Die Hüterin der Lieder - Ilka Tampke - E-Book

Die Hüterin der Lieder E-Book

Ilka Tampke

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Beschreibung

Keltische Legenden erwachen zum Leben: Noch nie wurde dieses beliebte Zeitalter so opulent erzählt.

Im Jahr 47 nach Christus besetzt Rom das südöstliche Britannien. Während die Siedlungen der Kelten brennen, hält sich die junge Ailia in den walisischen Bergen versteckt. Sie ist eine Kendra, eine Gereiste, die zwischen den Welten wandern kann. Doch nun muss Ailia zu den Menschen zurückkehren und an der Seite von Kriegsfürst Caradog kämpfen. Denn dieser ist der einzige, der die Römer zurückzuwerfen vermag – doch nur, wenn Ailia ihm ein einzigartiges Geschenk macht: die magischen Lieder ihres Volkes. Denn wenn es Ailia und Caradog gelingt, die Macht der Vergangenheit gegen die Feinde aus der Gegenwart heraufzubeschwören, kann das alte Britannien der Legenden überleben.

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Seitenzahl: 560

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Buch

Im Jahr 47 nach Christus besetzt Rom das südöstliche Britannien. Während die Siedlungen der Kelten brennen, hält sich die junge Ailia in den walisischen Bergen versteckt. Sie ist eine Kendra, eine Gereiste, die zwischen den Welten wandern kann. Doch nun muss Ailia zu den Menschen zurückkehren und an der Seite von Kriegsfürst Caradog kämpfen. Denn dieser ist der Einzige, der die Römer zurückzuwerfen vermag – doch nur, wenn Ailia ihm ein einzigartiges Geschenk macht: die magischen Lieder ihres Volkes. Denn wenn es Ailia und Caradog gelingt, die Macht der Vergangenheit gegen die Feinde aus der Gegenwart heraufzubeschwören, kann das alte Britannien der Legenden überleben.

Autorin

llka Tampke wurde 1969 in Sydney geboren. Sie studierte Theaterwissenschaften und begann im Anschluss ein weiterführendes Studium in Kreativem Schreiben. 2012 wurde sie mit der Glenfern Fellowship ausgezeichnet. Ihre Kurzgeschichten und Artikel sind in mehreren Anthologien veröffentlicht worden. Sie lebt in Woodend, Australien.

ILKA TAMPKE

DIE

HÜTERIN

DER

LIEDER

Roman

Deutsch von Regina Jooß und Barbara Ostrop

Die Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Songwoman« bei The Text Publishing Company, Melbourne. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright der Originalausgabe © 2018 by Ilka Tampke Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019 by Penhaligon in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Redaktion: Friedel Wahren Umschlaggestaltung: www.buerosued.denach einer Originalvorlage von Text Publishing, Australien Umschlagdesign: Imogen Stubbs Umschlagmotiv: Maria Angeles Guisado Ruiz /Arcangel Images Karte: Simon Barnard BL · Herstellung: sam Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-17003-5V001 www.penhaligon.de

Für Mum und May, die mir geholfen haben, den verborgenen See zu finden

Ich bin ein Handwerker, ich singe aus vollem Hals.

Ich bin hart wie Stahl, ich bin ein Zauberer, ich bin ein Weiser, ich bin ein Handwerker.

Ich bin eine Schlange, ich bin das Begehren, ich bin gefräßig.

Ich bin kein vor Schreck verstummter Dichter, ich taumele nicht.

Die Zuflucht der Dichter

Das Buch Taliesins

Was bisher geschah

Ailia weiß nicht, woher sie kommt oder wer ihre Eltern sind. Bereits als Säugling wurde sie ausgesetzt – auf der Türschwelle des Kochhauses von Caer Cad. Die Köchin der Königin fand sie dort. Zwischen Kochtöpfen und Kräutergarten wuchs sie bei ihr auf, geborgen in der Gemeinschaft der anderen Küchenmädchen. Und auch ihre Talente wurden gefördert. Allerdings nur in der Kräuterkunde und Wundversorgung. Denn Ailia durfte nicht lernen. Als Waise kannte sie ihre Herkunft nicht und damit auch nicht ihre Zugehörigkeit zu einer Tierhaut. Ohne dieses Wissen von ihrer Haut war es Ailia verboten, etwas zu erlernen. Vor allem war es ihr verboten, sich zur Gereisten ausbilden zu lassen und unter den Müttern zu wandeln. Doch mit vierzehn Jahren wird Ailia auch ohne Haut zu den Müttern gerufen. Und sie erhält von ihnen das Schwert der Kendra. Damit ist sie dazu bestimmt, zur höchsten Wissensträgerin von ganz Albion zu werden. Doch ohne Haut? Nicht nur die Weisen und Stammesleute von Caer Cad zweifeln daran, auch Ailia selbst hat Angst. Sie weiß nicht, wie sie ohne Haut Kendra werden soll. Und sie weiß nicht, wie sie Taliesin befreien kann, den jungen Mann, der im Reich der Mütter gefangen ist. Taliesin ist Ailias große Liebe, doch damit er ständig in der festen Welt der Menschen leben kann, müsste ihn eine Frau nach den Gesetzen der Haut heiraten. So haben es ihm die Mütter versprochen.

Verzweifelt versucht Ailia, von der fremden Magd Heka etwas über ihre Haut zu erfahren. Gleichzeitig muss sie sich gegen den Edelmann Ruther zur Wehr setzen, der sie zur Frau nehmen und mit ihr nach Rom gehen will. Doch Ailia ist überzeugt, dass sich die Stämme Albions den römischen Invasoren nicht ergeben dürfen. Noch kann sie ihren Stammesleuten gegen die Bedrohung durch die Römer nicht helfen, denn noch ist sie nicht die Kendra. Dazu müsste sie erst den Gesang der Mütter hören und von ihnen geschnitten werden. Und das, so sind sich alle einig, wird erst geschehen, wenn sie ihre Haut kennt. Offenbar aber gelten im Reich der Mütter ganz andere Gesetze, und Ailia wird zu ihnen gerufen. Tagelang hört sie deren Gesang und stimmt schließlich selbst mit ein. Am Ende wird sie mit ihrem Kendraschwert geschnitten. Das Reich der Mütter verschwindet vor ihren Augen und mit ihm auch Taliesin.

Wieder zurück in der festen Welt, muss Ailia erkennen, dass die Römer nur noch wenige Tagesmärsche von Caer Cad entfernt sind. Jetzt, da sie Kendra ist, soll sie ihren Stammesleuten durch eine Prophezeiung verkünden, ob sie in der Schlacht siegen werden oder nicht. Doch sosehr sie sich auch bemüht, sie hat keine Vision. Liegt es daran, dass sie ihre Haut immer noch nicht kennt? Da entschließt sie sich, den Stammesleuten dennoch einen sicheren Sieg vorauszusagen, worauf diese sich zum Kampf rüsten. Unterdessen wird Ailia von Ruther gefangen genommen und mit Heka in einen Keller gesperrt. Während draußen die Vorbereitungen für die Schlacht laufen, erfährt Ailia, dass Heka ihre leibliche Schwester ist. Jetzt kennt sie endlich ihre Haut, und jetzt hat sie auch eine Vision. Sie sieht, wie alle Einwohner Caer Cads von den Römern niedergemetzelt werden. Doch Ailia kann die Menschen nicht mehr warnen. Erst als die Kämpfe vorbei sind, wird sie aus dem Keller befreit und sieht das Ausmaß der Verwüstung. Von Entsetzen gepackt und von Schuldgefühlen gepeinigt, macht sie sich auf den Weg in den verbotenen Wald. Dort gibt es eine Grenze zum Reich der Mütter, und dort hofft sie, ihren Geliebten Taliesin befreien zu können. Doch die Grenze ist undurchdringlich geworden, und auch ihr Kendraschwert kann nicht hindurchschneiden. Taliesin ist für sie verloren.

Allein macht sich Ailia auf den Weg in die Berge. Dort will sie eine Zeit lang leben. Später wird sie sich dem Kriegsfürsten Caradog aus dem benachbarten Stammesgebiet anschließen – im Kampf gegen die Römer.

1

Erinnerung

Alles auf Erden ist durch ein Lied geschaffen.

Jeder Fluss, jeder Stein ist eine andere Note.

Die Mütter sind es, die singen, und wir verehren sie.

Der Gesang war vor der Zeit, vor den Jahreszeiten,

doch in jeder Generation gibt es eine Frau, die sich erinnert.

Ich bin diese Frau.

Ich bin die, welche die Schöpfung in sich trägt.

Die Tasthaare der Mutter zitterten. Sie drehte die Ohren nach hinten und wieder nach vorn, doch weder Neha noch ich, in der Deckung der Seggen kauernd, verursachten auch nur das leiseste Geräusch.

Es war eine Berghäsin, zäh und mager, aber sie würde unsere knurrenden Mägen füllen. Falls es uns gelang, sie zu fangen. Sie hoppelte etwas näher zu den drei Jungen, die in der Nähe ihres Baus grasten. Sie waren erst wenige Tage alt, hatten kaum Fleisch auf den Knochen. Aber zumindest würden sie zart schmecken.

Neha ließ unsere Beute nicht aus den Augen und winselte. Ich wusste, wie sie sich fühlte. Langsam hob ich meine Steinschleuder. Keiner hatte mich als Schützin ausgebildet, doch seit einem Jahr zwang mich der Hunger zum Üben, und so war ich zuversichtlich, das Tier erlegen zu können. Neha verstand mein wortloses Kommando. Ich spürte, wie sie ihr Hinterteil anspannte und sich aufs Zupacken vorbereitete.

