektorat: M. Enderle

Copyright by Michael Seitz 10/18 - Neuausgabe

Die Originalausgabe erschien im September 2013 im Morsak-Verlag/Grafenau

Covergestaltung: Cover-Kiste/Beate Meng unter Verwendung eines Fotos von Pixabay

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Autors wiedergegeben werden.

Dramatis Personae

Es folgt eine Aufstellung der wichtigsten Figuren, wobei die historischen Personen mit einem * gekennzeichnet sind.

Auf Burg Altnussberg

Johannes von Bärnstein, Ministerial zu Altnussberg, steht im Dienste des Ritters von Degenberg*. Einst tötete er mehr Hussiten als jeder andere Ritter. Über den mysteriösen Tod seiner Frau hingegen kommt er niemals hinweg.

Lambert von Bärnstein, sein Sohn, inzwischen zum Ritter geschlagen, kehrt nach Jahren in Burghausen auf die Burg zurück. Die Geister der Raunächte, die Schatten der Vergangenheit, erwarten ihn bei seiner Heimkehr. Unfreiwillig gerät er zwischen die Fronten eines Krieges.

Agnes von Bärnstein (†), Christin und Heilerin, Lamberts Mutter, Schwester des Grafen von Törring*. Ihrem gewaltsamen Tode gingen einst merkwürdige Zeichen voraus.

Katharina Armannsperger, entfernte Cousine Lamberts, verlor ihre Eltern bei der Pest, lebt seither auf Burg Altnussberg.

Anna Gruber, Magd, aufgrund eines nervösen Leidens, das die Leute den „bösen Blick“ nennen, gerät sie in den Verdacht der Hexerei. Sie liebt Lambert.

Wittelsbach, von

Albrecht der III.* (†), Herzog von Bayern-München,

ehemaliger Kampfgefährte Johannes von Bärnsteins. In jungen Jahren liebte er eine Zubermagd, namens Agnes Bernauer*, die als vermeintliche Hexe in der Donau ertränkt wurde.

Albrecht der IV.*, sein Sohn, Herzog von Bayern-München, ursprünglich für eine Priesterlaufbahn bestimmt, strebt nach der Einheit des Landes Bayern.

Christoph von Wittelsbach*, sein ungestümer Bruder, Lambert von Bärnsteins bester Freund, gemeinsam mit den Rittern vom Böcklerbund will er um seinen Anteil am Erbe kämpfen.

Ritter vom Goldenen Einhorn (oder auch „Böckler“ genannt)

Hans der IV. von Degenberg*, mächtigster Ritter im Südosten des Landes, Reichsfreiherr und Turniervogt, Anführer der Ritter vom Böcklerbund. Er fürchtet unter dem neuen Herzog um die alten Rechte der Ritterschaft.

Elisabeth von Degenberg*, geb. von Törring, seine Gemahlin, Lamberts Cousine, die aus politischen Gründen mit dem Degenberger verheiratet wurde. Im Laufe der Jahre hat sie ihren Weg gefunden, sich mit den Kümmernissen einer Frau zu arrangieren.

Konrad von Neunussberg*, kämpfte bei Konstantinopel gegen die Osmanen, als väterlicher Freund steht er Lambert zur Seite. Leben heißt für ihn, stets nach der Wahrheit zu trachten.

Fatima, bekehrte Sarazenin, lebt an Konrads Seite.

Hans von Kollnburg*, Ritter

Dietrich Rammelsteiner*, Ritter

Johann Stauff zu Ernfels*, Ritter

Habsburg, von

Friedrich der III.*, genannt die Erz-Schlafmütze, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation

Maximilian*, sein achtjähriger Sohn, Herzog des oberen Österreichs und zukünftiger Kaiser, trauert über den Tod seiner Mutter, schwärmt von Rittertum und Heldenmut.

Geistliche

Augustinus von Falkenstein, Dominikaner und Inquisitor, Verbündeter Herzog Albrechts des IV., führte bereits den Hexenprozess gegen Agnes Bernauer.

Bruder Leopoldus, ein Mönch von krankem Gemüt

Bruder Ferdinand, diente einst als Sekretarius auf Burg Altnussberg Lamberts Vater.

Bruder Sebastian, Beichtvater der Degenbergerin

Prolog

 

1

Einen Moment ihrer Unachtsamkeit nutzend, leckte der Welpe mit seiner weichen Zunge über das Ohrläppchen seiner Herrin. Die junge Edelfrau frönte inmitten des Burghofes dem schaurigen Spektakel. In einem jähen Anflug des Erschreckens drohte das Jungtier ihren Armen zu entgleiten. Das Winseln des Hundes kündete von der Unruhe, die mit dem Erscheinen der Delinquentin von den Menschen auf das Tier übergriff. Jungen begannen, Schneebälle nach der Verurteilten zu werfen. Der Welpe kläffte; die Edelfrau kämpfte darum, ihn mit beiden Händen festzuhalten. Silberne Ohrringe blitzten an ihren Ohrläppchen … – Mathilda wandte ihren Blick von der Edelfrau ab und endgültig der Delinquentin zu, die von den Bütteln durch den Schnee teils geschleift, teils getragen wurde.

»Welch ein Frevel! Was haben diese Teufel bloß mit ihrem blonden Haar gemacht?«

»Gib endlich Ruh´, Mathilda! Wen kümmert`s?«, erwiderte eine Frau mit grobschlächtigem Gesicht, deren Nase auf groteske Weise an einen Falken erinnerte.

»Diese Locken, die ausgesehen haben wie reines, gesponnenes Gold!« Mathilda seufzte und bemerkte, dass sie mit sich selbst redete.

»Zum Teufel, Mathilda! Ein Engel wird sie früh genug!«

Tatsächlich glichen die wenigen verbliebenen Haare auf dem Hinterkopf des Mädchens einem Heiligenschein. Der zierliche Körper glitt, nur mit dem Büßerhemd bekleidet, durch den Schnee. Die Büttel stellten sie auf die Füße, schlugen sie mit Stöcken, woraufhin sie ins Wanken geriet. Um ihr Handgelenk schlingerte ein Armband. Von den blauen Perlen, die einst neckisch angemutet haben mochten, blätterte die Farbe. Das Mädchen ließ sich in seiner Not abermals zu Boden fallen. Die Büttel ergriffen es unter den Schultern, trugen es an den Menschen auf dem Burghof vorbei in Richtung des Blutgerüstes.

»Wie soll ein Frauenzimmer in Zeiten wie diesen ihre Unschuld bewahren?«, haderte Mathilda.

Da der Comeatus-Zwang die Burgherren verpflichtete, fahrenden Händlern Unterkunft und Schutz zu gewähren, wimmelte es auf dem Burghof von Waffenknechten. Mathilda las die Sehnsüchte in den Blicken der Männer: Um dem armen Geschöpf ein letztes Mal zu Leibe zu rücken, hätte manch einer sein Seelenheil aufs Spiel gesetzt! Ein Dutzend Männer stand neben der Schankstube und trank in der Eiseskälte warmes Bier und grölte Lieder.

Die Morgenröte verhieß Regen. Der Henker musste sich beeilen, dachte Mathilda in einem Anflug von Zynismus, wollte er nicht riskieren, dass auch die anderen Frauen, Männer und Kinder sich in der Eiseskälte den Tod holten! Die Waffenknechte schritten mit Lanzen ein, um die Schaulustigen vom Blutgerüst fernzuhalten und damit die Prozedur in ihrem Ablauf zu stören. Mathilda beobachtete angewidert die Edelfrau, die unermüdlich einen weißen Fleck auf der Brust des Welpen inmitten des schwarzen, glatten Fells kraulte. Die Lefzen offenbarten Reißzähne, die von der Gefährlichkeit des ausgewachsenen Jagdhundes dereinst kündeten. Die Frau wirkte völlig unberührt, ihre Gesichtszüge versteinert.

Das Krächzen eines Habichts entlockte dem Hund ein Jaulen.

»Gott sei ihrer Seele gnädig!«, schrie die junge Frau mit dem grobschlächtigen Gesicht an Mathildas Seite. Die Delinquentin versuchte, sich den Männern mit Händen und Füßen zu entwinden. Diese hatten sichtlich Mühe – fluchten lauthals; Mathilda konnte ihnen ansehen, dass ein Mann ihnen in dieser Hinsicht weniger Mühe bereitet hätte als eine zierliche Frau, die sich wie eine Schlange wand. Eine Frau, die eigentlich noch ein halbes Kind war – eine Sechzehnjährige, die einfach nur leben wollte – deren Überlebenswille ihr übermächtige Kräfte verlieh …

Der Habicht schwebte tief über dem Burghof. Mathilda konnte die Maserung auf seiner Brust mit bloßem Auge erkennen.

»Gott … Seele …«, meldete sich Karli zu Wort, und Mathilda wurde sich seiner Anwesenheit bewusst. Er sprach mit tumber Zunge – äffte gleich einem Echo das Gesagte nach.

»Ist schon gut!«, versuchte Mathilda den kleingewachsenen Mann zu beruhigen. Sie bereute, dass sie ihn auf die Burg mitgebracht hatte. »Die rote Göttin wird dem armen Wesen beistehen.« Sie streichelte über den klobig anmutenden Kopf Karlis, dessen Miene sein kindliches Gemüt verriet. Eine dicke Träne rann über eine seiner Backen. Erst das Krächzen des Habichts riss ihn aus seinem starren Entsetzen.

»Gick, gick, gick!«, ahmte er die Laute des Vogels nach, der zwischen den beiden Türmen seine Kreise zog.

»Gleich hat sie dieses irdische Jammertal hinter sich«, sagte die Frau neben Mathilda. Im letzten Winter hatte sie den Henker geheiratet. – Die Tochter eines Abdeckers, der von der Entsorgung von Tierkadavern lebte – und der Sohn des Henkers! Zwei Jungvermählte vom selben Stand, wie der Brauch es vorschrieb! Jetzt las Mathilda in ihrem Antlitz dunklen Grimm. Die Henkerin, wie die Menschen sie seit ihrer Heirat nannten, verschränkte die Arme in dem Moment, da die Türen des Pferdestalls auseinander schwangen.

