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Charles de Coster

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Beschreibung

"Nicht der Wein erhitzt sie, noch die im Ofen brennende Kohle, sondern das Feuer ihrer Herzen. Es ist ihnen, als wiegten sie sich auf einem zugleich stürmischen und liebkosenden Meere, in einem Nachen, dessen heftigste Stöße süß sind. Sie blicken sich an und reden nicht. Die Austern, die Gänseleber, der Hummer dünken ihnen grobstofflich; selbst dem so roten und funkelnden Wein fehlt das Feuer, das ihnen in leuchtenden Strömen aus den Augen zu brechen scheint und sich strahlend durchs Zimmer ergießt." Charles De Coster (1827-1879) war ein belgischer Schriftsteller. Sein Ulenspiegel, das Epos des Freiheitskampfes der Flamen gegen die spanische Unterdrückung, begründete die moderne französischsprachige Literatur Belgiens.

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Charles de Coster

Die Hochzeitsreise

e-artnow, 2018 Kontakt: [email protected]
ISBN 978-80-268-8219-0

INHALTSVERZEICHNIS

Erster Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Zweiter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Dritter Teil

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

ERSTER TEIL

Inhaltsverzeichnis

KAPITEL 1

Inhaltsverzeichnis

»Mein Gott, Herr Doktor, ist sie wirklich tot?«

»Ja, Frau.«

»Man dürfte sie doch nicht lebendig in die Erde legen. Das Kind hat nicht so starke Nägel, um ein Loch in die Sargbretter zu kratzen.«

»Sie ist tot, wie Sie sehen, und schon starr.«

»Ja ... starr ... ja! Sie gehen, Herr Doktor? Ach, ist da wirklich nichts mehr zu machen?«

»Nichts, Frau, leben Sie wohl.«

»Gute Nacht, Herr Doktor. Siska, wir wollen dem Kinde sein weißes Kleid mit den roten Tupfen anziehen, das sie neulich beim Tanzen anhatte, ihre Seidenstrümpfe und Saffianschuhe. Geh doch und sage dem Herrn, der da unten so lärmt, es wäre kein Beefsteak da, aber er würde bald ein Kalbskotelett kriegen. Er soll sich gedulden; wir sind doch nur zwei, um das Haus zu versorgen. Sag ihm das. Geh und komm schnell zurück.«

Siska gehorchte und kam wieder.

»Wo ist das Kleid mit den Tupfen, Siska?«

»Hier, Frau, unter dem Schal.«

»Gib her. Sind noch weiße Hemden von dem Kind übrig?«

»Ja, Frau.«

»Hilf mir, wir wollen sie anziehen.«

»Ja, Frau.«

»Zieh ihr die Jacke aus. Ich werde sie halten. Sonderbar, sie ist nicht schwer. Sachte beim Ausziehen der Ärmel. So. Jetzt den Rock, dann ihr armes Hemd. Zieh ihr rasch das andre über, sie soll nicht solange nackt liegen. Weine nicht, Siska.«

»Ach, Frau, wie schade ist das! Ich habe noch nie ein so schönes und so gutes Mädchen gesehen. Sie hätte einen braven Mann recht glücklich gemacht.«

»Sollen wir ihr ein Häubchen aufsetzen, Siska? Sie mochte nie eins tragen. Jetzt ist's was andres: Die Würmer werden ihr nicht so schnell in den Kopf kommen. Und das rote Halstuch unters Kinn geknüpft. Es steht ihr so gut, das Tuch. Nun ihr Kleid. Wickle jedes Bein in die Rockfalten. Das Mieder werde ich ihr zuhaken. Siska, hast du Grietje die Augen geschlossen?«

»Nein, Frau.«

»Seltsam, schließen die Toten denn jetzt von selber die Augen?«

Die Frau, die so sprach, war eine Mutter, eine alte Mutter. Sie war bisher ruhig geblieben, aber nun brach sie plötzlich in Schluchzen aus. Dann beugte sie sich über das Bett und gab ihrer Tochter mit ihrem närrischen Mund tausend Küsse, prüfte mit Lippen, Blick und Nase ihren Hals, ihre Kehle, ihre linke Brust, in der Hoffnung, einen Atemzug aufzufangen, eine Bewegung der Augen, der Lippen, des Körpers zu erhaschen, einen Herzschlag von der zu hören, die auf dem Bette lag. Das währte lange.

