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Seit Sommer 2019 diskutiert die Öffentlichkeit über die Entschädigungsansprüche der Hohenzollern. Anlass für die Forderungen ist die Enteignung des letzten deutschen Kronprinzen, Wilhelm von Preußen, durch die Sowjetunion nach 1945. Allerdings sieht das einschlägige Gesetz vor, dass niemand entschädigt wird, der dem kommunistischen oder dem nationalsozialistischen System »erheblichen Vorschub« geleistet hat. Dass dieser Sachverhalt kaum einfach zu klären ist, zeigen die vielen Facetten der Hohenzollerndebatte: Zunehmend verquicken sich moralische, politische, juristische und geschichtswissenschaftliche Aspekte. Das macht die öffentliche Auseinandersetzung mitunter hochemotional und polemisch. Der Sammelband sorgt für Differenzierung und Klarstellung. Beleuchtet werden die juristischen Hintergründe ebenso wie die politischen Bezüge, auch die aktuelle Debatte unter Historikern über das deutsche Kaiserreich findet Berücksichtigung. Und natürlich wird die politische Bedeutung des Kronprinzen für den Aufstieg des Nationalsozialismus in den Blick genommen. 20 renommierte Autoren, darunter Peter Brandt, Oliver Haardt, Christian Hillgruber, Frank-Lothar Kroll, Lothar Machtan und Michael Wolffsohn, bieten mit diesem Buch ein differenziertes Fundament für eine sachbezogene, multiperspektivische Diskussion über die Hohenzollern. Teaser zum Buch: https://youtu.be/2UNH5Wrax5Y Einführung in die Debatte: https://youtu.be/fpOtY47tJ1I
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Veröffentlichungsjahr: 2021
Die Hohenzollerndebatte
Die Hohenzollerndebatte
Beiträge zu einem geschichtspolitischen Streit
Herausgegeben von
Frank-Lothar Kroll Christian Hillgruber Michael Wolffsohn
Duncker & Humblot • Berlin
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar.
Umschlag: Burg Hohenzollern im Nebel(© picture alliance/dpa/Sebastian Gollnow)
Alle Rechte vorbehalten© 2021 Duncker & Humblot GmbH, BerlinSatz: L101 Mediengestaltung, FürstenwaldeDruck: Druckteam, BerlinPrinted in Germany
ISBN 978-3-428-18392-0 (Print)ISBN 978-3-428-58392-8 (E-Book)
Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Die seit Sommer 2019 geführte Hohenzollerndebatte hat erfreuliche und unerfreuliche Seiten. Erfreulich ist, dass lange vernachlässigte Forschungsthemen wieder stärkere Aufmerksamkeit finden, beispielsweise die Frage der Bedeutung von Monarchie und Adel im 20. Jahrhundert. Weniger erfreulich ist die starke Emotionalität und bedauerliche inhaltliche Einseitigkeit, mit der die Debatte mitunter geführt wird. Ein Grund dafür ist, dass im Zuge der Hohenzollerndebatte geschichtspolitische Deutungskämpfe ausgetragen werden; ein weiterer, dass in der Frage der Entschädigung der Hohenzollern juristische, politische und – aufgrund der Gesetzeslage, die Entschädigungen ausschließt, wenn der Enteignete dem nationalsozialistischen oder kommunistischen System „erheblichen Vorschub“ geleistet hat – auch historische Aspekte auf schwer durchschaubare Weise miteinander verwoben sind.
Dieser Sammelband will hier Abhilfe schaffen. 22 Beiträge von 23 Experten aus Geschichtswissenschaft, Rechtswissenschaft, Journalismus und Politik ordnen die Debatte sachkundig ein und analysieren die verschiedenen relevanten Aspekte. Sechs Schwerpunktthemen stehen dabei vorrangig zur Erörterung.
Ein erstes Segment (I.) widmet sich grundsätzlichen juristischen und historiographischen Klarstellungen, erläutert die Rechtsgrundlage der Entschädigungsforderungen und korrigiert einige Irrtümer über vermeintliche oder tatsächliche geschichtswissenschaftliche Forschungsstände. Danach (II.) folgen pointierte Stellungnahmen zu den politischen, historiographischen und fachlichen Kontroversen der Hohenzollerndebatte. Ein spezielles Segment (III.) Kronprinz Wilhelm von Preußen und die Frage der „Vorschubleistung“ befasst sich mit der Person des letzten deutschen Kronprinzen und dessen bisher ungeklärter Rolle beim Aufstieg des Nationalsozialismus. Anschließend (IV.) stehen unter der Rubrik Das Kaiserreich in der Diskussion – neue Interpretationen Aspekte der eng mit der Hohenzollerndebatte verschränkten, unlängst erneut entfachten Kontroverse über die Bedeutung und Bewertung des deutschen Kaiserreichs für den weiteren Entwicklungsgang der deutschen Nationalgeschichte zur Erörterung. Den Blick über den preußischen Tellerrand hinaus werfen Vergleichsperspektiven (V.). Sie dienen dazu, die Causa Hohenzollern in unterschiedlicher Weise zeitlich wie räumlich einzuordnen und beleuchten die Restitutionsfrage in europäischen Zusammenhängen. In [6] drei den Band abschließenden Gesprächen (VI.) werden noch einmal wesentliche Streitfragen des Debattengegenstandes zur Sprache gebracht.
In ihrer Gesamtheit bieten alle hier versammelten Beiträge das, was Wissenschaft heute leisten kann: ein Thema in seiner Komplexität zu erfassen und das weite Spektrum unterschiedlicher Positionen und Argumente auszuschöpfen. Nur so ist eine fundierte und sachbezogene Diskussion möglich.
Die Herausgeber danken namentlich Herrn Dr. Rüdiger von Voss (Berlin), der die Idee zu diesem Buch mit anregte, sowie Herrn Dr. Dr. Benjamin Hasselhorn (Würzburg), der durch vielfältige Hilfeleistung zu ihrer Realisierung beitrug. Frau Dr. Christiane Liermann (Menaggio, Villa Vigoni) gab wertvolle Hinweise zu Detailfragen, Frau Antonia Sophia Podhraski, M. A. (Chemnitz) unterzog sich der mühevollen Endredaktion einzelner Texte.
Chemnitz, Bonn, München am 15. September 2021
Prof. Dr. Frank-Lothar Kroll
Prof. Dr. Christian HillgruberProf. Dr. Michael Wolffsohn
I. Juristische und historiographische Klarstellungen
Ulrich Schlie, Bonn, und Thomas Weber, Aberdeen
Trouble mit den Hohenzollern? Das Haus Preußen zur Zeit des Nationalsozialismus und in der Gegenwart
Christian Hillgruber und Philipp Bender, Bonn
Hat der ehemalige Kronprinz Wilhelm von Preußen dem nationalsozialistischen System erheblichen Vorschub geleistet? Zur Auslegung und Anwendung von § 1 Abs. 4 Ausgleichsleistungsgesetz
Klaus Ferdinand Gärditz, Bonn
Historischer Sachverstand und rechtliche Entscheidungsverfahren. Die „Hohenzollerndebatte“ als Testfall
II. Kontroversen
Frank-Lothar Kroll, Chemnitz
Von Kammerjägern, Klosterforscherinnen und Stubenjakobiner*innen oder: Das Recht der Hohenzollern
Michael Wolffsohn, München
Recht ohne Ethik – der deutsche Hohenzollernstreit
Peter Brandt und Lothar Machtan, Berlin
Wer zerstörte die Weimarer Republik? Neue Perspektiven zum Hohenzollernstreit
Uwe Walter, Bielefeld
Die Ebenen trennen ‒ verbandspolitisch unerwünschte Klärungen
Thomas E. Schmidt, Berlin
Die Geschichte als Strafgericht? Eine kurze Analyse des geschichtswissenschaftlichen Aktivismus
III. Kronprinz Wilhelm von Preußen und die Frage der „Vorschubleistung“
André Postert, Dresden
Konservative Eliten, Nationalsozialisten und ihre Wähler. Zur Auseinandersetzung um den Ort des Nationalsozialismus in der deutschen Geschichte und über die Frage, was dem Nationalsozialismus erheblichen Vorschub leistete
Hans-Christof Kraus, Passau
Deutschlands doppelte Niederlage und die Hohenzollern
Benjamin Hasselhorn, Würzburg
Symbolisches Kapital. Überlegungen zum „Hohenzollern-Charisma“ nach 1918
Rüdiger von Voss, Berlin
Auf der Suche nach einem gerechten Urteil. Zur Person des Kronprinzen Wilhelm von Preußen
IV. Das Kaiserreich in der Diskussion – neue Interpretationen
Peter Hoeres, Würzburg
Das Kaiserreich und sein letzter Kaiser in der Kontroverse
Oliver F. R. Haardt, Berlin
Von Missverständnissen und Kontinuitäten. Verfassungsgeschichtliche Überlegungen im Jubiläumsjahr der Reichsgründung
Rainer F. Schmidt, Würzburg
Ein Schattenwurf in der deutschen Geschichte? Eine Auseinandersetzung mit den Thesen von Eckart Conze zum Kaiserreich
V. Vergleichsperspektiven
Frank-Lothar Kroll, Chemnitz
Hohenzollernrestitution im europäischen Vergleich
Hans Ottomeyer, München
Vom wahren Wert der Kunst
Björn Thümler, Berne
Dynastisches Kulturerbe in der demokratischen Gesellschaft. Die Sicherung des Schlosses Marienburg für die Öffentlichkeit
Michael Sommer, Oldenburg
„In mortuum eum a multis multa sunt dicta“. Geschichtsschreibung und Geschichtspolitik in der römischen Kaiserzeit
VI. Streitfragen im Gespräch
Horst Möller, München
„Diese Debatte ist absurd“ – Im Gespräch mit Benjamin Hasselhorn
Lothar Machtan, Berlin
„… eine hochkomplexe Materie“ – Im Gespräch mit Tita von Hardenberg
Thomas Brechenmacher, Potsdam
Tolerante Hohenzollern? – Im Gespräch mit Benjamin Hasselhorn
Abbildungsnachweise
Die Autoren und Herausgeber des Bandes
[11]
I. Juristische und historiographische Klarstellungen
[13]
Von Ulrich Schlie, Bonn, und Thomas Weber, Aberdeen
Preußen und die Hohenzollern haben wieder Konjunktur. Vor allem sorgen sie gegenwärtig für Streit. Die Rede ist von der Debatte über mögliche Entschädigungen für Enteignungen aus dem Jahr 1945, die die Nachfahren des ehemaligen preußischen Kronprinzen Wilhelm fordern. Es ist eine hochgradig emotionalisierte Debatte, die zu einer Zukunftsfrage Deutschlands im 21. Jahrhundert hochstilisiert wird.
„Diese Debatte geht uns alle an“, so war etwa im Februar 2021 in einem Online-Fachgespräch der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag zu hören. Der Versuch der Nachfahren Wilhelms, Entschädigungen zu erhalten, sei ein Angriff auf unsere Republik. Denn Entschädigungen dürfe es laut Gesetz nur geben, wenn der Enteignete nicht zuvor dem Nationalsozialismus „erheblichen Vorschub“ geleistet habe. Ein Freispruch Wilhelms würde daher „alle NS-Aufarbeitungsarbeit der letzten Jahre infrage stellen“.2
Ein „erheblicher Vorschub“ wird über eine Beschreibung der Aktivitäten Wilhelms thesenhaft behauptet, ohne dass überhaupt die Wirkung seines Handelns empirisch gemessen worden ist. Bei der seit zwei Jahren geführten Debatte geht vieles durcheinander: Hitlers Aufstieg zur Macht, der Anteil der Konservativen am Untergang der Weimarer Republik, die langen Schatten der Reichsgründung vor 150 Jahren, eine angebliche Weichzeichnung des Kaiserreichs, die Kriegsschuldfrage und das Ende der Monarchien, die Wiederkehr des Wilhelminismus als drohende Gefahr für das 21. Jahrhundert, das Selbstverständnis und die politische Ordnung des heutigen Deutschlands. Historische, juristische und politische Argumente werden je nach Bedarf bem [14]üht. Auch so manche Äußerung des Hauses Hohenzollern war wenig geeignet, zur Versachlichung beizutragen.
Das Urteil steht scheinbar fest. Der ehemalige Kronprinz wird als übergroße Figur zum maßgeblichen Steigbügelhalter Hitlers. Wilhelm, so der Marburger Historiker Eckart Conze im Deutschlandfunk, sei für die nationalsozialistische Machtergreifung und Konsolidierung wesentlich mitverantwortlich, dadurch dass er „unentwegt und mit großer Stetigkeit […] mit seinem Charisma [und] mit seiner Aura“ für den Nationalsozialismus geworben habe, was „eine unglaubliche Wirkung, gerade in die bürgerlich-konservativen Teile der deutschen Bevölkerung hinein“ gehabt habe.3 Die Frage nach dem „erheblichen Vorschub“ scheint demnach entschieden. Restitutions- und Entschädigungsansprüche, die den Nachfahren Wilhelms zustehen könnten, wären unbegründet.
Doch ist die Debatte wirklich schon entschieden? Vieles, was in der bisherigen Diskussion gesagt wurde, hält dem Faktencheck nicht stand, nicht zuletzt deshalb, weil unbeantwortet bleibt, wie überhaupt ein möglicher „erheblicher Vorschub“ zu bemessen wäre. Eine umfassende Analyse legt nahe, dass der ehemalige Kronprinz – bei allen politischen Fehlurteilen und seinen Annäherungsversuchen an Hitler in der Schlussphase der Weimarer Republik und den frühen Jahren des Dritten Reiches – keinen nennenswerten Anteil daran hatte – auch nicht innerhalb seines eigenen Wirkungskreises –, dass Hitler 1933 an die Macht kam und seine Macht konsolidieren konnte. Wunsch und Wirklichkeit klafften weit auseinander.
I.
Ob Wilhelms Nachfahren Entschädigungen zustehen, hängt von der Frage ab, inwieweit der ehemalige preußische Kronprinz der nationalsozialistischen Machtergreifung und -konsolidierung „erheblichen Vorschub“ vor dem Hintergrund eines schwindenden Monarchismus geleistet hat oder nicht. Aufgrund des Entschädigungs und Ausgleichsleistungsgesetzes von 1994 versucht der Chef des Hauses Hohenzollern, wie viele andere Bürger auch, Ausgleich für den nach dem Zweiten Weltkrieg enteigneten Privatbesitz auf dem Verhandlungsweg – im konkreten Fall mit dem Bund, dem Land Berlin und dem Land Brandenburg – zu bekommen. Das Gesetz aus dem Jahr 1994 [15] dient dazu, einen Ausgleich durch Restitution oder Entschädigung für von der Sowjetunion und der DDR vorgenommene Enteignungen zu schaffen.4
Der Nachweis des erheblichen Vorschubs gegenüber „dem nationalsozialistischen System“5 wäre nach dem 1994er-Gesetz ein Ausschlussgrund für Entschädigungs und Restitutionsleistungen an seine Familie, über die in Kürze das Verwaltungsgericht des Landes Brandenburg zu entscheiden hat,6 falls nicht doch noch Versuche einer außergerichtlichen gütlichen Einigung erneuert werden sollten. Laut Gesetz geht es ausschließlich um das Verhalten der Personen, die enteignet wurden, im konkreten Fall bezieht sich dies auf Wilhelm von Preußen, und nicht etwa auf andere Familienmitglieder.
Für den ehemaligen Kronprinzen waren seine Annäherungsversuche an Adolf Hitler untrennbar mit seinem Hauptziel verbunden, die Hohenzollernmonarchie in Deutschland zu restaurieren. Der ehemalige Kronprinz Wilhelm war, wie sein Freund Gustav Hillard einmal schrieb, eine „Mischung aus Tellheim und Simplizissimus“, der bis ins hohe Alter das Leutnanthafte nicht ablegte, ein Mann, der für eine Rolle im Leben vorbereitet worden war, die die Geschichte für ihn dann nicht mehr vorsah.7
Schon im Kaiserreich hatte er keinen bestimmenden Anteil an politischen Entscheidungen. Er war ein Mann der Peripherie, ein Gefäß, bisweilen laut tönend, aber ohne tiefere Substanz, zeitlebens bestimmt von der Spannung zu seinem ebenso psychologisch komplizierten Vater sowie der Diskrepanz zwischen den Erwartungen der ihn umgebenden Kamarilla und den Grenzen seines eigenen Vermögens. Die Abdankung des Kaisers, das Ende der Monarchie blieb sein Trauma, das er nie überwand – den Traum von der Wiedererrichtung der Hohenzollernmonarchie sollte er zeitlebens nicht aufgeben. Auch Kronprinz Wilhelm hatte auf den Thron verzichtet und versprochen, sich nicht mehr politisch zu betätigen. Gustav Stresemann ermöglichte ihm daraufhin 1923 die Rückkehr aus dem Exil. Zunächst hielt er sich an das Zugesagte und teilte seine Zeit zwischen seinem schlesischen Gut Oels und [16] den Aufenthalten auf Schloss Cecilienhof in Potsdam. Nach Stresemanns Tod 1929 indes geriet das Versprechen, sich nicht politisch zu betätigen, mehr und mehr in den Hintergrund.
In den Krisenjahren Weimars witterte Wilhelm Morgenluft für eine monarchistische Restauration unter seiner Führung. Die Aussichten dafür allerdings standen schlecht, und auch das Charisma Wilhelms war, anders als jetzt behauptet wird,8 von begrenzter Wirkung.
Ausgerechnet an der Frage der Restauration der Hohenzollernmonarchie hatte sich die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), die rechtskonservative Partei Weimars, zerlegt. Sie war bis 1928 die zweitgrößte Partei im Reichstag gewesen.9 Als kurz nach der Reichstagswahl 1928 der DNVP-Reichstagsabgeordnete Walther Lambach einen Artikel in der jungkonservativen
„Politischen Wochenschrift“ veröffentlichte und sich darin gegen eine Zukunft der DNVP als eine monarchistische Partei wandte, brach ein offener Kampf über die Zukunft der Partei aus. „Kaiser und Könige sind für die jetzt heranwachsenden Wählergenerationen nicht mehr geheiligte verehrungswürdige Personen bzw. Institutionen“, schrieb Lambach. „Sie sind für die Jugend zu Film- und Bühnenangelegenheiten geworden.“10 Lambachs Fazit: Der monarchistische Gedanke in Deutschland „ist zu Grabe getragen worden“.11
Für viele in der Partei allerdings war zu jener Zeit ein offener Bruch mit dem Versprechen einer monarchistischen Zukunft unvereinbar mit den Vorstellungen von konservativer Ehre. Lambach wurde aus der DNVP gedrängt. Der Bruch ließ sich dadurch nicht aufhalten, vollzog sich aber weitgehend geräuschlos. Der neue starke Mann der DNVP, Alfred Hugenberg, sprach auf [17] einmal nicht mehr von Monarchismus, sondern von Führertum und nationaler Diktatur.12
Außerdem verlor die DNVP innerhalb von zwei Jahren beinahe die Hälfte ihrer Stimmen.13 Die Partei war im freien Fall. Über sie würde Wilhelm von Preußen in einem Massenzeitalter kaum Kaiser werden können. Eine politische Strömung, wie sie dem ehemaligen Kronprinzen vorschwebte, war weder in der DNVP noch in einem weiteren Sinne in Politik und Gesellschaft erkennbar und nutzbar.
Auch auf Paul von Hindenburg konnte Wilhelm von Preußen nicht setzen. Seit der wichtigste Heerführer seines Vaters zum Reichspräsidenten gewählt worden war, hatte Hindenburg klargemacht, dass er sich nicht als Steigbügelhalter für eine Hohenzollernrestauration hergeben würde. Hindenburg war sich des relativen Verschwindens des Monarchismus in Deutschland und der Legitimationskrise der Hohenzollern bewusst. Selbst viele eingefleischte Monarchisten hatten in der Flucht Wilhelms II. in die Niederlande eine Desertion gesehen.14
Die lebende Generation der Hohenzollern verlor immer mehr an Bedeutung. Selbst viele Monarchisten sahen nun viel eher in Hindenburg den Nachfahren der großen Hohenzollern. Sie erwarteten oftmals höchstens für die ferne Zukunft eine Wiedererrichtung der Monarchie.15
Dies war der Hintergrund für Wilhelms Annäherung an die Nationalsozialisten und den Plan, mit Hitlers Hilfe die Krone zurückzuerlangen – eine krasse Fehleinschätzung. Hitler dachte über taktische Erwägungen hinaus nicht daran, die Monarchie in Deutschland wiederherzustellen. Die Allianz des ehemaligen Kronprinzen mit Hitler war zeitlich befristet und sollte nur dessen eigenen Interessen dienen. Noch Mitte der 1920er-Jahre hatte Wilhelm von Preußen seinen Regimentskameraden Adolf-Victor von Koerber ermutigt, mit Hitler zu brechen. Damals hatte der ehemalige Kronprinz, so Koerber, aufgrund des von Wilhelm „klar erkannten proletarischen Kern[s] der Hitlerbewegung eine aktive Beteiligung an derselben ab[gelehnt]“.16
[18]Als aber 1932 Koerber versuchte, konservativen Widerstand gegen eine mögliche nationalsozialistische Machtergreifung zu organisieren, stieß er bei Wilhelm auf taube Ohren. Vor diesem Hintergrund hatte sich der ehemalige Kronprinz schriftlich am 29. März 1932 direkt an Adolf Hitler gewandt und ihm für die nächste Reichspräsidentenwahl einen Pakt vorgeschlagen. Der an Hitler adressierte Brief zeigt sein Kalkül und seine Naivität zugleich: „Ich habe mich nach langen und eingehenden Überlegungen entschlossen, diese Kandidatur anzunehmen und trete an Sie in erster Stelle als den Führer der größten nationalen Bewegung heran und bitte Sie, diese Kandidatur eintretendenfalls mit Ihrer Person und Ihrer Bewegung zu unterstützen.“17
Aus der Reichspräsidentschaftskandidatur des Jahres 1932 sollte dann für den ehemaligen Kronprinzen nichts werden. Auf den Befehl seines Vaters aus dem niederländischen Exil hin ließ er seine Absicht fallen. Nachdem sein Plan aufgrund der Intervention des Ex-Kaisers gescheitert war, war es in gewisser Hinsicht folgerichtig, für Hitler eine Wahlempfehlung gegen Hindenburg im zweiten Wahlgang der Präsidentschaftswahl 1932 auszusprechen. Hugenberg hatte seinen Anhängern freigestellt, für Hitler oder für Hindenburg zu stimmen. In einem für Wilhelm typischen Anflug von größenwahnsinniger Selbstüberschätzung schrieb er 1934 an Lord Rothermere, den Inhaber der „Daily Mail“, dass seine Empfehlung Hitler zwei Millionen Stimmen bei dessen Wahlniederlage bei der Reichspräsidentenwahl 1932 eingebracht habe.18
Über Wilhelms eigene Vorstellungswelt ist vergleichsweise wenig bekannt. Seine seltenen öffentlichen Äußerungen und dasjenige, was wir über sein Handeln wissen, fügen sich in die militaristischen Gesellschaftskonzeptionen ein, die in der Reichswehrführung in einer zugespitzten innenpolitischen Krisenlage der Endphase Weimars kursierten. Ihr Ziel war es, die als „schwächlich“ apostrophierte parlamentarische Demokratie durch einen neuen, „starken“ Staat zu ersetzen. Der ehemalige Kronprinz hatte der Demokratie von Weimar nie viel abgewinnen können. Für Einflüsterer unbestimmter autoritärer Ideen hatte er immer ein offenes Ohr. In seinem Bestreben, die Monarchie in Deutschland wieder einzuführen, agierte der ehemalige Kronprinz Wilhelm weder planvoll noch stetig, vielmehr erratisch. Zu keinem Zeitpunkt hat er dabei eine zutreffende Analyse der politischen Lage gehabt. Seine eigene Rolle hat er durchgehend überschätzt, die sich Ende der 1920er Jahre in den rechtskonservativen Parteien vollziehende Abkehr vom Ziel der [19] Wiedereinführung der Monarchie hat er offenkundig nicht erfasst. Seine Hinwendung zu den Nationalsozialisten erscheint vor diesem Hintergrund vor allem als taktische Verlegenheitslösung mit durchsichtigem – monarchistischem – Kalkül.19
Aus den ersten beiden Jahren nach der nationalsozialistischen Machtergreifung sind vielfältige Zeugnisse überliefert, die den ehemaligen Kronprinzen als Parteigänger Hitlers ausweisen, freilich ohne dass er jemals Mitglied der NSDAP geworden wäre. Auch beim „Tag von Potsdam“, beim gemeinsamen Auftritt von Hitler und Hindenburg am Bronzesarkophag Friedrichs des Großen, vor alten preußischen Kriegsflaggen, bei der Eröffnungszeremonie des neuen Reichstages in der Potsdamer Garnisonkirche am 21. März 1933 durfte er – in der Uniform eines Obersten der Totenkopfhusaren, seines Kavallerieverbandes – nicht fehlen.20
Es liegt nahe, dass NS-Propagandisten davon ausgingen, dass seine Teilnahme bei Teilen des Bürgertums und des Adels als eine willkommene Zustimmung zu den neuen Machthabern begrüßt werden würde, sie gleichzeitig aber Sorge hatten, wie sein Auftreten in anderen Bevölkerungsteilen aufgenommen werden könnte. Wilhelm blieb daher zunächst ein von den Nationalsozialisten – in der Hoffnung, Wilhelm könne ihnen zumindest etwas nutzen – geduldeter, bisweilen belächelter Mitläufer am Rande.
Wilhelm hat Hitler am Anfang wohl als eine Art deutschen Mussolini betrachtet und so seine Verehrung für den „Duce“ auf Hitler übertragen. Nach dem 30. Juni 1934, dem sogenannten Röhm-Putsch, schwanden viele seiner Illusionen, ohne dass er je die Schwelle der öffentlichen Kritik überschritten oder gar zu aktivem konspirativen Handeln gefunden hätte. Seine letzte nennenswerte politische Aktion ist bezeichnenderweise ein Glückwunschtelegramm an Mussolini nach dem für Italien siegreich beendeten Abessinienkrieg [20] – das nationalsozialistische Deutschland hatte strikte Neutralität gewahrt.21 Dafür war er vom Führer des Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps (NSKK), dem er als begeisterter Motorist formal angehörte, auf eine Art und Weise gerügt worden, dass er dies zum Anlass für seinen anschließenden Austritt aus dem NSKK nahm.22
An der Echtheit der von Wilhelm von Preußen öffentlich geäußerten Sympathien für den Nationalsozialismus – insbesondere in der Phase von 1932 bis 1934 – bestehen keine Zweifel. Konsens besteht auch in der Einschätzung der Dimension seiner Fehlurteile. Doch reicht dies für den Nachweis eines „erheblichen Vorschubs“ aus, den Wilhelm „dem nationalsozialistischen System“ geleistet haben soll? Hatte er überhaupt einen signifikanten Anteil an der nationalsozialistischen Machtergreifung und -konsolidierung?
II.
„Erheblicher Vorschub“ ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. Vorschub haben Hitlers Machtergreifung viele geleistet, insbesondere auch die alten Eliten in Heer, Beamtenschaft und Diplomatie, und ohne Zweifel auch der ehemalige Kronprinz. Was aber kann „erheblicher Vorschub“ durch eine Person, die keine formale Funktion ausübte, in der konkreten historischen Situation 1932/1933 bedeuten? Bei der Beantwortung der Kernfrage ist es rechtlich unerheblich, ob Wilhelm von Preußen die Staatsform der Weimarer Republik abgelehnt hat oder nicht. Die KPD beispielsweise bekämpfte ebenso heftig die Weimarer Republik. Doch es wäre absurd, deshalb den Kommunisten vorzuwerfen, Hitlers Machtergreifung „erheblichen Vorschub“ geleistet zu haben. Es geht auch nicht vorrangig darum, welche Motive Wilhelm hatte und wie wir heute sein politisches Denken und Handeln beurteilen.
Ein erhebliches Vorschubleisten im Sinne von § 1, Abs. 4 Ausgleichsleistungsgesetz liegt vor, wenn der Betreffende bewusst und mit einer gewissen Stetigkeit Handlungen vorgenommen hat, die dazu bestimmt und geeignet gewesen sind, in nicht unerheblicher Weise die Bedingungen für die Errichtung, Festigung oder Ausdehnung des nationalsozialistischen Systems signifikant zu verbessern, und die auch tatsächlich eine wesentliche Wirkung entfaltet haben. Das „erhebliche Vorschubleisten“ zugunsten des nationalsozialistischen Systems weist eine objektive und eine subjektive Komponente auf. Ferner muss es einen Erfolgseintritt der Errichtung oder Festigung nationalsozialistischer [21] Herrschaft geben, der kausal und wesentlich auf die zu untersuchenden Handlungen zurückzuführen ist.23
Der objektive Tatbestand eines „erheblichen Vorschubs“ wäre also nur erfüllt, wenn es eine direkte erhebliche Kausalität zwischen Wilhelms faktischem Handeln und der Errichtung und Konsolidierung des „nationalsozialistischen Systems“ zwischen 1933 und 1945 gegeben hätte. Daran bestehen mehr als berechtigte Zweifel. Es wäre deshalb zu klären, ob die Errichtung und Konsolidierung des Dritten Reiches innerhalb des Wirkungskreises des ehemaligen Kronprinzen signifikant anders verlaufen wäre, wenn Wilhelm von Preußen politisch einfach überhaupt nichts getan hätte. Es geht natürlich nicht darum, ob es auch ohne Wilhelms Handlungen zum Nationalsozialismus gekommen wäre,24 sondern wie das nationalsozialistische System innerhalb des Wirkungskreises Wilhelms von Preußen etabliert, konsolidiert und ausgeweitet worden ist.
Im Einklang mit der bisherigen Rechtsprechung sind bisher in besonderer Weise Fälle von Personen diskutiert worden, die ein nationalsozialistisches Amt mit beträchtlichem Einfluss bekleidet haben oder zumindest, wie im Falle Alfred Hugenbergs, ohne NSDAP-Parteimitgliedschaft eine offizielle Funktion mit Wirkungsmacht – etwa als Staatssekretär oder Minister, als Chef einer Behörde oder als Parlamentarier – ausgefüllt haben. In beiderlei Fällen wird in der Regel vom Vorhandensein einer erheblichen Vorschubleistung ausgegangen. Beides trifft jedoch auf den ehemaligen Kronprinzen Wilhelm nicht zu.
Auch war Wilhelm weder in intellektueller Weise unmittelbar an den Vorbereitungen der Machtergreifung beteiligt noch sind von ihm zusammenhängende programmatische Äußerungen bekannt. Er stand Hitler und den anderen führenden Nationalsozialisten nicht nahe genug, um in dem engeren Zirkel der Macht in Partei oder Staat an wesentlichen politischen Überlegungen unmittelbar vor oder nach der Machtergreifung beteiligt gewesen zu sein. Dieses Urteil wird insbesondere bestätigt, wenn man die einschlägigen Quellentexte sowohl amtlicher – insbesondere die Akten der Reichskanzlei – als auch privater Natur – insbesondere die Tagebücher Joseph Goebbels’ – auswertet. Daher wäre zu prüfen, ob Wilhelm über die mögliche Signalwirkung [22] seines Wirkens hinaus dem nationalsozialistischen System „erheblichen Vorschub“ geleistet hat.
Ob die Geschichte des Nationalsozialismus innerhalb des Wirkungskreises des ehemaligen Kronprinzen tatsächlich signifikant anders verlaufen wäre, wenn Wilhelm gar nichts getan hätte, lässt sich auf zweierlei Weise überprüfen: über die analytische Betrachtung der Wirkungsgeschichte von Wilhelms Handlungen in Preußen und über einen Vergleich zwischen Preußen und Bayern. Gerade dieser Vergleich erscheint geeignet, eine klare Antwort auf die Frage zu geben, ob Wilhelm von Preußen der nationalsozialistischen Machtergreifung „erheblichen Vorschub“ geleistet hat.
III.
Diejenigen, die in den Handlungen Wilhelms einen „erheblichen Vorschub“ der nationalsozialistischen Machtergreifung und Konsolidierung erkennen, weisen in der Regel auf „die enorme Strahlkraft“ des ehemaligen Kronprinzen im konservativen Milieu hin.25 Daher sehen sie eine Kausalität zwischen Wilhelms Verhalten und der Unterstützung des Dritten Reiches durch das konservative Bürgertum. Von dieser Stahlkraft bleibt aber bei genauerem Hinschauen nicht viel übrig.
Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass Wilhelms Verhalten in der Öffentlichkeit seinerzeit so sichtbar war, wie es in vielen aktuellen Diskussionsbeiträgen gedeutet wird. Dies hängt vor allem mit der Distanz der Nationalsozialisten zum Haus Hohenzollern zusammen. Die NS-Führung war sehr darum bemüht, nicht den Eindruck von Abhängigkeit zu erwecken. Es hätte auch Hitlers Vorstellungswelt von auf Volkswillen beruhender politischer Legitimation widersprochen, wenn er sich – auch nur formell – einem Monarchen untergeordnet hätte. Von Hitler selbst sind sowieso zeit seines Lebens immer wieder harsche Urteile über die (ehemals) regierenden Häuser überliefert.26
Ferner hatten die Nationalsozialisten einen ganz anderen Gesellschaftsentwurf als Kronprinz Wilhelm. Derjenige Wilhelms war rückwärtsgewandt. Ihm ging es wirklich um eine Restauration. Er war elitär und massenfeindlich. Die Nationalsozialisten hingegen verstanden sich in ihrem Selbstverständnis als junge, dynamische, zupackende, angriffsbereite, auch als antib [23]ürgerliche Bewegung, die mit Parolen wie „Macht Platz Ihr Alten“27 auf Konfrontation insbesondere zu den alten Eliten in Adel, Heer, Beamtenschaft und Diplomatie gingen. Ferner hatte der Nationalsozialismus einen stark proletarischen Zug, sowohl vom Habitus als auch vom Selbstverständnis. Viele SA-Männer empfanden eine ebenso große Abscheu für Reaktionäre wie für Linke.28
Und so passt in dieses Bild, dass die nationalsozialistische Propaganda Wilhelm mehrfach bei Abhandlungen über den „Tag von Potsdam“ einfach aus der Geschichte herausschrieb. Bei diesem Staatsakt wurde symbolisch von Hitler und Hindenburg die Verbindung zwischen altem Preußentum und Nationalsozialismus inszeniert. Wer die Propagandaerzeugnisse dazu studiert, dem fällt auf, dass Wilhelm wiederholt dort gar keine Erwähnung findet. In „Volk und Führer“, einem nationalsozialistischen Schulbuch, wird der „Tag von Potsdam“ breit gefeiert. Die Anwesenheit Wilhelms und anderer Hohenzollern wird indes überhaupt nicht erwähnt.29 Wenn Schüler aber nicht einmal wissen sollten, dass Wilhelm eine Rolle gespielt hatte, konnte diese bei ihnen keinen „erheblichen Vorschub“ für den Nationalsozialismus zur Folge haben.
Auch Fotografien Wilhelms aus den 1930er-Jahren können einen falschen Eindruck erwecken, wenn sie unkritisch benutzt werden, ohne Rücksicht auf ihren Entstehungshintergrund und ihre zeitgenössische Rezeption.30 Das in der heutigen Debatte immer wieder für die These einer großen Signalwirkung Wilhelms bemühte Foto, das Hitler und einen Ulanenmütze tragenden Wilhelm beim „Tag von Potsdam“ zeigt, gehört in diese Kategorie. Es ist heute besser bekannt als für die Zeitungsleser des Jahres 1933, kann daher [24] nicht die vermeintliche Signalwirkung Wilhelms beweisen. Es wurde von Georg Pahl31 aufgenommen, einem Fotografen, der schon bald der NS-Propaganda nicht genehm war. Ab 1934 war Pahl nicht einmal mehr offiziell zu NSDAP-Veranstaltungen zugelassen.32
Das bloße Vorhandensein des Fotos in Pahls Bildnachlass im Bundesarchiv beweist keine erfolgreiche Werbewirkung Wilhelms für den Nationalsozialismus. Dafür müsste nachgewiesen werden, dass das Foto von vielen Publikationen abgedruckt wurde und auch eine Wirkung entfaltet hatte. Dies darf aufgrund von Goebbels’ Einstellung zu Wilhelm von Preußen bezweifelt werden. Tatsächlich benutzten die zu jenem Zeitpunkt noch nicht vollständig gleichgeschaltete Presse und die NS-Propaganda eher Bilder von jubelnden Massen, Fotos aus dem Inneren der Garnisonkirche, auf denen Wilhelm nicht zu sehen war, oder höchstens das nach 1945 berühmt gewordene Foto von Hitlers und Hindenburgs Handschlag des New York Times-Fotografen Theo Eisenhart.33 Selbst Pahls Foto von Hitlers und Hindenburgs Handschlag ist bis heute weitgehend unbekannt geblieben.34 Keine der 57 Zeitungen aus [25] dem Bereich des heutigen Nordrhein-Westfalen, für die die Ausgaben des Folgetages des ‚Tages von Potsdam‘ digitalisiert worden sind, gebrauchte auf ihren Titelseiten ein Foto Wilhelms, obwohl ganzseitige Berichterstattung über den Tag von Potsdam überwog. Wilhelm wurde entweder überhaupt nicht erwähnt oder nur am Rande unter „ferner liefen …“.35
Auch die NS-Presse versuchte, Wilhelm von Preußen an den Rand zu drängen. In den Tagen vor und nach dem Tag von Potsdam berichtete der Völkische Beobachter über viele Seiten in erschöpfendem Detail über die Feierlichkeiten. Wilhelm wurde jedoch nur im Rahmen einer langen Aufstellung der Ehrengäste der Festveranstaltung in der Garnisonkirche aufgelistet.36 Zwischen einer Erwähnung der Anwesenheit der Adjutanten des Reichstags, des Generaldirektors der Reichsbahn, von Handelskammerpräsidenten und der Kommandeure diverser Truppenstandorte tauchte auch der Hinweis auf, dass der „Kronprinz“ in der Kaiserinloge gesessen habe.37 Auch auf den im NS-Organ abgedruckten Fotos taucht Wilhelm nicht auf.38 Und der Artikel Alfred Rosenbergs „Vom Sinn des 21. März“ – abgedruckt auf der Titelseite des Völkischen Beobachters am Tag der Feierlichkeiten – erwähnte Wilhelm mit keinem Wort. Rosenberg rechnete nicht nur mit der Revolution und mit Weimar, sondern auch mit der Zeit zuvor ab. „Am 21. März,“ so der NS-Chefideologe, „stirbt die Staatsanschauung der letzten 150 Jahre.“39
Reportagen aus anderen Zeitungen über den ‚Tag von Potsdam‘ beweisen, dass Wilhelm von Preußen bei der öffentlichen Inszenierung des Tages keine nennenswerte Rolle spielte. So verzeichnete der Reporter einer Zeitung aus dem Berliner Umland, dass am 21. März ganz Potsdam festlich geschmückt war, um die Verbindung Preußens und des Dritten Reiches zu feiern: „Schwarz-weiß-rote Fahnen und Hakenkreuzfahnen sind in Potsdam restlos ausverkauft. Es gibt kein Haus, auf dem nicht die schwarz-weiß-rote oder die Hakenkreuzfahne weht.“ Überall waren Bilder der Repräsentanten Preußens und des Nationalsozialismus zu sehen. Falls auch Bilder von Wilhelm von Preußen ausgestellt waren, waren sie für den Reporter für seine Leser nicht erwähnenswert: „In den Buchhandlungen,“ hieß es im Buckower Lokal-Anzeiger, „sieht man überall Bücher über den Reichskanzler und das Buch von [26] Hans Hinkel, MdR, über das Reichskabinett, ferner Bilder von Hindenburg, Hitler, Dr. Frick, Göring, Hugenberg, Dr. Göbbels und anderer Mitglieder.“40
Wie eine Google-Ngram-Analyse für „Wilhelm von Preußen“ und „Kronprinz Wilhelm“ offenbart, die die Häufigkeit der Erwähnung von Begriffen in zeitgenössischen Publikationen misst, blieb das öffentliche Interesse an Wilhelm zwischen 1918 und 1945 äußerst gering, vor allem im Vergleich zu Personen wie Hindenburg, und diese Beobachtung trifft selbst auf die entscheidende Phase der Auflösung der Weimarer Republik 1932 zu.41
Die weitgehende Abwesenheit Wilhelms von Preußen im öffentlichen und veröffentlichten Bild des Dritten Reiches ist höchst signifikant bei der Beurteilung eines möglichen erheblichen Vorschubs seinerseits für das nationalsozialistische System. Das Bundesverwaltungsgericht hat in einem ansonsten anders gelagerten Fall, demjenigen des Landwirtschaftsstaatssekretärs Hansjoachim von Rohr, im Jahr 2010 dargelegt, dass eine auf Renommee basierende mutmaßliche erhebliche Vorschubleistung eine eingehende Prüfung erfordere, „welches Bild von der [möglicherweise vorschubleistenden] Person durch die (nationalsozialistischen) Medien gezeichnet worden ist.“42 Wendet man diesen Maßstab auf den ehemaligen Kronprinzen an, sind die Ergebnisse bemerkenswert. Denn sehr schnell hat die NS-Propaganda nach der Machtergreifung versucht sicherzustellen, dass möglichst überhaupt kein Bild von Wilhelm von Preußen durch die Medien gezeichnet werden sollte.
Vor allem dem Propagandaminister Joseph Goebbels war der ehemalige Kronprinz ein Dorn im Auge. Nur für einen kurzen Moment hatte sich Goebbels im Frühjahr 1933 auf Wilhelms Versuch eingelassen – wie wir noch sehen werden –, Hitler im Ausland propagandistisch zu unterstützen. Goebbels’ Grundhaltung gegenüber Wilhelm war unverändert. In der Vergangenheit war Wilhelm für Hitlers Propagandaminister ein „Affe“ gewesen, wie er seinem Tagebuch anvertraut hatte.43 In einem Tagebucheintrag vom Februar 1933 nennt er ihn dann einen „Anschmeißer“. Und ein „freundliche[r] Brief“ von Wilhelm rief bei ihm einen „Brechreiz“ hervor.44 Goebbels Abneigung, Wilhelm zu Propagandazwecken in Deutschland einzusetzen, verwundert [27] wenig. Im August 1933 schreibt Goebbels, eine Restauration der Monarchie
„wäre unsere größte Dummheit“.45 Nach der Machtergreifung konnte Wilhelm von Preußen schon deshalb den Nationalsozialisten keinen „erheblichen Vorschub“ mehr leisten, weil die Nationalsozialisten alles unternahmen, damit er von ihrem inneren Kreis und den Bühnen der Selbstinszenierung weitestgehend ferngehalten wurde. Es kann daher keine Rede davon sein, daß „Goebbels sich keinen besseren Journalisten als den Kronprinzen“ vorstellen konnte.46
Die Geringschätzung des ehemaligen Kronprinzen und das Desinteresse von Goebbels an einer Propagandatätigkeit Wilhelms von Preußen müssen so groß gewesen sein, dass der Sohn des letzten Kaisers nicht einmal in einer der vielen Presseanweisungen des Reichspropagandaministeriums in den Jahren 1933 oder 1934 namentlich erwähnt wurde.47 Dafür versuchte das NS-Regime schon Anfang 1934 mit aller Macht, eine Berichterstattung über die Hohenzollern explizit zu unterdrücken.
Mitte Januar 1934 erließ Goebbels’ Propagandaministerium nach Absprache mit der Reichskanzlei eine ‚Wichtige Anordnung‘ bezüglich des bevorstehenden 75. Geburtstages Wilhelms II.: „Mit besonderem Nachdruck wurde darauf hingewiesen, dass das Problem der Monarchie gegenwärtig in keiner Weise akut sei und daher unter allen Umständen Artikel zu unterbleiben hätten, die eine monarchistische oder antimonarchistische Tendenz trügen.“ Ziel des Erlasses war es, Leitartikel zum Geburtstag des Kaisers zu unterbinden. Eine kaum versteckte Drohung sollte Nachdruck verleihen: „Die Zeitungen werden in dieser Beziehung genau kontrolliert werden und setzen sich nach den Ankündigungen bestimmt Unannehmlichkeiten aus. Auch Veröffentlichung von Bildern ist unerwünscht.“ Wenn kurze Berichte sich nicht verhindern ließen, so die Anweisung aus dem Propagandaministerium, „so soll alles ‚monarchische‘ aus ihnen entfernt werden“.48 Goebbels’ Anordnung wurde mehrmals wiederholt. Drei Tage vor dem Geburtstag „droht[e] der Propagandaminister schärfste Maßnahmen gegen die verantwortlichen Schriftleiter [an], wenn das nun mehrfach ausgesprochene Verbot […] umgangen wird“. Für den Fall künftiger „monarchistische[r] Propaganda“ würde das Propagandaministerium [28] eine Diskussion initiieren, die „unter allen Umständen zu Ungunsten des ehemaligen Kaiserhauses auslaufen“ würde.49
Am Tag des Geburtstags selbst kam es zu Störungen von pro-monarchistischen Feiern. Als in Berlin bei einer Veranstaltung des Nationalverbandes deutscher Offiziere auf den ehemaligen Kaiser ein Hoch ausgebracht wurde, drangen Mitglieder der SA in den Saal, warfen mit Papierböllern um sich und sangen das antimonarchistische, nationalsozialistische Horst-Wessel-Kampflied.50
Die NS-Propaganda versuchte auch weiterhin, konsequent den Hohenzollern in der Öffentlichkeit das Wasser abzugraben. So gab Hermann Göring im März 1934 ein Interview, in dem er erklärte, daß er jetzt „nicht mehr Monarchist“ sei, und daß er „die monarchistischen Umtriebe […] unterdrücken werde, wenn es nötig sein sollte“.51 Auch Goebbels hielt weiterhin von Wilhelm von Preußen gar nichts, wie er seinem Tagebuch am 20. Juli 1934 anvertraute: „[Hitler] zeigt mir einen Brief, den der Kronprinz ihm schrieb. ‚Mein Führer!‘ Charakterlose Bande!“52
Seit Anfang 1935 versuchte die NS-Propaganda, jede Berichterstattung über das Haus Hohenzollern im Allgemeinen und konkret über Wilhelm von Preußen zu unterbinden. Laut eines internen Propagandaministeriumsberichts war Hitler sehr verärgert, als die Kreuz-Zeitung durch eine Indiskretion von einem Treffen Wilhelms mit ihm zur Regelung von persönlichen Angelegenheiten des ehemaligen Kronprinzen Kenntnis bekommen hatte und darüber berichtete. „Der Führer hat über diese Veröffentlichung sein größtes Mißfallen ausgesprochen“, so der Bericht. Das Regime wollte den ehemaligen Kronprinzen ganz offensichtlich am liebsten totschweigen. Politisch wollte es schon gar nichts mit ihm zu tun haben. Der interne Bericht betonte auch, die Unterhaltung mit Hitler habe „keinen politischen Charakter“ gehabt.53 Daher war es folgerichtig, dass das Goebbels-Ministerium, als im März 1935 Ehrenkreuze an Teilnehmer des Ersten Weltkrieges verliehen wurden, anwies, daß über die Verleihung des Ehrenkreuzes durch den Reichswehrminister an den ehemaligen Kronprinzen nicht zu berichten sei.54
[29]1936 folgte eine weitere Zuspitzung. Im Jahr 1936 beschloss Wilhelm, wie die deutschsprachige New Yorker Zeitung ‚Neue Volks-Zeitung‘ schrieb, „sein politisches Schweigen zu brechen“.55 Das passte überhaupt nicht in Goebbels’ Konzept. Noch im Januar waren Zeitungen angewiesen worden, dass es „vom Propagandaministerium als selbstverständlich angesehen [wird], dass keine Kaiser-Geburtstags-Artikel“ erscheinen.56
Dennoch schickte Wilhelm nach dem Sieg Italiens im Abessinienkrieg Mussolini ein öffentliches Glückwunschtelegramm. Dadurch äußerte er sich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder öffentlich in dezidiert pro-faschistischer Weise. „Der deutsche ehemalige Kronprinz hat sich in den letzten Jahren von politischen Kundgebungen zurückgehalten,“ wie die sozialdemokratische ‚Neue Volks-Zeitung‘ verzeichnete. „Gelegentlich war er zwar bei Veranstaltungen der Nazis zu sehen, aber er enthielt sich jeder Äusserung politischer Art, die ihn als einen Anhänger des Faschismus hätte erscheinen lassen.“57
Goebbels’ Propagandaministerium war es überhaupt nicht recht, dass sich Wilhelm wieder öffentlich äußerte. So hieß es in einer Presseanweisung vom 11. Mai 1936, Wilhelms Telegramm dürfe „von der deutschen Presse auf keinen Fall veröffentlicht werden.“58 Über Wilhelm sollte nicht geredet werden. Im Juli 1936 durfte nicht einmal über die „Tatsache, dass der ehemalige Kronprinz in Bayreuth [zu den Festspielen] eingetroffen ist“, berichtet werden.59 In der zweiten Hälfte der 1930er Jahre kam es dann auch zur Beschlagnahmung von Zeitschriften, die sich für die Wiedereinführung der Monarchie einsetzten.60
Wie aus einem Tagebucheintrag über die griechische Königsfamilie ersichtlich ist, hielt Goebbels die Hohenzollern für zu vernichtendes Ungeziefer. Am Heiligabend 1939 schrieb er in sein Tagebuch: „Tschammer […] gibt einen Bericht von seiner Griechenlandreise. Stimmung dort geteilt. Stark von England abhängig. Besonders der König. Nicht so der Kronprinz, aber seine Frau, bezeichnenderweise eine Hohenzollernprinzessin. Pack! Muß ausgerottet werden. Die fürstlichen Parasiten Europas.“61
[30]Wilhelm von Preußen und Joseph Goebbels hatten sich immer mehr zu Antagonisten entwickelt. Sollte es im „Dritten Reich“ wirklich möglich gewesen sein, dass der Sproß eines einst regierenden Hauses aufgrund seiner „Strahlkraft“ und seines „Renommées“ gegen den Willen des Reichspropagandaministers dem nationalsozialistischen System medial einen erheblichen Vorschub geleistet haben sollte?
Wenn man den Ausführungen des öffentlichen Online-Fachgespräches von Bündnis 90/Die Grünen folgt, kommt jedoch Wilhelms Wirkung im Ausland – ganz unabhängig von seiner möglichen Wirkung im Inland – eine große Rolle zu. Demnach hat Wilhelm von Preußen durch sein Wirken im Ausland dem Nationalsozialismus nicht nur „erheblichen Vorschub“ geleistet, sondern auch den Isolationismus in den Vereinigten Staaten signifikant gefördert, dem er nach dieser Sichtweise „in die Hände spielte“. Mit Bezug auf zwei Artikel, die Wilhelm von Preußen 1933 in der amerikanischen Presse platzierte, hieß es unwidersprochen bei der virtuellen Anhörung von Bündnis/Die Grünen: „Taten haben Folgen und natürlich hatte das auch schlimme Folgen für Juden, die ausreisen wollten. In den Dreißigerjahren wurde in Amerika die Einreisequote gesenkt und immer weniger Juden konnten dorthin fliehen.“62
Eine signifikante Wirkung Wilhelms auf die amerikanische Innen- und Außenpolitik entbehrt so sehr jeglicher Plausibilität, dass sie nicht nur behauptet, sondern auch bewiesen werden müsste. Die Artikel hätten schon ein publizistisches Erdbeben in der amerikanischen Politik auslösen müssen, um politikverändernd zu wirken. Tatsächlich wurde Wilhelm von Preußen nicht einmal in den Debatten im Senat und im Repräsentantenhaus oder in wesentlichen Regierungsunterlagen in der Dekade zwischen 1930 und 1940 erwähnt. Wenn es dort um die Hohenzollern insgesamt ging, war der Bezug niemals positiv.63
Außerdem widerlegt die Chronologie der Ereignisse die seinerzeit im Online-Kolloquium von Bündnis 90/Die Grünen aufgestellten Behauptungen. Da die Einreisequote bereits zum 1. Juli 1929 gesenkt worden war,64 müsste Wilhelm von Preußen sich schon einer Zeitmaschine bedient haben, um mit [31] Äußerungen aus dem Jahr 1933 vier Jahre zuvor einer Änderung amerikanischer Einreisepolitik „erheblichen Vorschub“ geleistet zu haben.
IV.
Mit einem Vergleich der ehemaligen regierenden Häuser Wittelsbach und Hohenzollern lässt sich zeigen, dass keine einzige von Wilhelms Handlungen einen „erheblichen Vorschub“ für das nationalsozialistische System zur Folge hatte. Da sich die Wittelsbacher als ehemaliges Königshaus in Bayern ganz anders als die Hohenzollern gegenüber Hitler und dem Nationalsozialismus verhielten, hätte sich das nationalsozialistische System in Bayern in seinem inneren Gefüge, in der Herrschaftsausübung und in der Durchdringung des konservativen Bürgertums signifikant anders als in Preußen entwickelt haben müssen, wenn in Wilhelms Verhalten ein „erheblicher Vorschub“ für das Dritte Reich bestanden hätte.
Anders als Kronprinz Wilhelm von Preußen erwog Kronprinz Rupprecht von Bayern im Falle einer Regierungsübernahme Hitlers, sich offen gegen die Nationalsozialisten zu stellen. Auch wenn er sich letztlich nicht zu diesem Schritt entschließen konnte, hat er sich öffentlich Hitler nicht angedient. Es gibt kein bayerisches Pendant zum „Tag von Potsdam“. Stattdessen wurde einer der engsten Berater Rupprechts, Erwein von Aretin, acht Tage vor dem „Tag von Potsdam“ in Schutzhaft genommen und später ins KZ Dachau eingeliefert. 1934 verboten die Nationalsozialisten dann aus Sorge vor einem monarchistischen Aufstand gegen Hitler alle bayerischen monarchistischen Organisationen. Den Zweiten Weltkrieg verbrachte Rupprecht in Italien im Exil, lange in der Villa einer jüdischen Familie in Florenz. Und Rupprechts Frau und seine Kinder überlebten den Krieg im KZ, erst in Dachau, dann in Flossenbürg.65
Trotz des völlig anderen Verhaltens von Rupprecht und Wilhelm und trotz der Identifikation des konservativen monarchistischen Milieus in Bayern mit den Wittelsbachern gibt es keinen signifikanten Unterschied – weder in der Entwicklung des Dritten Reiches in Bayern und in Norddeutschland im Allgemeinen noch im Verhalten des konservativen Bürgertums gegenüber Hitler im Besonderen.66
[32]Gleiches gilt für die Entwicklung in Österreich seit dem „Anschluss“ an Deutschland im Jahr 1938. Otto von Habsburg stellte sich offen gegen die Nationalsozialisten. Er wurde wegen Hochverrats auf die Fahndungsliste gesetzt und konnte sich nur durch den Gang ins Exil dem Zugriff seiner Häscher entziehen. In den folgenden Jahren wurden Hunderte Monarchisten exekutiert. 1940 erließ Rudolf Heß einen Befehl, dass Otto von Habsburg ohne Gerichtsverfahren sofort hinzurichten sei, falls er in die Hände von deutschen Invasionstruppen in Belgien fallen sollte. Und dennoch erfolgte die nationalsozialistische Machtübernahme und -konsolidierung in Österreich ohne größere Probleme.67
Wilhelm von Preußen hat sich völlig anders als Rupprecht von Bayern oder Otto von Habsburg gegenüber dem Nationalsozialismus verhalten. Das Resultat war aber in Preußen, Bayern und Österreich das gleiche. Es gibt allenfalls graduelle Unterschiede im Verhalten des preußischen, bayerischen und österreichischen konservativen Bürgertums gegenüber dem Nationalsozialismus. Vor diesem Hintergrund einen „erheblichen Vorschub“ Wilhelm von Preußens belegen zu wollen, erscheint wenig plausibel.
V.
Der ehemalige Kronprinz Wilhelm von Preußen hat sich in Verfolgung seines Ziels, die Hohenzollernmonarchie in Deutschland wiederzuerrichten, trotz grundlegender ideologischer Unterschiede Hitler zwischen 1932 und 1934 in einer Weise angedient, dass wir den subjektiven Tatbestand einer wesentlichen Vorschubleistung als erfüllt ansehen. Das Vorhandensein einer objektiven Vorschubleistung gegenüber dem nationalsozialistischen System hingegen verneinen wir. Selbst dort, wo Wilhelm selbst meinte, seinen größten Vorschubdienst geleistet zu haben, hat er objektiv keinen erheblichen Vorschub geleistet – auch wenn Wilhelms absurde Behauptung, Hitler bei der Reichspräsidentenwahl 1932 zwei Millionen Wählerstimmen geliefert zu haben, stimmen würde. Schließlich endete die Wahl mit einer Niederlage Hitlers.
Die Frage der Vorschubleistung kann verlässlich nur dann beantwortet werden, wenn die Fragestellung ausgeweitet wird und insbesondere die Krise des Konservatismus in den letzten Jahren der Weimarer Republik viel stärker in die Analyse einbezogen wird. Dies erfordert vor allem eine Auseinandersetzung mit den Forschungsergebnissen von Hermann Beck, Barry Jackisch, [33] Walter Kaufmann, Thomas Mergel oder Daniel Ziblatt und anderen in der Diskussion vernachlässigten Wissenschaftlern.68
Auch wenn aus historischer Sicht kein objektiver Vorschub durch Wilhelm von Preußen gegenüber dem nationalsozialistischen System festgestellt werden kann, ändert dies nichts an der Verantwortung des Hauses Hohenzollern. Im Nachhinein hat sich das Entschädigungs- und Ausgleichsleistungsgesetz aus dem Jahr 1994 als unzureichend für Fälle herausgestellt, bei denen subjektives und objektives Handeln weit auseinanderklaffen.
Gerade der „Fall“ des ehemaligen Kronprinzen zeigt, dass das Haus Hohenzollern aufs engste mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts und den Ereignissen in der Jahrhundertmitte verwoben ist. Sie zeigt auch, wie viel hierbei noch aufgearbeitet werden muss. Verantwortung vor der Geschichte besteht unabhängig vom Streit über mögliche Ausgleichsleistungen. Sie greift tiefer, und die Debatte der letzten Monate lehrt, dass hier großer Nachholbedarf besteht. Sollten den Hohenzollern aufgrund des 1994er Gesetzes tatsächlich Ausgleichsleistungen zustehen, würde aus ihnen eine moralische, historische und gesellschaftspolitische Pflicht für die Hohenzollern entstehen.69
Es ist daher eine vertane Chance, dass es in den letzten Jahren und Monaten zu keinen echten Verhandlungen zwischen dem Bund, den Ländern Berlin und Brandenburg sowie dem Haus Hohenzollern gekommen ist. Denn es geht um viel mehr als um weit zurückliegende Restitutionsansprüche. Es geht um eine Lösung, die über Urteile von Juristen und Gutachten von Historikern hinausgeht. Vor allem geht es um eine Lösung, die mehr als den aktuellen Rechtsstreit behebt. Die Geschichte Preußens ist aufs engste mit unserer deutschen Geschichte verwoben. Das Haus Hohenzollern steht für diese Geschichte, im Guten wie im Schlechten. Daraus erwächst Verantwortung, sich auch der dunkelsten Kapitel dieser Geschichte anzunehmen, unabhängig vom Ausgang des Rechtsstreits. Diese Verantwortung geht alle Seiten an. Eine breite öffentliche Debatte ist ebenso notwendig wie eine Einigung gesucht werden sollte, die es erlaubt, den Blick nach vorn zu richten: damit die wechselvolle Geschichte Preußens für die Zukunft Deutschlands und Europas keine Last bildet, sondern einen Gewinn mit sich bringt.
1 Bei diesem Beitrag handelt es sich um die überarbeitete und stark erweiterte Version von einem zuerst in der Tageszeitung Die Welt am 15. April 2021 erschienenen Textes.
2 Bündnis 90/Die Grünen, Online-Fachgespräch: Keine Sonderrechte für den Adel, 5. August 2021, https://www.gruene-bundestag.de/termine/keine-sonderrechte-fuerden-adel, letzter Zugriff am 5. August 2021.
3 Deutschlandfunk, Historiker über Hohenzollern: Kronprinz Wilhelm leistete Nationalsozialismus erheblichen Vorschub – Eckart Conze im Gespräch mit Friedbert Meurer, 18. Februar 2021, https://www.deutschlandfunk.de/historiker-ueber-hohenzollern-kronprinz-wilhelm-leistete.694.de.html?dram:article_id=492721, letzter Zugriff am 5. August 2021.
4 Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz, Gesetz über staatliche Ausgleichsleistungen für Enteignungen auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können, 27. September 1994, https://www.gesetze-im-internet.de/ausglleistg/BJNR262800994.html, letzter Zugriff am 5. August 2021.
5 Ebenda, § 1, Abs. 4, letzter Zugriff am 5. August 2021.
6 Land Brandenburg, Ministerium der Finanzen und für Europa, ‚Hohenzollern-Verfahren: Verwaltungsgericht und Finanzministerium verlängern Fristen zur Stellungnahme‘, 24. August 2020, https://mdfe.brandenburg.de/mdfe/de/ministerium/presse/pressemitteilungen/pressemitteilung/~24-08-2020-hohenzollern-verfahren#, letzter Zugriff am 5. August 2021.
7 Gustav Steinbömer (alias Gustav Hillard), Herren und Narren der Welt, München: List Verlag, 1954, S. 85.
8 Siehe zum Beispiel Deutschlandfunk, Historiker über Hohenzollern: Kronprinz Wilhelm leistete Nationalsozialismus erheblichen Vorschub – Eckart Conze im Gespräch mit Friedbert Meurer, wie Anm. 3.
9 Zur Doppelkrise der DNVP und des Monarchismus sowie zur Lambachkontroverse, siehe: Thomas Mergel, Das Scheitern des deutschen Tory-Konservatismus: Die Umformung der DNVP zu einer rechtsradikalen Partei 1928–1932, Historische Zeitschrift, 276 (2003), 323–368; Daniel Ziblatt, Conservative Parties and the Birth of Democracy, Cambridge: Cambridge University Press, 2017, Kapitel 8 & 9; Walter Kaufmann, Monarchism in the Weimar Republic, New York: Bookman Associates, 1953; Barry A. Jackisch, The Pan-German League and Radical Nationalist Politics in Interwar Germany, 1918–39, Farnham: Ashgate, 2012; Hermann Beck, The Fateful Alliance: German Conservatives and Nazis in 1933: The Machtergreifung in a New Light, New York: Berghahn, 2008; Larry Eugene Jones, The German Right, 1918– 1930: Political Parties, Organized Interests, and Patriotic Associations in the Struggle against Weimar Democracy, Cambridge: Cambridge University Press, 2020.
10 Walther Lambach, Monarchismus, in: Politische Wochenschrift, 4, 24, 14. Juni 1928.
11 Zitiert in Kaufmann, Monarchism in the Weimar Republic, S. 182.
12 Mergel, Das Scheitern des deutschen Tory-Konservatismus, S. 367.
13 In der Wahl zum Reichstag im Mai 1928 erhielt die DNVP 14,3 % der Stimmen, 1930 waren es nur noch 7,0 %. Siehe dazu: Colin Storer, The Weimar Republic, London: I. B. Tauris, 2013, S. 175 ff.
14 Mergel, Das Scheitern des deutschen Tory-Konservatismus, S. 336.
15 Lambach, Monarchismus.
16 Brief Koerbers an Wilhelm von Preußen, 25. Juni 1932, University of the Witwatersrand, Johannesburg, Historical Papers Research Archive, Papers of Baron Adolf Victor von Koerber, AB Crown Prince William.
17 Zit. nach Klaus W. Jonas, Der Kronprinz Wilhelm, Frankfurt/Main: Scheffler, 1962, S. 226.
18 Christopher Clark, Hat Kronprinz Wilhelm dem nationalsozialistischen System erheblichen Vorschub geleistet, Gutachten, 2011, http://hohenzollern.lol/gutachten/clark.pdf, letzter Zugriff am 5. August 2021.
19 Zu Wilhelm von Preußen gibt es bisher nur eine Biographie aus dem Jahr 1954 und eine andere aus dem Jahr 1962. Siehe: Paul Herre, Kronprinz Wilhelm: Seine Rolle in der deutschen Politik, München: Beck, 1954, sowie Klaus W. Jonas, Kronprinz Wilhelm, Frankfurt/Main: Scheffler 1962. Ferner gibt es einige veröffentlichte Egodokumente Wilhelms aus der Zeit zwischen 1912 und 1925. Siehe: Aus meinem Jagdtagebuch, Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1912; Erinnerungen des Kronprinzen Wilhelm: Aus den Aufzeichnungen, Dokumenten, Tagebüchern und Gesprächen, Stuttgart: Cotta, 1922; Meine Erinnerungen aus Deutschlands Heldenkampf, Berlin: E. S. Mittler & Sohn; und Ich suche die Wahrheit!: Ein Buch zur Kriegsschuldfrage, Stuttgart: Cotta, 1925.
Die Autoren dieses Beitrags führen derzeit umfangreiche Archivstudien zu Wilhelm von Preußen durch, die in die Bewertung von Wilhelms Vorstellungswelt teilweise eingeflossen sind.
20 Siehe zum Beispiel das Photo, das ihn am 21. März 1933 im Gespräch mit Adolf Hitler vor der Garnisonskirche in Potsdam zeigt. Vgl. Bundesarchiv, Bildarchiv, Bild 102-14437.
21 Hans Bohrmann (Hrsg.), NS-Presseanweisungen, Band 4/I: 1936, München: Saur, 1993, S. 69, Presseanweisung vom 22. Januar 1936.
22 Friedrich Wilhelm von Preußen, Die Hohenzollern und der Nationalsozialismus, München, 1983, S. 343.
23 Das Bundesverwaltungsgericht hat in einer Reihe von Entscheidungen konkretisiert, wie eine erhebliche Vorschubleistung zu verstehen und zu messen ist. Dies gilt vor allem auch für die „Hugenbergentscheidung“ des Bundesverwaltungsgerichts, vgl. dazu: Bundesverwaltungsgericht, BVerwG 3 C 20.04, Urteil vom 17. März 2005, https://www.bverwg.de/170305U3C20.04.0, letzter Zugriff am 5. August 2021.
24 So die falsche Charakterisierung des von uns benutzen methodischen Ansatzes durch Eckart Conze. Siehe: Eckart Conze, Prinzenerzählungen: Die Hohenzollern und ihre Geschichte, Vortrag bei: Die Klagen der Hohenzollern – eine Dokumentation, Website-Launch und Podiumsdiskussion am 15. Juni 2021, Zoom-Webinar.
25 SWR2, Gespräch: „Wir brauchen dringend eine öffentliche Debatte“. Historiker Eckart Conze über die NS-Vergangenheit im Haus Hohenzollern, 18. Februar 2021, https://www.swr.de/swr2/leben-und-gesellschaft/wir-brauchen-dringend-eine-oeffentliche-debatte-historiker-eckart-conze-ueber-die-ns-vergangenheit-im-haus-hohenzollern-100.html, letzter Zugriff am 5. August 2021.
26 Zu dieser Frage forschen die Verfasser dieses Beitrages derzeit.
27 Die Parole geht auf Gregor Strasser zurück. Siehe Arnst Weinrich, Zwischen Kontinuität und Kritik: Die Hitler-Jugend und die Generation der „Frontkämpfer“, in: Gerd Krumeich (Hrsg.), Nationalsozialismus und Erster Weltkrieg, Essen: Klartext Verlag, 2010, S. 271–284, insbes. S. 273.
28 Siehe: Robert Gellately, Hitler’s True Believers: How Ordinary People Became Nazis, Oxford: Oxford University Press, 2020, hier insbes. Kapitel 4; Thomas Childers, The Third Reich: A History of Nazi Germany, New York: Simon & Schuster, 2017, passim.
29 Walter Franke, Volk und Führer: Deutsche Geschichte für Schulen, Ausgabe für Oberschulen und Gymnasien. Klasse 5: Nun wieder Volk, Frankfurt/Main: Verlag Moritz Diesterweg, 1939, S. 223 f.
30 Zum kritischen Gebrauch von während des Dritten Reiches entstandener Photographie, siehe das von Elizabeth Harvey und Maiken Umbach herausgegebene Special Issue von Central European History zu ‚Photography and Twentieth-Century German History‘, Central European History, vol. 48,3 (2015); Betts, Paul, Evans, Jennifer und Stefan-Ludwig Hoffmann (Hrsg.), The Ethics of Seeing: Photography and 20th Century German History, New York; Berghahn, 2017; Weber, Thomas, Łódź Ghetto Album: Photographs by Henryk Ross, London: Chris Boot, 2004.
31 Bundearchiv, Bildarchiv, Bild 102-14437; vgl.: Bundesarchiv, Invenio, Bestandssignatur: Bild 102, https://invenio.bundesarchiv.de/invenio/direktlink/cbf96521-536e-4cd2-be9e-605ce6a9be8a/, letzter Zugriff am 10. März 2021.
32 Fotoerbe.de, Institut für Museumsforschung, Berlin, Eintrag zu Bild 102 Aktuelle-Bilder-Centrale, Georg Pahl im Bildarchiv des Bundesarchivs, Koblenz, http://www.fotoerbe.de/bestandanzeige.php?bestnr=1775, letzter Zugriff am 5. August 2021.
33 Thomas Wernicke, Der Handschlag am „Tag von Potsdam“, in: Christoph Kopke / Werner Treß (Hrsg.), Der Tag von Potsdam: Der 21. März und die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur, Berlin: de Gruyter, 2013, S. 8–46, Beleg auf S. 27 f.; Thomas Wernicke, „Das entlastende Foto“. Vortrag zum Handschlag am ‚Tag von Potsdam‘, 21. März 2012, https://garnisonkirche-potsdam.de/aktuell/news/detail/das-entlastende-foto-vortrag-des-historikers-thomas-wernicke-zum-handschlag-amtag-von-potsdam-am-21-maerz-1933/, letzter Zugriff am 8. August 2021; Günter Kaufmann, Der Händedruck von Potsdam: Die Karriere eines Bildes, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, Heft 5/6, 1997, S. 295–315; Matthias Grünzig, Der „Tag von Potsdam“ am 21. März 1933, Vortrag auf der Veranstaltung „Garnisonkirche der Nation – Gesegnete Kriege vor 1933“ am 22. März 2018 im Alten Rathaus in Potsdam, https://www.deutsches-bildbandarchiv.de/Maerz1933/MatthiasGruenzig-Vortrag20180322.pdf, letzter Zugriff am 15 Mai 2021; Jan Kixmüller, „Zum ‚Tag von Potsdam‘: Ein Foto und seine Legende“, Potsdamer Neueste Nachrichten, 19. März 2021, https://www.pnn.de/wissenschaft/zum-tag-von-potsdam-ein-foto-und-seine-legende/21315888.html, letzter Zugriff am 5. August 2021; Hans Wendt, Die Nationalversammlung von Potsdam: Deutschlands große Tage 21. bis 23. März 1933, Berlin: E. S. Mittler, 1933; John Zimmermann, Der Tag von Potsdam, in: Michael Epkenhans und Carmen Winkel (Hrsg.), Die Garnisonkirche Potsdam: Zwischen Mythos und Erinnerung, Freiburg im Breisgau: Rombach, 2013, S. 69–90.
34 Bundesarchiv, Bildarchiv, Bild 102-16082, https://www.bild.bundesarchiv.de/dba/de/search/?topicid=dcx-thes_klassifikation_774uccoo65h1foqcwiah, zuletzt Zugriff am 5. August 2021.
35 Zeitungsportal NRW, https://zeitpunkt.nrw, Recherche am 17. März 2021 durchgeführt.
36 Auswertung der Berliner Ausgabe des Völkischen Beobachters für den Zeitraum 19. bis 27. März 1933, Institut für Zeitungsforschung, Dortmund, Mikrofilm F 87751.
37 Völkischer Beobachter, Berliner Ausgabe, 22. März 1933, erstes Beiblatt: Der feierliche Staatsakt in der Garnisonskirche.
38 Völkischer Beobachter, Berliner Ausgabe, 19. bis 27. März 1933.
39 Alfred Rosenberg, Vom Sinn des 21. März, Völkischer Beobachter, Berliner Ausgabe, 21. März 1933, S. 1.
40 Buckower Lokal-Anzeiger, 21. März 1921, S. 1, Weltgeschehen in Potsdam.
41 Google Books Ngram Viewer, https://books.google.com/ngrams/, Suchbegriffe: „Wilhelm von Preußen, Kronprinz Wilhelm, Hindenburg, Hugenberg, Hohenzollern“, Recherche am 17. März 2021.
42 Bundesverwaltungsgericht, BVerwG 5 C 16.09, Urteil vom 29. September 2010, https://www.bverwg.de/290910U5C16.09.0, letzter Zugriff am 5. August 2021.
43 Joseph Goebbels, Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Berlin: De Gruyter, 2012, Eintrag vom 17. November 1930, https://www.degruyter.com/document/database/TJGO/entry/TJG-1695/html, letzter Zugriff am 5. August 2021.
44 Goebbels, Tagebücher, Eintrag vom 10. Februar 1933, https://www.degruyter.com/document/database/TJGO/entry/TJG-2431/html, letzter Zugriff am 5. August 2021.
45 Goebbels, Tagebücher, Eintrag vom 5. August 1933, https://www.degruyter.com/document/database/TJGO/entry/TJG-2589/html, letzter Zugriff am 5. August 2021.
46 Die Historikerin Karina Urbach hat diese These aufgestellt. Siehe Karina Urbach, Useful Idiots: The Hohenzollerns and Hitler, Historical Research, vol. 93, issue 261 (2020), 526–550, Zitat auf 546.
47 Hans Bohrmann (Hrsg.), NS-Presseanweisungen der Vorkriegszeit: Edition und Dokumentation, Band 1: 1933, München: Saur, 1984, und Band 2: 1934, München: Saur, 1985 (künftig: Bohrmann).
48 Bohrmann, Band 2, S. 25 f., Wichtige Anordnung, 16. Januar 1934.
49 Bohrmann, Band 2, S. 41 f, Presseanweisung vom 24. Januar 1934.
50 Bohrmann, Band 2, S. 49, ZsG. 101/3/44, Januar 1934.
51 Bohrmann, Band 2, S. 149, Ein Interview Görings, 21. März 1934.
52 Goebbels, Tagebücher, Tagebucheintrag vom 20. Juli 1934, https://www.degruyter.com/document/database/TJGO/entry/TJG-2844/html, letzter Zugriff am 5. August 2021.
53 Bohrmann, Band 3/I: 1935, München: Saur, 1987, S. 60, DNB-Rundruf vom 5. Februar 1935.
54 Bohrmann, Band 3/I, S. 165, Presseanweisung zum 23. März 1935.
55 Bohrmann, Band 4/I, S. 485, Presseanweisung vom 11. Mai 1936.
56 Bohrmann, Band 4/I, S. 69, Presseanweisung vom 22. Januar 1936.
57 Bohrmann, Band 4/I, S. 485, Presseanweisung vom 11. Mai 1936.
58 Bohrmann, Band 4/I, S. 485, Presseanweisung vom 11. Mai 1936.
59 Bohrmann, Band 4/II: 1936, München: Saur, 1993, S. 767, Presseanweisung vom 20. Juli 1936.
60 Bohrmann, Band 3/I, Einleitung, S. 47*.
61 Goebbels, Tagebücher, Tagebucheintrag vom 24. Dezember 1939, https://www.degruyter.com/document/database/TJGO/entry/TJG-4489/html, letzter Zugriff am 5. August 2021.
62 Soweit die Ausführungen Karina Urbachs bei dem Bündnis 90/Die Grünen ‚Online-Fachgespräch: Keine Sonderrechte für den Adel‘.
63 United States Government Publishing Office, Govinfo.gov, benutzte Suchbegriffe: crown prince, Wilhelm von, Wilhelm of, William of, William von & Hohenzollern, Suche am 19. März 2021.
64 Siehe Presidential Proclamation 1872, Limiting the Immigration of Aliens into the United States on the Basis of National Origin, The American Presidency Project, https://www.presidency.ucsb.edu/documents/proclamation-1872-limiting-the-immigration-aliens-into-the-united-states-the-basis, letzter Zugriff am 5. August 2021; Mae M. Ngai, The Architecture of Race in American Immigration Law: A Reexamination of the Immigration Act of 1924, Journal of American History, vol. 86,1 (1999), 67–92.
65 Siehe z. B.: Dieter J. Weiß, Kronprinz Rupprecht von Bayern (1869–1955): Eine politische Biografie, Regensburg: Friedrich Pustet, 2007; Erwein v. Aretin, Krone und Ketten: Erinnerungen eines bayerischen Edelmannes, München: Süddeutscher Verlag, 1955.
66 Zu dieser Frage forscht gerade einer der beiden Verfasser dieses Beitrags.
67 Siehe z. B.: Stephan Baier/Eva Demmerle, Otto von Habsburg: Die Biografie, Wien: Amalthea, 2007.
68 Siehe zum Beispiel die im Zusammenhang der Krise des Monarchismus und der DNVP in diesem Beitrag zitierte Literatur.
69 Wie derartige Pflichten abgegolten werden könnten, lehrt ein Blick auf das Restitutionsgeschehen in den südosteuropäischen Ländern, vgl. dazu den Beitrag von Frank-Lothar Kroll in diesem Band, S. 305–333.
[35]
Zur Auslegung und Anwendung von § 1 Abs. 4 Ausgleichsleistungsgesetz*
Von Christian Hillgruber und Philipp Bender, Bonn
Das Haus Hohenzollern macht eine Entschädigung für nach 1945 in Brandenburg enteignete Vermögenswerte geltend. Das sogenannte „Ausgleichsleistungsgesetz“ (AusglLeistG) schließt Ansprüche jedoch aus, wenn der Berechtigte oder dessen Rechtsnachfolger „dem nationalsozialistischen […] System […] erheblichen Vorschub geleistet hat“. Zum politischen Verhalten des ehemaligen Kronprinzen Wilhelm von Preußen mit Bezug auf den Nationalsozialismus sind streitgegenstandsbezogen mehrere historische Gutachten erstellt worden. Vor diesem Hintergrund entfalten die Autoren die rechtlichen Maßstäbe und wenden sie auf den vorliegenden Fall an. Dabei kommen sie zu dem Ergebnis, dass ein erhebliches Vorschubleisten bisher nicht nachweisbar ist.
I. Einleitung
Das den Hohenzollern im Jahr 1926 bei der Einigung mit dem Land Preußen als Privat-(Familien-)Besitz zugesprochene Grundeigentum sowie auch bewegliche Güter wurden nach 1945 auf Anordnung der Sowjetischen Militäradministration entschädigungslos enteignet. Den Antrag auf eine Ausgleichsleistung in Höhe von 1,2 Millionen Euro Entschädigung durch das Land Brandenburg nach Maßgabe des Gesetzes über staatliche Ausgleichsleistungen für Enteignungen auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage, die nicht mehr rückgängig gemacht werden können (Ausgleichsleistungsgesetz – AusglLeistG)1, hat das dem Landesfinanzministerium unterstehende Landesamt zur Regelung offener Vermögensfragen [36] Brandenburg2 im Dezember 2015 mit der Begründung abgelehnt, der vormalige Kronprinz Wilhelm (Prinz von Preußen, 1882–1951) habe dem nationalsozialistischen System erheblichen Vorschub geleistet. Gegen den Ablehnungsbescheid ist Klage vor dem Verwaltungsgericht Potsdam erhoben worden. Ungeachtet des anhängigen, zeitweise ruhend gestellten Verwaltungsrechtsstreits werden derzeit zwischen dem Haus Hohenzollern, dem Bund sowie den Ländern Berlin und Brandenburg Verhandlungen über eine auf dem Vergleichsweg zu erzielende außergerichtliche Gesamteinigung über offene Vermögensfragen geführt.
II. Die rechtlichen Maßstäbe
Nach § 1 Abs. 1 AusglLeistG erhalten natürliche Personen, die Vermögenswerte im Sinne des § 2 Abs. 2 des Gesetzes zur Regelung offener Vermögensfragen (Vermögensgesetz – VermG) durch entschädigungslose Enteignungen auf besatzungsrechtlicher oder besatzungshoheitlicher Grundlage in dem in Artikel 3 des Einigungsvertrages genannten Gebiet (Beitrittsgebiet) verloren haben, oder ihre Erben oder weiteren Erben (Erbeserben) eine Ausgleichsleistung nach Maßgabe dieses Gesetzes. Der wesentlich auf dem Sozialstaatsgebot des Grundgesetzes beruhende Anspruch auf Ausgleichsleistung nach § 1 Abs. 1 AusglLeistG beinhaltet ein Surrogat für den nach § 1 Abs. 8 Buchst. a VermG ausgeschlossenen Restitutionsanspruch.
Nach § 1 Abs. 4 AusglLeistG werden Leistungen nach diesem Gesetz nicht gewährt, wenn der nach den Absätzen 1 und 2 Berechtigte oder derjenige, von dem er seine Rechte ableitet, oder das enteignete Unternehmen gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit verstoßen, in schwerwiegendem Maße seine Stellung zum eigenen Vorteil oder zum Nachteil anderer missbraucht oder dem nationalsozialistischen oder dem kommunistischen System in der sowjetisch besetzten Zone oder in der Deutschen Demokratischen Republik erheblichen Vorschub geleistet hat. Diese Vorschrift – der etwas missverständlich so bezeichnete „Unwürdigkeitstatbestand“ – bezweckt den Ausschluss der Hauptverantwortlichen des NS-Unrechtssystems. Diejenigen, die für die zu revidierenden Unrechtsmaßnahmen die primäre Verantwortung tragen, sollen nicht (auch noch) zu ihren Gunsten Ausgleichsleistungen [37] dafür in Anspruch nehmen können.3 „Haupt“verantwortung trägt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) derjenige, der zur Errichtung dieses Unrechtssystems erheblich beigetragen hat, der der Diktatur den Weg bereitet und dadurch einen Beitrag dazu geleistet hat, dass deren Unrechtsmaßnahmen erst möglich werden konnten.4
Ein erhebliches Vorschubleisten im Sinne von § 1 Abs. 4 AusglLeistG ist dabei bereits in der Phase der Errichtung und nicht erst nach der Etablierung des nationalsozialistischen Systems möglich.5
1. Die objektiven Voraussetzungen eines erheblichen Vorschubleistens
Der Anspruchsausschluss des erheblichen Vorschubleistens setzt in objektiver Hinsicht voraus, dass nicht nur gelegentlich oder beiläufig, sondern mit einer gewissen Stetigkeit Handlungen vorgenommen wurden, die dazu geeignet waren, die Bedingungen für die Errichtung, die Entwicklung oder die Ausbreitung des nationalsozialistischen Systems zu verbessern oder Widerstand gegen dieses System zu unterdrücken, und dies auch zum Ergebnis hatten.6 Die mit dem letzten Halbsatz bezeichnete Ergebnisbezogenheit des Verhaltens, d. h. das Erfordernis einer „erfolgreichen“ Förderung des nationalsozialistischen Systems, begründet ein Verursachungs- und Erfolgserfordernis.7 Das BVerwG spricht von „qualifizierten Unterstützungshandlungen für das nationalsozialistische System im Einzelfall“,8 womit festgelegt ist, dass das Tatbestandsmerkmal des erheblichen Vorschubleistens anhand einzelner Beiträge zu untersuchen ist. Die systemfördernden Handlungen können dabei je für sich genommen, aber unter Umständen auch erst in einer [38] Gesamtschau die Annahme rechtfertigen, dass die Schwelle des erheblichen Vorschubleistens überschritten ist.9
Der Nutzen, den das Regime aus dem Handeln des Betroffenen gezogen hat, darf daher nicht nur ganz unbedeutend gewesen sein.10 Vielmehr verlangt das Tatbestandsmerkmal der Erheblichkeit des Vorschubleistens „eine höhere Intensität und Wirkung der Unterstützung“.11 Nicht nur die unterstützende Handlung, sondern auch die durch sie hervorgerufene Unterstützungswirkung – also der Erfolg – müssen von größerer Bedeutung gewesen sein. Erforderlich ist mithin eine über eine einfache Förderleistung hinausgehende, gewichtige und nachhaltige Begünstigung der NSDAP als (späterer) Systempartei, ihrer Parteigliederungen oder ihrer führenden Protagonisten.12
Die Mitgliedschaft in der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen sind für ein Vorschubleisten jedoch nicht erforderlich, d. h. auch Nichtparteimitglieder konnten Vorschubleistende sein. Die bedeutsame – und wirksame – Unterstützungsleistung muss sich auf die spezifischen Ziele des nationalsozialistischen Systems bezogen haben. Eine Unterstützung nicht wesentlich von der nationalsozialistischen Ideologie geprägter Bestrebungen genügt nicht.13
Für ein erhebliches Vorschubleisten kann prima facie eine tatsächliche Vermutung (Indizwirkung) bestehen.14 Eine solche Indizwirkung hat insbesondere die längerfristige Wahrnehmung herausgehobener Funktionen in der NSDAP oder einer ihrer Gliederungen15 oder eine hauptamtliche Tätigkeit in der Gestapo16 und/oder der SS17. Durch besondere Umstände des Einzelfalls kann diese Indizwirkung jedoch widerlegt werden.18
[39]2. Die subjektiven Tatbestandsvoraussetzungen
In subjektiver Hinsicht ist ein wissentliches und willentliches Handeln zugunsten des nationalsozialistischen Systems erforderlich, aber auch ausreichend. Das unterstützende Verhalten muss auch in dem Bewusstsein (im Sinne eines sicheren Wissens) erfolgt sein, es könne eine nicht unerhebliche systemfördernde oder -stabilisierende Wirkung haben.19 Diese vorhergesehene Wirkung selbst – Errichtung oder Festigung des NS-Systems – muss aber nicht in der Absicht des Vorschubleistenden gelegen haben. Der Ausschlusstatbestand des § 1 Abs. 4 AusglLeistG kann in subjektiver Hinsicht auch dann verwirklicht sein, wenn der Betreffende mit seinem das nationalsozialistische System erheblich begünstigenden Handeln zugleich eigene andere Ziele verfolgte.20
3. Berücksichtigung systemschädlichen Verhaltens im Rahmen einer Gesamtwürdigung
Schließlich ist bei der Prüfung der Erheblichkeit des Vorschubleistens auch ein Verhalten zu berücksichtigen, das umgekehrt darauf gerichtet war, die Ziele des nationalsozialistischen Unrechtssystems oder das NS-System selbst nachhaltig zu untergraben oder einen sonstigen gewichtigen Schaden für das System herbeizuführen (Negativbeiträge). Insofern ist eine Gesamtbetrachtung und Gesamtwürdigung des Verhaltens in der NS-Zeit erforderlich.21 Dabei sind Handlungen, die darauf gerichtet waren, die Ziele des nationalsozialistischen Unrechtssystems nachhaltig zu untergraben oder einen sonstigen gewichtigen Schaden für das System herbeizuführen, auch dann bedeutsam, wenn der beabsichtigte Schadenserfolg gar nicht oder nicht kausal durch das Verhalten der betreffenden Person eingetreten ist.22 Für Negativbeiträge lässt [40] sich dem § 1 Abs. 4 AusglLeistG demnach kein Verursachungsoder Erfolgserfordernis entnehmen.23
Die dem Betroffenen zugute zu haltenden Handlungen können nämlich die Annahme rechtfertigen, dass ihm bei einer Gesamtbetrachtung im Ergebnis ein erhebliches Vorschubleisten nicht entgegengehalten werden darf. Das ist der Fall, wenn die positiven Handlungen die mit der gesamten übrigen Tätigkeit verbundene Unterstützung und Stabilisierung des nationalsozialistischen Systems in hohem Maße relativieren.24 Insofern bedarf es einer Gesamtwürdigung aller (potenziell) systemfördernden und systemschädigenden bzw. auch systemverhindernden Handlungen der betreffenden Person.
Zu den nach § 1 Abs. 4 AusglLeistG von Ansprüchen auf Ausgleichsleistungen ausgeschlossenen „Hauptverantwortlichen“ zählen demnach diejenigen nicht, die zwar einerseits das nationalsozialistische System gefördert, andererseits aber nachweislich in einer Weise auf dessen Schädigung hingearbeitet haben, dass dadurch ihre Förderungshandlungen im Rahmen einer Gesamtbetrachtung nicht mehr erheblich ins Gewicht fallen.25
Wer an bedeutsamer Stelle zur Etablierung und Stützung des nationalsozialistischen Systems beigetragen hat, wird sich hiervon – wenn überhaupt – nur durch nachweislich besonders gewichtige systemschädliche Handlungen entlasten können. Eine bloße Reserviertheit („innere Emigration“) oder Abneigung gegenüber dem System, die sich nicht in nennenswerten Handlungen nach außen manifestiert hat, kann insoweit ebenso wenig ins Gewicht fallen wie eine im Zeitverlauf lediglich nachlassende Unterstützung, eine Abwendung von den Systemzielen in späteren Phasen des NS-Regimes oder eine vom System lediglich unterstellte Gegnerschaft.26
4. Die materielle Beweislast
Für das Vorliegen des Ausnahmetatbestandes des § 1 Abs. 4 AusglLeistG trägt derjenige, der sich auf ihn beruft, also die über den Ausgleichsanspruch
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