Die Hochzeit - Dorothy West - E-Book

Die Hochzeit E-Book

Dorothy West

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Beschreibung

Shelby und Meade wollen heiraten. Doch in dem elitären Zirkel auf Martha's Vineyard sind nicht alle mit der Verbindung einverstanden. Denn Shelby stammt aus einer Schwarzen Familie – und Meade ist weiß. Ausgehend von einem Sommertag erzählt Dorothy West aus dem Leben von fünf Generationen einer Schwarzen Familie. Die junge Shelby, Augapfel der Schwarzen Gemeinschaft auf der Insel Martha's Vineyard, will den New Yorker Jazzpianisten Meade heiraten. Doch Meade ist weiß und hat in den Augen der Familie Cole wenig zu bieten. Sollte es nicht lieber ein Mann aus den eigenen Reihen sein? Die Insel-Gemeinde besteht aus einem elitären Zirkel der Schwarzen Bourgeoisie. Die Angst vor Veränderung ist hier groß, und sie trägt ihre Wurzeln in langen Jahren der Unterdrückung. Doch am Ende muss Shelby die Entscheidung treffen, ob sie ihrem Herzen folgt, und wohin es sie führt. Die Wiederentdeckung eines großen Klassikers der afroamerikanischen Literatur.

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Dorothy West

Die Hochzeit

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Christa E. Seibicke

Mit einem Nachwort von Diana Evans

Hoffmann und Campe

Zum Gedenken an meine Lektorin

Jacqueline Kennedy Onassis.

Auch wenn es dem Anschein nach nie

ein ungleicheres Paar gab, haben wir

uns doch vorbildlich ergänzt.

Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie blähet sich nicht, sie stellet sich nicht ungebärdig, sie suchet nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freuet sich nicht der Ungerechtigkeit, sie freuet sich aber der Wahrheit; sie verträgt alles, sie glaubet alles, sie hoffet alles, sie duldet alles.

 

(1. Korinther 13, Vers 4–7)

1

An einem Morgen Ende August, dem Morgen vor der Hochzeit, weckte die Sonne, die aus der ruhigen See emporstieg, das Oval aus amorphem Schlaf und verlieh dem Areal von Sommerhäusern Kontur und Proportion.

Die Inselbewohner waren schon auf. Denn es galt, den Sommerfrischlern ihre Milch zu bringen, die Läden für ihre Großeinkäufe zu öffnen, ihnen den Rasen zu mähen und die Autos zu waschen – eine endlose Kette belangloser Aufgaben, die Vorrang hatten, besonders im Oval, dessen Bewohner Schwarze waren und daher auf bevorzugte Behandlung Wert legten.

Das Oval war ein ländlich anmutendes Terrain mit blühenden Sträuchern und hohen Bäumen, das auf alten Stadtplänen den Namen Highland Park trug. Die schmale unbefestigte Straße, die drum herum führte, hieß Highland Avenue. Doch da kein Inselbewohner sich darauf besinnen konnte, dass je ein Wegweiser diese ambitionierten Bezeichnungen getragen und sie damit legitimiert hätte, war das Gelände schon vor langer Zeit auf den anschaulichen Namen getauft worden, der besser zu ihm passte.

Dreizehn Cottages bildeten dieses Oval rings um den Park. Manche waren klein und äußerlich schlicht, andere größer und schöner (eines, das Coles’sche Anwesen, wurde gar als Villa bezeichnet), und alle miteinander waren für den Sommer herausgeputzt und standen vorschriftsmäßig zurückgesetzt auf makellosen Rasenkarrees.

Die Häuser waren wie eine Festung, ein Bollwerk der schwarzen Gesellschaft. Ihre Eigentümer konnten sich rühmen, dass sie, oder besser noch ihre Vorfahren, schon zu Zeiten einen Zweitwohnsitz besessen hatten, als noch sehr wenige Schwarze oberhalb des Dienstbotenrangs zum eigenen Vergnügen den Weg in die Sommerfrische antraten.

Obwohl schwarze Zuzügler mittlerweile auch in anderen Vierteln des Seebades Cottages besaßen, manche sogar hochvornehme Häuser in Gegenden, die normalerweise als weiß galten, standen die Ovaliten, wie sie nach ihrem Wohnsitz hießen, rangmäßig trotzdem höher. Sie waren die Vorhut gewesen. Jetzt waren sie die alte Garde. Dazu »na und?« zu sagen hieße, den Fuchs aus der Fabel mit den sauren Trauben nachzuahmen.

Sogar das Etikett »Ovalit« hatte eine Konnotation bekommen, die seinem ursprünglichen Zweck zuwiderlief. Diejenigen, die es einst geprägt hatten, um die Bewohner des Ovals zu verunglimpfen, waren längst vom Schauplatz ihrer Niederlage im Feldzug gegen die Ovaliten abgetreten, und der vormalige Schimpfname hatte sich mit der Zeit zum Gütesiegel entwickelt.

Das Haus der Coles beherrschte das Oval. Mit seinen großzügig verglasten Veranden, an deren Scheiben schon viele Vögel den Tod gefunden hatten, seinem Ballsaal, dessen jahrelang eng an die Wände gerückte, vergoldete Festtagsstühlchen jetzt für die Hochzeit aufgestellt waren (indes die Polstersessel für traurige Anlässe dezent in Reih und Glied zurücktraten), und mit seinen ausgedehnten Rasenflächen, die die bescheideneren Cottages hoheitsvoll auf Abstand hielten, war das Coles-Haus das Prunkstück des Ovals.

Dahinter erstreckten sich etliche Morgen malerisch überwucherten Brachlands, die in der herrschaftlichen Ära des Erstbesitzers zum Grundstück gehört hatten. Heute dienten sie dem Coles’schen Anwesen als beeindruckende Kulisse, sperrten dieses Ende des Ovals für den Autoverkehr und machten es zur Sackgasse.

Als einzige An- und Abfahrt für das Oval diente eine kurvenreiche, ausgefahrene Landstraße. Kamen sich hier zwei Fahrzeuge entgegen, so zwang das Gestrüpp neben der Fahrbahn einen der beiden Wagen, bis zum Ausgangspunkt zurückzusetzen, ein langsames und umständliches Manöver, das auf dem glänzenden Lack eines übergroßen Wagens hässliche Kratzer hinterließ, sofern er nicht haargenau in der Fahrspur blieb.

Die Ovaliten hätten sich auf das Gewohnheitsrecht berufen und bei der Stadt einen breiteren Zubringer zum Highway beantragen können, aber diese wenig einladende Anfahrt gab ihnen das Gefühl, so exklusiv zu residieren wie die wirklich Exklusiven – die wahrhaft Reichen und Mächtigen –, die ebenfalls am Ende ausgesprochen schlechter Straßen wohnten, schon um Neugierige abzuschrecken.