Ich passte den pflaumengroßen Stein in den geflochtenen Darm ein, spannte ihn und ließ los. Der Stein traf die Häsin an der Schulter und machte sie benommen, sodass Neha sie packen und ihr mit einem raschen Schütteln den Hals brechen konnte. Die Jungen stoben auseinander. Ich jagte ihnen nicht nach. Das Fleisch der Mutter, angereichert mit Geißfußsprossen, würde für einige Tage reichen, vorausgesetzt, das gute Wetter hielt an und der Geißfuß bildete junge Triebe aus.

Die Beute schlug rhythmisch gegen meinen Oberschenkel, als wir zur Höhle zurückkehrten. Bei dem Gedanken daran, dass bald Hasenfleisch über dem Feuer brutzeln würde, lief mir das Wasser im Mund zusammen. Als ich eine Abzweigung nicht gleich wiedererkannte, geriet ich ins Stocken. Seit der Herbst angebrochen war und die Bäume ihr Laub verloren, war sogar mir die Landschaft nicht mehr so vertraut. Manchmal hatte ich Mühe, mich in den schütter werdenden Tälern und Senken zurechtzufinden. Für Neha galt das nicht, und bald darauf erreichten wir die bemooste Felswand am Hang, unser Zuhause. Der Eingang war eine Spalte, gut versteckt zwischen dem Farn.

Drinnen ließ ich die Häsin zu Boden fallen und kauerte mich ans Feuer, um die Glut neu zu entfachen, die in der Morgenkühle fast verglommen war. Neha verfolgte jede meiner Bewegungen, begierig auf die Reste unserer Jagdbeute.

Die Flammen loderten auf und erhellten die zerklüfteten Kalksteinwände der Höhle, die uns zu jeder Jahreszeit Schutz geboten hatte. Abgesehen von den Kerben, mit denen ich über unserem Schlafplatz die verstrichenen Tage markiert hatte, war sie von Menschenhand unberührt.

Die Höhle bot auch gewisse Annehmlichkeiten. Die Decke war so hoch, dass der Rauch abziehen konnte, der Innenraum aber auch klein genug, dass ich die Spalten im Fels mit Moosballen abdichten konnte, damit keine Kälte eindrang. Wir schliefen auf trockenem Gras, und als Decke verwendeten wir das Fell einer Wildsau, die Wölfe gerissen und zur Hälfte aufgefressen hatten. So besaß ich nun eine kratzige Decke. Das daneben liegende Kurzschwert, die Schleuder und das Messer an meiner Hüfte waren meine einzigen Besitztümer.

Über meiner Schlafstätte waren fast fünfhundert Kerben eingeritzt. Fünfhundertmal hatte ich hier übernachtet, an diesem wilden Platz der Mütter. Fünfhundert Tage war es her, seit ich einem anderen Menschen ins Gesicht geblickt hatte. Vielleicht sollte ich besser sagen – einem wirklichen, lebendigen Menschen, denn ich sah ständig Gesichter in den Astknoten der Eichen und den Verwerfungen des Gesteins. Das waren die Geister meines Stamms, die mir gefolgt waren und von mir wissen wollten, weshalb ich sie im Stich gelassen hatte. Weshalb ich sie nicht beschützt hatte.

Ich packte die Häsin und richtete mich auf, schwindelig und schwach vor Hunger. Ich war mager, hatte aber vom täglichen Weg zum Fluss kräftige Muskeln und Sehnen. Wer sich mit Waldfrüchten auskannte und die essbaren von den giftigen zu unterscheiden wusste, für den gab es hier ausreichend Nahrung. Wir hatten uns von Kleinwild, Beeren und Wurzeln ernährt, die wir unter dem Schnee hervorscharrten. Tatsächlich hatte ich aber auch den Willen, wenig zu essen. Denn ich war bis zum Erbrechen angefüllt mit dem, was ich gesehen und getan hatte.

Früher hatte ich mich davor gefürchtet, allein zu schlafen. Jetzt konnte ich mich kaum noch an die Gestalt oder den Geruch eines anderen Menschen erinnern, geschweige denn mir vorstellen, neben ihm zu liegen. Jetzt wäre ich froh gewesen, nur diese Angst zu kennen.

Ich trat durch den Höhleneingang ins Freie. Ein Herbstschauer hatte Tropfen auf Zweigen und Blättern hinterlassen. Ein Windstoß fegte Laub von den Bäumen. Der Wald war im Wandel begriffen.

Ich atmete die feuchte Luft. Dies war nun mein Zuhause. Ich war dazu verurteilt worden, hier zu leben. Mir war nicht verziehen worden, aber ich war am Leben geblieben. Mein Atem war der heulende Wind, meine Haut war der Nebel, der an der Bergflanke haftete. Ich war der Wald.

Ich ging ein kleines Stück, dann zog ich das Messer aus dem Gürtel, hielt den Hasen hoch und schlitzte ihm vom Hals bis zum After den Bauch auf. Neha beobachtete mich mit schief gelegtem Kopf, und ich gab ihr mit einem Nicken die Erlaubnis zu fressen. Das Fleisch würde uns stärken, und Kraft brauchten wir beide.

Jetzt, da der Winter nahte, wurde es Zeit, vom Berg hinabzusteigen. Es wurde Zeit, mich wieder zu den Meinen zu gesellen. Ich war stark genug dafür. So hoffte ich. Ich hatte das Fleisch der Mütter verzehrt und das Wasser ihrer Flüsse getrunken. Ich kannte das Land so gut, wie eine Frau ihren eigenen Körper, ihre eigene Haut kennt.

So sollte es auch sein, denn ich war seine Beschützerin.

Wenn ich in die Welt der Stämme zurückkehrte, hatten auch die Hunde des Wandels bereits ihre Beute gemacht, das wusste ich. Es würde bedrohliche neue Gesetze geben, neues Wissen und die neue Sprache derer, die dieses Land für sich beanspruchten. Ich hatte mich ein Jahr lang an einen Ort zurückgezogen, der dem Zugriff der Soldaten entzogen war. Nun musste ich zurückkehren und nachsehen, was sie angerichtet hatten.

Auf den Fersen kauernd, schnitt ich dem Hasen die Kehle auf und zog ihm das Fell über die Ohren. Neha würde nicht nur die Innereien fressen, sondern auch den Pelz, die Läufe und den Kopf. Das Muskelfleisch gehörte mir. Ich schob einen Haarwust über die Schulter zurück. Meine Locken waren inzwischen dermaßen verfilzt und mit Grassamen verwoben, dass Kämmen nicht mehr half. Ich trug das Haar so, weil ich trauerte.

Aber bald war die Trauerzeit vorbei.

Ein Titel wartete auf mich. Ich musste einen Krieg gewinnen.

Vom Laufen schmerzten mir die Waden. Ich hatte vier Tage gebraucht, um das Gebirge hinter mir zu lassen, und weitere drei Tage, um den Mann, dem ich auf einem Feldweg begegnet war, davon zu überzeugen, dass ich keine Kundschafterin im Dienste Plautius’ war, des römischen Statthalters, der auch hinter dem Kriegsfürsten Caradog her war.

Der Mann, der als Arbeiter nach Eisenerz grub und ebenso zerlumpt war wie ich, erklärte mir in breiter, kaum verständlicher Mundart, ich befände mich in der Nähe der Stadt Llanmelin, der Kriegsfürst habe sich aber seit neun Teilen des Jahres nicht mehr dort blicken lassen.

Neun Teile. So lange dauerte es nach den Worten unserer Dichter, in die verborgene Welt Annwyn und wieder zurück zu reisen. Ich bedankte mich mit einem Lächeln. Im Westen Albions, den die Römer noch nicht erobert hatten, hatte sich die Lebensweise der Stämme nicht verändert. Ich war damit vertraut, und ich hatte sie verinnerlicht. Während ich mich Llanmelin näherte, machte ich mir klar, dass vieles nur in Rätseln zu mir sprechen würde.

Da ich mich im dichten Wald aufhielt, hörte ich die Stadt, noch bevor ich sie sah – muhendes Vieh, Gehämmer, das Kreischen spielender Kinder. Hinter der nächsten Biegung lag sie dann plötzlich vor mir, Llanmelin, das Stammeszentrum der mächtigen Silurer, einem der letzten freien Stämme. Falls Caradog hier Zuflucht gesucht hatte, war dies eine kluge Entscheidung, denn ich hatte die Bergstadt erst bemerkt, als ich schon fast vor ihren Toren stand. Zwei Holzstangen mit aufgespießten Köpfen flankierten den Zugangsweg. Die aschfahlen Gesichter waren glatt rasiert, denn dies waren Römer oder mit ihnen verbündete Kämpfer gewesen, und sie waren noch nicht lange tot. Neha schnupperte am getrockneten Blut, das von den Stangen getropft war. Ich rief sie zurück. Diese Männer waren es nicht einmal wert, unsere Tiere zu nähren.

Ich trat zwischen den Köpfen hindurch und stapfte den Weg zum Tor hinauf. An den Befestigungen wurde gearbeitet, die Männer hoben einen zweiten Graben aus, und ihre Hacken klangen hell, wenn sie auf den Kalkstein trafen. Llanmelin verstärkte seine Verteidigung.

»Stehen bleiben!« Ein Torwächter sprang von seiner Plattform herunter und verstellte mir den Weg. Er war größer und hellhäutiger als die gedrungenen dunklen Männer, die an der Befestigung arbeiteten, und musterte mich so durchdringend, dass ich seinen Blick kaum erwidern konnte. »Was willst du hier?«, fragte er. »Für Bettler haben wir kein Getreide übrig.«

Mir war klar, dass ich wie eine Frau aus der Randsiedlung aussah. Ich hatte meine Kleidung auf den Flusssteinen gewaschen, doch der Stoff war zerrissen, und mein Umhang starrte vor Dreck. »Glaub mir, ich bin keine Streunerin. Ich war in Caer Cad zu Hause, der Stadt der Durotrigen, und suche Caradog von den Catuvellaunern.«

Der Wächter musterte mich argwöhnisch. »Inzwischen befehligt er mehr Stämme als nur die Catuvellauner.«

»Ist er hier?«

»Weshalb suchst du nach ihm?«

»Ich möchte mit ihm sprechen …«

»Sprich mit mir, sonst lasse ich dich keinen Schritt weiter.«

Was fiel diesem Stammesmann ein, einer Wissenden zu widersprechen, auch wenn sie nach Fledermauspisse stank? Vor dem Überfall hatten meine Lehrer keine Zeit mehr gehabt, mir die dunklen Muster in die Stirn einzutätowieren, die mich als Gereiste, als Wissende kenntlich gemacht hätten. Das Schwert an meinem Gürtel aber tat meine Stellung kund. Ich legte die Hand auf das Heft.

Stirnrunzelnd betrachtete er die in den Knochen eingeschnitzten Zeichen. Dann brach er zu meiner Überraschung in Gelächter aus.

»Was belustigt dich, Stammesmann?« Allmählich verlor ich die Geduld.

»Die Streiche, die die Mütter uns spielen«, sagte er lächelnd. »Sie setzen mir eine Priesterin in Gestalt einer Lumpenhexe vor die Nase.«

»Für dich ist sie schon einmal nicht gedacht«, entgegnete ich. »Wer führt hier das Kommando?«

»Llanmelin wird von Hefin befehligt.« Der Wächter beugte sich zu mir vor. »Aber der untersteht seinerseits Caradog.« Er richtete sich wieder auf, und ich starrte ihn an, verärgert über sein loses Mundwerk. »Aber nimm ein Bad, bevor du ihm gegenübertrittst!«, fügte er hinzu. »Wohlriechenden Besuch zieht er vor.«

»Ich werde baden«, versicherte ich ihm wütend. »Und du mach dich darauf gefasst, dass ich mit Caradog über dein ungehöriges Benehmen sprechen werde.«

Daraufhin lachte er noch lauter und gab mir den Weg frei. »Er wird sich freuen, dies zu hören.«

Hinter dem Tor entdeckte ich die Stadt, die sich vor mir ausbreitete, die erste, die ich seit meiner Flucht aus Caer Cad betrat. Bei ihrem Anblick wurde ich von Trauer und Erleichterung gleichermaßen überwältigt.

Meine Beine, die sich an das Leben in der Wildnis gewöhnt hatten und im Wald nie müde wurden, gerieten ins Zittern, als ich mit Neha an den Getreidespeichern, den dicht gedrängten Rundhäusern, den Ziegenpferchen und Bierhütten vorbeiging, die den kräftigen Geruch gärender Gerste ausdünsteten. Es wimmelte von Menschen, die sich um Tiere und Pflanzen kümmerten, irgendetwas herstellten oder vor Mahlsteinen knieten. Da ich mich meines Aussehens schämte, ging ich rasch an ihnen vorbei.

»Hinter den Schmiedehütten«, antwortete mir eine Frau, als ich mich nach der Fürstenhalle erkundigte.

Erst als ich das große Gebäude sah, hatte ich das Gefühl, tatsächlich in einer Stammesstadt angekommen zu sein. Das Haus hatte einen Umfang von über hundert Schritten, die Wände waren so dick wie Eichenstämme, das kegelförmige silbergraue Reetdach reichte fast bis zum Boden.

In Hefins Pferchen drängten sich die Pferde. Caradog hatte offenbar überzeugende Argumente vorgebracht, wenn es ihm gelungen war, einen solch wohlhabenden König zu seinem Verbündeten zu machen. Ich wusste, dass er seit dem Auftauchen der Römer durch ganz Albion geritten war, Kämpfer um sich geschart und alle jene angelockt hatte, die sich anders als ihre Anführer dem Römerreich widersetzen wollten. Es hieß, unter seinen Kriegern seien die Tartanmuster sämtlicher Clans Albions zu finden. Die Silurer aber waren der erste Stamm, der geschlossen vor seinem Schwert niedergekniet war.

An der Ostseite der Fürstenhalle lag die Kochhütte, erkennbar an dem weißen Fell, das über dem Eingang angenagelt war. Ich betrachtete meine schwarz geränderten Fingernägel und ging darauf zu. Der Wächter hatte recht gehabt – ich musste erst baden, bevor ich einem Mann wie Caradog unter die Augen trat.

Ich läutete die Glocke, worauf eine Dienerin die Eingangsfelle teilte und bei meinem Anblick voll Abscheu das Gesicht verzog. »Ich bin keine aus den Dreckhütten«, sagte ich rasch, von Gefühlen überwältigt. »Ich komme aus dem Land des Reh-Clans, bin aber eine vom Totem des Hundes.« Die Worte strömten nur so hervor, während mir das Gesicht der Frau vor den Augen verschwamm. »Ich bin eine bedeutende Gereiste, habe aber fünfzehn Monde in der Wildnis gelebt. Und alle anderen Angehörigen meines Stammes sind tot …« Die Beine gaben unter mir nach, und ich sank auf die Knie.

Ich weiß nicht, wie viele Stunden lang man sich in der Kochhütte meiner annahm. Man wusch mich, gab mir ein leinenes Untergewand und ein Kleid aus rostfarbener Wolle, schlichte Kleidung, die sich weich und sauber anfühlte. Ich aß einen Brei aus Weizen und Schafsmilch, während mir eine Frau die wunden Füße mit Fett einrieb. Eine zweite fuhr mit einem Knochenkamm durch die Haarspitzen, doch ich forderte sie zum Innehalten auf. Noch war ich nicht bereit, auf das Zeichen meiner Trauer zu verzichten. Daraufhin band sie das Haar im Nacken zu einem verfilzten Haarknoten zusammen und pickte die Kletten heraus, so gut das ohne Kamm möglich war.

Als ich fast fertig war, schlüpfte eine Edelfrau durchs Türfell herein und setzte sich neben mir ans Feuer. Ihr Schultertuch war himmelblau, ihr Haar gespenstisch bleich und zu einer komplizierten Frisur geflochten. »Du willst Caradog sprechen?«, fragte sie mit östlichem Zungenschlag.

»Ja.«

»In welcher Absicht?«

Ich wandte mich zu ihr um. »Um den Krieg zu gewinnen.«

»Und wie?« Sie regte sich nicht. Ihre Augen waren ebenso blau wie ihr Schultertuch.

»Das weiß ich noch nicht.«

Sie runzelte die Stirn.

»Aber ich verfüge über Wissen, das keine andere hat.«

»Wissen worüber?«

Ich zögerte. War meine Geschichte so schnell vergessen worden? Hatte sie diese Gegend überhaupt erreicht? »Über die Mütter.«

Sie musterte mich prüfend, dann nickte sie. »Der Krieg hat unsere Verbindung zu den Müttern auf eine harte Probe gestellt«, erklärte sie. »Wenn du sie erneuern kannst, heiße ich dich für meinen Teil willkommen. Aber eins solltest du wissen.« Sie senkte die Stimme. »Caradog ist ein wetterwendischer Mann. Er könnte uns befreien oder vernichten. Sieh seine Launen voraus, und du führst uns auf festen Boden.«

»Weshalb sagst du mir das?«

»Weil ich wieder in Sicherheit leben will.«

Ich beobachtete sie beim Sprechen. Handgelenke und Ohrläppchen waren über und über mit Silberschmuck behängt. Sie glänzte wie der Mond. »Ich habe über ein Jahr lang unter freiem Himmel gelebt«, sagte ich. »Kein Sturm kann mich schrecken.«

»Das ist gut.« Sie lächelte. Noch nie hatte ich eine anmutigere Frau gesehen.

»Bist du als Gereiste ausgebildet worden?«, fragte ich sie, obwohl sie kein Zeichen trug.

»Nein.« Sie lachte. »Ich heiße Euvrain. Ich bin Caradogs Frau.«

Es verschlug mir die Sprache.

Sie zog eins ihrer Armbänder ab und bot es mir auf der flachen Hand dar. »Du solltest ein wenig Metall tragen, wenn du ihm unter die Augen trittst.«

Durch die Abendsonne schritt ich zur Fürstenhalle, in der Hefin und Caradog mich erwarteten.

Als eine Dienerin mich hereinwinkte, schlug ich das innere Türfell beiseite und trat ein. In der Mitte der Halle brannte ein Feuer, umgeben von Bänken, die in mehreren Ringen angeordnet und mit geschnitzten Eichenzweigen verziert waren. Am Machtplatz, der dem Eingang gegenüberlag, saß ein Krieger. Er hatte einen weißen Bart, war aber so kräftig wie ein Bulle. »Tritt vor!«, rief er mir zu. Das musste Hefin sein, denn Caradog war bestimmt jünger. An seiner Westseite saß ein kahlköpfiger Gereister, der mir mit verhaltener Miene entgegensah. Er trug das knochenfarbene Gewand eines Ältesten und hatte die Hand um einen Zeremonialstab gelegt, obwohl dies keine Zeremonie war.

Erst als ich mich dem Feuer näherte, bemerkte ich am Rand der Halle eine weitere Person. Der Mann wandte dem Raum den Rücken zu und schenkte Bier in einen Bronzebecher. War er das? Irgendetwas an dem breitschultrigen Mann kam mir bekannt vor. Als er sich umwandte, unterdrückte ich einen Aufschrei. Dies war der Wächter, der mich am Tor angehalten hatte.

»Willkommen, Gereiste!«, sagte er und trat in den Feuerschein. »Ich bin Caradog, der Sohn des Belinus.« Er reichte mir den Stammesbecher mit dem gleichen stolzen Lächeln, mit dem er mich ausgefragt hatte. Hier aber stand es im Einklang mit seiner wahren Stellung. Anführer des Widerstands. Kriegsfürst. Der Mann, den Rom nicht zu besiegen vermochte.

Beim Trinken musterte ich ihn über den Rand des Bechers hinweg. Er wirkte so, als hätte er gerade eben einen Scherz gehört oder sei im Begriff, selbst einen zu machen. Ein Halsreif aus Silber zeichnete ihn als Mann von königlichem Geblüt aus. Ansonsten aber trug er keinerlei Zierrat über dem Kriegerhemd, in dem ich ihn schon bei der ersten Begegnung kennengelernt hatte. Den hatte er auch nicht nötig.

»In der Schlacht am Medway erschlug ich hundert römische Soldaten und seitdem mehrere Hundert weitere«, fuhr er fort. »Ich bin ein Gegner des Claudius und ehemaliger Prinz der Catuvellauner, jetzt Verteidiger aller freien Stämme.«

»Ich nenne ihn Pferdearsch«, warf Hefin ein. »Und zwar deshalb, weil aus seinem Mund so viel Scheiße kommt.«

Caradog lachte. »Das ist mein treuer Gastgeber Hefin, und das ist sein Gereister Prydd.«

Ich verneigte mich und verkniff mir ein Lächeln. Alle Krieger spuckten große Töne, doch dieser Mann war seiner selbst so gewiss wie die Sonne. »Ich bin Ailia von den Durotrigen, vom Totem der Hunde und Gegnerin Roms«, stellte ich mich vor.

»Mach dir keine Sorgen wegen der Römer!«, beschwichtigte mich Caradog. »Nächstes Frühjahr sind sie verschwunden.«

»Wie das?«, fragte ich mit angedeutetem Lachen.

»Weil ich sie vertreiben werde. Natürlich mithilfe des Kriegsgottes Hefin. Dies ist unser Stammesland. Es wird unser bleiben.«

Er sprach, als hege er nicht den geringsten Zweifel. Als hätten sich nicht schon mehr als fünfzehn Könige Claudius ergeben, sei es gezwungenermaßen oder aus freien Stücken. Als wäre er nicht der einzige Mann aus dem Osten Albions, der noch gegen sie kämpfte. »Weshalb bist du dir so sicher?«, fragte ich.

»Weil es der Wille der Mütter ist. Ich werde nicht rasten noch ruhen, bis es vollbracht ist.«

Erstaunlich! Einem derart selbstgewissen Mann war ich noch nie begegnet. Seine kraftvolle, unerschütterliche Entschlossenheit war so makellos wie poliertes Metall. Im Stillen beglückwünschte ich die Mütter. Diesem Mann konnte ich Gefolgschaft geloben. Ihm konnte ich mein Wissen anvertrauen.

Als er den Becher wieder entgegennahm, spürte ich seinen prüfenden Blick wie Glut auf meiner Haut.

»Ailia?«, ergriff Prydd, der Gereiste, das Wort. »So heißt du doch, oder?« Er hatte eine ungewöhnlich hohe Stimme.

»Ja.«

»Stammst du aus Caer Cad?« Obwohl ich wie er zu den Wissenden gehörte, lag keine Vertraulichkeit in seinem Tonfall.

»Ja, auch wenn es in Schutt und Asche liegt.« Ich stockte, denn plötzlich hatte ich Bedenken, meinen Rang preiszugeben. »Man hält mich für …«

»Ich weiß, wer du bist.« Prydd wandte sich an Caradog. »Sie ist keine einfache Gereiste. Ihre Geschichte hat sich in ganz Albion herumgesprochen, wenngleich die Gereisten sie unter Verschluss hielten, damit sie den Römern nicht zu Ohren kommt.« Sein Mund zuckte unter dem schütteren Schnurrbart. »Das ist die Kendra von Albion.«

Bisher hatte mich niemand gebeten, Platz zu nehmen. Ich stand reglos da und fragte mich, welche Fassung meiner Geschichte überdauert und sich verbreitet hatte. Gab man mir die Schuld an allem?

»Diese Knospe?«, fragte Hefin. »Noch so unreif!«

»Das Alter ist nicht entscheidend«, sagte Prydd.

Caradog musterte mich. »Weshalb weiß ich nichts von ihr?«

»Wir glaubten, sie sei tot. Niedergemetzelt bei der Vernichtung Caer Cads«, antwortete Prydd. »Seit über einem Jahr wurde sie nicht mehr gesehen.« Er wandte sich mir zu. »Wo hast du Kendras Fackel versteckt, als sie so dringend gebraucht wurde?«

Der Vorwurf traf mich unerwartet, schmerzhaft wie ein spitzer Stock. »Ich … ich habe in den Bergen gelebt und die Tage mit einsamem Nachdenken verbracht …«

Es war durchaus üblich, dass Gereiste sich in die Einsamkeit zurückzogen. Ich hatte es als Strafe betrachtet, ebenso wie als Möglichkeit, neue Kraft zu gewinnen. Nie war mir der Gedanke gekommen, mein Verhalten als Feigheit auszulegen. Ich warf einen Blick zu Caradog hinüber. Wie lautete sein Urteil?

»Du hast ein Jahr lang allein im Wald gelebt?«, fragte Caradog. »Und ohne fremde Hilfe gejagt?«

»Ich hatte meine Hündin.« Ich bedauerte, dass Neha nicht bei mir war, doch man hatte sie nicht in die Halle gelassen.

Er hob die Brauen. »Es wäre schön, wenn ich einen einzigen so tüchtigen Krieger hätte.«

»Hätte ich einen Speer zur Hand, könnte ich dir beweisen, dass es den gibt«, sagte Hefin, und beide Männer lachten.

»Die Kendra wurde von den Müttern erwählt«, sagte Prydd in das Gelächter hinein. »Niemand darf sie dem Land vorenthalten, nicht einmal die irdische Frau, die ihren Titel trägt.« Er sah mich an. »Ihr Wissen gehört nicht dir, sondern den Stämmen.«

»Und so steht sie nun vor dir, Weiser«, sagte Caradog, bevor ich etwas auf den Tadel erwidern konnte. »Ist es nicht eine Ehre, sie hier, in diesem Stammesland, empfangen zu dürfen?«

Prydds Gesichtsausdruck veränderte sich, so als hätte man eine fleckig angelaufene Münze umgedreht, und nun würde sich die glänzende Rückseite zeigen. »Eine Ehre, in der Tat«, bestätigte er.

»Weshalb bist du ins Land der Silurer gekommen?«, fragte Hefin. »Wir schaffen es kaum, unsere eigenen Gereisten hierzuhalten. Bei der kleinsten Sternbewegung zieht es sie nach Môn.«

»Ich möchte Caradog meine Unterstützung bei seinem Krieg anbieten.«

»Du meinst, das ist Pferdearschs Krieg?«, fragte Hefin. »Was glaubst du wohl, woher die Männer kommen? Und die Waffen?«

»Welche Art von Unterstützung bietest du mir an?«, fragte Caradog, ohne auf Hefins Bemerkung einzugehen. »Bei allem Respekt, Gereiste, die Kendra ist nur eine Galionsfigur, wenn auch eine mächtige. Es wäre mir eine Ehre, in deinem Namen zu kämpfen, doch dazu ist es nicht erforderlich, dass du an meiner Seite stehst.«

Ich runzelte die Stirn. »Ich spreche mit der Stimme der Mütter …«

»Auch eine alte Eiche spricht mit der Stimme der Mütter«, fiel mir Caradog in Wort. »Beim Ausklügeln der Kampfstrategie ist sie jedoch wenig hilfreich.«

Bei dieser groben Bemerkung zuckte ich zusammen. Allerdings war sein Einwand berechtigt. »Ich kann weissagen … und ich sehe den Verlauf von Schlachten voraus …« Ich stockte. Innerlich war ich darauf vorbereitet gewesen, mein Handeln zu rechtfertigen. Dass ich die Absichten der Kendra rechtfertigen sollte, traf mich unvorbereitet. Sie waren noch nie infrage gestellt worden.

Caradog hob die Schultern. »Ich habe schon mehrere Wahrsager, doch einer mehr würde auch nicht schaden …«

»Das sehe ich anders«, widersprach Prydd. »Deine Rückkehr wird unsere Krieger ermutigen. Aber man wird dich nach Môn bringen, an einen sicheren Ort.«

Ich erwiderte seinen Blick. Die meisten unserer Lehrstätten waren von den Römern zerstört worden. Die Insel Môn war eine der letzten Ausbildungsstätten für Gereiste. Ich hatte mir schon lange gewünscht, dorthin zu gelangen. Doch nicht jetzt. »Ich will nicht nach Môn …«

»Du kannst nicht bei dem Mann bleiben, den die Römer wütender jagen als alle anderen«, wandte Prydd ein.

»Lass sie bleiben!«, verlangte Caradog. »Ich will sehen, wozu sie fähig ist.«

Prydd runzelte die Stirn. »Das wäre ein großes Wagnis, Kriegsfürst. Für sie und für dich. Auf der sicheren Insel ist sie für uns von größtem Nutzen.«

Ich wurde zornig. Sie redeten über mich, als wäre ich eine erstklassige Stute auf dem Markt. Als wäre ich nicht die Kendra von Albion. In Caer Cad hatte man mich als die Stimme der Mütter betrachtet, als höchste Wissende Albions. Vielleicht wussten sie aber doch, was ich getan hatte, wie schändlich ich meinen Stamm verraten hatte. War dies der Grund, weshalb sie mich so beleidigend behandelten? Allerdings hatte niemand Vorbehalte geltend gemacht, und man hatte mir keine Fragen gestellt. »Ich lege keinen Wert auf Sicherheit«, sagte ich zu Prydd. »Ich muss nicht vor diesem Krieg abgeschirmt werden. Vielmehr bin ich bereit, mich der Gefahr zu stellen.«

»Dann soll es so sein.« Caradog schloss seinen Umhang. »Du gefällst mir«, sagte er. »Du passt hierher.«

Hefin lachte leise.

Prydd schwieg.

»Ich wusste gar nicht, dass Kriegsfürsten Dienst als Torwächter leisten«, sagte ich zu Caradog, als wir durch den Vorraum zum Ausgang gingen.

»Ich tue das Gleiche, was ich von meinen Kriegern verlange«, antwortete er. »Wie sollte ich sonst Treue und Ergebenheit von ihnen erwarten?«

»Ich merke nur an, dass es ungewöhnlich ist.«

»Dieser Krieg wird nicht gewonnen, indem man auf Gewohnheiten zurückgreift.«

Wir traten ins Freie. Im hellen Tageslicht erkannte ich die fein eingegrabenen Falten in seinem Gesicht, die von den Strapazen eines dreijährigen Kampfes kündeten. Obwohl er kein besonders schönes Gesicht hatte, bemerkte ich einige Merkmale, die auf seine königliche Abstammung hindeuteten – den Schwung der Wangenknochen, die gerade Nase, die kantige Kieferpartie. Er machte den Eindruck durchtriebener, berechnender Klugheit und ständiger Wachsamkeit, ergänzt durch eine gewisse Heiterkeit. Seine Haut war blass, das Haar rostbraun. Seine Augen lagen unter dichten Brauen, und der Farbton schwankte im letzten abendlichen Sonnenschein zwischen grau und grünlich, eine melancholische Mischfarbe, die weder dem Himmel noch der Erde zuzuordnen war. Nichts in seiner äußeren Erscheinung erhob den Anspruch auf Macht, vielmehr zeichneten ihn seine Selbstgewissheit und Eigenständigkeit als überlegen aus.

Ich wartete schweigend. Vielleicht lag es daran, dass ich so viele Jahreszeiten lang menschliche Gesellschaft entbehrt hatte, jedenfalls machte er mich unsicher. Er erinnerte mich an einen anderen Mann, den ich vergessen wollte.

Hinter uns traten Hefin und Prydd ins Freie. »Bei Sonnenuntergang gibt es ein Festessen, um unseren Gast willkommen zu heißen«, verkündete Hefin. »Caradog, bringst du sie zu ihrer Hütte?«

»Das muss ich dir überlassen, Fürst«, erwiderte er. »Ich hatte heute noch kaum Gelegenheit, mit meinen Männern im Lager zu sprechen.«

»Ich führe sie hin«, erklärte sich Prydd bereit. »Und ich zeige ihr die Stadt.«

Ich nickte. Zwar hatte ich kein Verlangen nach seiner Gesellschaft, war aber neugierig auf die Stadt.

Caradog schritt davon.

Prydd geleitete mich durch eine Gasse mit eng stehenden Häusern, bis wir vor dem Tempel Llanmelins anlangten. Offenbar war er sehr stolz darauf. »Siehst du die Glocke?«, fragte er. »In der Bronze ist Gold enthalten, das mit dem Schiff aus Erin gebracht wurde.«

Wie alle Tempel von Gereisten hatte er keine runden, sondern gerade Wände, die nach der Sonnenwende ausgerichtet und statt aus Lehm aus Holz erbaut waren, um die Nähe zum Himmel und zum Wetter hervorzuheben. Von jedem der Pfosten, die den äußeren Umgang markierten, hing ein Stück von einem Lamm, einem Ferkel oder einem Hund in unterschiedlichen Stadien der Verwesung – Geschenke für die Sonne, die dort hingen, damit die Krähen sie überbrachten. Ein kühler Wind trug den wohlbekannten Geruch mit sich.

Prydd geleitete mich zum Südtor der Stadt zurück, wo wir über eine Leiter zu der wallgeschützten Aussichtsplattform hinaufstiegen. Im Osten erstreckten sich Felder und Weiden schier endlos in die Ferne, gesäumt von dunklen Ginsterhecken. Am Horizont funkelte ein Wasserlauf.

»Das ist der Habren«, sagte Prydd, der meinem Blick folgte. »Irgendwo da hinten mündet er ins Meer.«

»So nahe …«, murmelte ich überrascht. Während ich einem sehr viel längeren Landweg gefolgt war, schlängelte sich dieser Meeresarm wie eine Schlange ins Land. Er bildete das einzige Hindernis, das dieses Stammesland von dem meinen trennte. Soweit ich zurückdenken konnte, hatten Boote mit Zinn, Eisen und Schiefer zwischen den Silurern und den Durotrigen verkehrt, doch mittlerweile markierte diese Wasserschwelle den Rand des Römischen Reichs. Dahinter warteten die Römer. Schaute auch bei ihnen jemand in diesem Moment so wie ich auf die silbrig funkelnde Grenze?

Ich folgte Prydd in nördlicher Richtung den Wehrgang entlang. Auf halbem Weg zur nächsten Plattform blieb er stehen. »Das ist Caradogs Streitmacht.«

Hinter einem Waldstreifen breiteten sich auf mehreren Weiden Zelte und Holzhütten aus. Dazwischen qualmten Lagerfeuer. Karren umringten das Lager, an jedem Pfosten und jeder Achse war Vieh angebunden. Das Lager war doppelt so groß wie die Stadt und gleichzeitig viel dichter besiedelt.

Ich staunte. Das Ausmaß von Caradogs Unterfangen wurde mir erst nach und nach bewusst. Er schlich nicht allein durch Albions Kriegsgebiet, nein, er befehligte eine Armee, die Tausende zählte – Männer, deren Frauen, Älteste, Kinder, Pferde und Vieh. Und er musste sie alle versteckt halten. Abermals wunderte ich mich, wie er Hefin hatte überreden können, seiner Streitmacht Zuflucht zu gewähren. »Schläft der Kriegsfürst ebenfalls dort?«, fragte ich.

»Nein«, antwortete Prydd. »Er nächtigt in Hefins bester Gästehütte.«

Schweigend standen wir da und beobachteten das Treiben im Lager.

»Kendra …«

Ich wandte mich wieder zu Prydd um. Dabei kam ich ihm so nahe, dass ich die tätowierte blaue Spirale auf seiner Stirn und die schuppige Haut auf seinem kahlen Schädel sah. Unwillkürlich wollte ich zurückweichen, doch das ließ der schmale Wehrgang nicht zu.

»Wir müssen deine Ankunft verschleiern«, sagte er und blickte zu dem Grenzwächter hinüber, der auf der nächsten Plattform stand. »Die Römer wissen, dass die Gereisten den Widerstand lenken. Sollte Plautius erfahren, dass die höchste Wissende erneut unter uns weilt, würde er dich jagen wie eine Sonnenwendbache.«

»Aber die Stämme sollten erfahren, dass die Mütter ihre Kendra zurückgesandt haben …«

»Mit diesem Wissen müssen wir bedachtsam umgehen. Ein solch starkes Bier schenkt man besser in kleinen Mengen aus. Wir müssen die Nachricht mit gewiefter Vorsicht verbreiten, und zwar dort, wo sie den größten Nutzen bringt.«

Ich schwieg. Ich hatte mich ein Jahr lang im Wald versteckt. Prydd wusste die Stimmung bei den Stämmen zweifellos besser einzuschätzen als ich.

Er musterte mich. »Du bist jung.«

»Achtzehn Sommer.«

»Wie weit war deine Ausbildung vorangeschritten, als du zur Kendra wurdest?«

»Nicht weit«, räumte ich ein. »Ich wurde erst spät zum Erlernen der Verse zugelassen, und die Mütter beanspruchten mich gleich für sich. Aber die Kenntnis über Heil- und Giftkräuter habe ich von Kind an erworben.«

Prydds Miene war undurchdringlich. »Du brauchst weitere Unterweisung«, befand er. »Von einem Ältesten. Wenn du nicht nach Môn gehen willst, muss ich dich unterrichten.«

»Wie du meinst.« Ich wollte alles Erforderliche tun, um bleiben zu können.

Ich spürte seinen Blick auf mir ruhen, als ich wieder zum Lager hinüberspähte.

»Es war kühn von dir, ohne Verwandtschaft oder Begleiter zu reisen«, sagte er.

»Du kennst meine Geschichte. Ich habe keine Begleiter, mit denen ich reisen könnte.«

»Ich kenne den Ausgang, aber nicht das Muster, nach dem sich deine Geschichte entwickelt hat.«

Ich fröstelte in dem Wind, der mir durch die Kleidung fuhr. Offenbar war die volle Wahrheit über das Gemetzel in Caer Cad nicht bis in diesen Teil Albions vorgedrungen, und darüber war ich froh. Ich hatte ein Jahr und eine Jahreszeit gebraucht, um mir zugestehen zu können, dass mein Verhalten richtig gewesen war. Allerdings war ich mir nicht sicher, ob andere zum gleichen Schluss gelangen würden. »Wenn ich mich ausgeruht habe, erzähle ich es dir.«

»Ich warte darauf.«

Wie ich so zum geschäftigen Lager hinüberschaute, wo man sich auf den Abend vorbereitete, überkam mich eine Einsamkeit, wie ich sie in der Abgeschiedenheit des Gebirges nie empfunden hatte. »Bringst du mich zu meiner Hütte?«, bat ich. »Dann könnte ich mich auf das Festmahl vorbreiten.«

»Gewiss.«

Wir stiegen die Leiter hinunter, und er geleitete mich zur Nordseite der Stadt, wo etwas abseits der größeren Behausungen eine kleine Hütte stand. Sie war mit einer dicken Schicht frischem Reet gedeckt, und vom Türsturz blickte ein Schafsschädel auf mich herab.

Am Eingang hielt Prydd inne.

»Mit wem teile ich die Hütte?«, fragte ich.

»Mit niemandem.«

Überrascht musterte ich ihn. »Soll ich hier allein wohnen?«

»Jemand in deiner Stellung kann nicht unter den Gemeinen des Stammes leben. Du musst dich abseits halten.«

Mir sank der Mut. Ich hatte mich sechzehn Monde lang abseits gehalten. Ich wollte mein Wissen zu den Stammesleuten bringen und mich ihnen nicht fernhalten. »Ich hatte gehofft, bei den Gereisten wohnen zu können.«

»Die Kendra lebt allein.« Sein Tonfall war scharf und duldete keinen Widerspruch.

Wenn es nicht an meiner Vorgeschichte lag, wollte ich den Grund erfahren. »Misstraust du mir, Gereister? Glaubst du, ich bin nicht diejenige, die ich zu sein behaupte?«

»Weshalb sollte ich an dir zweifeln? Ganz Albion wartet auf dich. Du aber bist zu mir gekommen.«

»Ich bin zu Caradog gekommen.«

Er musterte mich. »Caradog wurde nicht mit offenen Armen empfangen – hier, wo die Familie des Fürsten herrscht, seit nach Eisen gegraben wird. Ich habe ihm den Weg bereitet.«

»Er scheint mir ein Mann zu sein, der sich seinen Weg selbst freischlägt …«

»Um erfolgreich Krieg zu führen, braucht Caradog das Wohlwollen der Gereisten. Wie alle anderen auch.«

Ich runzelte die Stirn. Das war nicht die Art der Gereisten, mit denen ich aufgewachsen war. Prydd kannte die Bedeutung und die Macht der Kendra besser als ich. Doch anscheinend löste dies bei ihm weder Verehrung noch Freude aus. Ich führte meinen Titel noch nicht lange und hatte einen schweren Schlag einstecken müssen. Also sollte ich mir hier nicht gleich einen Feind machen. Und so stimmte ich der einsamen Hütte mit einem Nicken zu.

Prydd rüttelte am Türeinsatz und schob ihn beiseite, dann versperrte er mir mit seinem geäderten Arm den Durchgang. »Noch ein Wort, Kendra …«, sagte er leise.

Ich konnte es gar nicht erwarten, ihn endlich los zu sein. »Ja?«

»Du bist jung und unerfahren, und ich möchte nicht, dass du scheiterst.«

Ich erwiderte seinen Blick.

»Du weißt mehr über die Mütter als jede andere, doch das heißt nicht, dass du das innere Räderwerk der Stämme verstehst.«

»Ich habe nicht behauptet …«

Er hieß mich mit erhobener Hand schweigen. »Der Krieg hat das Land verändert«, erklärte er. »Der Titel der Kendra ist wertvoll, aber nicht mehr allmächtig.«

Mit untergeschlagenen Beinen saß ich am Feuer und grübelte innerlich aufgewühlt über Prydds Worte nach. In den Monaten des Alleinseins hatte ich mich viele Male gefragt, ob ich des mir verliehenen Titels würdig sei. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass der Titel an sich infrage gestellt werden könnte.

Kendra. Die höchste Wissende. Niemand konnte mir befehlen, denn ich war von den Müttern auserwählt worden und stellte das Bindeglied zwischen den Stämmen und deren Erschafferinnen dar. Wie konnte Prydd diese Macht anzweifeln?

Ich nahm ein Holzscheit aus dem Korb und warf es ins Feuer. In meiner Hütte war es so warm wie in einem Ofen. Wie alle unsere Behausungen war sie fensterlos und vollkommen kreisförmig. Die Wände verströmten den Gesang der roten und schwarzen Spiralmuster unserer Totems. An der Westseite stand ein schmales Kastenbett, darauf lagen Lammfelle und Wolldecken. An der Ostseite stand eine niedrige Ablage mit zwei Schalen, einem Wasserkrug und meiner säuberlich gefalteten Kleidung. Eine Dienerin hatte sie offenbar von der Kochhütte hergebracht.

Dies war jetzt mein Zuhause.

Den Blick aufs Feuer gerichtet, langte ich in den Halsausschnitt meines Gewands und presste die Fingerspitzen auf die Brust. Die halbmondförmige Narbe war seit dem Schnitt gewachsen und hatte sich wie eine dunkelrote Wurzelknolle über die Haut ausgebreitet.

Sie war hässlich, juckte ständig und schmerzte, wenn ich sie berührte, doch die Mütter hatten sie mir selbst mit ihrem Messer zugefügt, und ich war stolz darauf. Die vernarbte Wunde wies mich als Kendra aus. Ich schloss die Augen und dachte an den Moment, da sie meine Haut geöffnet hatten, um ihr Lied in mich einzulassen. Jetzt kam es mir vor wie ein Traum oder die Vision einer Trance. Die Narbe unter meinen Fingern aber war echt.

Neha streckte sich neben mir auf dem Boden aus. Sie brauchte nur meine Nähe, um sich wohlzufühlen.

Prydd hatte gesagt, die Macht der Kendra sei im Kriegsverlauf geschwächt worden.

Ich musste sie wiederherstellen.

Es entsprach der Wahrheit, dass meine Ausbildung nicht lange gewährt hatte. Ich hatte nicht Jahre darauf verwandt, mir die Gesetze und Geschichten einzuprägen, die in Form von Gesängen überdauerten und von den Wissenden an die Novizen weitergegeben wurden. Meine Narbe aber zeugte von dem Moment des Eintretens ins Göttliche, da ich den Gesängen der Mütter beigewohnt hatte. Die Bewahrung dieser Erinnerung war meine Aufgabe als Kendra. Und war es jetzt, da Rom an den Banden zerrte, die uns mit unserem Land vereinigten, nicht wichtiger denn je, die Seele unseres Landes im Gedächtnis zu behalten?

Draußen kündigten die Rotkehlchen das Ende des Tages an. Ich richtete mich auf, wandte mich dem Eingang zu und sagte der Sonne mit den vorgeschriebenen Verneigungen Lebewohl. Dann setzte ich mich nieder, sang und zählte an den Knoten meines Gürtels die Zyklen ab.

Als ich fertig war, streichelte ich Neha den Kopf. Sie sah hechelnd zu mir hoch – das Feuer war ihr zu warm. Ihr Kopf war eigentümlich gefärbt und unterteilt in Tag und Nacht, das eine Auge braun, das andere blassblau. Das eine blickte in diese, das andere in die jenseitige Welt.

In der Ferne kündigte eine Glocke den Beginn der Festlichkeiten an. Ich schnürte mein Kleid wieder zu, damit die Narbe verdeckt war. Bald würde ich vor den Einwohnern der Stadt stehen. Die Mütter hatten Gnade walten lassen und dafür gesorgt, dass hier niemand meine Vorgeschichte kannte. Das war ein Geschenk für mich. Ein zweiter Glücksfall.

Ich hegte keinen Zweifel an meinem Titel. Dennoch hatte Prydd recht. Ich wusste nicht, wie die Stämme sich in der Zeit meiner Abwesenheit verändert hatten. Ich brauchte einen Lehrer. Wenn es Prydd sein musste, dann eben er.

Caradog hatte die Kendra als Galionsfigur bezeichnet. Ich wusste, dass sie mehr sein konnte. Ich wusste, dass ich den Stämmen über den Krieg helfen konnte. Ich musste bloß herausfinden, auf welche Weise. Ich war bereits einmal als Kendra gescheitert und hatte diese Niederlage kaum verwunden. Ich durfte nicht wieder versagen.

»Schmeckt es dir?«, fragte Caradog, dem der Saft des Schweinebratens übers Kinn lief.

Ich nickte. Das Fleisch war zart und mit Sauerampfer gewürzt. Ich biss ein Stück von dem Batzen ab, den ich auf meinen Fleischhaken gespießt hatte, und spülte es mit einem Schluck Gerstenbier hinunter. Es tat gut, wieder zu schmausen, den Geschmack von deftigem Braten zu genießen wie in meiner Kindheit und das süße Gebräu zu trinken, auf das ich im Gebirge hatte verzichten müssen.

Viele Menschen hatten sich in der Halle versammelt, und das lodernde Feuer verbreitete Hitze. Ich saß zwischen Caradog und Hefin im innersten Kreis, dem Fleisch am nächsten, ein Ehrenplatz. Die Gereisten und die Clanvorsteher von Llanmelin vervollständigten den inneren Ring, während die einfachen Krieger mit ihren Familien hinter ihnen saßen. Ich blickte zu Prydd hinüber, der auf der anderen Seite des Feuers schweigend sein Mahl verzehrte. Bei meinem Eintreten hatte er sich tief verneigt und mir mehr Achtung erwiesen als vorhin, als wir unter uns gewesen waren.

Ich wandte mich wieder zu Caradog um. Er hatte sich das Haar mit Kalkwasser versteift und trug einen dicken goldenen Halsreif, dessen Enden mit Vogelköpfen geschmückt waren. Es war nicht zu übersehen, dass er jetzt der Anführer der Stämme war. Er war mir gegenüber aufmerksam, wie es einem Ehrengast zustand, doch ich sah, dass er sich jeder Bewegung ringsum bewusst war.

In stolzer Haltung saß Euvrain an seiner anderen Seite. In dem mit Silberfäden durchwobenen grünen Tartan sah sie atemberaubend schön aus. Obwohl sie das Gesicht von ihrem Mann abgewandt hatte und mit zurückgeworfenem Kopf über einen Scherz lachte, ruhte ihre Hand leicht auf seinem Oberschenkel. Für Caradog konnte ich mir keine passendere Gefährtin vorstellen.

Ich drängte ihn, über den Feldzug der Römer zu sprechen. Es war fast vier Sommer her, dass Claudius’ Armee an unserer Küste aufgetaucht war. In den ersten Monaten unterwarfen sich elf Stämme, verlockt von der trügerischen Aussicht auf ein friedliches Bündnis. Doch auch von jenen, die sich nicht ködern ließen, forderten die Römer Unterwerfung, und zwar nicht in Frieden. Die Stämme im Süden und im Osten unterstanden inzwischen dem Statthalter Plautius. Der Norden und der Westen waren noch frei. Rom hatte seine Stellung stärker gefestigt, als ich erwartet hatte.

Caradog schilderte die kleinen, aber wirkungsvollen Angriffe auf die Römerlager im Sommer. Seine Krieger hatten die römischen Befestigungen niedergebrannt, Getreidelager geplündert, Versorgungswege unterbrochen und Wasserkanäle zerstört, Frachtwagen zertrümmert und Soldaten getötet, wann immer sie sich in kleinen Gruppen durch den Wald bewegten. »Ich habe nicht versucht, mich mit Plautius anzufreunden«, meinte er lachend. »Deswegen jagt er mich.«

Ich erfuhr, dass er erst seit einem knappen halben Jahr in Llanmelin war, angelockt vom Kampfeifer der Krieger im Westen, die ihrem Hass auf Claudius treu blieben. Ganz im Gegensatz zu den Fürsten im Osten, die der Handel mit den Römern und deren Luxuswaren verdorben hatte. Es tat gut, nach so vielen Monden ohne neue Nachrichten wieder über den Krieg zu sprechen. »Und wo verläuft die Grenze zu Rom?«, fragte ich. »Wo steht Plautius derzeit?«

»Einen Tagesritt von den Ufern des Habren entfernt«, antwortete Caradog. »Aber weiter wird er nicht kommen.«

»Weil sich das Jahr dem Ende zuneigt?«, fragte ich. Niemand kämpfte nach Einbruch des Winters.

Caradog schüttelte den Kopf. »Weil ihm klar wurde, dass dieser Krieg mehr Härten als erwartet für ihn bereithält.«

Hefin und mehrere andere Fürsten oder Häuptlinge waren verstummt und lauschten unserer Unterhaltung.

»Er weiß, dass ich mich hier aufhalte, doch er kommt nicht an mich heran. Die Wege sind zu steil und die Stammesleute zu grausam. Ich schicke jeden Kundschafter zu ihm zurück, ans Pferd gefesselt und einen Kopf kürzer. Die Berge und die Strömung des Habren schützen uns. Die Mütter selbst stehen für uns Wache.«

Immer mehr der Anwesenden hörten uns zu.

»Zieht er sich dann über den Winter zurück?«, fragte ich, zu neugierig, um mich von der Zuhörerschaft aus der Fassung bringen zu lassen.

»Er hat einige Männer abgezogen«, entgegnete Caradog. »Aber er lässt die Front nicht unbewacht.«

»Sie haben die Sonnenstraße eingeebnet und mit Steinen gepflastert«, berichtete Prydd. »Sie nennen sie jetzt Fossa. Das ist die Linie, die sie halten.«

»Also ist sie für uns nicht zugänglich«, murmelte ich.

Die Sonnenstraße war eine unserer ältesten Legendenstraßen. Sie verlief von Süden nach Norden und durchschnitt die Linie der Wintersonnenwende in mehreren Stammesgebieten. Wandersleute aus ganz Albion beschritten sie jeden Winter und gedachten der Lieder, die im Auf und Ab des Weges eingebettet waren. Die Römer wussten anscheinend ganz genau, wo sie uns schmerzlich treffen konnten.

»Man kann sie weder beschreiten noch queren«, sagte Caradog. »Plautius hat Palisadenkastelle errichtet, um sie zu bewachen. Nach neuester Zählung sind es mindestens fünfzig …«

»Aber der Narr kann sie nicht bemannen«, warf Hefin ein.

»In der Tat«, stimmte Caradog zu. »Die Legionen wurden nach Osten verlagert und sollen den Winter über den Frieden in den besetzten Gebieten gewährleisten. Plautius hat Hilfstruppen zur Bewachung der Front abgestellt …« Er hielt inne, und sein Blick schweifte umher, als wolle er meine Spannung steigern. Ja, was würde er wohl als Nächstes enthüllen?

»Fahr fort!«, bat ich.

»Die Sonnenstraße ist lang, und Plautius muss seine Männer weit verteilen, um sie zu halten. Die Kastelle sind nur schwach bemannt, mit hundertfünfzig bis höchstens zweihundert Soldaten. Häufig auch mit weit weniger.« Er hielt erneut inne. »Diese Front ist schwächer als ein dünner Faden.«

»Dann … willst du also im Frühjahr angreifen?«, fragte ich. »Um zumindest die Straße zurückzuerobern?«

»Ich plane einen Angriff«, räumte er ein. »Aber nicht mit dem Ziel, die Straße zurückzugewinnen.«

»Was willst du dann?«, fragte ich mit leiser Stimme.

Alle Blicke waren auf uns gerichtet, auch Caradog musterte mich unverwandt. »Ganz Albion.«

Die Krieger brachen in Jubel aus.

»Wie?«, fragte ich trotz des Lärms.

Caradog hieß die Männer schweigen, damit er fortfahren konnte. »Nicht nur die Front ist schwach bemannt«, erläuterte er. »Die Provinz ist so rasch gewachsen, dass die Legionen weit verteilt werden mussten, um die Bewachung zu gewährleisten. Ich pflege Verbindungen zu den Stämmen im Osten, auch zu denen, die längst Verträge geschlossen haben. Viele Fürsten haben Claudius Gefolgschaft geschworen, doch ihr Kriegereid gilt nach wie vor mir. Sie sind der Versklavung überdrüssig und zum Handeln bereit.«

Erstaunt lauschte ich ihm. Die Stämme hatten stets für sich selbst gekämpft. Hatte dieser Mann es etwa geschafft, sie zu einen?

»Wenn ich die Sonnenstraße von Westen her angreife«, fuhr Caradog fort, »werden die Stämme im Osten zu den Waffen greifen.«

»Die römischen Streitkräfte werden in die Zange genommen …«, flüsterte ich.

»Ja«, stimmte Caradog zu. »Wenn sie gegen uns vorrücken, schwächen sie den Osten. Und wenn sie die Provinzen verteidigen, verlieren sie die Frontlinie. In jedem Fall gewinnen wir an Boden, und sie werden geschwächt. Sie werden erkennen, dass sich Albion nicht unterwerfen lässt.«

»Und du hast die Stämme dazu gebracht, dem Plan zuzustimmen?«, staunte ich. Das war bisher noch niemandem in diesem oder irgendeinem anderen Krieg gelungen.

»Ausreichend viele«, antwortete Caradog. »Ich habe die Icenier auf meine Seite gebracht, die Coritanier …«

Das waren mächtige Stämme, und sie gehörten zu den ersten, die sich Claudius unterworfen hatten. Caradog musste über die Kräfte eines Zauberers verfügen, wenn er sie zu einem Bündnis bewegt hatte.

»Aber Plautius wird die Zahl der Soldaten doch sicherlich vor dem nächsten Frühjahr aufstocken.«

»Das wird er«, sagte Caradog und beugte sich vor. »Aber wir warten nicht so lange.« Er warf mir einen langen Blick zu. »Wir greifen im Winter an.«

»Aber das ist Wahnsinn!«, entfuhr es mir. Niemand kämpfte in der kalten Jahreszeit, wenn der Schnee das Land bedeckte und die kalten Nächte den Einsatz dicker Zelte nötig machten. »Verzeih mir … mit einem Feldzug im Winter habe ich nicht gerechnet …«

»Rom wird auch nicht damit rechnen«, sagte Caradog.

»Weshalb sollten wir die kalte Jahreszeit nicht zum Angriff nutzen?«, fragte Euvrain und legte ihrem Mann den Arm um die Hüfte. »Wir sind gegen die Kälte abgehärtet, sie nicht.«

Caradog küsste sie, worauf die Krieger jubelten und auf den Boden trampelten.

Ich trank einen großen Schluck von dem Bier und spürte, wie sich die Wärme in meinem verkrampften Leib ausbreitete. Dieses betäubende Vergnügen hatte mir gefehlt. Caradog verfolgte einen kühnen Plan. Aber hatte ich nicht genau darauf gewartet? Er handelte ausschließlich nach seinem eigenen Urteil. Vielleicht war das seine Stärke.

»Es gibt einen noch gewichtigeren Grund für einen Angriff im Winter«, übertönte er den Lärm.

»Solltest du das nicht besser im Rat besprechen, Kriegsfürst?«, fragte Prydd mit ruhiger Stimme.

»Ach was! Die Krieger sollen es ruhig hören. Das wird sie in Wallung versetzen.« Er trank von seinem Bier, wischte sich den Schaum vom Bart und blickte in die Runde. »In diesem Monat beendet Plautius seine Amtszeit, und Claudius entsendet einen neuen Mann, der die Provinz regieren soll. Ostorius Scapula.«

Beeindruckt musterte ich ihn. Offenbar hatte er Spione und Boten in jedem Winkel Albions.

»Der Austausch soll im Winter stattfinden, da die Römer glauben, dass dann Ruhe herrscht«, erklärte er. »Der neue Mann weiß nichts über Albions Wälder, das Wetter oder die Stämme. Er steht erst einmal auf schwachen Beinen. Auf einen Angriff so spät im Jahr ist er sicherlich nicht gefasst.« Abermals wandte er sich an mich. Obgleich sein Blick vom Bier verschwommen war, glühte ein Feuer darin. »Dann schlagen wir zu.«

Seine Zuhörer jubelten, mich aber beunruhigte der Plan. »Du willst sie doch bestimmt nicht in offener Feldschlacht angreifen, oder?«, fragte ich. »Ich weiß, wie die Römer kämpfen. Sie scheinen keine Seele zu haben …«

»Kendra, auch ich weiß, wie die Römer kämpfen!«, entgegnete Caradog lachend. »Sie wiederholen einen Kostümtanz mit immer gleichen Schritten. Sie kämpfen wie Hähne, haben aber den Verstand von Schafen.« Er hielt inne, als eine Dienerin ihm nachschenkte. »Albion aber kämpft nach eigenen Regeln. Unsere Kostüme sind die Nacht und der Wald.« Mit funkelnden Augen blickte er mich an. »Nein, Gereiste, wir werden sie nicht in offener Feldschlacht stellen. Ihren eitlen Waffentanz lassen wir ihnen nicht durchgehen. Wir gehen verstohlen vor und töten sie, wenn sie rasten. Dann werden sie merken, dass sie nicht weiter vorrücken können.« Seine Stimme füllte die Halle.

Jetzt sah ich die Flamme, die diesen Stamm in seinen Bann gezogen hatte, eine der stärksten in ganz Albion.

»Sag uns, weshalb wir kämpfen!«, rief ein Krieger vom Außenkreis. Die Männer waren betrunken und gierten nach einem Kriegsruf.

Caradog zögerte nicht. Er erhob sich und richtete sich zu voller Größe auf, bis seine Haarstacheln beinahe die Deckenbalken berührten. »Wir sind die Herrscher des Stammeslands«, begann er. »Die Gebeine unserer Ahnen sind in den Ackerboden eingegangen, den wir bestellen. Das Blut unserer Mütter strömt in unseren Flüssen. Wir beugen uns keiner fremden Macht. Wir sind die Abkömmlinge dieses Landes. Es hat uns geformt, und nur wir herrschen darüber.«

Während die Zuhörer johlten, fing Euvrain meinen Blick auf und lächelte.

»Nun bin ich mir gewiss, dass die Mütter unseren Schlachtplan segnen, denn die Kendra ist zu uns gekommen.« Caradog zog mich am Handgelenk auf die Beine, beugte sich vor und küsste mir die Hand. Dann blickte er mich mit wildem Übermut an, legte mir einen Arm um die Hüften, hob mich hoch, schwenkte mich über dem Kopf im Kreis und stieß einen Kriegsschrei aus, den seine Anhänger sogleich wiederholten. »Wir werden nicht verlieren!«, rief er und übertönte den Lärm. »Die Mütter sind mit uns! Wir werden nicht verlieren!«

Als ich dem Feuer nahe kam, rang ich nach Luft. Doch plötzlich ließ er mich los, und ich fiel lachend zu Boden.

Alle lachten und führten die Unterhaltungen fort.

Ich ließ mich wieder nieder. An den Stellen, an denen er mich gepackt hatte, waren bestimmt blaue Flecken zu sehen. Trotz der ausgelassenen Stimmung erwachte mein Unbehagen. Ich hatte die Zerstörungen des Krieges mit eigenen Augen gesehen. Sollten wir nicht besser warten und den neuen Statthalter erst einmal einschätzen lernen, bevor wir losschlugen? Seine Schwächen kennenlernen? Seine Ziele? Ich trank einen Schluck Bier. Hier saß ich neben dem größten Kriegsführer, den Albion je gesehen hatte. Wer war ich, ihn infrage zu stellen?

Einige Stunden später, als das Mark aus den Knochen gesaugt war, rief Caradog nach seinem Sänger. Ich legte mir ein Fell über die Beine, voller Vorfreude auf die Musik, und wunderte mich, weshalb der Sänger nicht mit uns geschmaust, uns mit seiner Kunst erfreut hatte.

Der Mann, der mit einem Rhythmusstab vom Rand der Halle in die Mitte trat, war nicht größer als ein Kind. Als er vom Feuer beleuchtet wurde, stockte mir der Atem, und ich ahnte, weshalb er sich abseits gehalten hatte. Dieser Gereiste war verwachsen und entstellt. Sein Schädel war missgebildet und wirkte an der einen Seite wie eingefallen, das linke Auge lag in einer tiefen Höhlung. Am Hinterkopf hatte er eine knochige Auswölbung, die nur schütter behaart und daher deutlich zu sehen war. Noch nie zuvor hatte ich ein so hässlich verformtes Gesicht gesehen.

Wenn Caradog meine Bestürzung bemerkte hatte, so ließ er es sich nicht anmerken. Er beugte sich zu mir herüber und flüsterte mir ins Ohr: »Das ist Rhain«, flüsterte er mir ins Ohr. »Der beste Sänger in ganz Albion.«

Ich trank einen Schluck Bier und beobachtete, wie Rhain das Feuer umrundete. Trotz seiner Missbildung war seine Haltung anmutig und sein Gang stolz. Er trug den mit wundervollen Stickereien verzierten Umhang des obersten Sängers, an seiner Hüfte klingelten silberne Glöckchen. In jedem anderen Fall wäre ein so grausam entstellter Mensch von seinem Stamm gemieden oder getötet und den Müttern zurückgegeben worden. Dies hatte Caradog anscheinend verhindert.

Man machte Rhain auf der Innenbank Platz, und er wandte sich seinem Kriegsfürsten zu.

»Für wen singst du?«, rief Caradog, wie es die übliche Einleitung verlangte.

»Ich singe für Caradog, den Sohn des Belinus, den Prinzen der Catuvellauner, den mächtigen Krieger von Medway, den Römertöter, den Beschützer Albions, den Vater zukünftiger Krieger. Ich singe schöner und machtvoller als jeder andere Dichter.«

Ich bekam große Augen. Rhains Stimme war stark wie eine Flamme. Er strahlte eine Macht aus, als weise sein Körper keinerlei Entstellungen auf. Wo hatte er diese Anmut erworben?

In der Halle wurde es still.

Wovon würde er singen? Der Sänger hatte eine dreifache Aufgabe – den Fürsten zu rühmen, die Feinde zu verspotten und die großen Krieger der Vergangenheit heraufzubeschwören, indem er ihnen seine Stimme verlieh. Er sprach in Rätseln, um die Aufmerksamkeit des Publikums in die Tiefe zu lenken.

Er klopfte mit dem Stab auf den Boden und gab so den Rhythmus für seine Geschichte vor.

Dann begann er zu singen.

In der reinen Schönheit seines Vortrags traf mich der Gesang völlig unvorbereitet.

Kamen diese Töne wirklich aus Rhains Brust? Wie brachte er allein mit seinem Atem etwas so Machtvolles zustande? Er schien seine Seele zu entblößen. Seine Stimme war Knochen und Muskel, eine Schlange, geboren in seinem Leib und geformt mit der Zunge.

Die Zuhörer lauschten gebannt, während die Schlange sich durch die stille Halle schlängelte.

Ich singe von einer Maid, die im Licht des Annwyn springt,

Kraftvoll wie ein Lachs, flink wie eine Jagdhündin.

Ich singe von einer Maid, deren Brust geöffnet ward,

Ein Gefäß, das überläuft von Gesang.

Ich lächelte. Eine Geschichte der Kendra. Ich blickte zu Caradog hinüber. Hatte er den Sänger gebeten, mir zu Ehren diese alte Geschichte vorzutragen? Anscheinend hatte der Sänger dies aber selbst entschieden.

Ich singe von einem Heer, das sich ausbreitet wie ein Blutfleck,

Das wie die Seelenlosen vorwärtsstürmt, von keinem Gesang getragen.

Ich singe von einer Maid, blind gegenüber jeglicher Gefahr.

Ihre Augen sind von einer Haut bedeckt, ihr Geist aber noch nicht.

Ich trank. Nicht nur die Worte erzählten die Geschichte. Die Bedeutung lag auch im Rhythmus, in der Art und Weise, wie Rhain die Laute formte, in seinem ganzen Auftreten. Das Rätsel war verwirrend, aber auch irgendwie vertraut.

Ich singe von einem Hirsch, der die Maid begräbt.

In Annwyns dunkler Kammer findet sie das Licht des Himmels.

Ich singe von einer Maid, die fliegt wie ein Rabe,

Die das Land ohne Führung sieht und weiß, dass alle verloren sind.

Voll Grauen erkannte ich die Geschichte wieder, und meine Hand krallte sich um den Becher. Das war nicht nur die Geschichte der Kendra, zeitlos und immer wieder gesungen. Dies war meine Geschichte.

Ich singe von einer Hündin, stumm und begraben,

Die ihre Krieger anfleht, das Schwert niederzulegen.