Die Hüterin der Ordnung - Philipp Mattes - E-Book
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Die Hüterin der Ordnung E-Book

Philipp Mattes

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Beschreibung

Die Rebellion tobt in allen Provinzen des Reiches und die kaiserliche Familie kämpft um den Erhalt ihrer Macht. Doch Shangrao, die Nichte des Jadekaisers, flieht vor ihren Pflichten in die alte Stammburg, die abgeschieden in den Bergen des Nordens steht. Aber kann sie sich ihrer Verantwortung entziehen, wenn die Zukunft der gesamten Welt auf dem Spiel steht?

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Glossar
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9

Die Hüterin der verlorenen Ordnung

Von Philipp Mattes

1. Auflage, 2020

© Alle Rechte vorbehalten.

Alea Libris Verlag, Wengenäckerstr.11, 72827 Wannweil

Lektorat: Michaela Harich

Korrektorat: Michaela Harich

Cover: Viktoria Lubomski

ISBN:9783945814659

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich

geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung

des Verlages und des Autors unzulässig.

Dies gilt insbesondere für die elektronische oder

sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung

und öffentliche Zugänglichmachung.

Unser spezieller Dank geht an unseren Patreon.

Simon Rottler

Nadine Panzer

Glossar

Personen

Shangrao – Nichte des Jadekaisers

Gaomi – Meisterin des Büros Zeremonie

Yang Lihua – Meisterin des Büros für die Überwachung der Dienerschaft

Wu Wang – Hauptmann der Garde in Shangraos Gefolge

Li Cong – Burgkommandant, ehemaliger Offizier General Lyes

Jadekaiser Ylu – der Göttliche, Hüter der kosmischen Ordnung auf Erden

Lye – »der Rebellenschlächter«, Ylus Bruder und General in der kaiserlichen Armee

Wanli – Ylus Cousin

Orte

Gundao – Stammburg der Jadekaiser

Tempel der Jaderosen – wichtigstes Heiligtum, Inthronisationstempel der Jadekaiser

Jasminschrein – Kultplatz in Gundao

Tai Ju – Hauptstadt

Jadepalast – Sitz des Jadekaisers und der Regierung

Kapitel 1

Die Laternen flackerten, warfen verzerrte Schatten an die Wände des Empfangsraums. Hinter ihr wurde leise getuschelt. Im Flur vor ihr brüllte jemand einen Befehl. Stiefel stampften über den Marmorboden. Im Schein, der durch die offene Tür fiel, konnte sie Gestalten erkennen, die sich im Gleichschritt durch das Zwielicht vor ihr bewegten. Goldene Rüstungen funkelten. Ihre Augen folgten dem schwächer werdenden Glanz der Schuppenpanzer.

»Eure Heiligkeit, bitte hier entlang.« Die Stimme kam aus den Schatten, war vertraut und beruhigte sie etwas.

Shangrao nickte. Ihr Puls raste, schien vor dem fliehen zu wollen, was sie erwartete. Bloß was war das überhaupt? Sie konnte sich nicht daran erinnern, wann sie das letzte Mal nachts geweckt worden war. Die Rebellen greifen die Burg an! Der Gedanke war grotesk, dennoch zündete er wieder und wieder Explosionen nackter Panik in ihr. Und was sonst konnte geschehen sein? Zitternd holte sie Luft, ging durch die offene Tür und einen Korridor entlang. »Warum habt Ihr mich geweckt?«

»Die Priester haben Eurer Heiligkeit etwas Dringliches mitzuteilen«, erklärte Gaomi, ihre Zeremonienmeisterin, leise.

»Und um welche Angelegenheit sollte es sich dabei handeln?« Es war das dritte Mal, dass Shangrao dieses Gespräch führte. Ärger und Nervosität befeuerten sich gegenseitig, wurden zu einer Einheit, die ihr den Hals zuschnürte.