Die Familie von Clark Coles kam dem angestrebten Vorbild der Reichen und Mächtigen am nächsten. Die Coles hatten mehr Geld, als man ausgeben konnte. Sie hatten das College besucht und stammten aus gutem Hause. Sie führten ein kultiviertes Leben. Zwei Hausmädchen, die ihnen seit Jahren in Ergebenheit dienten, waren der lebendige Beweis dafür, dass die Coles sich auf den Umgang mit Dienstboten verstanden. Wenn Clark und Corinne schon seit Jahren nicht mehr miteinander schliefen, so hätten ihnen, was ihren Umgang in der Öffentlichkeit betraf, selbst die eigenen Töchter nicht mehr Takt abverlangen können.

Ihre Töchter, das waren Liz, die Verheiratete, und Shelby, die Braut; beide sehr hübsch, aber Shelby noch hübscher, das Ebenbild von Gram auf jenem zart getönten Porträt, das sie als Mädchen zeigte, mit rosarotem Teint, goldblondem Haar und dämmerblauen Augen.

Dass Liz einen schwarzen Mann geheiratet und eine Tochter zur Welt gebracht hatte, die ihrem dunkelhäutigen Vater nachgeraten war, hatte im Oval missbilligendes Stirnrunzeln hervorgerufen. Aber wenigstens hatte Liz einen Mediziner geheiratet, getreu der Familientradition, dass alle Männer für den Arztberuf geschaffen seien, zumal der Doktortitel sich von selbst erklärte, was die Vorstellung auf Gesellschaften sehr erleichterte.

Warum dagegen Shelby, die unter den Ersten und Besten ihrer eigenen Rasse hätte wählen können, außerhalb derselben und des väterlichen Berufs heiraten und ihr Leben an einen namenlosen Weißen wegwerfen wollte – einen Mann, der Jazz komponierte, was als frivole Beschäftigung ohne Amt, Titel oder Zukunft galt –, das überstieg den Verstand der Ovaliten.

Zwischen dem Schwarzen, den Liz geheiratet hatte, und dem Musiker, den Shelby heiraten wollte, gab es eine ganze Bandbreite akzeptabler Männer mit der richtigen Hautfarbe und dem richtigen Beruf, und damit, dass Liz und Shelby so wider alle Erwartungen heirateten, verstießen sie gegen sämtliche subtilen Grundsätze der Erziehung, die ihre Eltern ihnen mitgegeben hatten.

Shelby mochte in ihrer Gattenwahl eigensinnig gewesen sein, aber sie hatte sich wenigstens von ihrer Mutter davon abbringen lassen, Liz’ Beispiel zu folgen und mit ihrem Liebsten durchzubrennen. Ihre Hochzeit würde im Oval stattfinden und damit den Rahmen bekommen, den Corinne Miss Adelaide Bannister an einem glücklichen Nachmittag versprochen hatte, als ihre Töchter noch Teenager waren. Damals saß Addie, keuchend unter dem prallen Korsett, welches das für ihre kümmerliche Existenz unziemliche Fleisch zwickte und marterte, in ihrem Sessel eingezwängt auf der verglasten Veranda, die die Sonnenwärme speicherte und die Hitze auflud, und fächelte sich mit der schlaffen Hand Luft zu, was sie immer tat, wenn nichts anderes greifbar war, um eine Brise zu entfachen.

Sie sagte ja zu einem Brandy, weil der Medizin war, bekam aber von der Sonne und dem zu engen Korsett und dem Brandy solches Herzklopfen, dass ihr Busen in jenes rasche Auf-und-ab-Wogen geriet, das Feiglinge, die nicht mit ansehen wollten, wie Addie vor ihren Augen tot umfiel, jedes Mal völlig entnervte. Jetzt griff sie sich ans Herz, wie um zu verhüten, dass es ihr aus der Brust sprang, und gestand Corinne, ihre größte Hoffnung sei die, noch so lange zu leben, bis Liz vermählt würde; nicht etwa, weil sie die ältere Schwester der jüngeren vorziehe, sondern weil es jenseits allen Hoffens läge, dass sie lange genug leben würde, um beide Mädchen als Braut zu sehen.

Von diesem traurig schlichten Geständnis und einem sehr trockenen Martini gerührt hatte Corinne sich zu dem sentimentalen Versprechen hinreißen lassen, Liz’ Hochzeit würde im Oval stattfinden, damit Addie die beschwerliche Reise nach New York erspart bliebe, wo die ungewohnte Umgebung, die vielen fremden Menschen und das Tempo womöglich zu ihrem vorzeitigen Ableben mitten in der Grand Central Station führen könnten.

Seit dem Tage ihrer Geburt in Boston hatte Addie sich nie weiter von zu Hause entfernt als bis auf eine Insel vor der Küste von Massachusetts, was einer kurzen, ereignislosen Bahn- und einer noch kürzeren und ruhigeren Überfahrt bedurfte. Im Winter ging sie kaum unter die Leute und rührte sich fast nie von dem alten Familiensitz in Cambridge fort, wo sie sich in Pullover und Bademäntel einmummelte, um die durchdringende Kälte abzuwehren, gegen die die Wärme aus den altmodischen, verstaubten Heizungsklappen im Fußboden vergeblich ankämpfte. Umgeben von Antikem und Antiquiertem hielt sie Winterschlaf bis zum Sommer, ohne je ihre Freunde in deren wärmeren Häusern zu besuchen; die Risiken winterlicher Ausflüge überforderten sie, zumal ihre Geldmittel weder für ein Taxi noch für geeignete Kleidung ausreichten.

Addie sparte ihre ganze Kraft und ihre Pennies für die Sommer im Oval, wo ihr gesellschaftliches Leben sich auf das Wiedersehen mit alten Freunden und auf die Veränderungen konzentrierte, die ein Jahr an deren Kindern bewirkt hatte. Das Oval war ihre ganze Welt. Niemals hatte sie die Einladung in irgendein Haus außerhalb dieser kleinen Gemeinschaft angenommen.

Die Tage, die ihr noch verblieben, waren zu kostbar, um sie an Emporkömmlinge zu verschwenden, deren Abstammung zweifelhaft und deren protzig zur Schau getragener Reichtum nicht immer auf anständige Weise erworben war. Jedes Jahr fragte Addie sich, ob sie bis ans Ende des Kalenders leben würde, den der Kohlenmann ihr immer zu Weihnachten schenkte. Da ihre Eltern noch diesseits der Fünfzig verschieden waren, war ihr bewusst, dass sie deren Veranlagung zu einem frühen Tod geerbt hatte. Das ganze Oval wusste, dass die Uhr von Addies erbbedingt schwachem Herzen bereits praktisch abgelaufen war. Für sie alle war Addie die Kranke, um die man sich kümmern musste, und man ging so behutsam mit ihr um, als ob jeder Sommer ihr letzter wäre. Und jeder Sommer, den Addie verschont blieb, war ein Zeichen dafür, dass Gott damit einen Zweck verfolgte. Mit der Zeit war im Oval die Sage entstanden, Gott lasse Addie am Leben, damit sie an Liz’ Hochzeit teilnehmen könne.