Ein Raunen ging durch die Menge. Die Jungen hörten auf, Schneebälle nach der Verurteilten zu werfen. Am Vortag hatten sie am selben Platz, wo die Enthauptung stattfinden sollte, einer Katze das Fell über die Ohren gezogen. Der Kadaver des Tieres lag noch an Ort und Stelle.

»Der fremde Ritter!«, hauchte die Frau des Henkers voller Ehrfurcht.

Die Maschen eines Kettenhemdes funkelten im Licht der Januarsonne. Rabenschwarzes Haar lugte unter seiner Kapuze hervor. Auf der rechten Wange des feingeschnittenen Gesichtes offenbarte sich eine Narbe, die von einer Verletzung durch einen Säbel herrühren mochte.

»Wie ein Ritter und Mönch sieht er aus!«, befand die Henkerin.

»Ein wahrer Teufel!«, fluchte Mathilda.

»Er soll eben erst aus der Stadt Konstantinopel zurückgekehrt sein. Die Stadt befindet sich jetzt in den Händen der Ungläubigen.«

»Warum ist er nicht in Konstantinopel geblieben?«

»Angeblich verbringt er die meiste Zeit im Stall und redet mit den Pferden. – Ein sonderbarer Mensch, wenn Ihr mich fragt …« Die Henkerin verstummte, als die Büttel die Verurteilte auf die Planken des Holzgerüstes niederrangen. Die Arme und Hände auf den Rücken gefesselt, bewegte sie den Kopf unruhig auf und ab, als versuchte sie dadurch, dem nahenden Ende auszuweichen. Der Burggeistliche rezitierte lateinische Formeln. Das Mädchen weinte, ohne dass Tränen aus den Augen kamen.

»Möge die schwarze Göttin des Todes dich in ihrem Reich aufnehmen«, murmelte Mathilda.

»Ihr seid eine alte Hexe!«, ereiferte sich die Henkerin.

Der Burgherr trat vor, eine Schriftrolle zwischen seinen Händen ausbreitend: »Wie das hohe Gericht befunden hat, soll der Henker am heutigen Tage seines Amtes walten. Dafür, dass du in der Nacht des Heiligen Thomas in einer Scheune auf der Burg heimlich ein Kind geboren und mit bloßen Händen erwürgt hast, sollst du durch das Schwert sterben.« Drei Tage zuvor hatte er beim Prozess als Beisitzer das Urteil bestätigt. Jetzt betrachtete er seine Fingerspitzen, als sehne er sich nach einem Gefäß, um sich die Hände darin reinzuwaschen.

»Mögest du auf diese Weise von deiner Schuld Erlösung finden!«

Der Geistliche erteilte der jungen Frau die Absolution, wie er es häufig tat, seit die Pest den Rittern, die aus Konstantinopel kamen, in die Heimat gefolgt war. Die Waffenknechte griffen an den Salzsäumerstraßen, die an der Burg vorbei nach Böhmen führten, fast täglich lichtscheues Gesindel auf.

Der Henker trug eine lederne Maske, die den Ausdruck auf Stirn, um Nase und Augen verhüllte. Allein Mundwinkel und Kinn traten zum Vorschein. In seinem Nacken zeigte sich langes, schwarzes Haar, zu einem Zopf geflochten.

»Die bösen Geister haben das Frauenzimmer zu ihrer Tat getrieben. Jetzt muss sie büßen!« Die Henkerin bekreuzigte sich.

»Ein halbes Kind …« Mathilda unterdrückte ihre Tränen.

Der Henker setzte einen Schritt zurück, drehte sich aus den Hüften – eine Bewegung, die in ihrer Eleganz einem Tanz ähnelte. Er hob einen Bihänder und sprach mit wohltönender Stimme die Formel:

»Kurze Not, sanfter Tod – find´ Gnad´ bei Gott!«

Der Stahl der Waffe blitzte im gleißenden Licht der Sonne. Dann sauste die Klinge in hohem Bogen nieder. Die Delinquentin wich zur Seite aus. Die Waffe verfehlte ihr Ziel. Schreie der Empörung und des Entsetzens wurden laut. Der Henker holte ein zweites Mal aus, ein drittes Mal … Schließlich trugen die Büttel einen Pflock heran. Einer ergriff den Kopf der Verurteilten und drückte ihn in eine Mulde. Der Henker holte erneut aus. Ein letztes Mal dachte Mathilda an die Lockenpracht, die den Liebreiz der Sechzehnjährigen zu Lebzeiten ausgemacht hatte, als der Stahl durch Fleisch und Knochen drang …

Ein Aufschrei ging durch die Menschenmenge. Der Kopf flog in den dafür vorgesehenen Weidenkorb. Eine Blutfontäne schoss aus dem Hals. Der Körper der Delinquentin kippte zur Seite. Ein letztes Zucken, ähnlich den Symptomen der Fallsucht, erfasste die Glieder des Mädchens.

Der Henker hob den Weidenkorb. »Habe ich recht gerichtet?«, rief er in die Menge. »Ich danke meinem Vater, der mich diese Kunst gelehrt hat …« Und riss sich die Maske vom Gesicht. Dunkle Brauen umspielten die stahlblauen Augen seines markanten Gesichtes.

Die Jungen warfen Schneebälle in seine Richtung. Schreie hallten über den Burghof. Kinder umklammerten ihre Mütter. Männer drängten mit Fäusten nach vorne. Das Weibervolk bedachte den Scharfrichter mit Flüchen und Hasstiraden. Waffenknechte schritten ein, ihn zu schützen.

Karli riss sich aus Mathildas Umklammerung. Sie rang nach Atem. Die Trance wich von ihr. Sie hörte sich wie in einem Traum seinen Namen rufen.

Die Henkerin lachte. »Narren und Kinder!«

»Bleib stehen, Karli! Komm zurück …«

»Den Hintern versohlen«, schlug die Henkerin vor. Mit einer Geste ihrer flachen Hand verlieh sie ihren Worten Nachdruck.

Mathilda erkannte das drohende Verhängnis: Während ihres Falles hatte die Delinquentin ihr Armband verloren. Die blauen Perlen lagen verstreut im Schnee. Der kleingewachsene Mann und der Welpe erreichten den Leichnam fast gleichzeitig …

Das Haar der Edelfrau löste sich, fiel auf ihre Schultern, wirbelte verheißungsvoll um ihr Gesicht. Ihre Lippen öffneten sich zu einem stummen Schrei. Der Welpe, der die Gunst des Moments genutzt hatte, ihrer Umklammerung zu entfliehen, erreichte die Blutlache um den mittlerweile bewegungslosen Leib. Die Zunge hing ihm gierig aus dem Maul. Karli hechtete nach den Perlen, stopfte sich die Taschen damit voll – kroch auf allen Vieren neben dem Hund. Ein Waffenknecht verpasste Karli einen ersten Tritt gegen die Brust, woraufhin er sich schmerzgekrümmt auf dem Boden wand. Der Hund bekam einen Schlag mit einer Lanze ab und winselte erbärmlich …

»War es nicht eine schöne Hinrichtung!«, schrie die Henkerin hinter Mathilda. »Ein herrlicher Anblick … – majestätisch!«

Mathilda rannte auf Karli zu, kämpfte sich durch die Menschenmenge. Im Osten tränkte die Sonne den Himmel blutrot, während Mathilda sich schützend über ihren Sohn warf. Karli hatte das Bewusstsein verloren. Er lag wie ein Schlafender in ihren Armen.

 

2

»Die Gerechtigkeit ist eine Hure!«, schrie der Junge.

»Du glühst, mein Junge«, sagte der Ritter, der ihn neben dem Tor zum Pferdestall abfing. Er befühlte die Stirn des Jungen.

»Ich habe sie geliebt«, weinte dieser. »Gott verzeih mir! Ich wollte sie niemals alleine lassen …«

Vor dem Tor lagen zwei Männer im dunklen, farblosen Gewand der Bauern, die sich vor Hustenanfällen krümmten. Die Waffenknechte haben ihnen die Rippen gebrochen, schloss der Ritter. – Bei dem Aufruhr kein Wunder! Und er dachte an die Schlacht bei Konstantinopel, die einer Hölle gleichgekommen war …

Der Junge schluchzte. »Was habe ich nur getan? Es ist meine Schuld!«

Er mochte kaum älter als sechzehn sein, schätzte der Ritter. Höchste Zeit, ihn in Sicherheit zu bringen!

In einem Koben erspähte er den Hengst. Seidiger Glanz lag über dem schwarzen Fell des Tieres, dessen Schnauben von der allgemeinen Unruhe kündete. – Aus dem Wind der Wüste geschaffen, hatte der Sultan ihn angepriesen. Und für einen Moment wünschte der Ritter sich dahin zurück, wo die Gärten das Auge durch das Grün ihrer Palmenblätter bestachen. Dort, wo der Duft von Jasmin und Rosenblüten die Nase betörte. – Das war vor dem Krieg gewesen …

Sie sanken neben einem der Strohballen in die Knie.

»Eines Tages wird die ganze Wahrheit ans Licht kommen«, sagte der Junge.

Der Ritter streichelte durch sein Haar.

Der Junge hob wie zum Trotz seine Schwurfinger. »Auge um Auge, Zahn um Zahn!«

Dann setzte die Wirkung der Kräuter ein, die der Ritter ihm vor Stunden verabreicht hatte. Die Augen fielen ihm endlich zu. Der Ritter küsste ihn auf die Stirn.

Es geschah, während der Habicht als schwarz gefiederter Schatten im Morgenrot verblasste.