Dann setzte sie sich verzweifelt auf einen Stuhl.

»Der Doktor hat recht,« sagte sie, »Grietje ist tot.«

Dann ergriff sie ihre Hand, ließ dicke Tränen langsam darauf tropfen und klopfte ihr mechanisch auf die Handfläche, wie einst, als ihre Tochter klein war und Nervenanfälle hatte.

KAPITEL 2

Inhaltsverzeichnis

Diese Szene fand in einem großen gotischen Haus in der St.-Peters-Straße zu Gent statt.

Der Doktor war eben gegangen. Er war einer jener dicken Menschen mit rotem Gesicht, die ihr Brot mit der Heilkunst verdienen, es aber als Schuhmacher nicht verdient hätten. Die vierzig Arten, gute Biersuppe zu machen, kannte er gründlich, aber seine Studien hatte er seit seinem letzten Examen eingestellt. Beobachten und Nachdenken war für ihn eine Ausnahme, Essen und Trinken die Regel. Man hielt ihn für einen Biedermann, weil er gleichgültig war, für klug, weil er wenig sprach, für einen ausgezeichneten Arzt, weil es ihm selber vorzüglich ging.

Die Frau, die mit ihm gesprochen hatte, war klein, alt und blond und trug, wie in vorweggenommener Trauer, ein dünnes schwarzes Wollkleid, das sich auf ihrer flachen Brust bauschte und auf ihrem mageren Rücken spannte. Der Gesichtsausdruck Roosjes – so hieß die Alte – gemahnte in ruhigem Zustand an den der Buschelster. In diesem Augenblick war ihr kleines, böses Gesicht nur vom Schmerz belebt.

Die Magd, der sie Aufträge gab, hatte ein plattes Gesicht, eine Stumpfnase, kleine, schwarze, tiefliegende Augen unter dichten Brauen, breite Schultern und rote, kaum ausgebildete Hände mit langen, mißgestalteten, stumpf auslaufenden Fingern. Durch schwere Feldarbeit hatte Siska Hüften wie ein Mann bekommen und ihr ganzes Wesen war noch schwerfälliger und einfältiger geworden. Sie ließ sich schwer in Wallung bringen, und doch hatte sie feuchte Augen, wenn sie Grietje ansah.

»Siska,« sagte die alte Roosje plötzlich in ruhigem Tone, »wir brauchen den Sarg heute noch nicht zu bestellen.«

Mit diesen entschiedenen Worten setzte sie sich an das Bett, sichtlich entschlossen, einen neuen Kampf mit dem Tod aufzunehmen, als wäre Grietje noch nicht in seinem Bann. Mit einer herausfordernden Gebärde, die dem Sensenmann galt, ergriff sie von neuem den Arm des jungen Mädchens, hob ihn auf und wollte ihn beugen – er bog sich nicht. Sie hob die Beine, eins nach dem andern, aber sie blieben steif und lagen ihr wie Blei in den Händen. Nun bekam sie Angst, richtige Angst; dennoch blickte sie ihre Tochter fest an, mit einem Blick wie Christus, da er den Lazarus erwecken wollte, einem Blick, in dem alles lag, was eine Menschenseele an Willen aufbieten kann. Das währte lange, aber nach und nach schwand die Kraft, der Wille, die Härte des Ausdrucks aus ihrem Gesicht; die Muskeln entspannten sich, die Augen wurden feucht, die Lippen zuckten und die alte Roosje warf sich auf ihr Kind.

