Die Hexe von Dentervals - Hubert Giger - E-Book

Die Hexe von Dentervals E-Book

Hubert Giger

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Beschreibung

Die bündnerische Surselva im Jahr 1674: Not und Angst herrschen im Tal. Die Menschen fürchten sich vor Teufelswerk und Hexerei. Auf dem Friedhof des Klosterdorfs Disentis wird ein Kindergrab geschändet, das Kriminalgericht sucht nach dem Täter. Behauptungen, Gerüchte und Verdächtigungen machen die Runde. Eine alte Frau gerät ins Visier der Justiz. Es kommt zum Hexenprozess. Der Scharfrichter wird gerufen … Der surselvische Historiker Hubert Giger – Experte für Hexenprozesse in Graubünden – hat in Archiven und Protokollen sorgfältig für seinen ersten Roman recherchiert: ein authentisches Werk voller Spannung. Die deutsche Erstübersetzung von Jano Felice Pajarola aus dem Rätoromanischen erscheint im Rahmen der ch-reihe.

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Hubert GigerDie Hexe von Dentervals

verlag die brotsuppe

Hubert Giger

Die Hexevon Dentervals

Historischer Roman

übersetzt von Jano Felice Pajarola

verlag die brotsuppe

Originaltitel: La stria da Dentervals© Chasa Editura Rumantscha, 2011, Churwww.chasaeditura.ch

Dieses Buch erscheint mit Unterstützung der ch Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit, Organisation aller 26 Kantone. Die Übersetzung wurde von Pro Helvetia subventioniert.

Wir danken Gabriela Holderegger Pajarola für ihre Hilfe bei der Übersetzung.

www.diebrotsuppe.ch

ISBN: 978-3-905689-81-5

Alle Rechte vorbehalten© 2014, verlag die brotsuppe, Biel/BienneUmschlag, Bild, Gestaltung, Satz: Ursi Anna Aeschbacher, BielHerstellung: www.cpibooks.de

Inhalt

Personen und ihre Funktionen 1673 bis 1675

I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

II

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

III

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

IV

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Nachwort des Übersetzers

Der Autor

Personen und ihre Funktionen1673 bis 1675

Clau Maissen

Ehemaliger Landammann der Cadi, ehemaliger Landrichter des Grauen Bundes, ehemaliger Landeshauptmann im Veltlin

Mattias Sgier

Clau Maissens Freund, Domdekan und Abgesandter des Bischofs von Chur

OBRIGKEIT

Gion Fontana Landammann 1673

Ludivic de Latour Landammann 1674

Caspar de Latour Ludivics Sohn, Landschreiber 1673,

Landammann 1675

Adalbert II. de Medell

Abt des Benediktinerklosters Disentis

Adalbert de Funs Prior des Klosters

Carli de Curtins Benediktinerpater

Benedetg Fontana Weibel

Gion Durgiai Säckelmeister 1673

Gieri Tschuppina Säckelmeister 1674 und 1675

Rumetg de Castelberg Statthalter

Francestg de Cajacum Kirchenvogt

Gion Berther Landschreiber 1674 und 1675

Teias de Castelberg Vorsteher der Knabenschaft

Barclamiu de Balliel Bannerherr

DENTERVALS

Onna Pintga

Anna Maissen Onnas Enkelin

Rest de Caprau

Stina de Caprau Rests Frau

Barla, Carla, Clau, Giachen, Gion, Gion-Luregn,

Stiafen Rests und Stinas Kinder

Camiu Culeischen

Casep dil Geli Rempli

Barla dil Geli Rempli Caseps Schwester

Vintschegn de Ventschidas

Tresa Mariturtè Vintschegns Frau

Celestina, Gada, Martin Antoni, Mattiu

Vintschegns und Tresas Kinder

Celestina dil gerau Mattiu

Tresas Schwester, Onnas Freundin

Gelgia dil gerau Mattiu Tresas Schwester

Fidel dil Glieci Tieni Onnas Nachbar

Mengia Glieci Tieni Fidels Frau

Barla-Maria Fidels und Mengias Tochter

Mariantonia dalla Castgina

Giachen Pipa

SUMPALAS

Martin de Mulin Onnas Neffe

Urschla Martins Frau

Carli, Curdin, Glienard, Luis, Maria, Nesa, Paula

Martins und Urschlas Kinder

Pieder Antoni Sep Mareia Onnas Neffe

Bricla Bistgaun Onnas Schwägerin

Luregn dil Balzer Bistgaun

Cristgina Balzer Bistgaun

Burga Baltasar

Gada Gudegn

DISENTIS

Gion Paul Jagmet

Flurin Gion Pauls Sohn, Annas Freund (»Flutget«)

Giuli dil Giachen de Ragisch

Giulia dil Giusep Durgiai Giulis Freundin

Culastia de Capaul

Mariulscha Giachen de Sax »la zoppa«

Anton digl Antimus Messmer

WEITERE

Clau Caplazi aus Dadens Prada

Maria Zipert aus Schlans

In einer Vollmondnachtsei er gekommender schwarze Mann zu Pferd

die Eisen schrillten und schlugen Funken

auf dem Pflaster vor dem Rathaus

auf einen Pfiff hin

schlich die Katze in den Keller

und öffnete die Tür

und der schwarze Mann

befreite die Hexe

und dann sei er mit ihr verschwunden zu Pferd

Nebel im Tal. Wie eine graue Brühe haben sich Schwaden über Felsen und Hügel gelegt, sich in den Wald gedrängt, Fichten, Lärchen, Birken und Erlen umschlungen. Oben in den Bergen hat es leicht geschneit. Es nieselt. Äste glitzern. Tannenzweige tropfen. Der Boden weicht auf. Wasser sammelt sich in Pfützen und Lachen.

Es ist kalt, trüb und nass.

Hirsche äsen am Waldrand, das Fell zerzaust. Etwas unterhalb des Waldes, auf einer Ebene, ein Dorf. Häuser, Ställe, eine Kirche, ein Friedhof, ein Beinhaus. Die Turmuhr schlägt, die Abendglocke läutet. Ihr Klang spaltet den Nebel.

Eine Elster lässt sich auf der Mauer der Kirche nieder. Schlägt mit den Flügeln.

Hinter der Ecke der Kirchenmauer taucht eine Kapuze auf. Verschwindet. Taucht wieder auf. Eine Gestalt mit schwarzer Kopfbedeckung, schwarzem Mantel, Stiefeln. Einen Sack auf dem Rücken. Das Schreckgespenst, der Baubuzi, nähert sich dem Friedhof. Ganz langsam. Schaut sich um, einmal, zweimal.

Vor einem Grab bückt er sich. Legt seinen Sack auf den Boden. Öffnet ihn und holt eine Hacke heraus. Beginnt zu graben, eilig. Schaut sich um. Holt Knochen aus dem Loch. Stück für Stück. Säubert sie. Steckt die Knochen in den Sack. Gräbt weiter. Steckt wieder Knochen in den Sack. Wischt die Erde von der Hacke. Packt die Hacke in den Sack.

Die Elster kräht.

Die Hirsche heben ihre Köpfe. Verschwinden mit grossen Sprüngen im Wald.

Aus der Dunkelheit bricht – wie der Knall einer Kanone – der Donner hervor, und kurz darauf erhellt wieder ein Blitz die Landschaft. Das Licht blendet. Die Gestalt im schwarzen Mantel erhebt sich zitternd: Öffnet sich die Kirchentür? Steht da ein Kind in Weiss?