 

Erstes Buch Heimkehr

Erstes Buch Heimkehr

Erstes Kapitel

Anna

1

»Fürchtet ihr den Schwarzen Mann?«

Ein Dutzend Kinder hatte sich dem Jungen gegenüber aufgestellt. »Nein, nein, nein!«

»Wenn er aber kommt?«

»Dann laufen wir davon!«

In dem Moment, da die Kinder Anna erkannten, stoben sie in sämtliche Richtungen auseinander.

Ihr Sichtfeld drohte – ähnlich der Oberfläche eines Sees, über dem Regentropfen niedergingen – zu verschwimmen. Das Lid über dem rechten Auge flatterte. Anna atmete durch, marschierte an der inneren Ringmauer entlang.

»Wo finde ich Mathilda?«, fragte sie einen Jungen, der neben der Backstube saß.

»Was willst du von ihr?«, antwortete er. Seine Augen verwandelten sich in Schlitze. Er schien ihre Erscheinung von Kopf bis Fuß zu taxieren. Sie spürte seine Blicke. Anhand ihrer Schürze und des mit Löchern übersäten Gewandes mochte er schließen, dass ein Handel mit ihr sich als wenig einträglich erwies; eindeutig besaß sie weder Würfel noch Murmeln!

»Bitte …«

Ein überlegenes Grinsen zierte sein Gesicht. Er schlug das linke Bein über das rechte, von dem der Vorderfuß fehlte. »Bei der Zisterne. Ein paar junge Hunde ertränken, wenn mich nicht alles täuscht!« Und schnitzte auf einem Schweineknochen weiter. Zwischen seinen Fingern entstand ein Gebilde, das große Ähnlichkeit mit den Kufen eines Schlittschuhs aufwies. Viele Jungen, die Gliedmaßen bei Unfällen verloren hatten, hielten sich mit Tauschgeschäften über Wasser.

Bauern sägten in der Mittagshitze an Balken. Gehämmer aus der Schmiede dröhnte in ihrem Schädel. Anna stapfte über Holzspäne, Tierknochen, irdene Scherben, Getreidehülsen. Fliegen umkreisten die Innereien eines Schweins, die neben der Küche verwesten.

Früher, in ihrer Kindheit, hatte sie mehrere Paar Schuhe besessen. Daran erinnerte sie sich in Momenten wie diesen, wenn die Gerüche von Stall, Schweiß, Fäulnis und Schimmel ihre Gegenwart beherrschten. Eine Schicht aus Staub bildete seit den Tagen der Pest eine Art zweite Haut auf ihr. Mägde wuschen das Mädchen regelmäßig in einem Zuber, schruppten es mit Bürste und Seife, erinnerte sie sich. – In dem Dorf am Fuße des Burgbergs dagegen fanden zweimal jährlich Badetage statt. Einmal im Frühjahr, der zweite im Herbst. Männer und Frauen liefen, wie Gott sie schuf, in die Badestuben, aus Angst, Diebe könnten ihre Kleidung stehlen. Die Priester und Gottesfürchtigen mieden derlei Treiben. Sein Geruch verriet den frommen Christen.

Anna zog es vor, in den Wald zu entfliehen. Im Dickicht, wo sie sich unbeobachtet wähnte, legte sie dann ihre Kleidung ab. Sie genoss es, das Wasser des Waldgebirgsbaches auf ihrer Haut zu spüren. – Verzweifelt wünschte sie sich in diesen Momenten in die Vergangenheit zurück – in das prächtige Bürgerhaus zu Passau, wo der Vater das Regiment führte. O Herr Jesus, was hätte sie nicht alles gegeben für ein heißes Bad …

 

 

2

»Du siehst blass aus, Mädchen – müde, abgekämpft! Wie lange nur hast du nicht geschlafen?«

Anna klopfte sich Staub von der Schürze, kontrollierte den Knoten an der Hüfte. »Mathilda …«, stammelte sie und blieb stehen.

Die alte Hebamme nickte ihr zu. »Wie sehr muss Gott die Narren lieben!«, antwortete sie und deutete auf Karli. Der kleingewachsene Mensch nagte hartnäckig an einer Haselnuss.

Haselnussstauden, die dem Burgberg seinen Namen gaben, rankten zwischen innerer Ringmauer, Turm und Zisterne. Die Burg hieß seit jeher Altnussberg. Anna spürte einen Kratzer durch einen Zweig an einem ihrer Knöchel. Sie biss die Zähne zusammen. Seit dem Tod von Vater und Mutter hatte sie gelernt, Schmerzen zu ertragen, indem sie ihnen schlichtweg keine Aufmerksamkeit schenkte …

Die Hebamme betrachtete mit sorgenvoller Miene das schmale Gesicht der jungen Frau. Sommersprossen zierten Stirn, Nase und Wangen. Unter den Augen zeigten sich dunkle Ringe. Im letzten Herbst hatte der Onkel, in dessen Haushalt sie lebte, ihr in einem Anfall von Zorn den linken Arm ausgerenkt. Mathilda war zu Hilfe gerufen worden und hatte Hand angelegt, das Gelenk zusammenzufügen. Es dauerte anschließend den ganzen Winter, bis Anna den Arm ohne Einschränkung wieder gebrauchen konnte.

»Die Wehen haben eingesetzt«, berichtete Anna atemlos.

»Wie ich mir gedacht habe!«

»Ich flehe Euch an, Mathilda.« Anna spürte Röte in ihre Wangen aufsteigen. Die Tante erwartete ein Kind! Trotz ihrer sechzehn Jahre verursachten derlei Dinge ihr Kopfzerbrechen. Seit der Zeit, da ihr Körper sich in den einer Frau verwandelte, nahm sie mit Unbehagen die gierigen Blicke des Onkels zur Kenntnis. Bei Gelegenheiten, da sie von einem Gewand in ein anderes schlüpfte, beobachtete er lüstern jede ihrer Bewegungen.

»Die Wehen dauern seit gestern Abend.«

»Habe ich deinem Onkel nicht geraten, die Sarazenin zu holen?«

»Ja.«

»Aber?«

»Die Tante fürchtet …« Anna stockte. »Sie fürchtet, allein die Anwesenheit der Ungläubigen könnte einen Fluch über das Haus bringen. – Und das Ungeborene im Leib verhexen!«

Die Hebamme zog ein braunes Etwas aus einem Korb, den sie neben Karli abgestellt hatte. Der kleingewachsene Mensch schleuderte die Haselnuss mit einem trotzigen Schnauben gegen die Ringmauer. Voller Neugier wandte er sich dem Kaninchen zu.

»Warum sollte die Sarazenin schwarzen Zauber anwenden?«

Anna spürte Erleichterung, da von besagten Hundewelpen jede Spur fehlte. Der Junge hatte sich also nur einen Spaß erlaubt – sie in ihrer Einfalt verhöhnt!

»Erst heute Nacht hat die Frau des Zimmermanns ihr Neugeborenes verloren. Ich habe versucht, ihr zu helfen. Aber ich konnte nichts tun! Allein die rote Göttin weiß um den Schmerz einer Mutter, die ein Kind verliert …«

»Ich flehe Euch an, Mathilda! Die Tante wird ihre Wut an mir auslassen.«

»Dazu wird sie ohnehin erst einmal kaum in der Lage sein, denke ich.«

»Aber der Onkel … – Er wird …«

»Er wird was?«, hakte die Hebamme nach.

»Er wird es auf Zauberei schieben.«

»Sag ihm, die meisten Dinge sind alles andere als Hexerei…«, versuchte Mathilda zu beschwichtigen.

»Ich flehe Euch an, Mathilda!« Anna spürte den Impuls, sich vor der Hebamme auf die Knie zu werfen. Seit ihrem sechsten Lebensjahr musste sie sich den Vorwurf, sie sei eine Hexe, anhören. Die Totgeburten der Tante, Jahr für Jahr, bestärkten Anna im Glauben an ihre eigene Schuld. – Sie verdiente ihre Strafe! Erst recht, wenn es ihr nicht gelang, Mathilda umzustimmen …

»Der Onkel bringt mich um, wenn auch dieses Kind wieder stirbt!«

»Darum habe ich ihm geraten, die Sarazenin zu holen. Fatima verfügt über Künste, die meine Fähigkeiten als Hebamme bei Weitem übersteigen. – Die Sarazenin ist eine Meisterin, wie ich gehört habe!«

Mathilda beugte sich nach einem der faustgroßen Findlinge, die neben der Zisterne lagen. Karli tat einen Aufschrei. Anna ahnte, worauf der Akt hinauslief. Ihr Lid über dem rechten Auge begann zu flattern. Die Pupille drehte sich unverwandt in Richtung Nasenspitze. Anna wusste, durch ihr Aussehen erweckte sie damit den Eindruck, vor sich hin ins Leere zu stieren. Das, was die Leute den »bösen Blick« nannten, kam über sie …

»Ich kann nicht mehr für dich tun«, sagte die Hebamme. »Beim besten Willen! Ich wünschte, ich könnte es.« Karli versuchte ihr den Stein zu entreißen, was ihm – allein schon seiner Körpergröße wegen – misslang.

»Das Kind stirbt sonst …« Annas Gesichtsfeld verschwamm. »Ich habe solche Angst …«

»Du Ärmste«, sagte die Hebamme – und: »Menschen sind verschieden. Nimm Karli als Beispiel! Nur fragt das Leben uns selten nach unseren Wünschen. Und immer wenn die Menschen verzweifeln, glauben sie an ein düsteres Schicksal – oder eben an Hexerei! Die Menschen suchen nach Erklärungen, weil ihr Verstand ihnen einen Strich durch die Rechnung gemacht hat. Sie können nicht aufhören zu denken. – Das ist es, was die Narren ihnen voraushaben, was ich vorhin gemeint habe. – Und jetzt stiehl mir nicht länger meine Zeit! Du siehst, ich habe noch zu tun …«

Anschließend hatte Anna der Hebamme den Rücken gekehrt. Ein letzter Blick auf das Kaninchen vertrieb jeden Gedanken an ihre eigene Angst. Das böse Auge, wie sie es in ihren Gedanken bezeichnete, beruhigte sich von selbst. Und es schien ihr, als ob die Hebamme diese Reaktion vorausgeahnt hatte.