»Das wollten sie uns nicht sagen, Eure Heiligkeit.«

Was konnten Priester mitten in der Nacht von ihr wollen? Sie warf ihrer Zeremonienmeisterin einen irritierten Blick zu. Normalerweise war Gaomi über alles informiert. Doch ihre Vertraute neigte lediglich den Kopf und verschmolz erneut mit den Schatten. Zögerlich ging Shangrao weiter. Eigentlich wollte sie es nicht wissen. Was es auch war, es musste etwas Wichtiges sein – und verlangte mit Sicherheit, dass sie Verantwortung übernehmen und den Intrigenreigen mittanzen musste, den ihre Familie so sehr liebte. Genau aus diesem Grund war sie hier auf Gundao, der Stammburg der Jadekaiser, fernab der Städte und der Rebellion. Damit sie nichts mit den wichtigen Entscheidungen des Reiches zu tun haben musste. Warum kamen nun die Priester mitten in der Nacht zu ihr?

Ihre Augen hatten sich allmählich an das Dämmerlicht gewöhnt und sie konnte die Tür zum Audienzsaal erkennen, vor der vier Laternen wie Glühwürmchen schwebten. Hinter den Dienern mit den Lichtern standen Gardisten in ihren goldenen Rüstungen – und dunkelgrünen Umhängen. Es war dieses letzte Detail, das ihr Sicherheit gab. Mehr als alles andere, denn es zeigte an, dass diese Wachen zu ihrem Gefolge gehörten. Sollte sie sich krank stellen? Niemand würde ihr widersprechen, doch würden sie es wirklich glauben? Das Gerede der Bediensteten kümmerte sie nicht, aber sie war nun einmal wach und würde ohnehin nicht mehr einschlafen können. Ich will das nicht wissen! Egal, was es ist. Ich will es nicht wissen! »Bringen wir es hinter uns.«

Als sie näher herankam, öffneten zwei Diener die Türflügel. Die Halle war nur spärlich erleuchtet und lag mehr in Dunkelheit getaucht, nur ein halbes Dutzend Laternen erhellten eine Gruppe kauernder Gestalten, umringt von einer goldenen Mauer. Das ist nicht der Audienzsaal, wie ich ihn kenne …

Nie zuvor hatte sie ihn derart dunkel und kalt gesehen. Normalerweise flutete Licht durch die großen Fenster herein und jetzt, ohne Sonnenstrahlen und mit flackernden Schatten erfüllt, wirkte er wie eine gewaltige Grotte, in der sie sich selbst verlieren könnte. Die Zeremonienmeisterin trat neben sie. Immerhin war sie da, die einzige und wichtigste Person, die ihr am Hof wirklich Sicherheit gab.

»Das sind nicht nur meine Priester«, murmelte Shangrao leise. Es waren zu viele Gestalten, die auf dem Boden knieten.

»Nein, Herrin. Es sind auch die Priester der Burg. Anscheinend gebot es die Situation, dass so viele Priester wie möglich Zeuge von diesem Augenblick wurden«, flüsterte Gaomi zurück.

»Von diesem Augenblick?« Misstrauisch betrachtete sie die Schemen, versuchte zu erkennen, wer zu ihr gehörte und wer nicht. Sie hatte klare Anweisung gegeben, dass sich ihr Gefolge nicht mit dem Haushalt der Burg mischen durfte. Was haben sie sich nur dabei gedacht? Unsicherheit stieg wie Galle in ihr auf, fraß sich durch ihr Selbstvertrauen. »Lassen Sie uns beginnen.«

»Ehrenwerte Priester, Ihre Heiligkeit ist erschienen, also sagen Sie, was es zu sagen gibt!« Gaomis Stimme hallte beinahe zu laut von den Wänden wieder, zerstörte die Ruhe.

Die kauernden Gestalten verbeugten sich so tief, dass sie mit ihren Köpfen den Boden berührten. »Eure Heiligkeit Shangrao, Nichte des Göttlichen Ylu, unseres Jadekaisers, wir haben uns versammelt, um Euch von einer Dringlichkeit ohnesgleichen zu informieren.« Die Worte hallten durch den Raum.

Ein kalter Schauer glitt über ihren Rücken. Sie konnte nicht erkennen, wer gesprochen hatte, doch die Panik in der körperlosen Stimme war unverkennbar.