Der Baubuzi erstarrt, einen Augenblick nur. Dann packt er eilig seinen Sack und rennt wie von Sinnen davon.

Die Elster schlägt mit den Flügeln.

***

Sie reibt sich die Hände, haucht in die Fäuste. Die Bise dringt ihr unter den Rock, die Kälte beisst in ihre Waden, Schenkel und Hüften. Sie fegt jetzt schneller. Hin und her vor dem Haus, dann nochmal die Treppe von zuoberst bis zuunterst. Eine Stufe nach der anderen. Hin und her. Fegt, als wolle sie den Nebel verscheuchen, der überall klebt.

Was will diese schwarze Katze mitten auf der Gasse? Bleibt stehen, macht den Buckel und bleckt die Zähne?

Sie hört auf zu fegen und nähert sich dem Tier. Ganz langsam, den Besen in der Hand. Die Leute im Dorf nennen sie »la zoppa«, die Hinkende. Weil sie ein bisschen humpelt. Als junges Mädchen ist sie mit einem Bein zwischen Baumstämme geraten, als sie ihrem Vater helfen wollte. Zuerst fürchteten die Eltern, sie werde das Bein verlieren, müsse es amputieren lassen und herumlaufen wie Luregn dil Balzer Bistgaun, der mit nur einem Bein aus Frankreich zurückgekehrt war. Der am Stock ging, ein Holzbein hatte und gern mal die Geissen prügelte. Weil die zu nichts nütze seien und kaum mehr Milch gäben. Nur ab und zu, wenn er mit dem Stock ausholte, stürzte er, und dann hatte er Mühe, wieder auf die Beine zu kommen.

Sie hörte gern zu, wenn Luregn vom Krieg erzählte. Davon, wie er die Feinde kurz und klein geschlagen, ihnen mit der Hellebarde eins über den Kopf gezogen, dem Spanier das Schwert zwischen die Rippen gestossen oder ihm, wenn es nötig gewesen war, seine Fäuste in die Fratze gehauen hatte. Zum Teufel, damals war er ein Berg von einem Mann gewesen, mit Bärenkräften, und zäh wie die Gämsen am Péz Tgietschen.

Sie musste das Bein nicht amputieren lassen. Aber seit dem Unglück schmerzt es. Am schlimmsten ist es, wenn das Wetter wechselt. Dann fühlt es sich an, als wäre es eingeschlafen.

Die Hinkende packt ihren Besen jetzt fester – für den Fall, dass die Katze die Frechheit besässe, sie zu attackieren. Man kann nie wissen. Wäre nicht das erste Mal, dass eines dieser wilden Viecher sie anspringt und zerkratzt. Wie damals in der Frühe, es tagte gerade, als sie in den Schweinestall ging, um die Muttersau mit Blakten zu füttern. Als sie die Tür öffnete, sprang ihr eine Katze auf die Schulter. Fauchte entsetzlich, zerkratzte ihr die Wange und verschwand.

Aber diese Katze hier schenkt ihr gar keine Beachtung. Sie muss etwas ganz anderes entdeckt haben. Sie steht noch immer da wie verhext, bucklig, das Fell gesträubt.

Und jetzt sieht es auch die Hinkende. Ein Baubuzi kommt die Gasse hoch. Ganz in Schwarz!

Sie erschrickt zu Tode. Lässt den Besen fallen. Will fliehen. Will schreien. Wie damals, als ihr Bein zwischen die Stämme geriet. Aber ihre Kehle ist staubtrocken, sie bringt nicht viel mehr als ein Röcheln heraus. Die Hinkende steht da wie vom Blitz getroffen. Angewurzelt. Erstarrt im Nebel.

Die Katze ist in den Schweinestall verschwunden.

Wo ist der schwarze Mann?

Sie weiss nicht, wie sie ins Haus gekommen ist. Sie weiss nur, dass sie sich aufs Stroh gelegt hat, neben der Herdstelle. Eingeschlafen ist. Schrecklich geträumt hat.

Seither sagen die Leute, »la zoppa« rede wirres Zeug. Erzähle ständig etwas von einer Katze und einem Baubuzi. Der durch die Gassen gelaufen sei, auf dem Kopf eine Kapuze. In den Schweinestall sei er verschwunden, und herausgesprungen sei eine schwarze Katze.

***

Zwei Armvoll Heu hat Gion Paul Jagmet eben in die Futterkrippe gelegt. Zwei Armvoll – wenig ist das, aber der Sommer war trocken. Furztrocken, sagt er. Fast den ganzen Sommer über kaum ein Tropfen Regen. Das Gras aufrecht verdorrt. Verbrannte Wiesen. Braunrot. Ein paar Magerwiesen konnte er noch mähen, zum Glück, und eine kleine Bürde Wildheu einholen. Genug war das nicht – aber besser als nichts. Der Herbst war weniger schlimm, ja, ein bisschen Emd gab der zweite Schnitt her. Und damit seine Tiere nicht Hunger leiden mussten, holte er zuletzt noch ein paar Tücher voll vom dritten Schnitt ein. Zusammengekratzt auf schlechten, steinigen Wiesen. Trotzdem – es fehlt an Heu wie noch nie, er muss sparen, jeden Armvoll abzählen. Nicht ohne Folgen: Sein Vieh ist brandmager.

Und heute wieder dasselbe wie in den vergangenen Tagen. Seine Rinder, zwei Kühe und zwei Jungtiere, haben nicht die geringste Lust, ihr Futter zu fressen. Die eine kaut auf dem Heu herum, als überlege sie, alles wieder auszuspucken; eine andere legt sich hin und schläft. Und die Alte, die starrt ihn an, als hätte er Hörner auf dem Kopf. Langt das Futter kaum an. Sie, die sonst so gut wie alles frisst, was in die Krippe kommt. Irgendwie verständlich, dass sie den Kopf abwendet, denn das, was er ihr vorgesetzt hat, verfüttert er sonst nicht mal an die Schafe. Dabei sind die längst nicht so wählerisch wie die Kühe und Geissen.

Basta. Er hat alles versucht, sie gestriegelt, gestreichelt, ihnen gut zugeredet, immer wieder. Hat viel Zeit im Stall verbracht. Nichts zu machen. Sie wollen einfach nicht. Schauen ihn gequält an, brüllen manchmal, ein langgezogenes Muhen, das durch Mark und Bein geht.

Gion Paul wirft einen letzten Blick in den Stall, setzt den Hut auf, nimmt Laterne und Stock und macht sich auf den Weg nach Hause. Ein Wetter zum Davonlaufen. Der Nebel so dick, dass man kaum die eigene Hand vor den Augen sieht. Kalt und widerlich! Ein heftiger, beissender Wind kommt auf. Irgendwo ruft ein Waldkäuzchen. Gion Paul ist müde wie ein Hund. Das Schlimmste ist, dass seine Hüfte wieder schmerzt. Die Milchtause drückt so schwer wie nie zuvor auf den Rücken, dabei ist sie nur halb voll. Der Weg scheint ihm doppelt so lang wie sonst. Der Boden ist durchnässt, rutschig. Er rammt seinen Stock in den Pfad, der nach Disentis führt.