Anna schritt über den Burghof.

Zeiten und Bilder, da sie selbst Kaninchen besessen hatte, offenbarten sich vor ihrem inneren Auge …

Sie lebte mit ihren Eltern in einem Haus aus Ziegelstein. Im oberen Stockwerk befand sich eine Kammer, die Anna ihr Eigen nannte. Der Vater besaß im Erdgeschoss sein Reich, in dem sich Stoffballen an Stoffballen reihte.

Drei Flüsse liefen in jener Stadt zusammen.

Zwei Burgen thronten auf ihren Anhöhen.

Und ein Löwe zierte ihr Wappen …

Die weltlichen Herrscher lagen sich unentwegt in den Haaren mit dem Erzbischof. Anna wusste von derlei Dingen, weil sie auf dem Schoß des Vaters sitzen durfte, wenn dieser Geschäftsfreunde empfing. Schiffe brachten über die Flüsse Waren aus aller Herren Länder. Viele belächelten ihren Vater – den Stoffhändler –, konzentrierte sich ihr eigenes Geschäft doch auf den Handel mit Salz, welches sie Weißes Gold nannten.

Anna liebte es, sich auf den Dachboden zurückzuziehen. Sie nahm die Kaninchen aus dem Stall, streichelte durch ihr Fell, kraulte sie an Brust und Rücken. Zusammen mit ihrer Cousine Antonia brachte sie Stunde um Stunde an jenem Ort zu – bis zu dem Tag, da die Pest die Bürger von Passau heimgesucht hatte.

Der Rat der Stadt gab Befehl, die Tore zu schließen, verbunden mit der Hoffnung, dass keine weiteren Kranken hinzukämen, die Seuche sich nicht unnötig ausbreitete. Den Menschen wuchsen schwarze Beulen an Achseln, Leisten und Hals. In den Straßen herrschten Plünderung und Brandschatzung. Der Geruch von Rauch wechselte mit dem von Fäulnis und Eiter. Der Bischof weihte die Flüsse, worauf die Lebenden die Toten darin versenkten.

Ein weißes Kreuz zierte das Tor zu Annas Elternhaus als Zeichen, dass der Schwarze Tod sich auch hier seine Bewohner geholt hatte …

Gerüchte besagten, Ritter, die aus Konstantinopel gekommen waren, hätten die Krankheit in die Heimat mitgebracht, als Strafe für den verlorenen Krieg um die Stadt am Bosporus. Die einst mächtigste Stadt der Christenheit befand sich in Händen der Ungläubigen. Die Pest war ein Geschenk des Teufels …

»Fürchtet ihr den Schwarzen Mann?«, schrien die Kinder in den Gassen Passaus einander zu. – Annas Eltern waren wenige Nächte nach ihrem fünften Geburtstag gestorben. In ihrer kindlichen Fantasie stellte Anna sich einen dunklen Gesellen vor, der von Haus zu Haus ging, um ein Licht nach dem anderen auszulöschen.

 

3

Die beiden Dreiecke bildeten einen Stern auf den Dielen.

Anna betrachtete ihren eigenen Schatten neben dem Gebilde. Sie betrat das Haus des Onkels. Angeblich, so behauptete die Tante, vertrieb das Symbol Geister und Dämonen. – Sie stellte sich vor, wie dessen Zauberkraft sie von dem Fluch, der seit Kindertagen auf ihr lastete, befreite. Ein Wunschgedanke, der Gänsehaut auf ihren Armen verursachte …

Sie blieb im Flur stehen.

»Da bist du ja endlich! Wir haben schon auf dich gewartet, Mädchen«, sagte eine Frau in gebrochener Sprache.

»Lasst sie um Gottes willen nicht zu mir in die Kammer kommen, Fatima! Ich flehe Euch an …« Das Wimmern der Tante drang durch den Türspalt.

»Ich habe Mathilda zuerst nicht finden können …« Anna suchte nach einer Erklärung, die sie sich zurechtgelegt hatte auf ihrem Weg von der Burg. Jetzt, vor der Tür zur Schlafkammer, ließ ihre Erinnerung sie im Stich.

»Wo ist die Hebamme?«, schrie die Tante. »Bring sie gefälligst herein! Ich weiß, dass sie bei dir ist. Mathilda hat uns noch nie im Stich gelassen …«

»Sie ist jedenfalls nicht hier in dieser Stunde«, antwortete die Sarazenin in aller Seelenruhe.

Anna spürte die Hitze, die ihr entgegenschlug. Gestern Abend hatte Fatima als Erstes ein Feuer über dem Herd entfacht. Die Luft stand selbst im Hausflur wie ein unsichtbares Element, dass Atmen und jede Bewegung zur Tortur gerieten.

»Wir werden mit dir vorlieb nehmen, Mädchen.«

Die Tante klagte: »Um Himmels willen, seid Ihr denn von allen guten Geistern verlassen, Fatima? Sie ist eine Hexe!«

Die Sarazenin ließ sich nicht beirren. »Nun komm schon herein!«

»Oh, Kind, ob lebendig oder tot …«, lamentierte die Tante, »komm heraus, denn Christus ruft dich ans Licht …«, und stemmte sich mit den Beinen gegen die mit Stroh gefüllte Matratze, als Anna eintrat. Die Decke rutschte von ihren Brüsten. Wie ein Kürbis wölbte sich der Unterleib in Richtung des Schoßes …

»Holt meinen Gemahl!«, flehte die Tante. »Holt ihn vom Feld. – Dann soll er mir eben beistehen – in Gottes Namen…«

Ein Wunschgedanke, an Torheit nicht zu überbieten, dachte Anna. Wann hatte jemals ein Mann einer Geburt beigewohnt? Eher weinte die Statue der Heiligen Jungfrau, die sich in einer Nische der Burgkapelle befand, Tränen von Wasser und Blut!

Ehe Anna sich versah, drängte die Sarazenin sie zum Bett. »Du wirst uns jetzt beistehen müssen, Mädchen. Oder weißt du eine andere Lösung?«

»O Gott, ich kann es nicht …«, entfuhr es Anna. Im Grunde bereitete allein die Vorstellung, ein Kind zu zeugen, ihr Bauchschmerzen. In Nächten, da sie Stöhnen und Wimmern vernahm, das ihr bedeutete, dass Onkel und Tante beieinanderlagen – wie Mann und Frau – empfand sie mehr Angst als Neugier. Ging ihr Mann in die Dorfschenke, hörte Anna die Tante beten. Und Anna fragte sich, ob sie Gott dann unter anderem um Vergebung für die Sünde der Wollust anflehte. Sie hatte gehört, dass der Allmächtige die Pest auch als Strafe dafür über den Menschen verhängt hatte.

Fatima schien ihre Gedanken zu erraten. »Du musst keine Angst haben. Es ist alles weniger schlimm, als du denkst. – Wie heißt du eigentlich?«

Anna nannte ihren Namen.

»Dann heißt du also genauso wie die Mutter der Jungfrau Maria«, stellte Fatima zu Annas Erstaunen fest. »Ich trage übrigens den Namen der Lieblingstochter des Propheten Mohammed, musst du wissen.«

Die Tante geriet in Wut. »Was fällt Euch ein, Fatima, in meinem Hause von Eurer teuflischen Religion zu sprechen? Dabei sagen die Leute, Ihr wärt eine bekehrte Heidin …« Eine Wehe setzte der folgenden Hasstirade ein Ende.

»Du wirst sehen, Mädchen, ich betreibe keine schwarze Magie. Der Gott der Christen und Allah sind meine Zeugen.«

Die Tante wand sich auf der Matratze. »Zum Teufel – helft mir endlich, dieses Kind zur Welt zu bringen, Fatima …«

»Es liegt wahrscheinlich mit dem Steiß voran«, sagte die Heilerin.

»Das ist mit völlig gleich …«

»Solange dies der Fall ist, kann es den natürlichen Weg nicht gehen.«

»Es soll atmen, wenn es geboren wird. Nur wenn es atmet, kann der Geistliche es taufen. Damit es wenigstens in geweihter Erde liegen kann … – Wenn es denn schon sterben muss!« Ein Heulkrampf erfasste sie. »Wie lange wünsche ich mir schon ein Kind? Wie lange schon bleibt mir dieser Wunsch verwehrt? Mein Gemahl wird mir vorwerfen, ich hätte nicht alles Menschenmögliche getan, es zu retten! Es ist immer dasselbe … – Ich flehe Euch an, Fatima, schickt die Hexe aus der Kammer!«

Fatima widersprach: »Ich brauche ihre Hilfe, um das Kind in Eurem Leib zu drehen.«

»Meine Nichte ist von einem Dämon besessen, seit mein Bruder und seine Frau starben. Der Beweis dafür ist ihr Blick!«

»Es gibt keine Dämonen. – Es gibt nur schlechte Gedanken, die Wirklichkeit werden. Und das auch nur, wenn man um jeden Preis an sie glauben will.«

Anna spürte ein Flackern über dem Lid des rechten Auges. Reflexartig wandte sie ihren Blick in Richtung des Herdes. Kupferne Pfannen und Töpfe hingen darüber an der Wand. Der verbeulte Stahl spiegelte ihr Gesicht verzerrt wider.

»Der Teufel soll Euch holen, Fatima!«, fluchte die Tante.

Fatima wusch sich die Hände in einer Schüssel mit heißem Wasser. Anna beobachtete den Vorgang, dem eine Ruhe und Gelassenheit innewohnte, als handelte es sich um ein Ritual. Etwas Mystisches haftete dem Akt geradezu an. Fatima murmelte Worte in einer fremden Sprache, die wie ein Gebet klangen. Anna dachte an die Priester, die die Wandlung vornahmen und dazu lateinische Verse rezitierten. Anna verstand auch diesmal keine Silbe vom Gesagten, doch tief in ihrer Brust spürte sie einen Druck, dass sie meinte, daran zu ersticken.