KAPITEL 3

Inhaltsverzeichnis

Über eine Stunde weinte Roosje jene Tränen, die den Körper krümmen, schütteln und beben lassen, wie der Sturmwind mit seinen Flügelschlägen die einzelnen Bäume auf den weiten Ebenen beugt und krümmt.

Sie liebte ihre Tochter mit eifersüchtiger Liebe, aber ihr Herz schlug fast ebenso lebhaft für ihre Geldtruhe, die am Fußboden ihres Schlafzimmers angeschraubt war. Bisweilen hatte sie diesem andern Gegenstand ihrer Zuneigung ein, zwei Goldstücke entrissen, um ein Kleid für Grietje zu kaufen.

Dann hatte sie, zärtlich und brummig zugleich, zu ihrer Tochter gesagt: »Geh und hole mir den Kaufmann. Er soll kommen und uns die neuen Stoffe zeigen; du sollst bei der nächsten Kirmeß schöner sein als die anderen.«

Grietje gehorchte freudig. Der Kaufmann kam. Roosje erbebte, wenn sie ihn nur eintreten sah. Er war für sie ein Räuber mit einem Messer in der Hand; sie erlaubte ihm, ihr ein Stück Fleisch abzuschneiden. Er legte die Stoffe vor; Roosje brauchte eine Stunde, um ihre Wahl zu treffen und sich über den Preis zu einigen, den sie mürrisch bezahlte. War der Kaufmann fort, so beruhigte sie sich wieder und hielt, so gut sie konnte, die kalten Tränen zurück, die sonst auf den Stoff hätten fallen und ihn verderben können.

Dann sagte sie zu Grietje: »Komm her, mein Lamm.« Sie legte den Stoff um den Rücken ihrer Tochter, streichelte ihn, raffte ihn in der Sonne und im Schatten und begann ihn zu lieben, weil er ihrer Tochter Freude machte, und auch, weil er Grietjes wirkliche Schönheit zur Geltung brachte. Ebenso ging es mit den feinen Baumwollstrümpfen, die sie ihr kaufte und ihr selbst anziehen wollte, wobei sie die Schönheit ihrer Beine lobte; ebenso mit Grietjes Kopfputz, einem großen, weißen Kaschmirtuch mit hellblauen, von gelber Seide durchwirkten Palmenmustern.

Bei jedem neuen Opfer sagte sie zu ihr: »Du wärest nichtswürdig, wenn du mich nicht liebst. Ich zapfe mir Blut ab, um dich schön zu machen. Küsse mich.

Grietje gab ihrer Mutter einen langen Kuß. Sie liebte sie, war aber spröde und wenig für äußere Kundgebungen. Allzu lebhafte, ausgedrückte Leidenschaften, wie rein sie auch sein mögen, erschrecken die Kinder.

Nach solchen kurzen Augenblicken der Zärtlichkeit ging Roosje wieder an ihren Zahltisch, in ihren Keller oder in ihre Küche, tat Spiritus, Zucker und gekochtes Wasser in ihren Wein, beschnitt die Ränder der Fleischstücke im Speiseschrank, um das Fleisch für die Frikandellen zu erübrigen, und schickte sich an, die Bauern zu schröpfen und die Reisenden auszusaugen: sie schenkte das Bier rasch ein, damit es kräftig schäumte, tat Kokkelskörner und Strychnin hinein, damit es bitter war und den Durst reizte, trocknete die Schnapsgläser nicht aus, so daß stets ein Drittel Wasser oder mehr zurückblieb und sie auf neun Flaschen eine ersparte. Durch solche unlauteren Machenschaften gewann sie so viel frisches Blut, daß sie sich, ohne zu sterben, wieder zur Ader lassen und ihre Tochter von neuem beschenken konnte. So war Roosje gut und edel in ihrer Liebe, selbstsüchtig und schlecht in ihrem schmutzigen Geiz. Darum liebte sie ihre Tochter auch so, und darum hatte sie, schluchzend und gebrochen, Grietje mit ihren Tränen benetzt und die Zähne in ihre Stirn, ihre Wangen und ihren Nacken gedrückt.