Als Liz dann ein paar Wochen vor der festgesetzten Trauung nach Greenwich durchbrannte, zu einer Zeit, da Addies neues Kleid schon reisefertig im Koffer lag und in ihrer Geldkassette eine Notiz deponiert war, die ihre trauernden Hinterbliebenen anwies, sie in diesem Kleid aufzubahren (womit der verschwenderische Kauf gerechtfertigt und ihr Gewissen beruhigt war), da hielt das Oval es für ein großes Wunder, dass Addies krankes Herz den Schock überlebte.

Das mindeste, was Corinne tun konnte, war, Shelby als Ersatz anzubieten, wann immer die endlich aufhörte, sich vom Zufall treiben zu lassen, und unter den vielen annehmbaren Männern, die sie auf der Stelle heiraten würden, ihre Wahl traf.

Das Oval war geteilter Meinung; diejenigen, die gerade solvent waren, trauerten der verpassten Chance nach, auf einer New Yorker Hochzeit glänzen zu können, die übrigen waren erleichtert, denn schließlich lag der Reiz eines ländlichen Festes in seiner Schlichtheit.

Obwohl das Geld im Oval eine ebenso große Rolle spielte wie überall in der Oberschicht, war es doch nicht der ausschlaggebende Faktor bei der Unterscheidung zwischen Groß und Klein. Die Unterschiede waren so fein, die Abstufungen so dezent, dass nur der Ovalit selbst wusste, auf welche Stufe er gehörte, und ein Außenseiter mitunter einen ganzen Sommer damit vergeudete, dem Falschen die Stiefel zu lecken.

In den letzten Jahren hatte hin und wieder ein Ovalit, sei es, dass er reich genug war, um im Ausland Ferien zu machen, sei es, dass er sich überhaupt keine Ferien leisten konnte, sein Cottage an eine Familie mit den richtigen Referenzen vermietet, die dann löblich alle in sie gesetzten Hoffnungen erfüllte. Diese Maßstäbe, die das Oval selbst aufgestellt hatte, wurden streng eingehalten – bis (unpassender hätte der Verstoß nicht kommen können) genau zum Sommer der Hochzeit, als jedes Cottage bis auf das von Addie Bannister in die Vorbereitungen eingebunden war.

Dass ausgerechnet Addie, eine prominente Ovalitin, die Übeltäterin war – Addie, deren armes Herz das Fundament für diese Hochzeit gelegt hatte –, dass also gerade sie die Klassenschranken ignoriert und ihre Tür jemandem geöffnet hatte, den keiner kannte, über den jedoch alle Bescheid wussten, das war so eindeutig ein Symptom ihrer schweren Krankheit, dass man ihr verzeihen musste, denn nach jahrelangem falschem Alarm lag Addie offenbar wirklich im Sterben.

Daran zweifelten diesmal selbst jene skeptischen Gemüter nicht, die nie ganz an Addies krankes Herz geglaubt hatten. Die wenigen Bostoner, die ihr den Winter über beigestanden hatten, erklärten, Addie sehe furchtbar aus, spindeldürr sei sie und elend klapprig. Dass sie ihr Cottage vermietet habe, sei nicht verwunderlich. Und es war ja auch wirklich ein Segen, nicht noch die kranke Addie pflegen zu müssen, wo man schon mit der Hochzeit alle Hände voll zu tun hatte.

Gleichwohl hatte Addie gegen ihren eigenen Ehrenkodex verstoßen, wonach Geld den geringsten gesellschaftlichen Wert darstellte. Ungeachtet all der reizenden Leute, Freunde ihrer engsten Freunde, die froh gewesen wären, ihr Cottage für den Sommer der Hochzeit zu mieten, hatte sie sich an den Meistbietenden verkauft, an einen, dem von den anderen keiner ein Haus vermietet hätte, nicht einmal für eine Million Dollar.

Aber es war auch kein anderer in Addies Lage. Sie hatte einen Haufen Schulden bei ihrem Arzt und Apotheker für Spritzen und Tabletten, die ausprobiert wurden und nichts halfen, sowie bei ihrem langmütigen Krämer für die Nahrungsmittel aus seinen Regalen, die auch nichts halfen. Dies waren Ehrenschulden, die unbeglichen zu hinterlassen sie nicht ertragen hätte. Und dann war da noch ihr Begräbnis, voraussichtlich kommenden Herbst, das ihre kleine Versicherung nicht decken würde, und sie wollte weiß Gott nicht schmählich in einem Sarg enden, für den ein wohlmeinender Wichtigtuer bei ihren Freunden den Hut herumgereicht hatte.

Ihre einzige Rettung bestand darin, das Cottage zu vermieten und das erste überhöhte Angebot anzunehmen, ohne sich – vor lauter Angst, das Geschäft könne nicht zustande kommen – darum zu scheren, wessen Unterschrift der Scheck trug, solange die Bank ihn nur einlöste.

2

Die Unterschrift stammte von Lute McNeil und verriet eine kraftvolle, ungeübte Hand – ungeübt freilich nur im Schreiben, denn seine üblichen Werkzeuge wusste Lutes Hand sehr wohl anmutig und elegant zu führen. Lute McNeil war im Begriff, als Möbeltischler in Boston reich zu werden, und die Nachfrage überstieg bereits sein Angebot. Jetzt plante er, das vierstöckige Gebäude zu kaufen, in dem er früher einmal Speicherplatz gemietet und wo er, noch früher, im Keller gehaust hatte.

Dabei hatte geschäftlicher Erfolg nicht zu Lutes Kinderträumen gehört. Er war hauptsächlich deshalb auf die Berufsschule gegangen und hatte ein Handwerk erlernt, weil man ihn als schwer erziehbar aus der Realschule hinausgeworfen hatte. Seit seinen wilden Teenagertagen war der Erfolg bei Frauen seine einzige Passion, und bis zum Sommer der Hochzeit meinte er, diesen Erfolg auch errungen zu haben. Bis zum Sommer der Hochzeit hatte er noch keine klaren Wertvorstellungen.

Lute McNeil mit seinen drei kleinen Töchtern, die alle von weißen Müttern stammten, freilich jede von einer anderen, mit seiner langen Reihe von Haushälterinnen, die manchmal nur das waren und manchmal sehr viel mehr, mit seiner derzeitigen Frau Della, die ihm die geforderte Scheidung verweigerte und der er im Gegenzug drohte, ihrer Beacon-Hill-Familie die heimliche Hochzeit zu enthüllen – mit all diesen Komplikationen in seinem Leben war Lute McNeil, der Außenseiter, der noch nie einen Fuß ins Haus der Coles gesetzt hatte, entschlossen, die Hochzeit zu verhindern, denn die Frau, die er begehrte, war keine andere als Shelby.