Fatima ließ eine Hand über ihre Schulter gleiten. Wie ein Wesen aus einer anderen Welt erschien die Sarazenin inmitten der bäuerlichen Stube. Ihr Haar glänzte schwarz wie das Gefieder eines Raben. In den Augen lag jene Dunkelheit, von der die Leute sagten, ihnen wohnten böse Geister inne, wie sie auch die Raunächte über das Land brachten. Anna hatte Frauen im Dorf munkeln hören, die Sarazenin verwandelte sich in den Raunächten, von welchen es zwölf im Jahr gab, in eine Wölfin. Angeblich war sie in der Nähe der Burg bei einem derartigen Zauber gesichtet worden. Trotz ihres fortgeschrittenen Alters, das Falten in ihrer dunklen Haut hinterlassen hatte, muteten ihre Bewegungen grazil an. Ihr Haar verbreitete einen Duft von Rosenblüten, den Anna sich nicht erklären konnte. Silberne Schellen hingen an den Ärmeln und am Saum ihres Gewandes. Deren Klang begleitete sie auf Schritt und Tritt.

»Wir haben keine Zeit zu verlieren!«, sagte Fatima.

»Lasst mich nicht sterben …«, wimmerte die Tante.

Fatima gab sich unbeeindruckt, wandte sich Anna zu. »Hier, Mädchen, halt gut fest.« Fatima führte ihre Hände gegen die Innenseiten der Knie der Gebärenden. Anna spürte den Druck, den die Tante erzeugte, und versuchte an die Decke zu starren, was ihr schon nach kürzester Zeit misslang. Sie sah ein Rinnsal von Blut und Fruchtwasser, das aus dem Muttermund sickerte wie aus einer offenen Wunde.

»Halt fest!«, stöhnte die Sarazenin.

Die Tante starrte gen die Decke.

Anna biss die Zähne zusammen, presste die Beine der Gebärenden auseinander, während diese versuchte, die Kraft der Wehen mit einem Hecheln zu vertreiben. Fatima versenkte eine Hand zwischen den Beinen.

Ein gellender Schrei tönte durch den Raum.

»Dieses Kind hält uns sein Ärschlein hin«, stöhnte Fatima. »Ich glaube, ich spüre die Nabelschnur …«

Die Prozedur schien eine Ewigkeit zu dauern. Dann zog sie den Arm zurück. Anna begann den Geistlichen zu verstehen, der den Schoß des Weibes als durch und durch schmutzig bezeichnete. Der Anblick von Blut erregte Übelkeit in ihr. Inzwischen hatte eine Ohnmacht die Gebärende ergriffen.

Die Sarazenin schwitzte. Fatima trat zum Tisch. Sie wusch sich in der Schüssel die Hände und Unterarme, tupfte sich den Schweiß mit einem Tuch von der Stirn. Anschließend öffnete sie eine Schatulle.

»Ich verwende eine Mixtur aus Arnika und Rosmarin«, erklärte Fatima. »Beides verstärkt die Wehen. – Und der Salbei hilft gegen Entzündungen im Wochenbett.« Sie löste die feinen Körner in lauwarmem Wasser auf, während die Tante zu sich kam.

»Eine Engelmacherin seid ihr, Fatima. Verflucht sollt Ihr sein… – Und die Hexe hat uns wieder einmal kein Glück gebracht! – Ich habe es gewusst. Ich habe Euch gewarnt…«, wimmerte sie.

»Sprecht ein Gebet!«, befahl Fatima.

Der Befehl zeigte Wirkung. »Heilige Maria, Muttergottes, du bist gebenedeit unter den Weibern …«

Fatima flößte das Gemisch durch einen Schlauch aus Ziegenleder in die Scheide ein. Gleich darauf folgte eine Wehe, begleitet von neuerlichem Wimmern und Geschrei. Der Muttermund öffnete sich einen Fingerbreit. Anna erkannte etwas, das aussah wie ein schwarzer Flaum auf krebsroter Kopfhaut…

Dann schloss der Spalt sich wieder.

Das Lid über Annas rechtem Auge flackerte. Ihr Blick verschwamm.

In das Antlitz der Heilerin traten Sorgenfalten. Fatima blinzelte einen Schweißtropfen – oder handelte es sich um eine Träne? – hinfort.

»… heilige Maria, hilf mir – jetzt und in der Stunde unseres Todes …«

Im Zwielicht der Kammer – erschien es Anna – lauerte plötzlich eine Gestalt. Das Gefühl, das über sie kam, glich dem in jenem Sommer, da die Pest wütete. Die Stimmen der Kinder, die in den Gassen ihr Spiel trieben, hallten durch ihren Kopf…

Fürchtet ihr den Schwarzen Mann?

Anna versuchte den Gedanken zu verdrängen, doch er hielt sich hartnäckig. Sie dachte an den Fremden, den sie sich als Kind vorgestellt hatte – jenen dunklen Gesellen, der von Haus zu Haus ging – an die weißen Kreuze, die überall dort die Türen kennzeichneten, wo er die Bewohner mit Heimtücke geholt hatte. Und sie spürte die Gewissheit. Er befand sich auch diesmal mitten unter ihnen. Wie damals in Passau. Es gab kein Entrinnen. Der Tod fragte nicht.

 

4

Zwischen den Fichten brannte ein Feuer. Rauchschwaden zogen tänzelnd gen die Scheibe des Mondes. Anna weinte. – Die ganze Nacht hindurch bis zum Morgengrauen.

Die Flammen erloschen mit den ersten Sonnenstrahlen. Ein tiefer – von Albträumen begleiteter – Schlaf übermannte sie. Als sie Stunden später erwachte, breitete der Nachthimmel sich wiederum über ihr aus. In den Sternen glaubte sie, die Gestalt des toten Säuglings zu erkennen. Zum Teufel mit der Missgeburt, hatte die Tante geflucht.

Fatima hatte das Kind, nachdem es bereits tot zur Welt gekommen war, neben die Herdstelle gelegt. Maria Gruber, so hieß ihre Tante, verfluchte Anna als eine Teufelsbuhlin. Die Sarazenin hatte dies ignoriert und Annas Tante geraten, den Leichnam über drei Tage hinweg dort liegenzulassen. Zudem sollte ihr Gemahl dafür sorgen, dass das Feuer bei Tag und Nacht brannte. »Du wirst sehen, die Brust des Mädchens wird sich heben – und euer Geistlicher wird dies für göttlichen Odem halten. – Er muss das Kind dann einfach taufen …« Die Tante, die um das Seelenheil des Kindes fürchtete, setzte ihre letzten Hoffnungen auf diesen Rat der Sarazenin. Eine ähnliche Form von Hoffnung hatte Anna eine Stunde später zu ihrer Flucht in die Wälder bewogen. Sie fürchtete Zorn, Verzweiflung und Gewalttätigkeit des Onkels. Er würde sie halbtot prügeln. Alles konnte von jetzt an nur noch besser werden, beschwor sie sich. Regen setzte ein. Die Tropfen fühlten sich wie glühende Nadelstiche auf der Haut ihres Gesichts an.

Ihre Flucht lag mittlerweile drei Tage zurück. Und manchmal erschienen ihr die Geschehnisse in der Kammer noch wie ein Traum, aus dem sie jeden Augenblick erwachen musste. Anna kniete vor dem erloschenen Feuer nieder. In der Ferne erspähte sie die beiden Türme der Burg. Gott sei Dank hatte keiner der Wächter dort oben den glühenden Punkt in der Dunkelheit gesichtet! Das Torhaus tauchte vor ihrem geistigen Auge auf – samt den Waffenknechten, die das Gittertor bewachten. In ihrer Vorstellung glich die Zugbrücke der Zunge eines feuerspeienden Drachens – ein Drache, der sie auffressen konnte … Ihre Apathie wich. Sie hatte Angst davor, zurückzukehren. Es war diese Vorstellung, die Anna darin bestärkte, zu verdrängen, welche Strafen auf Lehensflucht standen.

Von jetzt an gab es keinen Weg zurück.

 

Zweites Kapitel

Leopoldus

1

Der Wind kam aus Osten – aus Böhmen! Leopoldus presste die nackten Füße gegen die Balken. Die Mönche hatten ihn Gottvertrauen gelehrt seit dem Tag, da er als Junge in ihre Abtei gebracht worden war. Dennoch fröstelte er unter der braunen Kutte. Er lebte erst wenige Monate auf der Burg, eine Zeit, welche ihm wie ein Martyrium erschien. Solange er denken konnte, hatte er im Kloster gelebt.

»Bevor ich meine Augen schließe, möchte ich wenigstens meinen Sohn noch einmal sehen«, sagte der Ministerial von Altnussberg.

Der Sturm rüttelte an den Verschlägen der Burg. Leopoldus wünschte sich sehnlichst in das Kloster zurück. »Wenn ich mich recht entsinne, dann sollte Lambert schon vor drei Tagen auf der Burg eintreffen«, entgegnete er ratlos.

Leopoldus erinnerte sich: Der böhmische Wind trug die Seelen der Menschen davon. Er bevorzugte dabei all diejenigen, die keinen Frieden fanden, weil ein zu früher Tod sie aus dem Leben gerissen hatte. Die Menschen sprachen in dem Zusammenhang auch von der Wilden Jagd. Leopoldus betete innerlich, diese düstere Prophezeiung möge sich in dieser Nacht nicht erfüllen. Er fürchtete den Tod. Er hing am Leben. Außerdem hatte der Abt ihn mit einer Mission nach Altnussberg entsandt, die er nur erfüllen konnte, solange der Burgherr lebte!

»Sofern Ihr Lambert in Eure Gebete eingeschlossen habt, Bruder, brauche ich mir wohl keine Sorgen um sein Wohlergehen zu machen.« Der Todkranke lächelte durch seinen grauen Bart hindurch.