KAPITEL 4

Inhaltsverzeichnis

Besorgt richtete sie sich auf und sagte zu Siska: »Du hast doch nicht das Wirtshaus geschlossen?«

»Aber ... doch ... Frau.«

»Wie? Weil der liebe Gott mich in meinem Kinde geschlagen hat, brauchst du mich doch nicht zu hindern, meinen Unterhalt zu verdienen. Geh runter, öffne und sage, ich käme gleich.«

»Jawohl, Baasin,« antwortete Siska und ging gehorsam hinunter.

Roosje horchte aufmerksam, was ihre Magd tat. Sie hörte, wie die Fensterläden aufgingen und gegen die Wand schlugen; wie ein Bauer in die Wirtsstube trat und ein Glas Wacholder verlangte, ein anderer eine Pintje Bier, dann ein dritter, ein vierter und so weiter allerlei Leute, die, je nach Hunger oder Durst, einen Speckeierkuchen, ein Kotelett, Bier oder Schnäpse bestellten.

An dem ungeduldigen Ton von Siskas Stimme merkte Roosje, daß die Magd den Kopf verloren hatte und somit im Begriff war, gegen den Vorteil der Wirtschaft zu handeln, das heißt zu viel Speck in die Eierkuchen zu tun, die Biergläser zu voll zu schenken, die Schnäpsgläser zu gewissenhaft zu reinigen und die Pumpe, die das Bier aus einem großen Faß Uitzet im Keller emporhob, unbeaufsichtigt zu lassen.

Die Bauern strömten in die Wirtschaft, um die Nacht dort zu verbringen. Roosje hörte, wie Siska sie, einen nach dem andern, in alle Stuben und alle Stockwerke bis unter das Dach führte. Sie lächelte. Siska kam an ihr vorbei; sie hielt sie an und fragte sie, ob alle besetzt wären.

»Alle außer dieser,« antwortete Siska und ging eilig hinunter.

Roosje horchte weiter und hörte sie sagen: »Glauben Sie etwa, ich könnte Sie hier bedienen und zugleich unten einen Eierkuchen für Sie machen?«

»Gehen wir wo anders hin,« lautete die Antwort.

Das wiederholte sich dreimal mit drei verschiedenen Leuten. Dreimal klang an Roosjes Ohren das schreckliche Wort »wo anders.«

Ein seltsamer Kampf fand in ihrer Seele statt: die liebende Mutter wollte bei der Leiche ihrer Tochter bleiben; die Geizige mit den Krallenfingern wollte hinuntergehen und Geld verdienen. Roosje hüpfte in ihrem Stuhl.

Bei jedem ungeduldigen Wort, jeder Ungeschicklichkeit Siskas stand sie auf und setzte sich wieder, ging an die Tür, um zu horchen, kehrte zurück, um die Stirn ihrer Tochter oder ihre bleichen Wangen zu küssen, horchte von neuem und setzte sich abermals, um über Grietjes Antlitz zu weinen und zu schluchzen.

Unterdessen gingen die Stammgäste, die Siska schlecht bediente oder ganz vergaß, einer nach dem andern fort und sagten: »Gehen wir wo anders hin.« Ein bewegliches Bleigewicht schloß die Tür hinter den Gehenden und Kommenden. Jedesmal, wenn ein Gast die Tür öffnete, um zu gehen, schlug das Blei mit Gewalt gegen den Türrahmen und die Füllung, und jedesmal fuhr Roosje zusammen, als hätte sie einen Faustschlag aufs Herz bekommen.

Schließlich hielt sie es nicht mehr aus, stand wirklich auf, bedeckte das Gesicht ihrer Tochter mit dem Bettlaken und ging hinunter, die Augen voller Tränen und die Kehle voller Schluchzen, aber fest entschlossen, all das schöne Geld, das ihr zu entgehen drohte, festzuhalten.