Kurz vor dem Dorf – er kann im Nebel undeutlich die ersten Häuser erkennen – macht er eine Pause, zündet mit einem Span seine Pfeife an, stützt sich auf den Stecken. In einem Haus sieht er das Licht einer Kerze, jenes Licht, das er nach Feierabend geniesst, nach langen, strengen Arbeitstagen. Er zieht an der Pfeife, spürt, wie der Rauch in seinen Mund strömt.

In einer Gasse bleibt er stehen, er meint Schritte gehört zu haben. Er schiebt den Hut aus der Stirn, hebt die Laterne höher, lauscht einen Moment, dann geht er weiter. Er biegt um eine Hausecke – und in diesem Augenblick stösst er beinahe mit einer anderen Gestalt zusammen, einer Gestalt mit schwarzem Mantel und Kapuze auf dem Kopf. Das ist das Letzte, was er noch sieht, bevor seine Laterne zu Boden fällt. Der unerwartete Zusammenstoss lässt den anderen straucheln, stürzen. Gion Paul hört ihn keuchen und stöhnen, er meint eine Männerstimme auszumachen, ein Wort wie »miseria«, Unglück …

Bevor er reagieren kann, ist der schwarze Mann aufgestanden und verschwunden.

Der Bauer zittert. Wer war das bloss? Er hat in seinem Leben vieles gesehen. Hat sich auch schon mehr als einmal gefürchtet. Als Kind musste er abends, mochte es auch noch so dunkel sein, mit dem Vater das Vieh füttern gehen; musste, während im Moor die Frösche quakten, die Kühe zum Brunnen treiben; musste mit seinem Vater durch finstere Wälder laufen, wo sich in Vollmondnächten die Tannen in Baubuzis verwandelten. Musste auf dem Maiensäss übernachten, im Frühling, oder wenn es nachts donnerte und blitzte. Oder wenn die Hirsche röhrten, die Wölfe heulten, die Füchse bellten, die Häher schrien.

Und wenn er erst an all die Geschichten denkt, die sein Vater und sein Grossvater erzählt haben! Von Nachtgespenstern, teuflischen Geistern, wie sie sagten, von verschwundenen Männern und Kindern, von Männern, die aus unerklärlichen Gründen starben. Von Männern, die vom Alb geplagt wurden und wirres Zeug redeten, nachdem sie Frühling und Herbst auf dem Maiensäss verbracht hatten. Einer sei über die Felsen hinabgestürzt, weil er glaubte, er werde verfolgt, auch an diese Geschichte erinnert er sich. Und von einem anderen wurde erzählt, er habe einen Freund mit dem Beil erschlagen, weil er dachte, der Teufel stehe vor ihm. Sein Grossvater wusste von Geistern zu berichten, die sich nachts unter der Birke bei der Kapelle Sontga Gada versammelten, verlorene Seelen, die keine Ruhe fanden. Und er erzählte von den Geistern aus der Burg Pultengia, die in der Nacht tanzen kamen und alle erwürgten, die ihnen um diese Zeit noch über den Weg liefen.

Die Predigten der Pfarrer und Klosterpatres kommen ihm in den Sinn. Die Gläubigen sollten aufpassen, sich nicht verführen lassen, sie sollten beten, um die Dämonen zu bannen. Die Nacht sei gefährlich und den Menschen nicht wohlgesinnt. Eine Buhle des Teufels sei sie, sagen die Kapuziner. In der Dunkelheit würden sich all jene herumtreiben, die das Tageslicht meiden müssten. Die anderen Schaden zufügten. Die anderen übelwollten. Die die Seele verführten.

Gion Paul ist beunruhigt. Mag er auch nicht an Geister glauben: Die Begegnung gibt ihm zu denken. Ein Mann mit Kapuze, was bedeutet das? Wer läuft mit einer Kapuze herum? Wer den Kopf unter einer Kapuze versteckt, hat etwas zu verbergen. Das ist klar. Muss ein Gauner sein, ein Missetäter.

Ausser, er wäre vielleicht ein Pilger? Die Männer, die mitunter über den Lukmanierpass kommen, um das Kloster Disentis zu besuchen, tragen auch Kapuzen. Aber die fliehen nicht vor den Leuten!

Er sucht nach Pfeife und Laterne. Als er sich bückt, um seine Lampe vom Boden aufzuheben, entdeckt er einen Sack. Warum in aller Welt hatte es der andere so eilig, und warum nur hat er sein Bündel zurückgelassen?

Er betrachtet den Sack, öffnet ihn und schaut hinein, schaut, schaut nochmals. Es sind Knochen darin! Knochen eines kleinen Tieres, eines Lamms, eines Zickleins, oder ist es vielleicht Wild? Woher kommen diese Knochen, und weshalb sind sie in diesem Sack?

Was soll er tun? Den Sack mitnehmen? Oder ihn hier liegen lassen und einfach seiner Wege gehen? Jemanden aus der Nachbarschaft rufen? Der Mann mit der Kapuze ist verschwunden. Am besten ist es wohl, den Sack dort zu lassen, wo er ist, und nach Hause zu gehen. Wenn es sein muss, kann er den Vorfall später immer noch der Obrigkeit melden. Er steckt die Pfeife, die er ebenfalls gefunden hat, in die Innentasche seines Kittels und geht langsam heimwärts.

Aus der Ferne hört er eine Elster krähen.

Er friert.

***

Ein Mann mit einem weissen Pferd kommt aus dem Wald von Vergera. In der einen Hand hält er die Zügel, in der anderen einen mit Adlerfedern geschmückten Hut. Er trägt einen schwarzen, staubigen Mantel, braune Hosen, Stiefel. Schwarze, verschwitzte Haare, schulterlang, einen Schnauz, einen Ring am kleinen Finger der rechten Hand.

Er legt einen Halt ein, sattelt das Pferd ab und setzt sich auf einen Stein. Der Frühling naht. Das Tauwetter hat bereits etwas Schnee zum Verschwinden gebracht. Da und dort brechen die ersten Blumen aus der Erde hervor – Krokusse.

Clau Maissen, einstiger Landrichter des Grauen Bundes, holt eine Trinkflasche aus seinem ziegenledernen Rucksack. Die Reise über den Lukmanierpass hat ihn durstig gemacht. Dummerweise hat sein Pferd kurz vor der Passhöhe ein Hufeisen verloren. Und ihm selbst tun vom ganzen Getrotte die Beine weh. Ein Fuss muss wundgelaufen sein, er spürt einen brennenden Schmerz.

Trotzdem geniesst er den grossartigen Ausblick. Zu seinen Füssen liegt der Weiler Mompé Medel, auf der anderen Seite des Tals Mompé Tujetsch, in der Talebene sieht man die Häuser von Disentis mit seinen Dorfschaften. Pompös prangt das Kloster am Rand des Dorfs unter dem Wald. Von Weitem erkennt er, auf der linken Seite des Rheins, Clavadi und Sogn Benedetg. Sumvitg, seinen Geburtsort, und die Weiler Caprau und Cavardiras kann er von hier aus nicht sehen.

Er langt in seine Manteltasche. Ja, der Brief ist noch da. Ein Brief, der an Zank und Streitereien erinnert, wie er sie in der Cadi immer wieder hatte, Streitereien auch mit Abt Adalbert II. de Medell.

Jahre dauert das jetzt schon an – wie ein Geschwür, das von Zeit zu Zeit aufbricht und Eiter herausfliessen lässt. Der einstige Landrichter schüttelt den Kopf, holt tief Luft, schnaubt. Ist er wirklich so verdrossen und verbittert geworden? Vielleicht, weil die Streitereien in den letzten Jahren an Heftigkeit zugenommen haben? Es schlägt ihm jedenfalls immer mehr auf den Magen. Früher hat er diesen Auseinandersetzungen kaum Beachtung geschenkt, sie ignoriert oder für seine Interessen gekämpft, ohne nach rechts und links zu schauen. Aber er ist älter geworden, und am liebsten würde er all die Konflikte vergessen, nicht nur jene mit dem Abt, auch jene mit den Edelleuten der Cadi, den de Medell und de Castelberg.

Clau Maissen erinnert sich an die ersten Händel mit Conradin de Castelberg, Verwandter des regierenden Abts und eine der bekanntesten, mächtigsten Persönlichkeiten im Grauen Bund. Siebenmal war Conradin de Castelberg Landrichter gewesen, so oft wie kein zweiter. Und noch anderes mehr. Als Landammann geriet Clau mit Conradin, der damals Landrichter war, in Streit. De Castelberg und die Franzosenfreunde forderten eine Allianz der Katholiken im Gebiet der Drei Bünde mit Frankreich. Maissen aber und der Dekan des Bistums Chur, Mattias Sgier, konnten die katholischen Gerichtsgemeinden davon überzeugen, Spanien treu zu bleiben.

Er muss zugeben: Das Trinkgeld, das in Form von Dukaten aus Madrid kommt, ist keine Kleinigkeit!

Allerdings handelte er sich dafür gewaltige Auseinandersetzungen mit Conradin de Castelberg ein, oder auch mit dem anderen Conradin, Conradin de Medell. Die Abneigung ist bis zum heutigen Tag geblieben. Clau Maissen vermutet, dass seine Feinde früher oder später auf Rache sinnen. Trotzdem befriedigt es ihn, dass er seinen Gegnern so manches Mal ein Bein stellen konnte. Er speit den Priem, den er im Mund hat, ins Gebüsch.

Wieder spürt er die Kopfschmerzen, die ihn schon plagen, seit er von Sondrio aus in Richtung Cadi aufgebrochen ist. Ausserdem tut ihm der Rücken weh. Trotzdem: Er muss einmal mehr lächeln, wenn er an seine Gegner denkt. Was auch sie – wenigstens ein bisschen – schmerzen muss: Er hat sich ebenfalls hochgearbeitet und Karriere gemacht. Siebenmal Landammann der Cadi und dreimal Landrichter, bis jetzt.

Und schliesslich: Nur Taugenichtse waren seine Vorfahren aus Sumvitg nicht, konnten sie sich auch nicht mit Namen wie von Planta, von Salis oder de Mont schmücken. Die Söhne dieser Familien machen – wie sein Freund Mattias Sgier es auszudrücken pflegt – schon in der Wiege die ersten Schritte hin zu hohen Staatsämtern und zu wichtigen Pforten in der Kirche.

Immerhin – sein Vater war Statthalter von Sumvitg und Säckelmeister der Gerichtsgemeinde gewesen, hatte also auch zu den Würdenträgern der Cadi gehört. Seine Mutter war zur ersten Priorin der Rosenkranz-Bruderschaft von Sumvitg gewählt worden. Und auch seine Frau ist Schwester dieser Vereinigung.

Aber was hat es mit diesem Brief auf sich? Wer weiss, ob nicht Abt und Landammann wieder einen Grund gefunden haben, etwas gegen ihn zu unternehmen?Vielleicht, weil er – anders, als die katholische Partei es gewollt hätte – die Protestanten im Grauen Bund nicht mit aller Vehemenz bekämpft hatte, als er Landrichter war? Hätte er damit drohen müssen, alle Protestanten mit Haut und Haaren zur Hölle zu schicken? Weil sie darauf bestanden hatten, sämtliche Kapuziner müssten aus Tomils verschwinden? Diese reformierte Gemeinde brauche keine katholischen Missionare! Doch die Protestanten hatten noch mehr gefordert: Die Kapuziner müssten auch Bivio, Vaz und Sevgein verlassen. Er hielt es für eine unglaubliche Frechheit, so etwas zu verlangen. Und wehrte sich dagegen nach bestem Wissen und Können.

Es war eine verzwickte Sache. Die Katholiken konnten es sich nicht erlauben, die Protestanten zu provozieren. Denn die waren bestens mit Waffen ausgestattet und gerüstet für eine mögliche Auseinandersetzung. Den meisten war nicht bewusst, wie ernst und kritisch die Lage war. Was hatte Nuntius Edoardo Cibo auch die Kapuziner nach Tomils schicken müssen! Das war unklug gewesen. Als blase man in eine Glut, die noch glüht. Ohne sich zuvor mit Bischof und Corpus Catholicum abzusprechen! Aber weder der Nuntius noch Rom oder Spanien wollten auf ihn, Clau Maissen, hören. Er warnte, es werde zu einem Konflikt kommen. Kein Wunder, dass die Protestanten behaupteten, die Kapuziner würden im Auftrag der Spanier agieren! Auch wenn das nur ein Vorwand war, um mit den Säbeln rasseln zu können. Er wusste nie, was seine Landsleute wirklich wollten. Keiner sagte es klar und deutlich. Hätte er entschiedener handeln, mit der Faust auf den Tisch hauen sollen, dass das Geschirr schepperte? Krieg androhen, ohne an die möglichen Konsequenzen zu denken? Oder tatsächlich Krieg führen, mehrere bewaffnete Kompanien zusammentrommeln und gegen die Protestanten marschieren? Aber mit welchen Mannschaften? Mit den Knabenschaften?

Natürlich gibt es dort Burschen mit Armen so stark und Schultern so breit wie die eines Alpsenns. Aber wissen diese Halbwüchsigen, was es heisst, einen Menschen zu töten? Zum Gewehr zu greifen und in die Schlacht zu ziehen, Mann gegen Mann, dem Feind in die Augen zu blicken und auf ihn zu schiessen? Ihm einen Dolch in den Leib zu stossen? Das Schwert zu schwingen und einen Schädel zu spalten?

Nun gut, wenn sie überhaupt genügend Waffen hätten, um in den Krieg zu ziehen … Wenn sie auf einen Krieg vorbereitet wären … Zugegeben, Mut hätten die Knabenschaften aus der Cadi, dem Lugnez und der Foppa auf jeden Fall. Aber mit Mut allein gewinnt man keinen Krieg.

Er steckt den Brief wieder zurück in die Manteltasche. Den Brief, den die Obrigkeit der Cadi ihm geschrieben und bis ins Veltlin hat bringen lassen, bestens informiert über seinen Aufenthaltsort. Verfasst hat ihn Landammann Gion Fontana, unterzeichnet haben neben Abt Adalbert II. de Medell noch drei weitere Personen. Der Landammann hat einen harschen Ton gewählt. Es ist ein Befehl, unverzüglich nach Disentis zu kommen und die Sache in die Hand zu nehmen. Ohne zu verraten, um welche Sache es überhaupt geht. Was hat ihn bloss so sehr erregt?

Er nimmt den Brief aus dem Mantel und liest ihn erneut, obwohl er den Inhalt schon kennt. Er solle nach Disentis ins Rathaus kommen, und zwar sofort. Etwas Unerhörtes sei geschehen, und er als einstiger Landrichter des Grauen Bundes müsse der Obrigkeit der Cadi dabei helfen, dieses Verbrechen zu untersuchen.

Dieses Verbrechen zu untersuchen! Das tönt nach einem Gerichtsfall. Dann wäre es eigentlich eine Sache für den Landammann. Der ist Vorsteher des Kriminalgerichts und entscheidet, ob sich die Obrigkeit einer Sache annehmen muss.

***

Clau Maissen führt sein Pferd auf dem Pfad talwärts in Richtung Mompé Medel. Die Bauern haben bereits damit begonnen, die schneefreien Stellen mit Mist zu düngen. Im Schatten eines Stalls verharrt er einen Augenblick und schaut einem Mann und einem Jungen bei der Arbeit zu. Vater und Sohn, vermutet Clau. Der Junge, vielleicht 13, 14 Jahre alt, führt zwei Rinder, die einen Mistkarren ziehen. Der Vater folgt ihnen, und ab und zu zügelt der Junge die Tiere. Dann lädt der Mann aus dem Trog Mist auf die Gabel, lässt einen Haufen nach dem anderen auf dem Feld zurück. Ist der Karren leer, bringt ihn der Junge hinab ins Dorf und füllt den Trog aufs Neue. In der Zwischenzeit zerkleinert der Vater den Mist mit seiner Gabel und verteilt ihn besser. Clau erinnert sich daran, wie sein Grossvater den Mist in der Krätze auf dem ganzen Feld herumtrug. Bis hinauf an die Halden. Eine beschwerliche Arbeit. Abends tat der Rücken weh, und mit der Zeit wurde der Rücken des Grossvaters krumm.

Er setzt seine Reise fort. In Mompé Medel grüsst er einige Leute und wechselt mit dem einen oder anderen ein paar Worte. Er ist beim Volk gern gesehen. Weil er alle grüsst und mit allen redet. Weil er die Bauern und Hirten immer wieder lobt.

Seine Gegner allerdings werfen ihm vor, er sei durchtrieben wie ein Fuchs. Mal lege er Köder aus, mal stelle er eine Falle. Und er sei wie eine Spinne im Netz. Er warte geduldig, bis sich die Beute greifen lasse. Der Sumvitger schone niemanden, wenn es darum gehe, vorwärts zu kommen. Das hat ihm einst ein Mann, den Hut vor ihm ziehend, ins Gesicht gesagt.

Er schlägt mit dem Pferd zuunterst im Dorf den Weg ein, der zum Rhein hinab führt. Rechts und links Gebüsch. Er kommt jetzt langsamer voran. Der Pfad ist schmal, stellenweise steil und rutschig. Von Weitem hört er das Tosen des Wassers. Nach einer guten halben Stunde erreicht er einen breiteren Weg. Hier haben die Bauern begonnen, Büsche zu schneiden und Steine zu entfernen, damit sie mit ihren Fuhren leichter nach Disentis gelangen, um auf dem Markt Brot, Milch, Käse und andere Waren zu verkaufen. Bis im Herbst soll die Strasse fertig sein. Es geht schnell voran, weil die Bauern Gemeinwerk leisten. Seiner Frau hat er einmal gesagt, diese Art von Arbeit halte das Dorf zusammen. Jeder helfe mit und helfe sich damit auch selbst, und zu guter Letzt würden alle davon profitieren. Die Vermögenderen und auch jene, die wenig oder nichts hätten. Gemeinwerk sei wie ein Gebet. Einer für alle und alle für einen.

Bevor er die Brücke am Rhein überquert, bleibt er stehen. Da ist jemand, etwas weiter flussabwärts am Ufer. Eine junge Frau, sie trägt ein blaues Kleid und eine schwarze Bluse. Sie winkt jemandem, und als er der Richtung ihres Winkens folgt, entdeckt er einen Burschen, der auf der anderen Seite den Hang nach Sontga Gada hinaufsteigt. Nachdem der Bursche oben hinter der Anhöhe verschwunden ist, kommt sie zurück zur Brücke. Dort bemerkt sie den Mann und das Pferd. Sie erschrickt und weicht zurück, als wolle sie fliehen. Clau gibt ihr mit einem Fingerzeig zu verstehen, sie solle zu ihm kommen, und nähert sich der jungen Frau sehr vorsichtig.

»Du musst keine Angst haben. Ich fresse dich nicht. Wer bist du?«

Sie antwortet nicht.

»Komm her, ich tue dir nichts. Ich habe keine Hörner. Ich bin nur der Clau Maissen.«

Sie rührt sich nicht. Er betrachtet sie.

»Du benimmst dich ziemlich scheu. Wie heisst du?«

»Ich bin die Anna Maissen.«

»Sieh an, Maissen, wie ich. Woher kommst du?«

»Ich lebe in Dentervals.«

»Und er?«

Sie errötet.

»Ach was. Ist ja nicht weiter schlimm. Seinetwegen …«

Der einstige Landrichter streicht sich über den Schnurrbart, dann zeigt er zur Anhöhe hinauf.

»… seinetwegen brauchst du keine Angst zu haben. Ich sage niemandem etwas. Wie heisst er?«

Anna antwortet nicht.

»Ist er dein Schatz?«

Sie blickt zur Seite.

»Nun denn. Was habt ihr hier gemacht?«

»Wir haben Kräuter gesucht, für Tee.«

Er lächelt.

»Kräuter für Tee? Krauseminze etwa? Habt ihr tatsächlich etwas gefunden, so früh im Jahr? Soso, und wieviel?«

Sie blickt zu Boden.

»Wie es scheint, habt ihr zwei eher wenig gefunden.«

Sie hebt den Kopf und schaut ihr Gegenüber böse an. Clau streicht sich wieder über den Schnauz und hüstelt.

»Das ist schon in Ordnung. Und jetzt? Wo gehst du hin?«

»Wieder nach Hause.«

»Soso. Wissen Vater und Mutter, dass du hier bist?«

Sie antwortet nicht.

»Sie machen sich vielleicht Sorgen …«

»Meine Eltern leben nicht mehr.«

Er holt ein Stück Brot aus seinem Sack.

Seltsam. Weshalb bleibt dieses Reh dort unter der Tanne wie vom Donner gerührt stehen? Es schaut sie beide an, als habe es noch nie zuvor zwei Menschen gesehen. Oder hört es nicht auf zu starren, weil es das Pferd entdeckt hat?

Anna ist das Reh nicht aufgefallen. Sie kommt näher und betrachtet das Pferd.

»Schau, hier, wenn du willst, kannst du ihm dieses Brot geben.«

Sie nimmt das Brot, zerkleinert es und legt ein Stück nach dem anderen auf die Handfläche. Das Pferd frisst gierig.

»Du darfst es auch streicheln, wenn du willst.«

Sie streicht dem Tier über den Hals.

»Bei wem lebst du jetzt?«

»Ich lebe bei meiner Tatta. Sie hat mich nach dem Tod von Vater und Mutter bei sich aufgenommen.«

»Was ist mit ihnen geschehen?«

»Sie sind in einer Lawine umgekommen.«

»Soso, das ist eine traurige Geschichte.«

Er nimmt die Zügel in die Hand.

»Jetzt muss ich aber weiter. Also dann, machs gut, Anna, und grüss deine Grossmutter. Und nun geh nach Hause!«

Er setzt seinen Hut auf und schnalzt mit der Zunge.

»Ho, ho …«

***

anno domini 1674, mensis aprilis XX.

mein überaus geschätzter, hochgeachteter bischof

lieber mitbruder

wie versprochen schreibe ich dir

du willst ja, dass ich dir stets das allerneuste berichte

aber im moment habe ich wenig zu erzählen

ich bin hier in Rueras bei meinem bruder

es ist immer wieder schön, mein heimattal zu besuchen

bloss nimmt es mich wunder, weshalb der abt möchte,

dass ein vertreter des bistums Chur hier heraufkommt

auf jeden fall ist es eine sache von bedeutung,

sonst wäre pater prior Adalbert de Funs

nicht höchstselbst nach Chur gegangen

ich weiss nur,

dass es sich um einen vorfall handelt,

der mit unserer heiligen katholischen kirche zu tun hat,

und deshalb hast du gemeint, ich sei die richtige person

für diese aufgabe

ich bin ein gehorsamer diener der katholischen kirche

aber erlaube mir die frage: haben wir nicht andere probleme?

handelt es sich um eine so bedeutende angelegenheit, dass du just den dekan entsendest?

ich glaube, wir hätten uns um andere dinge zu kümmern

zum beispiel um die wirren mit den kapuzinern

umso mehr, als die katholiken verzweifeln

und die protestanten beharrlich bleiben

keiner hört auf den anderen

dickschädel, wirrköpfe

es fehlt nicht viel, und wir schlittern in einen krieg zwischen katholiken und protestanten in den Drei Bünden Gott bewahre uns

dann segne also mich und meine taten ich gebe bescheid, sobald ich mehr weiss

ex montibus salus

dein diener Mattias Sgier

***

Clau Maissen bindet sein Pferd an den Zaun vor dem Disentiser Rathaus. Er geht hinüber zum Brunnen, spritzt sich Wasser ins Gesicht, trinkt gierig und wäscht sich. Die Tür des Rathauses öffnet sich. Ein Mann in einem schwarzen Talar mit weissem Kragen, dunkelbraunem, schulterlangem Haar, kleinen runden Augen, grosser Nase und spitzem Kinn erscheint auf der Schwelle und betrachtet sein Gegenüber, das sich über den Trog beugt.

»Durstig?«

Clau dreht sich um.

»Schau an, wen haben wir denn da? Mattias Sgier, was tust du hier? Hat dir der Bischof wieder mal frei gegeben? Kommst du, um bei uns ein bisschen zu politisieren?«

»Willkommen, Clau, willkommen.«

Die beiden Männer umarmen sich.

»Keine Politik. Im Moment gibt es anderes.«

»Nun denn, Mattias. Sag schon …«

»Du hast lange auf dich warten lassen.«

»Die Reise über den Lukmanier ist alles andere als eine Kleinigkeit! Eine Riesenstrecke ist das von Chiavenna bis hier. Beim Überqueren des Passes hat mein Pferd zu allem hin auch noch ein Eisen verloren, und ich musste bis zum Überdruss zu Fuss weitermarschieren. Meine Beine tun weh.«

»Das tut dir gut, ein bisschen zu Fuss unterwegs zu sein.«

»Ja, aber nicht grad so weit. Und du, seit wann bist du hier?«

»Ich bin vorgestern gekommen und wohne bei meinem Bruder in Rueras. Du weisst ja, ich kehre immer wieder gern in meine alte Kirchgemeinde in Tujetsch zurück. Nur ist es im Moment etwas ermüdend. Noch kurz bevor ich hierher gekommen bin, musste ich als Gesandter des Bischofs und der Katholiken der Drei Bünde nach Mailand und sogar bis nach Wien. Der Bischof hatte die Hoffnung, der Kaiser helfe bei der Lösung unseres Konflikts. Schliesslich könnte es einen Krieg geben zwischen Katholiken und Protestanten …«

»Und was hat der Kaiser gesagt?«

Mattias Sgier seufzt.

»Ach, ich konnte nicht mal mit ihm sprechen. Einer seiner Berater hat lediglich gemeint, sie hätten andere Probleme. Wir in den Drei Bünden sollten schauen, dass wir uns allein einigen könnten. Das war alles! Aber sag, Clau, wie ist es im Veltlin unten? Hast du den Wein probiert?«

»Natürlich. Da unten gibt es wunderbaren Wein und wunderbaren Ziegenkäse.«

Der Dekan lächelt.

»Du bist doch nicht nur des Weines wegen ins Veltlin.«

»Nein, nein. Ich habe meine Tochter besucht. Sie hat ein bisschen Heimweh. Aber so weit ich weiss, fühlt sie sich wohl in diesem Kloster bei den Dominikanerinnen. Die Priorin spricht romanisch.«

»Gut zu hören. Aber jetzt komm. Da drinnen warten sie schon eine Weile. Wenn wir nicht bald hineingehen, sind sie noch schlechter gelaunt …«

»Ich weiss. Ich habe einen Brief bekommen. Aber es steht nicht allzu viel drin. Weisst du, was vorgefallen ist?«

»Wir werden es schon noch erfahren. Ich weiss auch nicht mehr als du. Auf jeden Fall hat der Statthalter von Disentis die Obrigkeit der Gerichtsgemeinde zusammengerufen. Die Angelegenheit scheint so wichtig zu sein, dass der Abt sogar seinen Prior Adalbert de Funs nach Chur geschickt hat mit der Bitte, ein Vertreter des Bischofs müsse zu uns abgeordert werden. Und entsandt hat der Bischof mich, er sagt ja immer, ich sei seine rechte Hand.«

»Ich würde gern wissen, weshalb sie gerade mich haben rufen lassen. Sonst scheren sie sich keinen Deut um meine Hilfe. Normalerweise tun sie fast nichts anderes, als mir Steine in den Weg zu legen.«

»Lass sie machen. Komm jetzt!«

Der Dekan führt seinen Freund ins Rathaus. Kaum haben sie die Schwelle zur Stube überschritten, erhebt sich ein Mann ganz oben im Raum von seinem Stuhl:

»Aha, der Maissen. Endlich hat er den Weg zu uns gefunden, lang ists gegangen, verdammt lang …«, sagt Landammann Gion Fontana und nimmt seine Brille ab.

Sechs Männer sitzen am Tisch. Sie trinken Wein und essen Brot und Käse. Es sind der Landammann, der Abt des Klosters Adalbert II. de Medell, der Benediktinerpater Carli de Curtins, der Statthalter von Disentis Rumetg de Castelberg, der Disentiser Kirchenvogt Francestg de Cajacum und Caspar de Latour, Landschreiber der Gerichtsgemeinde. Nur der Kirchenvogt und der Landschreiber grüssen den einstigen Landrichter. Maissen weiss nur zu gut, weshalb der Landschreiber so höflich ist. Clau und de Latours Vater Ludivic, der Brigelser Würdenträger, hatten vor Jahren einen Pakt geschlossen. Sie wollten sich gegenseitig in die Ämter der Gerichtsgemeinde und des Grauen Bundes helfen.

Der Landammann indes stichelt weiter:

»Also dann, nur vorwärts, Herr Maissen, nehmt Platz in unserer Mitte, wenn das nicht zu viel verlangt ist. Oder habt Ihr Hemmungen?«

»Die einen kommen, wenn es vonnöten ist; die anderen lassen sich einladen, kommen auch dann nur widerwillig und erst, wenn man sie endlos darum gebeten hat …«, sekundiert Rumetg de Castelberg.

Jetzt wird Clau Maissen wütend:

»Ja, was ist denn los? Was müsst Ihr Gift und Galle spucken?«

»Aber, aber …«

Ein Mann, eher klein und untersetzt, steht auf. Es ist der Kirchenvogt. Er streicht über seine kurzen Haare und sagt mit erhobenen Händen, als wolle er predigen:

»Friede, meine Herren, lasst uns die Angelegenheit mit der Gnade Gottes angehen. Eine schwierige Angelegenheit. Ihr wisst, Clau Maissen, ich war der Meinung, es wäre nicht schlecht, Euch in unserer Mitte zu haben. Durch Eure Anwesenheit wird der Druck höher, diesen Unglücksfall zu klären und die Schuldigen zu bestrafen. Ich habe darauf bestanden. Wir müssen geeint sein. Lasst uns die Reihen schliessen und gemeinsam gegen den Feind antreten.«

»Wen meint Ihr mit diesem Feind, Francestg?«

»Ich will gewiss nichts gesagt haben. Aber wir alle wissen, wie die Protestanten uns dieser Tage auf die Probe stellen.Wie sie versuchen, uns um jeden Preis aus der Höhle zu locken.«

Der Abt erhebt sich.

»Ja, Ihr habt recht, Francestg. Voll und ganz. In dieser Zeit der Prüfung gibt es nichts anderes, als zusammenzustehen. Wir müssen uns fragen, ob nicht der Allmächtige uns arme Sünder bestrafen will für unsere Missetaten.«

Er schaut in die Runde, von einem zum anderen.

»Aber der Allmächtige ist auch ein gütiger Gott, ein Gott der Gnade. Erfüllen wir unsere Pflicht als Obrigkeit, die auf dieser Welt mit dem Segen des Allmächtigen eingesetzt ist, wird er uns nicht unserem Schicksal überlassen.«

»Wenn wir uns wenigstens auf all jene verlassen könnten, die im Grauen Bund wichtige Ämter inne hatten! Die müssten ja gelernt haben, ihren Verpflichtungen im Interesse der Gemeinschaft nachzukommen. Doch stattdessen sind nicht wenige von ihnen mit Brimborium oder alltäglichen Lappalien beschäftigt.«

»Das geht zu weit, Gion Fontana«, fällt Mattias Sgier dem Landammann ins Wort. »Es steht Euch nicht zu, Clau Maissen vorzuwerfen, er mache seine Arbeit nicht recht. Er hat alles für das Wohl der Allgemeinheit und unseres Grauen Bundes getan, und er tut es noch heute. Überdies: Jeder fege vor seiner eigenen Haustür!«

»Fürwahr! Das ist ein Thema für sich, das Fegen. Vor allem für Leute wie Euch, der Ihr auch wacker Politik betreibt, oder nicht, Herr Dekan? Ihr kümmert Euch oft genug mehr um politische als um kirchliche Dinge. Wer weiss, ob unser Herrgott daran Gefallen findet.«

»Ihr müsst Euch nicht um mein Seelenheil sorgen, Gion. Ich weiss gut genug, wo die Grenzen sind. Und es ist recht und billig, dass die Vertreter der Kirche die Hände nicht in den Schoss legen, dass sie sich um die Herde kümmern, die drauf und dran ist, in den Abgrund zu stürzen.«

»Gemach, meine Herren«, unterbricht der Landschreiber den Disput, »wir wollen die Angelegenheit in Anstand bereden, statt einander das Leben schwer zu machen.«

Er holt ein paar Schriftstücke aus seiner ziegenledernen Tasche.

»Ich habe den Sachverhalt zu Papier gebracht! Berichtest du, Francestg? Ich glaube, du bist am besten unterrichtet …«

Der Kirchenvogt erhebt sich.

»Gut. Ich kann vorbringen, was ich weiss. Auf jeden Fall ist es eine sehr mysteriöse Sache. Das darf ich wohl feststellen. Meines Wissens hat sich etwas Ähnliches bei uns noch nie zugetragen.«

Er blickt in die Runde, aber keiner sagt ein Wort.

»Der Friedhof der Kirche Sogn Gions ist geschändet worden. Jemand hat das Grab eines Kindes geöffnet und die Knochen herausgeholt.«

Der Abt bekreuzigt sich.

Für einen Moment ist es still.

***

»Anton digl Antimus, der Messmer, ist eines Abends zu uns gekommen. Wir waren gerade beim Nachtessen, und meine Frau sagte noch zu mir: Was will der denn hier um diese Zeit? Basta. Der Messmer war völlig ausser sich. Er wollte unter vier Augen reden, und so gingen wir beide in die Stube. Und dann, ja, dann erzählte er mir, was er eines frühen Morgens nach der Messe entdeckt hatte. Könnt ihr verstehen, wie ich mich da gefühlt habe …«

Francestg de Cajacum spricht langsam, als wolle er jedes Wort abwägen.

»Der Messmer sagte, er sei wie immer nach dem Gottesdienst auf den Friedhof gegangen. Und dort habe er ein offenes Grab bemerkt. Das Grab von Cristian de Castelberg, der schon als Bub gestorben ist. Ja, es war ausgehoben, die Erde lag daneben auf einem Haufen. Im ersten Moment dachte der Messmer, ein Tier habe vielleicht ein Loch gegraben. Aber nein, es sei grauenhaft gewesen …«

Er hebt die Stimme.

»Er untersuchte das Grab und stellte ziemlich schnell fest, dass Knochen fehlten. Mit anderen Worten: Das Grab war geschändet worden!«

»Nicht mal unsere Gräber lässt dieses Gesindel und Lumpenpack in Ruhe. Das ist das Werk der Protestanten. Denen müssen wir es zeigen«, meint der Statthalter erregt.

»Die grosse Frage ist: Wer hat es getan, und weshalb hat er die Knochen gestohlen?«

»Ein Tier war es nicht?«

»Nein, das ist nicht möglich. Wir alle sind der Meinung, dass ein Verbrecher diese schreckliche Tat begangen hat.«

»Vielleicht war es ja ein Bubenstreich …«

»Nein, Clau«, erwidert der Landschreiber, »nicht mal der halbbatzigste Halbwüchsige – und wäre er sturzbetrunken – würde sich so etwas einfallen lassen. Ich glaube ebenfalls, dass die Protestanten die Finger im Spiel hatten, vielleicht haben ihnen auch noch andere geholfen.«

»Unsere Friedhöfe sind heilige Stätten. Das Kloster kann nicht einfach die Augen verschliessen vor der Zerstörung eines Heiligtums«, sagt der Abt. »Das trifft uns ins Mark, das geht unserer heiligen katholischen und apostolischen Kirche ans Lebendige.«

Und Benediktinerpater Carli de Curtins darauf:

»Es war Hexenwerk.«

»Hexenwerk? Was soll das denn mit Hexerei zu tun haben?«

»Doktor Sgier, Ihr seid doch ein gelehrter Mann, ein Mann des Intellekts, habt eine Menge Bücher gelesen und Studien betrieben, habt doktoriert und als Dekan im Bistum Chur höchste Weihen erlangt. Aber wie es scheint, versteht Ihr nicht wirklich – oder wollt nicht verstehen. Falls Ihr es noch nicht wisst, kann ich Eurem Verstand auf die Sprünge helfen: Eine Hexe verwendet Knochen, um sie zu Pulver zu mahlen, und mit diesem Pulver richtet sie Unheil an, wo sie nur kann.«

»Das sind Hirngespinste.«

»Das sind keine Hirngespinste. Die Leute geben sich mehr und mehr der Hexerei hin. In der Gerichtsgemeinde Waltensburg musste unser ehrwürdiger Abt über Hexen Gericht halten. Wir alle wissen, dass der Teufel das Feuer schürt, wo er nur kann. Wir müssen auf das Heil unserer Seelen achten!«

»Pater Carli hat recht«, sagt der Landammann. »Wir müssen versuchen, den Fall aufzuklären. Ich schlage vor, wir setzen eine Inquisitionskommission ein. Rumetg, du könntest die Sache in die Hand nehmen.«

»Eine gute Idee, Gion. Ich bin bereit, mich für das Gemeinwohl einzusetzen. Ich denke, Francestg als Kirchenvogt müsste auch dabei sein. Und vielleicht noch du, Caspar, du könntest uns mit Red’ und Rat begleiten.«

»Einverstanden, das kann ich tun. Ich meine aber, wir sollten der Sache noch etwas mehr Gewicht geben, und deshalb wäre es gut, würde uns auch Clau Maissen unterstützen. Schliesslich war es ja unser Begehren, dass er aus dem Veltlin hier heraufkommt, um uns nötigenfalls zu helfen. Was sagst du dazu, Clau?«

Clau Maissen antwortet nicht. Er betrachtet eines der Wappenbilder an der Wand, das Wappen von Abt Adalbert II. de Medell aus Rueras in der Val Tujetsch. Adalbert und Conradin, die Zwillinge, sind nebeneinander zu sehen. Beide mit Schnauz, grossen Augen, kleinen Nasen, rund im Gesicht. Oben links im Wappen und unten rechts prangt ein Kreuz, oben rechts der Löwe der Familie de Castelberg. Die Eltern von Adalbert und Conradin waren Giohen de Medell und Cornelia de Castelberg, eine Frau aus dem Disentiser Adel. Der einstige Landrichter entdeckt noch weitere Köpfe, Würdenträger des Grauen Bundes und Landammänner von Disentis, und er fragt sich, ob sein Porträt eines Tages auch in dieser illustren Reihe hängen wird.

»Clau, hast du gehört?«, hakt der Landschreiber nach.

»Ja. Aber mit Inquisitionen habe ich nichts am Hut, das ist Sache der Gerichtsgemeinde!«

»Natürlich. Die Untersuchung ist unsere Angelegenheit. Aber ich wiederhole: Ich glaube, deine Hilfe wäre willkommen. Sie gäbe unserer Arbeit mehr Gewicht. Und diese Arbeit ist alles andere als einfach, das weisst du.«

»Also gut, wenn es sein muss … Aber wohlverstanden, ich helfe mit Red’ und Rat, mehr nicht!«

»Gut, dann würde ich sagen, am besten gehen wir morgen früh alle zusammen zum Messmer. Er muss uns berichten, was er gesehen und gehört hat«, sagt Rumetg de Castelberg.

»Eine gute Idee«, bekräftigt Caspar de Latour. »Und anschliessend müssen wir auch im Dorf noch herumfragen, ob jemand etwas mitbekommen hat.«

»In diesem Fall, meine Herren, wünsche ich viel Glück und hoffe, dass ihr die Sache so schnell wie möglich aufklären könnt. Ich erwarte euren Bericht. Und noch etwas. Vorläufig wollen wir die Sache geheim halten, anders gesagt: Was wir herausfinden, bleibt unter uns. Ausser uns soll niemand davon erfahren. Ich will nicht, dass es in allen Gassen Geschwätz und Gerede gibt.«

Der Landammann macht sich Notizen in sein Büchlein. Die Männer rücken die Stühle zurecht, nehmen ihre Kittel und Hüte und brechen auf.

***

Als sie vor dem Haus des Messmers angekommen sind, klopft der Landschreiber an die Tür. Auf sein »Herein!« treten sie ein. Der Messmer, ein kleiner, graubärtiger Mann, bittet sie in die »Küche«. Was er Küche nennt, ist ein kleiner, dunkler Raum mit einer Feuerstelle. Ein Tisch und zwei Stühle stehen an der Wand, Bretter bedecken die feuchte Erde. Das Holz auf dem festgestampften Boden ist genauso russgeschwärzt wie die Deckenbretter. Aus der Feuerstelle steigt Rauch empor. Holzscheite brennen, das Feuer knistert. Der Messmer erklärt, er mache gerade Roggenbrot. Er bietet Brot, Käse und Ziger an und holt ein paar Näpfe aus dem Schrank. Aus dem Käse schauen Maden hervor.

»Weiss schon, weshalb ihr Herren zu mir kommt, weiss schon. Der Pater hat gemeint, ich krieg irgendwann Besuch, früher oder später, und schau an, jetzt ist er da! Hm, hm, gut, also …«

»Wieso hat der Kapuziner das gewusst?«

»Weiss nicht. Aber vor ein paar Tag ist der Pater bei mir gewesen und hat gefragt, ob ich nicht was Neues gehört hab. Hab dann gesagt, nichts hab ich gehört, aber rein gar nichts.«

»Erzähl uns, was du weisst!«, befiehlt der Kirchenvogt und hustet.

»Es qualmt ein bisschen. Die Herren wollen entschuldigen«, sagt der Messmer. »Brennt schlecht, das Tannenholz. Ist vielleicht noch ein bisschen feucht. Also dann, nehmt doch Brot und Käs, meine Herren. Passiert ists letzthin am frühen Morgen. Bin wie immer rüber in die Kirche, läuten zum Lichterlöschen, da bin ich also schon gewissenhaft. Aber am Glockenseil ziehen, das ging schwer, verflixt schwer. Schlimmer war das, als eine alte Geiss zu melken. Als ob einer wie ein Klotz an der Glocke hängt. Hab gezogen wie verrückt.«

Er spuckt in die Hände und zeigt, wie er am Seil gezogen hat.

»… gezogen hab ich, dass ich ganz nass geworden bin vom Schwitzen, Teufel nochmal, und das Hemd hat mir am Leib geklebt. Basta, nach dem Läuten bin ich wie immer auf den Friedhof gegangen, nach den Gräbern schauen, und ob der ständige Regen nicht die Blumen zu Boden gedrückt hat. Und sieh einer an, da stand die Onna, ›la Pintga‹, die Kleine, so nennen sie alle – jemand hat gemeint, dass die in Dentervals wohnt.«

»Was ist mit der Onna?«, will Rumetg de Castelberg wissen.

»Nichts weiter. Sie ist an einem Grab gestanden, vermutlich von ihrem Vater oder ihrer Mutter, was weiss ich. So für mich hab ich schon gedacht: Was, dass die schon da ist um diese Zeit … Die Alte hat dann aber einen guten Tag gewünscht und gemurrt, sie habe ständig Krämpfe, das ziehe vom Fuss bis in die Hüfte. Manchmal brauche sie den Stock, um überhaupt gehen zu können …«

»Und dann?«

Der Messmer blickt zum Statthalter und beginnt den Tisch mit einem Lappen zu putzen.