»Und wenn es der Wille des Allmächtigen ist, Euch vorher zu sich zu holen, ehe Euer Sohn …«, wandte Leopoldus ein.

»Das kann unmöglich Sein Wille sein! Was wäre Er sonst für ein Gott? – Ich habe doch nur diesen einen einzigen Wunsch.« Johannes von Bärnstein schüttelte den Kopf und vollführte einen Zug auf dem Schachbrett, welches auf der Truhe zwischen ihm und Leopoldus stand. »Für uns Ritter heißt diese Figur Dame, ihr Mönche nennt sie eure heilige Madonna, wohl, weil ihr sonst kein Weib haben dürft! Und doch haben wir alle beide gleichsam Angst, ihre Gunst zu verlieren, nicht wahr?« Bärnstein drehte die Figur, die er dem Mönch abgeluchst hatte, mit den Fingern.

Leopoldus schmerzte der Verlust in Form eines flauen Gefühls in seinem Magen. »Ich fürchte, ich habe in Euch meinen Meister gefunden, wie ich wohl gestehen muss. – Ihr habt jeglichen Grund zur Siegesfreude. Ich beneide Euch. Dabei seid Ihr der Sterbende!«

»Es ging mir selten besser in letzter Zeit. Der Tod kann warten …« Bärnstein hustete. Die dunklen Augen leuchteten matt im unruhigen Licht der Kerzen, als habe sich eine Schicht von trübem Glas darüber gelegt. Das graue Barthaar spross auf Kinn und Wangen. Dadurch erweckte das Gesicht den Eindruck, als lägen Schatten selbst bei Tageslicht darüber. Daran mochte auch das Grinsen, das in früheren Jahren seine Entschlossenheit kundgetan haben mochte, nichts zu ändern. – Der Ritter stand vor seiner letzten großen Schlacht. Es lag an ihm – Leopoldus, ihm beizustehen.

Bärnstein ignorierte seine besorgte Miene. »Ist Euch kalt, Bruder?«

Leopoldus unterdrückte ein Zähneklappern. »Nein.«

Bärnstein ließ die strategisch wertvollste Figur des Mönchs in einer Katze, wie man sie üblicherweise verwendete, um Geld darin zu verwahren, verschwinden. Leopoldus sah damit auch seine Chance, diese Schlacht auf dem Schachbrett zu gewinnen, auf die Größe eines biblischen Sandkorns geschrumpft.

»Worauf wartet Ihr noch?« Bärnstein nickte in Richtung der weißen und schwarzen Figuren, die sich auf dem Brett feindlich gegenüberstanden – ein wahres Gemetzel. »Noch ist nicht aller Tage Abend.«

»Wie wäre es, wenn Ihr mir von Eurem Kreuzzug gegen die Hussiten erzähltet?«

Bärnstein seufzte wohlig. »Netter Versuch einer Ablenkung, Bruder.«

»Der Abt berichtete mir, Ihr hättet mit besonderem Heldenmut gegen die Ungläubigen aus Böhmen gekämpft.«

»Sagt er das?« Bärnstein schob die Unterlippe vor. Sein Oberkörper lehnte an einem Berg voller, mit Stroh gefüllter Kissen.

Auf einem Klappstuhl neben dem Bett lag ein Stapel Leintücher, mit denen die Kräuterfrau und Hebamme Mathilda den Burgherrn tagsüber versorgte. Der Geruch von Schweiß und Ausdünstungen umgab Bärnstein. Leopoldus hatte vorgeschlagen, nach einer der Mägde zu rufen, um Betttücher und Nachtgewand zu wechseln. – Bärnstein hielt dies für überflüssig. »In meinem Alter hat man keine Zeit für Nebensächlichkeiten!«, sagte er auch jetzt. »Und der Kreuzzug im eigenen Lande gehört längst der Vergangenheit an. – Was zählt, ist das, was alles noch kommt …«

»Als Ritter, der gegen die Ungläubigen kämpfte, steht Euch ein Platz an Gottes Seite zu.«

»Wer sagt das?«

»Der Papst, der zum Kreuzzug gegen die Ungläubigen aufgerufen hat.«

»Ach«, Bärnstein vollführte eine abwehrende Handbewegung, »wir haben nichts weiter als unsere gottverdammte Pflicht getan. Wir haben unser Land verteidigt! Und damit unsere Bauern und Burgen.«

»Ihr müsst damals sehr jung gewesen sein. – Genau wie der Herzog von Bayern-München …«

»Albrecht?« Der Burgherr zog die Mundwinkel nach unten. »Ich weiß, worauf Ihr anspielt. Aber Ihr werdet die Wahrheit niemals von mir erfahren. Es ziert sich nicht, Schlechtes über Tote zu reden. Das versteht Ihr doch. Das gilt auch für einen Geistlichen. Nicht wahr, Bruder?«

»Mit seinem Sieg über die Hussiten hat der Herzog den Allmächtigen versöhnlich gestimmt. – Damit hat er sich von seiner Sünde reingewaschen.«

»Ihr sprecht von der Sünde – welche Sünde meint Ihr wohl?« Ein leises Lachen …

»… die Sünde der Wollust, zu der ein Weib den Herzog Albrecht den III. von Bayern-München verführte!«

Der Burgherr seufzte. »Agnes Bernauer.«

»Die Hure und Hexe!«

»Der Herzog hat sie aus Liebe geheiratet, Bruder. Er nahm sie rechtmäßig zu seiner Gemahlin vor Gott dem Herrn!«

Leopoldus spürte ein Aufflammen in seiner Brust. Der Blick in den Augen des Todkranken glich dem eines Verlorenen, der dem Glücksspiel anhängt. »Die Liebe zu den Frauen und das Würfelspiel sind auf geradezu blasphemische Weise miteinander verwandt. – Der Herzog war der Hexe mit Haut und Haar verfallen – wie einem Spiel …«

»War es denn ein Wunder?« Bärnstein hob die Schultern. »Ihr Anmut und ihr Liebreiz hätten auch einer Dame von adeliger Geburt ohne jeden Zweifel zu Gesicht gestanden. Es gab viele Frauen, die sie beneideten. Der größte Skandal in der Geschichte des Herzogshauses von Bayern-München ließ sich nicht vermeiden von dem Tag an, da Albrecht Agnes zum ersten Mal begegnet war. Sie war zu schön, um wahr zu sein! – Ich gehörte zu Albrechts Begleitern an jenem Abend, als er das Badehaus zu Augsburg betrat und der Bernauerin, die eine Zuberhure war, zum ersten Mal gegenüberstand. Niemals werde ich den Ausdruck in Albrechts Gesicht vergessen. Wir waren junge Männer. – Albrechts Vater – Ernst – machte sich um die Geschicke des Landes, das auch damals schon unter seiner Teilung litt, große Sorgen, wie Ihr Euch denken könnt. Auch wenn ihr damals noch längst nicht das Licht der Welt erblickt hattet, Bruder. – Agnes Bernauer musste sterben, weil die Zukunft des Landes ohnehin unter einem düsteren Stern stand. Eine unstandesgemäße Heirat hätte das Herzogtum Bayern-München noch stärker geschwächt – wie einen Verletzten, dem ein Kurpfuscher auch noch ein Gift verabreicht. Die Liebe zwischen der Bernauerin und dem Herzog war wie Gift für das Reich.« Bärnstein wischte sich mit der Rechten den Schweiß von der Stirn. »Und so endete der Hexenprozess in Straubing, wie es ihm vorbestimmt war. – Mit dem Tod der wunderschönen Bernauerin. – Eine Verschwendung, wenn Ihr mich fragt! Bei all ihrer Schönheit.«

Leopoldus spürte einen Windhauch, der durch eine der Ritzen drang, über seiner Tonsur. Die feinen Härchen in seinem Nacken stellten sich auf. »In diesen Räumen – hier auf Burg Altnussberg – kamen die Zeugen zusammen, um die Anklage gegen die Bernauerin zu formulieren, heißt es.«

»Ein paar Mönche und Ritter, die einen Meineid leisteten, Bruder! – Und das alles zum Wohl des Landes … – Ich wünschte, ich hätte das Schlimmste verhindern können.« Die dunklen Brauen zogen sich zusammen. In den Gesichtszügen spiegelte sich aufrechtes Bedauern wider. »Mit Engelszungen habe ich auf die Verschwörer eingeredet.«

»Weil Ihr genauso geblendet gewesen seid von der Hexe wie Euer Freund Albrecht!«

»Man drohte schließlich damit, mir diese Burg abzusprechen!«

»Ihr kommt mir heute noch verstockt vor, wenn Ihr über diese Ereignisse sprecht. – Naja, aber wenigstens hat Albrecht später sein Vergehen eingesehen. Und so gründete er den Ritterbund vom Goldenen Einhorn, um gegen die Hussiten einen Kreuzzug zu führen, wie man weiß.« Leopoldus betrachtete den Burgherrn, dessen Lider sich verdächtig über die Augen senkten. Die Arznei, welche Mathilda ihm verabreichte, enthielt Taumellolch – wie ihm zu Ohren gekommen war! Dadurch linderte sie einerseits den Schmerz in der Brust, andererseits verkürzte das Gift das Leben um Tage bis hin zu Wochen. Vor allem Letzteres erregte in Leopoldus Unbehagen, lag es doch allein in Gottes Hand, derlei Dinge zu bestimmen.