Die Bauern begrüßten ihr Erscheinen mit Hurrageschrei und Beifall. Mehrere, die schon die Hand an der Türklinke hatten, um fortzugehen, kehrten zurück.

Vriendjes,« fragte Roosje, »was wollt ihr haben?«

»Butterbrot mit Käse, Schinken, Eierkuchen, Ballekes, ein Kotelett, Gerstenbier, Uitzet, Absinth, einen Bittern, Punsch!« schrien sie alle durcheinander.

Roosje versuchte zu scherzen, um Zeit zu gewinnen: »Trinkt, eh ihr eßt, das reizt die Eßlust. Wer bekommt Absinth? Wer Punsch? Den Bittern? Uitzet? Gerstenbier?«

»Hier. Mir den Punsch, Wacholder, Gerstenbier, Uitzet und so weiter!« riefen die Bauern.

»Hilf mir, Siska!« sagte Roosje, »und spute dich!«

Siska, die in Roosjes Abwesenheit den Kopf verloren hatte, fand sich sofort wieder, als Roosje eintrat, und bediente die Bauern ordnungsgemäß und schnell. Nach Verlauf einer Stunde hatten alle getrunken, gegessen und bezahlt.

Wiewohl mit dem Einnehmen und Herausgeben des Geldes vollauf beschäftigt, verschwand Roosje oft, um hinaufzugehen und Grietje zu küssen, dann ging sie wieder hinunter, die Kehle voll Schluchzen, und bediente schweigend ihre Gäste. Es wurde Abend.

KAPITEL 5

Inhaltsverzeichnis

Allmählich leerte sich die Gaststube. Roosje kehrte zu ihrer Tochter zurück. Ein junger Mann betrat das Wirtshaus und sagte zu Siska, die am Zahltisch geblieben war: »Ich möchte hier übernachten, führen Sie mich in mein Zimmer.«

»Es ist keins mehr frei,« antwortete die dicke Magd traurig.

Roosje hatte nicht aufgehört, auf alles, was im Erdgeschoß vorging, zu horchen. Im selben Augenblick kam sie, vier Stufen auf einmal nehmend, die Treppe herunter und sagte: »Du bist dumm und weißt nicht, was du tust.«

»Aber, Frau, es ist doch nur noch das Zimmer da, wo ...«

»Schweig!«

Der Ankömmling blickte die beiden Frauen abwechselnd an. Er hatte einen aufmerksamen, guten und sicheren Ausdruck, der sofort für ihn einnahm. Er war ziemlich mager, über mittelgroß, mit starker Brust, breiten Schultern und schlanken Hüften; seine Stirn war hoch, die Nasenflügel weit geöffnet, der Mund fein, ziemlich groß, von einem leichten braunen Schnurrbart beschattet, das Kinn kräftig und wohlgeformt, sein Lächeln sanft und fröhlich. Alles verriet die Kraft und Biegsamkeit des Körpers, die Klarheit, Schärfe und Ehrlichkeit des Geistes.

Mit ruhiger, vielleicht etwas gebieterischer Gebärde winkte er Roosje herbei, die vor ihn trat, bestellte ein Glas Bier und zog seinen Geldbeutel, um es zu bezahlen. Dabei zeigte er ihren gierigen Augen Silber, Gold und Banknoten.

»Frau,« sagte er, »haben Sie wirklich kein Zimmer frei?«

»Herr,« antwortete Roosje, etwas beschämt vor Siska, »wir haben noch eins mit zwei Betten, aber in dem einen schläft jemand.«

»Dann werde ich anderswo einkehren,« sagte der junge Mann und stand auf.

»Anderswo, nein, mein Herr!« rief Roosje und nötigte ihn, wieder Platz zu nehmen. Dann wies sie zur Decke: »Die dort liegt, wird Sie nicht im Schlafe stören.«

Und Roosje weinte still.

Der junge Mann ergriff die Hand der Alten, eine fiebernde Hand, die zuckend in der seinen lag. Er blickte Roosje mit dem herzlichen, ehrerbietigen Mitleid an, das man vor dem Leid des Alters empfindet, sah ihre rotgeweinten Augen, die stumme Verzweiflung, die mit tiefen Furchen in dies verfallene Gesicht eingegraben war, sah ihre zitternden, verzerrten Lippen. Er dachte an die Worte: »Die dort liegt, wird Sie nicht im Schlafe stören,« und begriff, daß diese Frau etwas Unersetzliches verloren hatte, zweifellos eine Tochter, und daß ihr folglich nichts übrig blieb als Lästerung, Wahnsinn oder bleiche Ergebung.

Der Ankömmling war jung, und die Jugend wirkt in ihren Lebensfaden gern die goldnen Maschen der Hoffnung ein.

Er war nicht überzeugt und wollte es nicht sein, daß die, die dort lag, ihn nicht im Schlafe stören könnte. Er sagte zu Roosje: »Zeigen Sie mir das Zimmer, von dem Sie sprechen.«

Roosje zündete eine kleine Lampe an.

»Kommen Sie,« sagte sie, indem sie vorausging und die ersten Stufen der Wendeltreppe hinaufstieg.

Die Lampe verbreitete gerade so viel Licht, daß er auf dem rötlichen, rauchigen Grunde den mageren Schattenriß der Alten erkannte, die bisweilen, von Schluchzen erstickt, stehen blieb und mit schweren Schritten hinaufstieg.

Sie kamen auf den Flur. Zwischen den Pfosten und der Füllung einer schmalen, niedrigen, alten Eichenholztür drang ein Lichtstrahl hervor. Roosje stieß sie auf.

KAPITEL 6

Inhaltsverzeichnis

Roosjes Gast trat ein. Er sah sich in einem großen Zimmer mit hoher Decke, die auf gekreuzten Balken ruhte und aus dem 14. Jahrhundert stammte. Die hohen Fensternischen durchbrachen eine vier Fuß dicke Mauer; die zu beiden Seiten aufgemauerten Fenstersitze erinnerten an die schlichten Sitten jener fernen, von Poesie verklärten Zeiten. Es fehlten die Bänke, die früher rings um den Saal liefen, und die Truhen, die zugleich als Sitze und Reisekoffer dienten und den ganzen Reichtum der Familie bargen. Die naiven Skulpturen an den hohen Pfosten des breiten Kamins verschwanden fast unter den zahllosen Tüncheschichten, mit denen unbewußte Vandalen sie seit vier Jahrhunderten immer wieder bedeckt hatten.

Draußen schien der Mond, die Fenster waren ohne Vorhänge. Den Ersatz bildeten die Stämme und Äste entblätterter Linden, die sich schwarz vom blauen, tiefgestirnten Himmel abhoben, aber dem hellen Mond nicht verwehren konnten, den rauhen Fußboden des Zimmers mit lichtem Geäder zu sprenkeln.

Zwei Betten standen darin, das eine am Fenster, das andre bei der Tür und ohne Vorhänge. Am Kopfende dieses Bettes stand ein Tisch und auf ihm ein Kasten, der mit einem Tuche bedeckt war und ein großes Kruzifix aus Mahagoni trug; der Christus und der Totenschädel waren aus Buchsbaumholz geschnitzt. Zwei dicke gelbe Kerzen brannten in hohen Holzleuchtern und beschienen das Bett, auf dem eine völlig angekleidete weibliche Gestalt unter den schweren Falten eines groben Bettlakens den letzten Schlaf zu schlafen schien. Auf dem Stück des Lakens, das die Brust bedeckte, lag ein verdorrter Buchsbaumzweig mit verhärteten Blättern. Das schräge Kerzenlicht warf lange Schatten und ließ die Gegenstände scharf hervortreten. Der Ankömmling bat Roosje mit einer Gebärde um Erlaubnis, das Bettuch zu lüften, mit dem Grietje bedeckt war.

»Ja, ja,« sagte Roosje, »nehmen Sie das Tuch fort, dann wird sie weniger tot aussehen.«

Langsam nahm er das Laken ab, mit jener taktvollen Sanftheit, die man Toten gegenüber hat, als fürchte man, ihnen wehe zu tun. Nach und nach erblickte er ein weißes Häubchen, das eine niedrige, kluge Stirn umschloß, schwarze, schön geschwungene Brauen, Lider mit langen Wimpern, eine gerade Nase, die sich zwischen den Brauen und über den großen, durchsichtigen Nasenflügeln rundete. Der Abstand vom Mund war klein. Die vollen, etwas großen, aber feingeschwungenen Lippen stellten das dar, was die Alten den Bogen Amors nannten. Das Gesicht war bräunlich getönt und hatte edle, stark ausgeprägte Züge, die einen sanften, entschlossenen, geduldigen, schlichten und naiven Charakter verrieten. Kleine, feste, runde Brüste hoben sich unter dem Musselinmieder ab. An den Füßen trug sie feine weiße Strümpfe und Ballschuhe aus Goldkäferleder.

»Sehen Sie, Herr,« sagte Roosje, »sehen Sie meinen schönen Schatz, der morgen in die Erde muß. Sehen Sie ...«

Doch der Schmerz erstickte sie; sie barg ihren Kopf in der Schürze, aus der ihre Klagelaute unwillkürlich wie ein Röcheln hervordrangen. Dann wieder fielen ihre Arme am Körper herab und die Schürze, die mit ihnen herabfiel, enthüllte ihr fieberheißes Gesicht und die großen starren Augen, aus denen stille Tränen rannen.

Paul Goethals – so hieß der Ankömmling – glaubte Grietjes Leiche wieder bedecken zu sollen.

Roosje ließ es nicht zu; sie riß das Tuch wütend fort, soweit sie konnte, und richtete sich drohend auf: »Wer hat Ihnen gesagt,« schrie sie, »daß Sie sie vor mir verbergen sollen? Wenn's mir gefällt, das Tuch wegzunehmen, werden Sie mich wohl nicht hindern, meine Tochter anzusehen? Ich will sie sehen, sehen, bis sie fort muß! Die Polizei wird mir's nicht verbieten, denke ich.«

Dann wies sie auf das Gesicht ihrer Tochter, nahm ihr behutsam die Haube ab und strich eine Flut brauner Haare zurück, die in dem Lichtschein rötlich schimmerten.

»Welches Mädchen in Gent,« sagte sie mit zunehmender Rührung, »hat solches Haar, eine so glatte Stirn und einen so festen Geist unter diesem Marmor! Arme Grietje! Und die schönen großen Augen, die ihre arme alte Mutter so gut und so schalkhaft anblickten! Du warst ein verzogenes Kind, nicht wahr, Grietje? – Wirst du mich nie mehr umarmen, mein Kind, mein Kind, mein Kind?« – Roosje heulte und warf sich zurück. – »Nie mehr, Grietje!« Und sie rief sie: »Grietje! Du mußt zurückkehren. Grietje, ich bin ganz allein! Grietje!«

Aber die auf dem Bett Liegende blieb unbeweglich.

»Ja, ja,« sagte Roosje wie eine Irre, die mit jemandem redet, der nicht da ist, »ja, ja, mein Mann ist vorausgegangen, um im Reiche der Würmer Quartier zu machen. Sie ist unverheiratet gestorben und hat mir nichts hinterlassen, was ich nach ihr lieben könnte. Und doch hätte meine Brust und mein Blut einem Kinde Milch gegeben, stärker als Wein. Und dies Bein – gibt es in Gent ein Mädchen, das dergleichen zu zeigen hätte? Das war gemacht wie die Standbilder, und das muß unter die Erde, und das häßliche Gelichter bleibt droben. Sagen Sie doch,« wandte sie sich wieder an ihren neuen Gast, »Sie mögen ja ein sehr feiner Herr sein, aber hätten Sie nicht solch ein Mädchen als Dame in Ihrem Hause haben mögen?«

»Das will ich meinen,« antwortete er.

»Ja,« sagte Roosje, »aber Sie hätten sie nicht gekriegt.«

Und sie streichelte sanft die Haare und das Gesicht ihrer Tochter.

Roosjes Gast blickte Grietje unablässig an, mit der gespannten Aufmerksamkeit eines Beobachters, der an die Wirklichkeit dessen, was er vor Augen hat, nicht zu glauben scheint.

Sie sah, wie er aufstand, einen Spiegel nahm, ihn dicht vor Grietjes Mund hielt, ihren Puls fühlte, seine Hand unter ihre linke Brust legte, auf den Handrücken klopfte und horchte.

»Was tun Sie da, und wer sind Sie?« sagte sie mit unbestimmter Hoffnung.

»Ich bin Arzt,« antwortete er.

»Arzt!« rief Roosje und wurde plötzlich demütig und ehrerbietig. »Herr Doktor, ist es wahr, daß Grietje tot ist?«

»Ich weiß es nicht,« sagte er.

»Tun Sie, was Sie müssen.«

Der Ankömmling hob Grietjes Kopf hoch und ließ ihn eine Weile in seinen Händen ruhen.

»Ist es lange her,« fragte er, »daß Ihr Arzt das Mädchen für tot erklärt hat?«

»Drei Stunden, bevor Sie kamen, Herr Doktor.«

»Seit wann ist nach seiner Behauptung das Unglück geschehen?«

»Seit siebenundzwanzig Stunden,« antwortete Roosje, an den Fingern zählend.

»An welcher Krankheit soll denn Ihr Kind gestorben sein?«

»An einem Schlaganfall, wie er noch keinen gesehen hat.«

»An einem Schlaganfall,« lächelte Paul. »Die Haare sind ja noch warm,« setzte er hinzu.

»Was sagten Sie?« fragte Roosje. »Ich sage, daß die Haare noch warm sind und daß dies nicht die Farbe einer Toten ist. Ich sage, daß Ihr Arzt sich vielleicht geirrt hat.«

»Was!« keuchte Roosje. »Sind Sie wirklich ein Arzt?«

»Ja.«

Roosje schauerte vor Hoffnung und lachte mit verzerrter Miene.

»Also,« sagte sie, »also Sie sagen, daß es nicht sicher ist, ob Grietje tot ist?«

»Ich bin dessen nicht sicher.«

»Noch einmal.«

»Ich bin dessen keineswegs sicher.«

Roosje ergriff ihn beim Arm und führte ihn zu einem mit Wachstuch bedeckten Holztischchen zwischen zwei Fenstern. Sie zitterte wie ein Blatt im Winde, öffnete mehrmals den Mund, um zu sprechen, und schluckte ihre Worte jedesmal herunter. Endlich schlug sie auf den Tisch. »Höre,« sagte sie, zugleich lachend und weinend und den Mann ansehend, als wollte sie ihn verschlingen. »Höre: wenn du das nicht gesagt hast, um mich zu foppen, wenn du nicht gelogen hast, wenn du dies Lamm rettest, das für den Schlächter gezeichnet ist, so zahle ich dir in Gold, in Banknoten und in Fünffrankenstücken zehntausend Franken, hörst du, zehntausend Franken.«

Und die alte Roosje weinte, aber das waren andre Tränen als die der Mutterliebe.

»Komm nun,« fuhr sie gebieterisch fort und zog den Ankömmling zum Bette, »sieh sie dir an, aber gut!« Sie drohte ihm mit der Faust. »Und sage mir, warum du glaubst, daß Grietje nicht tot ist.«

»Weil ich,« antwortete Paul, »nur die Ruhe einer tiefen Ohnmacht sehe, und nicht den harten Ausdruck des vom Leben verlassenen Körpers.«

»Wenn du lügst,« sagte Roosje, »so bist du ein Elender!«