 

In Addie Bannisters Cottage ging eine Fliegentür auf und klappte wieder zu. Ein honigfarbener Cockerspaniel, dick und bejahrt, watschelte über die Veranda, beschnupperte ein paarmal den jungen Morgen und ließ sich alsdann nieder, um ihn einer gründlicheren Prüfung zu unterziehen. Kurz darauf klappte die Fliegentür wieder auf und zu, und drei honigfarbene kleine Mädchen, barfuß, in T-Shirts und Shorts, die Älteste mit Kamm und Bürste in der Hand, trippelten im Gänsemarsch heraus und hockten sich zu dem honigfarbenen Hund auf die oberste Treppenstufe, wo sie zu viert ernst und gelassen darauf warteten, dass Lute kam und mit ihm ihr Tag begann.

Lute stürzte mit einer solchen Heftigkeit durch die Tür zur Veranda, als ob gar keine Tür da wäre. Wie auf Kommando wirbelten der Hund und die Kinder herum, blickten zu ihm auf, und der Hund klopfte mit dem Schwanz auf die Dielen. Aus ihrer Winzlingsperspektive betrachtet stand Lute wie ein Riese mit breit gespreizten Beinen über der Welt, der Welt, die er für sie erschaffen hatte.

Er war groß, gut gebaut, in T-Shirt und Shorts, schlank und geschmeidig, nussbraun, mit entschlossenen, wohlgeformten Gesichtszügen, dunklen, tiefliegenden Augen, die durchdringend und verstörend blicken konnten, und kurzgeschorenem Haar, das drahtig war und dicht.

Der Name McNeil war nur geborgt; seine Mutter hatte ihn sich von dem Mann geliehen, der sein Vater war oder den sie dafür hielt. Denn sie war eine vom Leben gebeutelte, derbe Person, und nichts überraschte sie mehr, als dass ihr einer ein Kind angehängt hatte. Den Jungen hatte sie Luther getauft, nach ihrem Vater, der sie wegen ihres liederlichen Lebenswandels aus dem Haus gejagt hatte, was sie wiederum damals ziemlich stolz auf ihn und seine unbeugsame Rechtschaffenheit machte. Ihren Sohn gab sie zu Freunden in Pflege, die ihn ihrerseits zu Freunden in Pflege gaben, und so fort, bis er schließlich als Mündel unter amtliche Vormundschaft kam, da der Aufenthaltsort der Mutter unbekannt war.

Lute stupste den Hund sanft mit seiner Sandale an. »Schleich dich, Jezebel, und mach dein Geschäft. Wenn dich keiner aufscheuchen tät’, würdest du dich den lieben langen Tag nicht vom Fleck rühren.«

Jezebel, die in der Tat etwas zu erledigen hatte, stand auf und trottete langsam die Treppe hinunter. Dabei warf sie Lute einen kläglichen Blick zu, der vor Heuchelei nur so triefte. Mit hängendem Schwanz schleppte sie sich die Straße entlang, auf der Suche nach einem geeigneten Gebüsch, das ihr Deckung bieten würde. Einmal sah sie sich noch um, und wieder lag jämmerliches Unglück in ihrem Blick.

Das Grüppchen auf der Veranda strafte den Hund mit Nichtachtung, worauf Jezebels Schwanz, wie erwartet, schlagartig aufhörte, trübselig hinter ihr herzuschleifen. Plötzlich unternahm ihre Schnauze im Zickzackkurs begeisterte Ausflüge durch den Park, wo letzte Nacht die Kaninchen im Mondschein herumgetollt waren, und ihr Watschelgang steigerte sich zu einem recht respektablen Trab, während sie mit neu erwachter Begeisterung den Morgen begrüßte.

Lute packte seine älteste Tochter schwungvoll um die Taille, hob sie hoch, ließ sich auf ihrem frei gewordenen Platz nieder und nahm sie zwischen die Knie. Sie reichte ihm Kamm und Bürste hinauf, und Lute begann, Barbys vom Schlaf zerzauste Haare mit vorsichtigen Strichen zu entwirren.

Sie hatte langes, wunderschönes Haar, dessen Farbe von hellerem Gold war als ihre sonnengebräunte Haut. Mit ihren großen grünen Augen und den feinen Gesichtszügen war Barby eine bezaubernde Achtjährige, der ihre Schwestern indes an Reizen nicht nachstanden.

Wie sie rechts und links von Lute auf der Treppe saßen und darauf warteten, bis sie mit Bürsten und Flechten an die Reihe kämen, wirkten die sechsjährige Tina und die dreijährige Muffin – ihre eigene Verballhornung ihres Taufnamens Maria – wie Kinder von der Staffelei eines Malers. Tinas Haar war goldbraun, mit silberblonden Strähnen durchwirkt. Ihre lang bewimperten Augen waren graublau. Muffin hatte kastanienbraunes Haar, das nach dem Bürsten schimmerte wie polierte Bronze. Ihre runden fragenden Augen waren von einem tiefen Veilchenblau.

»Ach, Daddy«, sagte Barby zufrieden, »so gut wie du bürstet keiner.«

Und Lute arbeitete wirklich sehr geschickt, strich Wellen glatt und bürstete Barby jede verirrte Locke, die sich ihr in die Stirn ringelte, aus dem Gesicht.

»Das liegt bloß daran, dass keiner so viel Übung hat wie ich«, sagte Lute. »Aber Mütter können’s doch am besten. Ihr würdet euch wundern, wie gut Mütter sich auf alles verstehen.«

»Ist denn GiGi nicht unsere Mutter?«, fragte Muffin, die keine Ahnung hatte, was eine Mutter eigentlich war.

»Natürlich nicht!« Barby seufzte ungehalten über Muffins Unwissenheit. »Sie ist unsere Haushälterin.« Und Mrs. Jones war tatsächlich nur das, denn die, die mehr gewesen war, hatte Lute bald, nachdem er Shelby entdeckt hatte, abserviert.

»Sie ist unsere Haushälterin«, wiederholte Muffin eifrig, obschon sie noch gar nicht wusste, worin der Unterschied bestand.

»Hab ich auch mal eine Mutter gehabt?«, fragte Tina schüchtern. Sie hatte schreckliche Angst davor, dass dies eine dumme Frage sei, eine, auf die sie selbst die Antwort hätte wissen müssen. Aber sie hatte sich schon den ganzen Sommer den Kopf darüber zerbrochen, wieso die Kinder im Oval so selbstverständlich von ihren Müttern sprachen, als hätten sie sie von Anfang an gehabt.

Lute war inzwischen dabei, Barbys Haare zu zwei festen Zöpfen zu flechten. Zwar stand zu erwarten, dass sich ihr Haar wie das ihrer Schwestern, lange bevor der Tag zur Neige ging, lösen und die Schönheit ihrer Gesichter noch verführerischer zur Geltung bringen würde, doch Lute bemühte sich mit diesem Morgenritual wenigstens, die Mädchen zur Sittsamkeit zu erziehen.

»Ihr hattet alle eine Mutter«, sagte er jetzt, um einen möglichst sachlichen Ton bemüht, zu Tina.

»Aber wo sind sie?«, fragte Muffin erstaunt und blickte sich unwillkürlich um, als müssten die Mütter irgendwo zu entdecken sein.

»Sie sind geschieden«, sagte Barby ruhig und ohne zu wissen, dass das für ein Kind eine traurige Aussage war.

»Geschieden sind sie«, wiederholte Muffin vergnügt und freute sich, dass sie ein neues Wort gelernt hatte.

»Was heißt das?«, verlangte Tina zu wissen. Sie wollte nicht, dass es hieß, die Mütter seien tot, nicht jetzt, wo sie erfahren hatte, dass jedes Kind eine haben konnte.

»Das heißt, Daddy wollte uns haben, sie aber nicht«, antwortete Barby unbekümmert.

Lute zog Barby an den Zöpfen zum Zeichen, dass er mit ihr fertig und bereit für Tina war. Als Barby und Tina die Plätze tauschten, krabbelten sie wie zwei kleine Hündchen über Lute hinweg.

Er setzte Tina zwischen seine Knie, fuhr sich nachdenklich mit dem Bürstenrücken an der Nase entlang und überlegte, wie das zu erklären sei.

»Nein, es heißt nicht, dass sie euch nicht haben wollten. Alle Mütter wollen ihre Babys. Aber wenn eine Mutter und ein Vater sich scheiden lassen, können sie das Baby nicht teilen, und darum müssen sie losen. Ich hatte immer das Glück, den langen Strohhalm zu ziehen.«

»Wie viele Scheidungen hatten wir?«, fragte Tina, nicht sicher, ob sie für Scheidungen war.

»Geht auf drei zu«, sagte Lute, bemüht, es wie einen völlig normalen Vorgang klingen zu lassen.

»Drei«, wiederholte Tina staunend. »Drei Scheidungen und drei Mütter.« Nebenan wohnten drei Kinder mit nur einer Mutter für alle zusammen – eine Regelung, die ihr irgendwie gefiel. Ganz bestimmt aber wusste sie, dass sie es furchtbar gefunden hätte, wenn sie und Barby und Muffin drei Väter gehabt hätten. Es war besser, nur jeweils einen beziehungsweise eine zu haben. Bloß dass sie und ihre Schwestern überhaupt keine Mutter hatten, auch wenn es früher sogar drei gegeben hatte. Sie überlegte, ob Barby sich wohl eine Mutter wünschte. Muffin wollte immer nur Puppen, damit sie die dann genauso herumkommandieren konnte wie die Haushälterin sie. Aber falls Barby sich eine Mutter wünschte, dann würde Daddy vielleicht etwas unter-nehmen. Daddy sagte doch immer, Barby sei die Vernünftigste.

Doch Barby wollte nie und nimmer eine Mutter. Sie kannte sich aus mit Müttern. Die weinten immerzu. Barby konnte sich nicht an das Gesicht ihrer Mutter erinnern, aber ihr Schluchzen hatte sie noch lebhaft und beängstigend im Ohr; später folgte das heftigere Schluchzen von Tinas Mutter, und jetzt war da die Frau, die Daddy Della nannte und die wahrscheinlich Muffins Mutter war, denn nachts schluchzte auch sie.

Bevor Tina auch nur fragen konnte, sagte Barby frei heraus: »Ich mag keine Mütter. Sie machen mich nervös, weil sie immerzu heulen. Und sie werden so oft böse, und dann rufen sie Daddy einen ›Nigger‹.«

Das war ein hartes, ein hässliches Wort, ein Wort, das noch niemand aus ihrem Mund gehört hatte. Doch um Tinas willen musste sie es jetzt aussprechen. Sie konnte sich darauf verlassen, dass Muffin sich keine Mutter wünschte. Aber sie bekam langsam Bedenken wegen Tina, die zu viel Umgang mit der Mutter von nebenan hatte. Tina wusste nicht, wie Mütter waren, wenn sie heulten wie verrückt. Sie war noch zu klein gewesen, um sich daran zu erinnern – genau wie Barby zu klein gewesen war, um es zu verstehen.

»Manchmal«, meinte Lute vorsichtig, »manchmal sagen Mütter, wenn sie böse sind, Sachen, die ihnen dann später leidtun, wenn sie nicht mehr böse sind.«

Das war für die Kinder indes kein Trost. Muffin hatte bei Barbys letzten Worten seinen Arm umklammert, und Tina zappelte unruhig, obwohl sie sich sonst zwischen Lutes Knien geborgen fühlte. Das verbotene Wort hatte die beiden erschreckt. Barby hatte gehört, wie ihre Mütter es benutzten, kein Wunder also, dass sie Mütter nicht leiden mochte. Muffin verzog das Gesicht zum Zeichen dafür, wie sehr sie diese Sorte Frauen ablehnte. Tina strengte sich an, es ihr gleichzutun, brachte es aber irgendwie nicht fertig. Das Bild der Mutter von nebenan schob sich dazwischen.

Die Mutter von nebenan weinte nie. Und jedes Mal, wenn sie Tina sah, lächelte sie. Wenn sie sprach, dann waren ihre Worte immer liebevoll. Jeden Tag nahm sie Tina in den Arm und gab ihr einen Kuss, manchmal mehr als einen und manchmal sogar mehr als zwei. Tina hatte den ganzen strahlend schönen Sommer in atemloser Vorfreude auf dieses Ritual verbracht.

Die Kinder von nebenan waren nur ein fadenscheiniger Vorwand für ihre Besuche drüben. Barby verachtete sie, weil es Jungs waren, die sie an den Zöpfen zogen, und Muffin schlug mit den Fäusten nach ihnen, wenn sie ihre Puppen außer Reichweite über ihr herumschwenkten und sie zwangen, bitte zu sagen. Aber Tina tat so, als mache es Spaß, mit Jungs zu spielen, obwohl sie schreckliche Angst bekam, wenn sie grob mit ihr umsprangen.

Der Weg zum Himmel war nicht immer leicht, aber das Ziel war alle Beulen und blauen Flecke wert. Denn dann kam die Mutter von nebenan und tröstete einen. Sie war weich und rund. Sich an sie zu schmiegen war ein ganz anderes Gefühl als bei Daddy. Ein Gefühl der Sicherheit, als könne sie so tief in diese warme, atmende Weichheit versinken, dass sie für immer vor allem, was ihr Angst machte, geborgen wäre.

Die Mutter von nebenan sagte, Tina sei genau das kleine Mädchen, das sie sich immer gewünscht hätte, bis sie schließlich den Versuch aufgab, selbst eine Tochter zu bekommen. Es war offensichtlich, dass Jungs nicht das waren, was sie sich wünschte. Wenn sie die Jungs umarmte, kicherten die albern und wanden sich von ihr los. Nicht so Tina. Sie stand ganz still, stumm und geschmeidig. Ab und zu bekam Tina sogar einen Extrakuss aus dem Liebesfonds, einen, der bei den Jungs keinen Abnehmer fand.

Ja, die Mutter von nebenan hatte Tina gefunden. Sonderbar, wie die Dinge sich entwickelten. Wunderbar, wie die Dinge sich entwickelten. Noch nie hatte es einen Sommer gegeben, der so verheißungsvoll war.