»Was soll geschehen, wenn Ihr die Heimkehr Eures Sohnes nicht mehr mit eigenen Augen erlebt? Soll ich ihm etwas in Eurem Namen ausrichten?«

Bärnstein schüttelte den Kopf. »Nein, angeblich soll Lambert einen Umweg über Dachau eingeschlagen haben. Das hat mein Burghauptmann vor zwei Tagen in Erfahrung bringen können. Ich will meinem Sohn selbst gegenübertreten. Ich habe Lambert immerhin fast zehn Jahre nicht gesehen.«

»Umso schlimmer, wenn Ihr vor seiner Ankunft das Zeitliche segnen müsstet. Was wären Eure letzten Worte an ihn?«

Bärnstein wehrte ab: »Die Geschichte mit der wunderschönen Bernauerin lehrte mich einst, den Pfaffen auf keinen Fall zu vertrauen.«

»In der Bergpredigt heißt es, Gott liebe jene am meisten, die ihren Weg ins Tal des Todes reinen Herzens beschreiten. – Wird es nicht doch Zeit, eine Beichte abzulegen?« Seit Weihnachten lag der Burgherr im Sterben. An Heiligabend hatte er begonnen, Blut zu husten. Mathilda vermutete ein Gewächs in der Brust, da von dort die Schmerzen in Richtung Rückgrat ausstrahlten. Außerdem blieb Bärnstein zusehends der Atem weg.

»Was würdet Ihr jetzt Eurer Gemahlin sagen, wenn sie noch lebte?«

»Ich habe sie geliebt. Das ist alles, was ich sagen kann und will!« Ein erster Blitz offenbarte eine Träne in einem Augenwinkel des Mannes, der Leopoldus gegenübersaß, und von dem es hieß, er habe mehr Hussiten zu Fall gebracht als jeder andere Ritter. »Gott weiß, dass ich sie geliebt habe.« Er röchelte.

»Dann betet für sie! Vielleicht könnt Ihr ihre Seele retten. Wenn schon ihre Gebeine in ungeweihter Erde begraben liegen!«

»Meine Frau hat sich nicht umgebracht! Das ist eine Lüge. Und das wisst Ihr, Bruder!«

»Wie erklärt Ihr Euch dann ihren Sprung?«

»Meine Frau war eine fromme Christin.«

»Es heißt, sie beschäftigte sich mit dem Wissen der Druidinnen. Immerhin ging jene Frau, die Ihr eine Heilerin nennt, bei ihr aus und ein.«

»Ihr meint Mathilda?«

»Die Hebamme soll die engste Vertraute Eurer Gemahlin gewesen sein. Ist es nicht so? Warum verschwand sie ausgerechnet am Tag nach dem Tod Eurer Gemahlin spurlos, frage ich Euch.« Leopoldus wusste, dass er sich auf gewagtes Terrain begab. Doch der Abt hatte ihm aufgetragen, die Wahrheit herauszufinden. Darin bestand seine Mission.

»Was blieb ihr anderes übrig?«, antwortete Bärnstein. »Nachdem die Inquisition ins Haus stand! – Mathilda ist keine Hexe – genauso wenig wie die Bernauerin eine war! Immerhin half den beiden Frauen beim Sammeln des alten Wissens auch ein Mönch – wie man Euch ganz bestimmt im Kloster erzählt hat. Euer Vorgänger, Bruder Ferdinand, zeichnete das Wissen der Druidinnen in einem Buch auf.«

»War es vielleicht der Mönch, der Mathilda vor der Ankunft des Inquisitors gewarnt hat?«

»Fragt ihn doch selbst.« Bärnstein ließ sich in die Kissen zurücksinken. Unverhohlener Spott zeigte sich auf seinen Zügen und Leopoldus fürchtete, dass sein Verhör auch diesmal zu nichts führte. Der Sterbende war offenbar noch nicht bereit, sein letztes Geheimnis preiszugeben.

»Die Inquisition hat Bruder Ferdinand die Zunge herausgerissen«, antwortete Leopoldus.

»So ist es.«

»Er spricht kein Wort mehr seither. Und die Inquisition brachte keine Ergebnisse zutage.«

»Da seht Ihr es, Bruder.«

»Was?«

»Es gibt keinen schwarzen Zauber. Das ist alles erfunden.« Bärnstein verschränkte die Arme.

»Das Buch – und auch die anderen Besitztümer Eurer Frau – blieben spurlos verschwunden. Jemand muss alles rechtzeitig beiseite geschafft haben. Vielleicht der Teufel, mit dem sie im Bunde stand! Der sie zu ihrer Tat getrieben hat!«

»Ich habe meine Frau geliebt. Gott ist mein Zeuge! Sie stand mit keinem anderen als mit mir im Bunde! Das hätte ich niemals geduldet.«

»Vielleicht war es ja der Geist der Kindsmörderin, der Agnes von Bärnstein zu ihrer Wahnsinnstat verführte. Die Kammer Eures Sohnes grenzte an die Kemenaten. Was hat der Knabe vor dem Tod seiner Mutter beobachtet?«

»Ihr könnt Lambert ja nun bald selber fragen.«

»Eure Frau sprang in der Nacht, in der das Verbrechen der Kindsmörderin sich zum ersten Mal jährte. – In der Nacht des Heiligen Thomas, die zu den Raunächten gehört, in welchen die ruhelosen Geister umgehen. – Das kann alles kein Zufall sein, oder?«

Bärnstein versuchte, seinen Oberkörper aufzurichten. Im Laufe des Gesprächs war Regung über seine Züge gekommen, die von der zunehmenden inneren Unruhe kündete. Geradeso als bewegten sich winzige Schlangen unter der Haut, erschien es Leopoldus! Wieder einmal blieb der Burgherr ihm die Antwort auf die alles entscheidende Frage schuldig: Wer hatte dafür gesorgt, dass die Inquisition am Ende keinerlei Ergebnisse zutage brachte? Und unverrichteter Dinge abziehen musste … Leopoldus musste sich eingestehen: Einmal mehr hatte Bärnstein sich nicht nur auf dem Schachbrett als geschickter Stratege erwiesen!

Leopoldus entschied sich zu einem letzten Versuch, den Burgherrn aus der Reserve zu locken. Er legte einen Finger auf die Dame des Burgherrn. »Manchmal begehen Menschen schreckliche Sünden aus Liebe.«

Donner näherte sich von fern. Leopoldus zitterte unter dem Blick des Burgherrn.

»Dann stimmt Ihr also doch mit mir überein, Bruder?«

»Inwiefern?« Leopoldus befeuchtete seine trockenen Lippen mit der Zungenspitze und Bärnstein antwortete:

»Es gibt nichts Schlimmeres, als die Gunst der Madonna zu verlieren.«

2

Anschließend hatte Leopoldus die Kammer verlassen.

Er hastete davon. Die Dunkelheit verstärkte seine Angst vor dem Gewitter. An einem Kienspan entzündete er eine Kerze in seinem Gemach. Ein Aufatmen ging durch Leopoldus´ Brust.

Er schlüpfte aus der Kutte und griff nach der Peitsche. Im letzten Winter geschah es, dass Bruder Sebastian ihn zum ersten Mal berührt hatte in einer Gewitternacht. Zuerst wehrte er sich, dann ließ Leopoldus die Zärtlichkeiten geschehen. Und zu seinem eigenen Erschrecken empfand er neben Abscheu noch ein anderes Gefühl, das er nicht zu benennen vermochte. Er dürstete regelrecht nach der Nähe des Mitbruders mit den angegrauten Schläfen und den feingeschnittenen Gesichtszügen.

Das Kloster befand sich in einem Ort namens Metten, unweit der Donau gelegen. Im letzten Jahr hatte sich auch der junge Herzog Sigmund – einer der Söhne des inzwischen verstorbenen Abrecht des III. – zur Klausur in die Abtei zurückgezogen. Zu dem Zeitpunkt hatte der Abt beschlossen, Leopoldus als Burggeistlichen nach Altnussberg zu entsenden. Seit er auf der Burg lebte, verschaffte die Peitsche Leopoldus Erleichterung. Das Leder riss jede Nacht neue Wunden auf dem Rücken seines sehnigen Körpers. Herzog Sigmund hatte die Klausur im Kloster zu Metten genutzt, um zu dem Schluss zu kommen, zugunsten seines Bruders – dem jungen Albrecht dem IV. – abzudanken.

Leopoldus sprach in seiner Kammer ein Gebet, dankte dem Abt, der ihn Gehorsam gelehrt hatte. Durch seine Entsendung nach Altnussberg war ihr sündhaftes Treiben vor den Augen des hohen Gastes verborgen geblieben. Wahrscheinlich wusste der Abt von Leopoldus´ und Sebastians Neigungen. Jetzt, während die Kerze sich in ein Häuflein Talg verwandelte, legte Leopoldus die Peitsche aus der Hand. Er schlüpfte in die braune Kutte der Brüder des Heiligen Franz von Assisi zurück und trat zum Stehpult. In Gedanken versunken tunkte Leopoldus den Gänsekiel in die graue Tinte. Die schwarze Asche, vermischt mit Wasser, verteilte sich über dem Pergament. Leopoldus schrieb:

Vierter Juni, im Jahre Unseres Herrn 1467 –

Der ehemalige Herzog Sigmund, so heißt es, hat in München den Grundstein zum Bau einer Kirche gelegt. Bereits in der Abtei zu Metten plante er einen Dom mit zwei Türmen – zur Ehre der Heiligen Frauen. Sigmund handelt dabei auch im Interesse seines Bruders Johann, der ihrem Vater Albrecht vor zwei Jahren in den Tod folgte. Das Land befindet sich seither in Aufruhr, was auch so bleiben wird, solange die Erbfolge nicht endgültig geregelt werden kann. Der Burghauptmann kam heute früh mit der Kunde nach Altnussberg, Lambert von Bärnstein gastiere in Dachau bei München am Hofe Sigmunds. Was mag der Anlass für den Umweg des jungen Mannes sein? In Lamberts Begleitung befand sich Christoph von Wittelsbach, der jüngste der Söhne des „alten Albrecht“. Die Böckler besiegten die Hussiten, indem sie dereinst an der Seite Albrechts des III. kämpften. Hier auf der Burg habe ich eine Urkunde gefunden, die noch aus der Zeit Albrechts stammt, in der es heißt: „Wir geheißen und versprechen auch für uns, alle unsere Erben und Nachkommen … dass wir sie – die Böckler – alle ihre Nachkommen und Erben fortan keiner Steuer von keinem Lehen oder Gut, wie auch immer man das nennen oder erfinden möchte, nimmermehr begehren …“

Leopoldus wischte sich eine Strähne des strohblonden Haares aus der Stirn. In seinen hellen, fast durchsichtigen, Augen spiegelte sich die unruhig flackernde Kerze wider. Mit zitternden Händen breitete er ein weiteres Dokument vor sich aus und schrieb:

In einer Truhe, hier auf der Burg, habe ich ein weiteres Schreiben des „alten Albrecht“, in dem er sich an Johannes von Bärnstein richtet, gefunden. Darin heißt es: „München, im Jahre Unseres Herrn 1457“ – so das Datum – „Wir danken Ihm für einen Uns erwiesenen Gefallen, auch wenn die Warnung seinerzeit zu spät kam und er die geliebte Frau nicht mehr zu retten vermochte vor den Fängen der Inquisition! Dafür bereitet es Uns jetzt dennoch Freude und Genugtuung, jenem Dominikaner – der schon einmal Leid über die Seele eines Ritters brachte – an seinem teuflischen Werk zu hindern …“

Bedeuten diese Zeilen, dass Herzog Albrecht, der in späteren Zeiten den Beinamen „der Fromme“ führte, die Ermittlungen auf Burg Altnussberg behinderte? Gilt am Ende die Kapelle, die er in Straubing nach dem Tode der Agnes Bernauer errichten ließ, eher als Beweis seiner Besessenheit als seiner Frömmigkeit?