»Dann sprecht und haltet Ihre Heiligkeit nicht allzu lange auf«, befahl die Zeremonienmeisterin, der die Priester unterstanden.

»Eure Heiligkeit …«

Das Schweigen, das auf die beiden Worte folgte, zerrte an Shangraos Nerven, die ohnehin schon zum Zerreißen gespannt waren. Was konnte so grauenvoll sein, dass die Priester es nicht wagten, auszusprechen? Was war passiert? Hatten die Rebellen die Hauptstadt angegriffen? Den Jadepalast? Aber weshalb sollten das die Priester zuerst erfahren? Hatte es etwas mit Lye, ihrem anderen Onkel zu tun? Eilig verscheuchte sie jeglichen Gedanken an ihn. Warum sollte ich mir die Sache schlimmer vorstellen, als sie wahrscheinlich ist.

»Nun?«, stieß sie wütend hervor. Augenblicklich erstarrten alle im Raum. Sie hatte die Etikette verletzt, ein Mitglied der kaiserlichen Familie mischt sich nicht in ein Gespräch zwischen Untergebenen ein. Zum ersten Mal, seit sie in die Stammburg der Jadekaiser gekommen war, hatte sie sich nicht vorbildlich verhalten. Und wenn morgen die ganze Dienerschaft darüber redet, dass ich meine Nerven verloren habe! Was trauen sich die Priester nicht zu sagen? Ihr Puls pochte in ihren Ohren und die Idee, zum Objekt vom Hofklatsch zu werden, war ihr zum ersten Mal gleichgültig.

»Eure Heiligkeit ...«, meldete sich nun ein anderer Priester zu Wort. »Wir müssen Euch mitteilen, dass heute, zur zweiten Mittagsstunde, das Reich Pwyrin und die gesamte Erde enden werden. Die Welt wird untergehen. Verzeiht, dass ich Euch dies auf solch profanem Weg mitteilen muss. Mögen die Himmlischen uns …«

Erneut trat Stille ein. Shangrao starrte die Priester an. Das kann doch nicht deren Ernst sein?Das ist doch ein Scherz, oder? Ein schrilles Lachen kroch langsam ihre Kehle hoch. Einen so verrückten Albtraum hatte ich noch nie! Es wäre ein äußerst grotesk-lächerlicher Albtraum, wenn die Welt einfach so zur Mittagszeit untergehen würde. Das Lachen erstarb so plötzlich, wie es sich ihr aufgedrängt hatte. Sie kannte sich mit Albträumen aus. Es verging keine Woche, in der sie nicht mindestens einer heimsuchte. Und sie wusste auch, dass sie in diesem Augenblick nicht träumte, dennoch hoffte sie auf das Gegenteil. Aber wie konnte die Welt enden? Wie sollte das möglich sein? Werden die Zerrungen etwa so sehr an Kraft gewinnen?

»Was wollt Ihr damit sagen? Was soll dieser Unsinn mit dem Weltuntergang? Darüber macht man keine Scherze!« Die Stimme der Zeremonienmeisterin war leise, drohend.

»Wir haben das Orakel vierundsechzig Mal befragt und erhielten vierundsechzig Mal dieselbe Antwort. Es gibt keinen Zweifel an der Wahrheit dieses Orakelspruchs. Vergebt mir, Meisterin.« Laut dröhnte die Stimme von den Wänden und in ihren Ohren wider. Die Entschlossenheit und die Angst in ihr ließ keinen Zweifel Wahrheitsgehalt dessen, was er sagte.

Erneut trat Stille ein.

Der Göttliche wird es richten, mein Onkel wird die Welt vor ihrem Untergang retten! Der Gedanke überwog, versuchte, sich festzusetzen, doch Zweifel nagten an ihr. Aber warum hat er es dann so weit kommen lassen? Die Frage gab ihrer Unsicherheit Nahrung. So sehr sie auch überlegte, sie fand kein schlüssiges Gegenargument. Shangrao versuchte, ihn zu verdrängen, wollte an ihren Onkel Ylu glauben, der Macht des Göttlichen vertrauen. Aber jedes Argument, das sie sich zurechtlegte, scheiterte an ihrem Zweifel. Sie kannte ihren Onkel gut. Hatte ihn oft gesehen und gesprochen. Wie hatte er es so weit kommen lassen können? Die Dynastie des Jadekaisers bewahrte die kosmische Ordnung seit Menschengedenken. Pflegte die Qi-Energie, die universale Kraft, die alles Leben und die Erde durchdrang, sie gedeihen und kräftig werden ließ, auf dass sich Mensch und Natur harmonisch entfalteten. Wie es ihrer Familie von den Himmlischen aufgetragen worden war und wie es auch die Ahnen von ihnen erwarteten. Wie konnte, bei allem, was heilig und gerecht war, die Welt derart aus den Fugen geraten? Immer und immer wieder drängte sich diese Frage in den Vordergrund.

»Ist das die einzige Botschaft des Orakels?« Gaomis Stimme schien ein wenig zu brechen, aber noch immer entschlossen, voller Energie.

»Nein, Meisterin. Es hat uns außerdem angewiesen, den Tempel zu ehren. Wir gehen davon aus, dass der Tempel der Jaderosen gemeint war.«

»Ihr geht davon aus, aber wisst es nicht mit Sicherheit?« Gaomi klang misstrauisch, schien einen Fehler in der Prophezeiung – oder deren Auslegung – zu suchen.

»Nein, Meisterin, verzeiht.« Die Stimme antwortete kurz und hart.

»Gibt es sonst noch etwas, das das Orakel Euch mitgeteilt hat?«

»Nein, Meisterin, verzeiht«, erklärte der Priester, nun beinahe hoffnungslos.

Der Tempel der Jaderosen ... was wollen uns die Ahnen damit sagen? Shangraos Gedanken sogen die Neuigkeit auf, wollten sich nicht länger um die Blasphemie an ihrem Onkel beschäftigen. Die Stätte war der heiligste Ort für die Dynastie des Jadekaisers. Es war der Ort, an dem sie ihren Thron bestiegen und von den Himmlischen ihr Mandat erhalten hatten, die kosmische Ordnung auf Erden zu hüten und das Reich zu regieren. Er befand sich ein kurzes Stück entfernt von der Stammburg Gundao, höher in den Bergen. Wünschten die Ahnen, dass sie dort beteten? Möglich wäre es, doch seit Generationen wurde der Tempel nur geöffnet, wenn ein neuer Kaiser den Thron bestieg. Aber wir haben einen Jadekaiser … Wieder schlichen sich Zweifel an. Sie hatten einen Göttlichen. Ylu vertrat und hütete die kosmische Ordnung auf Erden. Dennoch würde die Welt heute untergehen. Was soll das? Was verlangen die Himmlischen von uns? Ist es wegen dieser elenden Rebellion? War Ylu zu zögerlich gewesen, sie niederzuschlagen? Hat mein Onkel Lye etwa nicht gründlich …?

Entschlossen schüttelte sie den Kopf und somit die Gedanken ab. Sie wollte nicht an ihn denken. Er war bereits in ihren schrecklichen Träumen allgegenwärtig, diesen realen Albtraum sollte er nicht auch noch mit seiner Anwesenheit verderben. Sie nickte ihrer Meisterin zu.

»Ihre Heiligkeit dankt Euch für die Nachrichten. Kehr in Eure Gemächer zurück und sagt zu keinem ein Wort über den Orakelspruch. Das ist ein Befehl, gegeben und gesegnet von Ihrer Heiligkeit Shangrao. Ihr seid entlassen.« Eine kurze Geste von Gaomi beendete die Audienz. Die Priester beeilten sich, wieder auf die Füße zu kommen, und verließen schweigend die Audienzhalle, begleitet von mehreren Gardisten.

»Herrin …«, wandte sich die Zeremonienmeisterin Shangrao zu. Ihre dunklen Augen musterten sie und waren in der Finsternis nur an ihrem Glanz auszumachen, während sie nach Worten zu suchen schien. Am Ende blieb auch dieser Satz ungesagt.

»Die Welt geht unter.« Sie konnte nicht anders, als diese Nachricht auszusprechen. Die Worte fühlten sich wie Fremdkörper an, wie etwas, das man vielleicht in einem Traum aussprechen würde, aber nicht im Wachsein, nicht im Audienzsaal und zu einer Meisterin ihres Haushalts. Ein kaltes Kribbeln lief ihren Rücken hinab. Erst jetzt merkte Shangrao, dass ihre Finger taub geworden waren. Sie rieb sie aneinander und machte ein paar zögerliche Schritte durch den spärlich erhellten Saal. Eigentlich hatte sie damit aufhören wollen, auf und abzugehen, wenn sie nachdachte, aber im Augenblick kümmerte sie sich nicht um ihre eigenen Vorsätze. »Was hat das zu bedeuten?«

»Es bedeutet, dass wir nicht viel Zeit haben, etwas dagegen zu unternehmen, Eure Heiligkeit.«

Sie wandte sich Gaomi zu. »Und was sollen wir tun? Im Thron-Tempel beten?« Der Gedanke, dass es wirklich passieren würde, war beinahe zu viel. Ihr Verstand fühlte sich an, als könne er diese Nachricht gar nicht richtig fassen. Die Vorstellung, das nahende Unheil verhindern zu wollen, war unmöglich für sie. Die Müdigkeit legte sich wie ein bleierner Mantel über sie, gemeinsam mit der kolossalen, vernichtenden Nachricht drückte er sie nieder.

Für einen langen Moment sagte die Meisterin nichts. Schließlich atmete sie heftig aus und ließ ihre Schultern sinken. »Ich weiß es nicht. Vielleicht ist beten das Einzige, das noch irgendetwas bringt. Aber – auch wenn ich Eure Zeremonienmeisterin bin – ich glaube nicht, dass wir mit Gebeten etwas ausrichten können. Nicht, wenn heute Mittag die Erde aufhören wird zu existieren.«

»Es gibt schon länger die Vermutung, dass die Qi-Energie stirbt. Meine Dynastie hat demnach … so wie es aussieht … versagt«, murmelte Shangrao nachdenklich. Hatten damit die Rebellen recht, sich gegen ihre Familie aufzulehnen? Hatten sie das Mandat der Himmlischen verloren, für die Ordnung einzustehen?

»Herrin, das dürft Ihr nicht sagen! Eure Dynastie hat die Welt all die Jahrhunderte gepflegt und Stabilität garantiert! Bitte glaubt nicht so einen Unsinn! Ich werde augenblicklich das Büro für die Beaufsichtigung der Dienerschaft informieren, damit eine solche Schlussfolgerung in Eurem Gefolge nicht aufkommt, wenn die Nachricht vom Weltuntergang die Runde macht.«

»Aber was bedeutet das dann? Wie kann die Welt am Mittag untergehen? Warum ausgerechnet zur zweiten Mittagsstunde? Warum unternehmen die Ahnen oder die Himmlischen nichts dagegen?« Die Fragen stürmten auf sie ein, wie die Angriffswellen von Rebellenkriegern. Sie versuchte sie zu ordnen, einen Sinn zu finden, aber ihr Verstand wurde überrannt. Ihr wurde schwindlig, als sie sich das gesamte Ausmaß und die Bedeutung des Orakelspruchs vor Augen führte. Shangrao verließ den Kreis aus Licht, winkte die Diener weg, als diese ihr folgten. Für den Augenblick wollte sie in die Dunkelheit des Saals eintauchen, darin verschwinden und sich um nichts mehr kümmern. Das Gefühl, etwas unternehmen zu müssen, beschlich sie, nagte als kleiner, lästiger Gedanke an ihrem Verstand. Drängte sie, etwas zu tun, das Unglück zu verhindern. Aber ihr fiel nichts ein, was sie zu tun vermochte und sie wollte nicht im Kreis aus Licht stehen und von ihrem Gefolge angestarrt werden. Wie sollte ausgerechnet sie ihnen helfen?

»Verzeiht, Herrin, aber auf diese Fragen habe ich keine Antworten. Ich bezweifle, dass irgendwer die hat. Wir sind alle nur Menschen und können nur versuchen, den Willen der Himmlischen zu verstehen.« Gaomi stand allein im Kreis der Laternen und spielte gedankenverloren mit einer Haarsträhne, das Hofprotokoll ignorierend. Kurz hielt sie inne und betrachtete Shangrao, die sie wohl nur als sanft leuchtenden Schemen erkennen konnte. Aber mit einem enttäuschten Gesichtsausdruck wandte sie den Blick ab, nahm das Spiel mit den Haaren wieder auf.

Wen kümmert jetzt noch das Protokoll, wenn die Welt ohnehin bald vor die Ahnen tritt? Shangraos Herz begann schneller zu schlagen. Würden andere ebenfalls so denken? Würde die Burg in Anarchie versinken? Allein die Vorstellung, welches Chaos über sie alle hereinbrechen würde, schnürte ihr die Kehle zu. So etwas darf nicht passieren!Zumindest nicht, wenn der Göttliche seinen Aufgaben nachkommt … Verzweifelt versuchte, sie die Gedanken in eine andere Richtung zu lenken. Sie war nicht wie ihre Verwandten, die in den Städten um die Macht rangen. Sie war zu den Wurzeln der Dynastie zurückgekehrt, in die alte Stammburg, um die ganze Sache auszusitzen. Der Weltuntergang änderte nichts daran. Hier, in den Bergen des Nordens, waren ihre Möglichkeiten zu helfen ohnehin beschränkt. Außer den Tempel aufzusuchen und dort den höheren Mächten die Ehre erweisen. Sie merkte, wie sie lächelte. »Befehlt meinem Gefolge, sich zu den Tempeln zu begeben. Auch wenn Sie recht haben, mehr als beten können wir hier nicht tun, dennoch müssen wir es versuchen.«

»Wie Ihr befehlt, Eure Heiligkeit.« Gaomis Ton war fest, aber ein leichter Tadel lag in den Worten.

Kurz betrachtete Shangrao den Saal. Abgesehen von den Dienern mit den Laternen und den Gardisten waren sie allein. Und alle gehörten zu ihrem Gefolge. »Was würdet Ihr mir raten?«

Gaomi warf die Hände in die Luft. »Herrin, die Welt wird untergehen! Wie soll ich als gewöhnliche Sterbliche die Lösung zur Rettung kennen?« Kurz sah sie sich im Lichtkreis um, senkte betreten die Arme. »Verzeiht, Herrin. Aber auf Eure Frage habe ich wirklich keine Antwort.«

Und ich soll eine haben? Warum ich? Niemand hat sich bisher um meine Meinung geschert! Ich bin doch nur die jüngste Tochter der jüngsten Schwester des Göttlichen und vom Thron fast genau so weit entfernt wie alle hier …

Langsam schritt sie durch die Dunkelheit, mied den Hof aus Licht, der ihre Gefolgsleute umgab. Sie wünschte sich, sie wäre in einem der Paläste bei ihrer Familie geblieben. Dann würde ein anderer die Entscheidungen treffen und sie würde nur weiter Befehle befolgen. Zumindest darin bin ich gut, selbst in solchen Situationen … Erneut wanderten ihre Gedanken zu ihrem Onkel Lye. Doch der Weltuntergang war ein drohender Schatten, der sich besitzergreifend über ihre Erinnerungen legte. »Zumindest haltet Ihr Gebete nicht für die richtige Lösung, nicht wahr?«, nahm sie das Gespräch wieder auf.

»Wenn die Himmlischen sich entschieden haben, die Welt untergehen zu lassen, dann glaube ich nicht, dass wir sie zu diesem Zeitpunkt noch umstimmen können … abgesehen davon ...« Sie brach ab und senkte den Blick.

Shangrao nickte. »Stimmt, das habt Ihr schon einmal gesagt … aber warum nicht? Haben Burgbesatzungen nicht auch die Möglichkeit, kurz vor der Eroberung noch zu verhandeln?« Vorausgesetzt, der Angreifer besitzt so etwas wie Menschlichkeit…

»Eure Heiligkeit haben recht, wir könnten versuchen, sie umzustimmen. Es ist schließlich nicht ausgeschlossen, dass sie vielleicht doch noch eingreifen.«

… aber letztlich sind es nicht die Götter, die für den Weltuntergang verantwortlich sind. Die kosmische Ordnung auf der Erde haben sie an den Göttlichen abgegeben, der für sie hier die Geschicke lenkt. Es sind wir, die das Ende herbeigeführt haben und nur wir sind in der Lage, es aufhalten. Ihre Zeremonienmeisterin hätte das nie sagen können. Denn es bedeutete, dass der Jadekaiser versagt und er sein Mandat, zu herrschen, verloren hatte. Es waren die Parolen der Rebellen. Shangraos Herz sank in bodenlose Tiefen. Sie durfte diese Gedanken ebenfalls nicht laut aussprechen und selbst wenn sie mit ihren Beraterinnen zu dem Ergebnis kämen, dass das stimmte, was sollten sie unternehmen? Eine Rebellion kam nicht in Frage. Sie hatte keinerlei Macht und so kurz vor dem Ende der Welt würde es ohnehin nichts mehr bringen. Außerdem gab es da noch ihren Onkel. Sie musste nicht darüber nachdenken, sie wusste, dass selbst der Weltuntergang keinen Grund lieferte, dass sie sich gegen Lye, den Rebellenschlächter, auflehnte. Das würde sie nie wagen. Niemals. Mochte ihr anderer Onkel, Jadekaiser Ylu, noch so viele Fehler begehen und Schwächen haben, letztlich war er nur ein Mensch, der von den Göttern eine unvorstellbare Aufgabe erhalten hatte. Aber welche anderen Möglichkeiten gab es? Sie holte tief Atem. »Was könnte das Orakel sonst damit gemeint haben, dass wir den Tempel ehren sollen?«

Gaomi nickte langsam. »Wir sind hier in Gundao, der Stammburg der heiligen Familie des Jadekaisers. Hier hat alles begonnen. Hier haben die Himmlischen Euren göttlichen Vorfahren, den ersten Jadekaiser, zum Vertreter der kosmischen Ordnung auf Erden ernannt. An diesem Ort begann er seine Herrschaft und im Tempel der Jaderosen haben er und all seine Nachfolger den Thron bestiegen. Dies ist das Zentrum der rituellen Macht, während der Jadepalast nur das Zentrum der Verwaltung und politischen Macht ist. Womöglich will das Orakel, dass wir die Traditionen ehren und zurück denken, wie alles begonnen hat. Womöglich gibt es in den Archiven dieser Burg Aufzeichnungen, die uns nicht bekannt sind und die eine Lösung für das Problem enthalten. Den Tempel der Jaderosen zu ehren heißt, die Pflichten Eurer heiligen Familie zu erfüllen und vielleicht sich an die früheren Göttlichen zu erinnern.«

Ich wusste, dass ich mich auf dich verlassen kann! Shangrao hätte ihre Zeremonienmeisterin in diesem Moment am liebsten herzlich in die Arme geschlossen. Es gab keinen Grund, rebellische Gedanken zu haben oder den Schatten Lyes heraufzubeschwören. Sie war zwar schon mehrere Monate in Gundao, aber bisher hatte sie sich nie um die gewaltigen Archive gekümmert, schließlich besaß sie eine transportierbare Bibliothek mitgebracht. Es war naheliegend, dass es hier Unterlagen über die ersten Jadekaiser gab. Womöglich hatte es in der Frühzeit ihrer Dynastie einen vergleichbaren Fall gegeben, oder einer ihrer Vorfahren hatte einen Plan entwickelt, was in einer solchen Situation getan werden musste, sollte der Untergang nahen. Ihr Ururgroßvater war einer jener Philosophenkaiser gewesen, der über die richtige Art zu herrschen geschrieben hatte.

»Herrin? Es wäre vielleicht sinnvoll, die weitere Diskussion in Euren Gemächern fortzuführen. Dieser Ort erscheint mir etwas unpassend, um eine vernünftige Entscheidung zu finden.« Gaomis Worte rissen sie aus ihren Gedanken. Sie sah sich um, erblickte nur Dunkelheit, abgesehen von der Insel aus Licht, in der ihre Zeremonienmeisterin stand und zu ihr herüber spähte. Zögerlich nickte sie, merkte, dass sie für die andere fast unsichtbar war und räusperte sich. »Ja, natürlich. Lasst uns in meine Gemächer zurückkehren.«

Es kostete sie ein wenig Überwindung, die Dunkelheit zu verlassen. Ihr war bewusst, dass sie die nächsten Stunden nicht mehr den Luxus haben würde, sich zu verstecken. Sie hatte den Eindruck, als lasteten schon jetzt die Blicke der gesamten Burg auf ihr und erwarteten, dass sie Anweisungen gab, dass sie wusste, was man im Angesicht dieser nie da gewesenen Bedrohung zu tun war. Mit jedem Schritt hatte sie das Gefühl, in einen bodenlosen Abgrund aus Panik und Entsetzen zu stürzen. Fast hätte sie empfohlen, wegzurennen und sich zu verkriechen – ihre liebste Strategie. Aber konnte man vor dem Ende davonlaufen?

Kapitel 2

Was soll ich nur tun? Shangrao breitete die Arme aus, erlaubte so ihren Dienerinnen, ihr das seidene Unterkleid anzuziehen, und starrte über sie hinweg in den großen Spiegel, der eine Wand im Ankleidezimmer einnahm. Acht Zofen waren um sie herum, brachten ihre Garderobe und mühten sich, die einzelnen Kleidungsstücke ihr so sorgfältig wie möglich anzulegen. Gaomi hatte ihr empfohlen, das Ornat der kaiserlichen Nichte zu tragen, um ihre Stellung in der Burg zu unterstreichen und somit optisch die ihr gebührende Autorität auszustrahlen. Dass sie durch diese Gewänder gezwungen war, sich dementsprechend zu verhalten und keine Ausrede haben würde, sich vor der Verantwortung zu drücken, hatte ihre Zeremonienmeisterin nicht gesagt. Doch ihr Lächeln, als sie den Raum verließ, hatte Bände gesprochen. Aber was wurde von ihr überhaupt erwartet? Sollte sie entschlossen durch die Burg schreiten und den Menschen Mut zusprechen, während der Weltuntergang immer näher rückte? Im hellen Zimmer, umringt von Spiegeln und leuchtenden Stoffen, schien die Idee unwahrscheinlich, dass sie in den Archiven Gundaos irgendetwas Nützliches finden würde. Was für ein vermessener Gedanke, dass ich in der Lage wäre, die Welt zu retten! Vermutlich hat uns das Orakel wirklich nur zum Beten aufgerufen. Wie ich vermutet habe.

Im Spiegel beobachtete sie durch die halb geöffnete Türe, wie Yang Lihua, die Meisterin des Büros für die Überwachung der Dienerschaft, vorbeieilte, dicht gefolgt von den Meisterinnen für Kunsthandwerk, Schlafzimmer und Bekleidung. Anschließend huschten ihre Sekretärinnen mit gesenkten Köpfen vorbei. Dass sie alle so früh aufgestanden sind … Shangrao nagte an ihrer Unterlippe. Nein, ihre Gefolgsleute waren nicht zufällig um diese Uhrzeit wach und hasteten gemeinsam in dieselbe Richtung – zu Gaomis Büro. Sie waren zu einer eigenen Lagebesprechung gerufen worden. Vernünftig, heute wird nichts im üblichen Trott ablaufen. Trotzdem versetzte ihr der Gedanke einen kleinen Stich. Was, wenn ihre Vertrauten nicht nur über die Änderungen im Tagesablauf berieten, sondern auch darüber, welche Möglichkeiten sie hatten, den Weltuntergang aufzuhalten? Ich habe schließlich deutlich gemacht, dass ich kein großes Interesse daran habe, mich an der Rettung der Welt zu beteiligen. Vermutlich möchte Gaomi mit ihren Kolleginnen das Problem in die Hand nehmen. Es war kindisch gewesen, sich in die Dunkelheit des Audienzsaals zu flüchten, anstatt mit der Meisterin im Lichtkreis die Lage vernünftig zu besprechen. Der Gedanke ließ sie erröten.