3

Muffin lachte plötzlich los. »Guckt mal, Jezebel«, quietschte sie und kringelte sich vor Vergnügen.

Sie guckten Jezebel an. Die bahnte sich gerade langsam und bedächtig ihren Weg durch den Park, wobei ihr ein unhandlich großer Pfannkuchen aus dem Maul hing. In diesem Moment blieb sie stehen, hob eine Pfote und sah sich verstohlen im Park um, ob jemand sie beobachtete. Dann ließ sie den Pfannkuchen vorsichtig zu Boden gleiten und buddelte daneben ein Loch.

Sie hatte die Angewohnheit, morgens bei den Cottages die Runde zu machen. Als einzige Hündin im Oval konnte sie über die Rasenflächen laufen und an Fliegentüren kratzen, ohne befürchten zu müssen, dass die Rüden, in deren Revier sie eindrang, Jagd auf sie machten. Ja, denen machte ihre Gegenwart Spaß – ein Spaß, der sogar durch die Tatsache, dass sie alt und sterilisiert war und von ihren Annäherungsversuchen keine Notiz nahm, keineswegs geschmälert wurde. Denn Jezebel lenkte die Rüden von ihren Streitereien ab, und ihre Gunst, soweit noch vorhanden, verteilte sie gerecht.

Jezebel nahm alles, was man ihr anbot, und fast alles außer Knochen verbuddelte sie. Nur was ihrem Gaumen besonders zusagte, verzehrte sie an Ort und Stelle, den Rest trug sie in den Park. Dass sie auch das annahm, ja sogar darum bettelte, was sie gar nicht haben wollte, geschah aus reiner Gier, aber dass sie in ihrem Magen Platz ließ für das, was ihr wirklich schmeckte, war gute Planung.

Das Haus der Coles war ihr Lieblingshalt, den sie sich bis zuletzt aufhob. Die Coles, deren alter Hund im letzten Winter gestorben war, hatten eine Schwäche für Jezebel entwickelt. Sie gaben ihr keine Essensreste, nein, bei ihnen bekam sie richtig große Fleischstücke. Nicht einmal bei sich daheim hatte Jezebel es so gut. Ein Hund, der mit Kindern zusammenleben muss, bekommt unweigerlich eine Menge unappetitlicher Reste unter die täglichen Rationen gemischt. Als Jezebel ihre Arbeit beendet und die Erde so sauber zurückgescharrt hatte, als wäre sie nie ausgebuddelt worden, begab sie sich schnurstracks, aber keuchend vor schwerfälliger Hast zur Villa der Coles.

Lute hatte unterdessen auch Tinas Zöpfe geflochten. Er zog daran, sie bog den Kopf zurück, das unschuldige Gesichtchen traumverklärt vor Liebe zur Mutter von nebenan, ein Zauber, den auch Jezebels Mätzchen nicht ganz auslöschten.

Wie um die Liebe auf diesem aufschauenden Antlitz festzubannen, küsste Lute Tina so wild, dass ihre Zähne sich in ihre Lippe bohrten und ihr ein paar Tropfen Blut in die Kehle sickerten, wovon ihr übel wurde. Als sie hastig über Lutes Knie krabbelte, um Muffin Platz zu machen, schnappte er sie und umarmte sie so ungestüm, dass es ihr den Atem nahm. Sie keuchte vor Schmerz. Ihr Brustkorb fühlte sich an wie eingequetscht.

»Aua, Daddy, nicht, das tut weh«, sagte sie mit einem Schluchzer.

Barby lief feuerrot an. »Hör auf, Daddy!«, rief sie erbost, indes Muffin, deren Hand schneller war als ihre Zunge, auf Lutes Arm einschlug.

»Ihr wisst, dass ich Tina nicht weh tun würde«, sagte er, schnappte sich Muffins kleine Faust und hob das Kind hoch über seinen Kopf, um es zum Lachen zu bringen. »Tina weiß, wie lieb ich sie hab.«

Aber eigentlich wusste es keiner richtig. Jeder Mann hat ein Kind, das sein Herzenskind ist. Für Lute war es Tina, die Tochter seiner zweiten Frau, einer polnischen Kellnerin; sie hatte sich, als sie frisch und unberührt von einer Farm im Landesinneren gekommen war, in Lute verguckt, der dunkel und gut aussehend von den formlosen weißen Gesichtern jenseits der Theke eines billigen Restaurants abstach.

Lute schlief mit ihr auf dem Speicher. Er brauchte keine Tricks, um sie dorthin zu locken, sie, die sonst nirgends hin konnte in der großen, teilnahmslosen Stadt; und er verschwendete keine Zeit darauf, sie zu verführen, denn er war ein Meister der Verführung und sie eine zitternde Anfängerin, die mehr lernte, als sie zu wissen ertrug, die Lute liebte und sich selbst hasste.

Er heiratete sie, nicht weil er es ihr schuldig war, sondern damit das Kind, das sie von ihm erwartete, einen rechtmäßigen Vater bekäme. Obwohl es viele nützliche obszöne Ausdrücke gab, die ihm zur Verfügung standen, hatte ihn keiner je irgendwen einen Bastard nennen hören. Und dieses polnische Mädchen, dem er nie eine Zärtlichkeit erwiesen oder die Treue gehalten und das er auch dann nicht als seine Frau anerkannt hatte, als sie ein Stück Papier besaß, mit dem sie es beweisen konnte, das Mädchen, das er behandelte wie eine Dienstmagd, ohne zu wissen, wie man einen Dienstboten anständig behandelt, über dessen polnische Gewohnheiten er sich lustig machte und für das er keine zwei Worte übrig hatte, die nicht in Obszönitäten wurzelten, dieses Mädchen hatte ihn in einem letzten, verzweifelten Kampf gegen seinen viel tödlicheren Hass »Nigger, Nigger, Nigger« geheißen und ihm dann die Scheidung gewährt, die er gefordert hatte, seit seine Seitensprünge sich auf eine einzige Passion konzentrierten: auf Della, kühl und gelangweilt, in ihrer Residenz auf Beacon Hill, die von seiner Art zu leben so weit entfernt war wie der allerfernste Stern.

Er griff empor nach Della und zog sie herab, herab auf sein zügelloses Niveau, und er wollte die Scheidung, um sie heiraten zu können, sie, deren Jawort er wie durch ein Wunder erlangt hatte und deren Kind – sein Kind – bereits ganz ohne Wunder gezeugt war.

Warum Della, die es schon einmal mit der Ehe versucht und sie für unzulänglich befunden hatte – und obendrein für eine teure Angelegenheit, denn es kostete sie eine Menge Geld, sich das Sorgerecht für ihren Sohn zu erkaufen –, warum sie dieses Sorgerecht gefährdete und mit ihm das Glück und die Psyche ihres Sohnes, den sie vergötterte, ohne zu ahnen, wann er das alles erfahren würde, aber wohl wissend, dass sie sich seinem Wissen nicht stellen könnte, warum sie also, die nichts zu gewinnen, aber alles zu verlieren hatte, sich so weit mit Lute einließ, bis ihr nur noch die Katastrophe bevorstand? Weil sie, wie die Polin, mit der sie sonst so gar nichts gemein hatte, in sich den Keim der Selbstzerstörung trug.

Seine erste Frau dagegen war eine Schlampe gewesen, die herumgelungert und darauf gewartet hatte, dass Lute, oder einer wie er, vorbeikam – eine Schulschwänzerin aus der Junior High, ein Flittchen mit Kindergesicht, echt scharf und bildhübsch. Jeder Junge in der Schule wäre mit ihr gegangen, aber sie hatte eben diese Marotte, sprich eine Vorliebe für Schlecht statt Gut, Schwarz statt Weiß. Sie war eine kleine Alleswisserin gewesen, die dennoch nicht mehr wusste als das, was sie in schmutzigen Büchern gelesen hatte.

Sie hatte gedacht, ihre Rendezvous mit Lute auf dem Speicher, wohin ihr rascher, fester Schritt sie durch die leeren, hallenden Straßen führte – vorbei an nächtlich geheimnisvollen Häusern, in deren Eingänge sie verstohlene Blicke warf, nicht aus Furcht, sondern fasziniert von dem Unwägbaren, und wo das Quietschen ihrer Schuhe so verloren und einsam klang wie Kinderweinen –, diese ekstatischen Nächte, dachte sie, und der Alkohol, den sie trank wie Wasser, und die Geschenke aus dem Pfandhaus, die Lute ihr mitbrachte, würden aus ihr eine kühne Abenteuerin machen, die jetzt ein Leben in Liebe und Luxus begann, ein Leben, das irgendwann einmal auf der anderen Seite des Ozeans im vergoldeten Palast und dem güldenen Bett eines turbantragenden Fürsten enden würde.

Doch sie zählte die Tage nicht, denn allein die Nächte beherrschten ihre Sinne. Und als ihre Regel ausblieb und es auf dem Kalender nichts abzuhaken gab, wusste sie nicht, wie sie Lute beibringen sollte, dass sie als seine Geliebte versagt hatte. Sie sagte ihm gar nichts. Er sah ihre schwellenden Brüste; er hörte ihren schleppenden Schritt auf der Bodentreppe und ihr Stöhnen beim Liebesakt, das mehr Abwehr ausdrückte als Lust.

Er heiratete sie und steckte sie in eine Wohnung in einem Stadtteil, wo armes schwarzes Pack und armes weißes Pack sich ungerührt mischten.

Lute war nicht absolut sicher, dass ihr Kind von ihm war, aber er wollte nicht, dass ein Kind von ihm als Bastard zur Welt käme, und so ließ er es darauf ankommen und bereitete sich, auch wenn er keinen konkreten Plan hatte, eiskalt darauf vor, beide, Mutter und Kind, zu töten, sollte das Kind keinerlei Anzeichen schwarzer Abstammung tragen.

Und sie, die die Ehe genauso wenig wollte wie Lute, weil doch die Hochzeit ein moralischer Akt war, sprach das Gelübde der Keuschheit und des Gehorsams voll Hass auf ihren unförmigen Körper, denn sie dachte, wenn sie schon auf ewig für die Liebe verdorben wäre, sei es auch egal, ob sie einen Ehering trug und einen Kinderwagen schob.

Als ihr Kind geboren wurde, konnte sie ihm nicht verzeihen, dass es am Leben blieb. Als dann ihre Lust von neuem erwachte und ihr Blut wieder in Wallung geriet, da ertrug sie die Hilflosigkeit des Babys nicht, mit dem es sie an seine Bedürfnisse fesselte.

Lute versuchte, ihr die Liebe zu ihrem Kind einzuprügeln, und ihre Empörungsschreie waren Schreie der Liebe, die ihn zu noch ärgerer Brutalität anstachelten. Nie sah er sie anders als missmutig, ob sie nun das Kind liebkoste oder zu ihm sprach oder es fütterte und wickelte.

Wenn er heimkam, untersuchte er das Baby, befühlte seinen Bauch, um zu prüfen, ob er voll war, und seine Windel, um zu prüfen, ob sie trocken war, und schnüffelte an ihm, um festzustellen, ob es sauber roch oder stank. Und wie immer er das Kind auch vorfand, ob vor Hunger brüllend oder zufrieden gurrend, immer hinterließ seine Hand einen Striemen auf seinem Weib, und in der Nacht verschmähte er sie, denn er wollte keine Frau, die keine Kinder wollte und die ihn daran erinnerte, dass er selbst keine Erinnerung an Mutterliebe hatte.

In dieser Hölle lebten sie drei Jahre lang, eine Zeit, in der die Frau sich alles an überschüssigem Sex nahm, was sie von jedwedem Lieferanten kriegen konnte, der an ihre Tür klopfte und Zeit und Lust hatte. Lute hatte unterdessen längst aufgehört zu zählen – oder vielleicht auch nur den Überblick verloren –, wie viele Frauen er auf dem Speicher flachlegte, Frauen von der Straße, über die er sich mit so primitiver Fleischeslust hermachte, als trüge eine jede von ihnen das Gesicht seiner Mutter, jenes Gesicht, von dem er doch nicht einen Zug kannte.

An dem Tag, als er seine Tochter allein vorfand – nicht dass sie zuvor nie allein geblieben war, er hatte sie nur nie allein angetroffen, und die Kleine war so daran gewöhnt, dass sie es nicht ausgeplaudert hatte –, an dem Tag riss er sie an sich und brachte sie zu einer Nachbarin, einer Frau, die er vom Sehen kannte und die eine hässliche, furchtbar dicke und schmierige Person war, die er jedoch für häuslich hielt und der er zutraute, dass sie keinen Mann hatte außer dem, mit dem sie verheiratet war, eine hässliche Schwarze, der er unbesorgt sein Kind anvertrauen konnte, während er heimging, um seine weiße Frau zu töten.

Er ging also heim und wartete, und in den Stunden des Wartens entschied er, der nur seine Hände zum Töten hatte – Hände, die eigentlich nicht zum Töten geschaffen waren –, dass es die süßere Rache wäre, das Miststück von Mutter rauszuwerfen, auf dass sie verkaufe, was ihm nichts wert war, verhungere, wenn es auch keinem anderen mehr etwas wert war, und langsam und qualvoll stürbe, unbekannt und unbeweint, genauso wie Gott, hoffte er, seine Mutter bestraft hatte.

Sie starb, ohne krank zu werden oder lange leiden oder hungern zu müssen, in einer Seitengasse in Chinatown, und sie sah aus wie ein verirrtes Kind, das sich überall zum Schlafen niederlegen würde oder, falls niemand es vorher fand, auch zum Sterben. Sie hatte zwar ein Obdach und einen Chinesen, der sie mit liebesglühenden Lenden erwartete, aber sie war zu betrunken gewesen, um vom Bett ihres letzten Freiers nach Hause zu gelangen, und zu sehr bedrängt von der Vorsehung, um ihrem Schicksal zu entgehen.

Lute beerdigte sie, denn es war der Polizei ein leichtes, ihre Geschichte von dem gelben Mann zu dem schwarzen zurückzuverfolgen. Die furchtbar dicke, hässliche Frau kannte eine Witwe, genauso potthässlich und prosaisch wie sie selbst, und diese Witwe wurde Lutes erste Haushälterin, bevor er erkannte, dass eine Haushälterin nicht abstoßend zu sein brauchte und auch noch gut im Bett sein konnte, ohne dass es extra kostete.

Nun, da er den Speicher hatte und das Bett seiner Haushälterin, fehlte es Lute eigentlich an nichts, es gab nichts, das in ihm die Sehnsucht nach der linkischen Unschuld der Polin geweckt hätte, die ihn weder erregte noch befriedigte, es sei denn, tief in ihm wurzelte der Drang, Kinder zu zeugen, die ihren Vater kannten.

Inzwischen gab es da noch Muffins Mutter Della, Ehefrau Nummer drei, heimliche Ehefrau Nummer drei und weiß Gott heimliche und immer noch erstaunte Mutter, die erst eins von Lutes Möbelstücken und dann Lute selbst gekauft hatte, indem sie ihm die Türen ihrer Freunde öffnete.

Er hatte mit hochgezogenen Schultern vor diesen Türen gewartet, während ein Diener sich erkundigen ging, ob Lute den Vordereingang benutzen dürfe. Wenn der Diener zurückkam, folgte Lute ihm in ein Frühstückszimmer, wo Della oft schon vor ihm eingetroffen war, absichtlich, um sich an seinem Unbehagen darüber zu ergötzen, dass er sie hier inmitten ihrer Freunde fand, die nicht seine Freunde waren und es nie sein würden, und wo sie dann an ihm vorbei, um ihn herum und gewiss später auch über ihn redete, ja ihn behandelte, als wäre er eins seiner Möbelstücke, und wo ihre Blicke sich nie mit den seinen trafen.

Die Polin bekam die unsinnigen Schläge zu spüren, die er Della nicht zuzufügen wagte, ertrug seine überbordende Frustration, und als sie es nicht mehr aushalten konnte, als es besser war, auf Händen und Füßen zu ihren eigenen Leuten zurückzukriechen und auf ewig mit ihrem Hohn zu leben, anstatt bei lebendigem Leibe aufgefressen zu werden, da gewährte sie Lute die Scheidung, die er nicht aus ihr hatte herausprügeln können, überließ ihm das Kind, das er nie das ihre hatte sein lassen, und klammerte sich mit ihrem ungetrösteten Herzen an die wertlose Erkenntnis, dass seine Triumphe zu hart erkämpft waren, um ihm Glück zu bringen.

Lute, dem das liebste von seinen Kindern die sanfte Kleine jenes sanften Mädchens war, das er nie auch nur zu lieben versucht hatte, und dessen Blut zu Wasser wurde, wenn Tina weinte, während bei den Tränen ihrer Mutter sein Blut zu Eis erstarrt war, Lute hatte beschlossen, dass Tina das Beste haben sollte, das er ihr geben konnte, was immer es auch ihn oder andere kosten möge.

In diesem kleinen, von Addie Bannister gemieteten Cottage, das zweimal in Lutes großes Haus in Boston hineingepasst hätte, wo jedes einzelne Möbelstück von ihm selbst entworfen war, während Addie Bannisters Betten und Stühle es, wie ihre Besitzerin, nicht mehr lange machen würden, hier in diesem Cottage war Tina glücklicher gewesen, als Lute sie je erlebt hatte.

Sie liebte das mütterliche Auge des Ovals, wo alle Kinder ein bisschen jeder der wachsamen Mütter gehörten, liebte es, ohne zu wissen, dass sie beim Spielen im Park nur geduldet oder dass der Sommer fast vorbei war.

Für Lute hatte Tinas Sommer im Oval eben erst begonnen. Niemand würde sie um die Freude bringen dazuzugehören. Er hatte versucht, auf saubere Art dafür zu kämpfen – jetzt würde er sich auf einen schmutzigen Kampf verlegen. Zu Anfang, als die Stellungen bezogen wurden, hätte er sich noch mit einem Platz auf der Hochzeit begnügt und nicht mehr verlangt als diese Garantie auf sein Recht, ins Oval zurückzukehren. Aber die Coles hatten sich auf ihre popelige Einladung dermaßen viel eingebildet, dass sie seinen Namen noch nicht einmal auf die Liste setzten. Sie hatten den Kampf erzwungen. Und jetzt würde er sich mit nichts Geringerem zufriedengeben als dem Besten, das sie zu bieten hatten.

Das Gerede, das am Strand hin- und herwogte, ließ keinen Zweifel daran, dass man Addie Bannister noch vor dem ersten Schnee zu Grabe tragen würde. Ihr Puppenhaus konnte Lute dennoch nicht für Tina kaufen, trotz all seines Geldes und seiner Kreditwürdigkeit. Dafür würden die allmächtigen Coles schon mit einem diskreten Hinweis an den puritanischen Bostoner Anwalt sorgen, der Addies kümmerliche Hinterlassenschaft regelte.

Sei’s drum, er wollte es gar nicht haben, dieses Puppenhaus. Das konnten sie sich sonst wohin stecken. Nächsten Sommer und jeden Sommer danach, bis der Teufel ihn am Schlafittchen kriegte, würde er nämlich allabendlich seine Hosen in dem gottverdammten Cottage der Coles ausziehen und im Bett ihrer kostbaren Tochter schlafen.

Shelby war reif, man brauchte nur zuzulangen. Er kannte die Anzeichen der Kapitulation. Und was bot ihr ein Weißer, wovon er nicht hundertmal mehr hatte? Er brauchte nichts weiter als eine Stunde mit ihr allein, um das Kristall zu brechen, durch das er so deutlich hindurchschauen konnte. Die Frau gab es nicht, die er nicht in die Knie zwang, und es würde nicht lange dauern, bis auch Shelby um mehr bettelte und ihm nichts versagte, nicht einmal ihre Hand zum Ehebund.

Seine Kinder würden sehr viel früher auf seiner Hochzeit tanzen als diese Ovaliten auf der, für die sie schon vorgedruckte Karten hatten.

Er richtete seinen triumphierenden Blick auf Tina. »Wer möchte nächsten Sommer wieder hierherkommen?«, frohlockte er, und die erwartete Antwort formte Lachfältchen um seine Augen.

»Ich! Ich! Ich!«, jauchzten die drei kleinen Mädchen, und ihre Popos hüpften vor Eifer auf und nieder.

Lute runzelte die Brauen. »Aber angenommen, wir können dieses Haus nicht noch mal mieten? Was, wenn wir überhaupt keins mieten können?«

»Oh, was machen wir dann?«, jammerten sie.