Die Ritter auf den umliegenden Burgen murren. Sie fürchten, sein Sohn, der junge Albrecht der IV., der bisher in Pavia Theologie studierte, könnte ihnen die durch die Hussitenkriege erworbenen Sonderrechte streitig machen. Als der Burgherr von einem Umweg Lamberts über Dachau erzählte, habe ich Trauer in seinen Augen gesehen. Seit dem Tode seiner Mutter, so heißt es, habe der Sohn mit seinem Vater kein Wort gesprochen. Dies mag an der Entfernung liegen. Lambert verbrachte die letzten Jahre als Knappe in Burghausen. Ein Besuch Johannes von Bärnsteins vor vier Jahren führte jedoch zu keiner Annäherung zwischen Vater und Sohn, berichtete mir der Hauptmann. Vielleicht fürchtet der Burgherr, Lambert habe sich auf die Seite des Herzogs geschlagen – daher sein Umweg über Dachau. Ein solcher Verdacht liegt nahe und würde den Umweg des jungen Lambert erklären.

Dann erlosch die Kerze.

Leopoldus begann zu zittern. Er warf sich zu Boden und umklammerte den Strohsack. In Gedanken spürte er die Berührungen Sebastians. Schweiß lief über seinen Körper. Die Peitsche schien seine Erregung jedes Mal noch zu steigern. Da brachte auch die Ablenkung mit dem Brief nichts, den er für den Abt zu Metten verfasste. Gleichzeitig wuchs seine Angst vor dem Unbegreiflichen. Die Pest, so erinnerte er sich in seiner Angst, folgte den Rittern nach dem Fall Konstantinopels in die Heimat …

Ihr folgte der Hunger.

Falls die Ritter vom Böcklerbund und der neue Herzog zu keiner Einigung kamen, stand ihnen Krieg bevor … – Der Burghauptmann hatte am Morgen davon gesprochen.

Pest, Hunger, Krieg …

Lauteten nicht so die Namen der Reiter, die durch das Land zogen, um die Apokalypse anzukündigen? Die Offenbarungen des Evangelisten Johannes kündeten auf diese Weise das Jüngste Gericht an. So stand es in der Schrift! – Was dann kam, war Tod, der auf einem aschfahlen Pferde ritt und einen Siegeskranz auf dem Haupt trug …

Und mit ihm das Ende aller Zeiten!

Während Blitze den Raum erhellten, dachte Leopoldus an den todkranken Mann in der Kammer über ihm. Was mochte der Burgherr in tiefster Seele empfinden? Ein Ritter, der sich mit der Angst trug, seinen Sohn an die zukünftigen Feinde zu verlieren! Im Angesicht des bevorstehenden Todes.

O Herr, vergib uns unsere Sünden, bewahre uns vor dem Bösen, denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit …

Drittes Kapitel

Lambert

1

Der Junge verkroch sich unter die Decke.

"Heiliger Thomas, steh´ mir bei!", flehte er. – Und lenkte seinen Traum in jenes Land, von dem die Erzählungen des Ritters, der im Jahr zuvor auf der Burg zu Gast gewesen war, handelten. Der Junge sah Berge und Dünen aus rotem Sand, Palmen und ein Meer aus Salz, das die Menschen auf seiner Oberfläche trug. Handelten nicht die Kapitel aus der Bibel, über die Bruder Ferdinand ihn gelehrt hatte, an denselben Orten?

Der Junge träumte vom Exodus der Israeliten, von biblischen Plagen, vom Goldenen Kalb. – Er flüchtete bei jeder sich bietenden Gelegenheit in jene Welt, so auch in der Nacht des 21. Dezembers 1457 – die dem Heiligen Thomas galt und zu den Raunächten gehörte. Es gab zwölf Nächte dieser Art, wusste der Junge – und versuchte vor seiner Angst zu seinem Bibelwissen zu entfliehen: Genauso wie es zwölf Apostel gegeben hatte, Jakob hatte zwölf Söhne, welche die zwölf Stämme Israels begründeten, das Jahr bestand aus zwölf Monaten …

Die Zwölf, lehrte ihn Bruder Ferdinand, gehörte zu den Heiligen Zahlen. Jetzt, unter der Decke, konzentrierte er seine Gedanken mit aller Kraft darauf. Doch je stärker er sich zwang, nicht an die Wilde Jagd und die Seelenfänger, die in ihr umgingen, zu denken, desto unvermeidlicher blitzten in seinem Gedächtnis die Gedanken an den Apostel Thomas auf. Hatte nicht Thomas an der Auferstehung Christi gezweifelt? Und erst als er die Wundmale in den Handflächen des Gekreuzigten sah – da gingen ihm die Augen auf – so hieß es in der Heiligen Schrift …

Der Junge fürchtete, dass sein Glaube ihn nicht retten konnte. – Vor der Verdammnis, die er heraufbeschworen hatte, indem…

»Lambert! Lambert – wach auf! Etwas Schreckliches ist geschehen.«

Die Stimme seiner Cousine riss ihn aus seinem Fieberschlaf. Das Fauchen des Windes über dem Waldgebirge vereinte sich mit dem Heulen der Wölfe zu jenem geisterhaften Choral, den er zu verdrängen versucht hatte.

Er fröstelte. »Katharina …«

Er rieb sich die Augen. Sie trug ein Nachthemd mit weißen Spitzen an den Ärmeln. Darüber trug sie einen Umhang aus Fell, von dem Schneewasser tropfte.

Sie befand sich im gleichen Alter wie er. Die Pest hatte ihr die Eltern genommen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er sich in dem Glauben gewähnt, es gäbe nichts, was die Cousine zu erschüttern vermochte. Der Ausdruck in ihrem Gesicht belehrte ihn eines Besseren.

»Sie ist tot«, sagte Katharina mit erstickter Stimme.

Wer?, wollte er fragen. Das Wort blieb ihm im Halse stecken.

»Vom Turm gesprungen.«

Er rang um Atem. »Wer?«, brach es aus ihm heraus.

Katharina schüttelte den Kopf. Die Locken ihres kupferroten Haares wirbelten um ihre Schultern. In späteren Jahren, in Burghausen, hatte er sich den Duft ihres Haares in mancher Nacht vorgestellt. Er fantasierte, dass das liebreizende Mädchen die Verwandlung zur verführerischen Frau geschafft hatte. Die Vorstellung versetzte ihn dann jedes Mal in Erregung.

Katharina packte ihn an den Schultern. »O Lambert, es ist so schrecklich …«

»Was?«

Er stieß sie von sich. Er hatte ihr noch nie auch nur ein Haar gekrümmt. Er betete die Cousine an, weshalb die anderen Jungen ihn verspotteten. Lambert ignorierte die Streiche, die sie ihm aus diesem Grund spielten.

Lambert sprang auf. Er stürmte aus der Kammer. Katharina folgte ihm. Die Kemenate seiner Mutter befand sich nebenan. Die Tür stand offen … – Ein Umstand, der ihm erst Monate später auffiel. Jemand musste Agnes von Bärnstein in der Nacht ihres Todes einen Besuch abgestattet haben!

Die Kissen im Bett lagen unbenutzt. Seine Mutter legte sich für gewöhnlich erst gegen Morgen schlafen. Die Nächte brachte sie damit zu, mit Kräutern zu experimentieren, Essenzen zu konservieren und deren Wirkung auszuprobieren. Das Wissen des »alten Volkes«, wie seine Mutter die Menschen nannte, die früher an diesem Ort gelebt hatten, beschäftigte sie, solange er denken konnte. Deshalb erübrigte sie wenig Zeit für die Kinder …

Und so entging der Mutter, dass die anderen Jungen ihn tags zuvor zu einer Mutprobe provoziert hatten. Sie verhöhnten ihn als Feigling – ein Schimpfwort, das er unter keinen Umständen auf sich sitzen lassen konnte. Was, wenn der Vater von dieser Schmach erfuhr?

Lambert hatte sich in Zugzwang gesehen, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Er folgte ihnen auf den Pestacker, wo die sterblichen Überreste der Toten ruhten, die die Krankheit dahin gerafft hatte. Die alten Weiber unkten, es läge ein Fluch über dem Ort. Die Geister all derer, die keinen Frieden fanden – weil sie vor ihrer Zeit gestorben waren – gingen dort in den Raunächten um.

Einer der Jungen streckte seine Zunge heraus, schnitt Grimassen. Ein anderer entblößte sein Hinterteil.

Dann hatte Lambert die gotteslästerlichen Worte gesagt: