Die im Dunkeln sieht man nicht - Johannes Mario Simmel - E-Book

Die im Dunkeln sieht man nicht E-Book

Johannes Mario Simmel

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Beschreibung

Unter mysteriösen Umständen gelangt der Fernsehjournalist Daniel Ross in den Besitz eines hochbrisanten Video-Dokuments, dessen Bekanntwerden einen Aufschrei der Empörung um den Erdball schicken wird. Die Geheimdienste der beiden Supermächte kennen nur noch ein Ziel – die Ausstrahlung dieses gefährlichen Films muss unbedingt verhindert werden.

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Johannes Mario Simmel

Die im Dunkeln sieht man nicht

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

WidmungDies ist ein Roman. [...]MottoErstes Buch1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. KapitelZweites Buch1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. KapitelDrittes Buch1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. KapitelViertes Buch1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel

In memoriam Lulu Simmel

Dies ist ein Roman.

Die Handlung und alle Personen – mit Ausnahme der zeitgeschichtlichen – sind erfunden. Ebenso erfunden sind das von einigen Personen der Zeitgeschichte entworfene und unterzeichnete »Beidseitige Geheimabkommen« sowie die Gespräche und Aktivitäten ihrer politischen und militärischen Feinde in diesem Zusammenhang.

Ich versichere, daß der Fernsehsender Frankfurt, den es nicht gibt, keinesfalls stellvertretend für einen anderen Sender der Bundesrepublik, beispielsweise den Hessischen Rundfunk, steht. Der Dokumentarfilm, um den alles Geschehen kreist, ist desgleichen ein Produkt der Phantasie und darum natürlich niemals in achtundfünfzig Ländern der Erde ausgestrahlt worden. Sollte jener Dokumentarfilm – eine Hypothese – tatsächlich existieren, dann wird er nie zu unserer Kenntnis gelangen.

 

J. M. S.

Denn die einen sind im Dunkeln

Und die andern sind im Licht

Und man siehet die im Lichte

Die im Dunkeln sieht man nicht.

 

BERTOLT BRECHT,

Schlußstrophe des Films »Die Dreigroschenoper«

 

 

 

Man traue keinem erhabenen Motiv für eine Handlung,

wenn sich auch ein niedriges finden läßt.

 

EDWARD GIBBON (1737–1794)

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Erstes Buch

   

1

Am 11. Februar 1984 gegen 18 Uhr ging ein gewisser Daniel Ross daran, sich in seiner Wohnung zu ebener Erde eines Hauses an der stillen Sandhöfer Allee in Frankfurt am Main das Leben zu nehmen. Der 11. Februar 1984 war ein Samstag. Ross hatte den Zeitpunkt für seinen Selbstmord umsichtig gewählt. Es besteht bei derartigen Unternehmungen, auch wenn die Methoden, die zum Freitod führen sollen, noch so sicher sind, stets die Gefahr, daß man gestört, vorzeitig entdeckt und ins Leben zurückgeholt wird, wobei nicht reparable Schäden des Gehirns und der Funktionen zahlreicher anderer Organe auftreten können. Darum gehen Selbstmörder häufig in den Wald, auf einen Berg, in eine Bootshütte an einem See, oder sie suchen einen Zeitpunkt aus, zu dem sie ihrer Überzeugung nach lange genug ungestört sind und erst aufgefunden werden, wenn es zu spät ist. Daniel Ross hatte einen Samstagnachmittag gewählt. Diesem folgten die Nacht zum Sonntag, der ganze Sonntag und die Nacht zum Montag. Dann erst kam wieder die Reinemachefrau. Die Erlebnisse des Ross in den vergangenen vier Monaten waren solcher Art, daß er guten Grund hatte, keinen Anruf, keinen Besuch, ja keinerlei Interesse irgendeines Menschen für sich und seinen Zustand zu erwarten. So sehr er darüber verzweifelt war, so sehr erfüllte ihn diese Lage indessen an jenem späten Nachmittag mit Frieden. In Frankfurt schneite es, aber nur ein wenig.

Also warf er sich, nun schon zum zweitenmal, eine hohle Hand voll weißer Kapseln in den Mund und spülte diese mit einem großen Schluck Whisky hinunter. Den Scotch trank er pur, im Glas waren nur Eiswürfel. Nun aß er ein halbes Schinkenbrot, sehr sorgsam kauend. Muß etwas essen dazu, dachte er, sonst kotze ich das ganze Zeug wieder aus. Er saß an seinem Schreibtisch, auf dem eine grünbeschirmte Lampe brannte. Es gab kein anderes Licht in dem großen Arbeitszimmer voller Bücher. Das Fenster neben dem Schreibtisch ging auf einen verwilderten Garten hinaus, in dem sich kreischend zwei Katzen jagten. Ross wandte den Kopf. Die Scheibe spiegelte sein Gesicht, denn draußen war es dunkel geworden. Schnell sah er wieder weg. Dabei glitt sein Blick über den mit Manuskripten bedeckten Schreibtisch und blieb auf einer kleinen, schrägstehenden Silberplatte haften, die von einer Stütze gehalten wurde. Worte waren darauf eingraviert. Lies das noch einmal, dachte er. Es war deine glücklichste Zeit.

Die Welt, in der wir leben, läßt sich als das Ergebnis von Wirrwarr und Zufall verstehen; wenn sie jedoch das Ergebnis einer Absicht ist, muß es die Absicht eines Teufels gewesen sein. Ich halte den Zufall für eine weniger peinliche und zugleich plausiblere Erklärung.

BERTRAND RUSSELL

Darunter las er die handschriftliche Gravur:

Für Daniel zum ersten Jahrestag in großer Liebe

SIBYLLE

Wien, 17. November 1971

So, sagte er zu sich selber, nun hast du noch einmal an sie gedacht. Nun mach weiter! Aus einem kleinen Schraubdeckelglas ließ er aufs neue weiße Kapseln in die hohle rechte Hand fallen. Er war Linkshänder. Alles, was er brauchte, hatte er zum Schreibtisch getragen: ein Glas, eine Flasche Whisky, Eiswürfel in einem kleinen silbernen Kübel, mehrere belegte Brote auf einem Teller und vier Packungen Nembutal – nun geöffnet, die Schraubdeckelgläser herausgenommen.

Es war ganz einfach gewesen, sich das Schlafmittel zu verschaffen. Er hatte wegen einer schweren Erkältung im Dezember des vergangenen Jahres einen Arzt in dem weit entfernten Stadtteil Eschersheim aufgesucht, ein kleines Ablenkungsmanöver inszeniert und im günstigsten Augenblick einen Block mit Rezepten gestohlen. Sie waren vorgestempelt gewesen. Er hatte sie nur ausfüllen müssen. Danach war er in vier verschiedene Apotheken gegangen. Eine Packung enthielt fünfundzwanzig Kapseln, und er brauchte hundert. Er hatte sich im Sender genau erkundigt – bei einem Arzt, der wissenschaftlicher Berater des Gesundheitsmagazins SPRECHSTUNDE war. Eine Kapsel Nembutal enthielt hundert Milligramm Phenobarbitat. Die höchste noch vertretbare Tagesdosis waren achthundert Milligramm, also acht Kapseln. Zehn Gramm Phenobarbitat brachten einen Menschen garantiert um. Das waren hundert Kapseln. Ross spülte eine vierte Handvoll mit Whisky hinunter und aß danach die zweite Hälfte des Schinkenbrots. Draußen schrien die Katzen.

Er war schon im Dezember so verzweifelt gewesen, daß für ihn feststand: Er mußte sich umbringen. Er mußte es einfach tun. Ein Mann kann nicht weiterleben, sagte er sich, wenn alles mit ihm zu Ende geht. Er hatte es schon im Dezember tun wollen, doch dann war sein ältester Freund gestorben. Im Berliner Martin-Luther-Krankenhaus. Er war sofort hingeflogen. Eine Nachtschwester hatte ihm die letzten Worte seines Freundes Fritz mitgeteilt. »Er hat gesagt: ›Zeit, daß ich abhau’.‹ Dann hat er die Augen zugemacht und war tot …«

Zeit, daß ich abhau’.

Die Worte hatten sich bis zur Besessenheit bei Daniel Ross festgesetzt. Zeit, daß er abhaute. Es war Zeit für ihn, höchste Zeit. Er mußte an den Satz denken, viele Male jeden Tag. Nachts träumte er von Fritz und hörte ihn die Worte. sprechen. Er hörte ihn auch ein paarmal am Tag sprechen, im Wachen. Ganz laut. So weit hatte ihn das verfluchte Nobilam schon gebracht. Wie weit ihn das verfluchte Nobilam sonst noch gebracht hatte, daran durfte er gar nicht denken.

Dann wollte er es gleich nach dem Begräbnis seines Freundes tun, noch in Berlin, aber da bekam er das Angebot einer unabhängigen Fernsehproduktionsgesellschaft. Es dauerte drei Wochen, und die Sache zerschlug sich. Anschließend sah es so aus, als würde es ihm mit verzweifelter Anstrengung gelingen, von dem Höllenzeug loszukommen, und er war drei Tage lang außer sich vor Seligkeit, bis ihn dann der Rückschlag traf. Was für ein Rückschlag! Mit scheußlichsten Entzugserscheinungen. Es gab keinen Weg mehr für ihn, keinen mehr, nein. Vergangenen Donnerstag hatte er schließlich einen neuen Rekord aufgestellt. Dreizehn Tabletten Nobilam waren nötig gewesen, um ihm halbwegs die Angst zu nehmen, um ihn einigermaßen ruhig werden zu lassen. Da war der Ekel vor sich selbst dann übergroß geworden, und er beschloß, am Samstag Schluß zu machen. Er hatte nie Selbstmitleid empfunden, wie das üblicherweise der Fall ist. Nein, kein Selbstmitleid. Nur Ekel, Wut und Abscheu. Das half ihm nun, half ihm enorm.

Wieder schluckte er eine Handvoll Kapseln, wieder trank er Whisky, wieder aß er. Ross fluchte, während er kaute. Scheißspiel mit diesen Milligrammkapseln. Es waren immer noch eine Menge da. Er mußte sie sich alle in den Rachen schmeißen. Natürlich erhöhte der Whisky die Wirkung. Na ja, verdammt, dachte er, darum trinkst du ihn ja, Kapselschmeißer. Du darfst kein Risiko eingehen. Schräg gegenüber sind die Universitätskliniken. Und fünfhundert Meter entfernt, in der Heinrich-Hoffmann-Straße, ist die Psychiatrie. Kein Risiko also. Und kein Fluchen, kein Theater, ja? Marilyn hat es auch geschafft mit Schmeißen. Oder, wie glaubst du, ist die abgehauen? Also weiter. Hurtig, hurtig. Er schluckte eben den letzten Bissen des zweiten Brotes, als das Telefon läutete. Bereits benommen, nahm er mechanisch ab, bereits so benommen, daß er nicht über die Störung verärgert war.

»Ja?«

»Wer spricht dort?«

Eine Frauenstimme. Mit Akzent. Was für einem Akzent? Scheißegal, mit was für einem Akzent, dachte er. »Wen wollen Sie denn sprechen?«

»Herrn Daniel Ross.«

Er gab keine Antwort.

»Hallo!«

»Ja.«

»Sind Sie Herr Daniel Ross?«

»Ja. Was wünschen Sie?« Er bemerkte, daß er leicht lallend sprach, und das erfüllte ihn mit Genugtuung. Es geht los, dachte er. Er trank einen großen Schluck.

»Mein Name ist Mercedes Olivera. Ich muß Sie dringend sprechen.«

Ross stellte das Glas hart auf den Schreibtisch. Jetzt war er wütend. »Haha.«

»Bitte?«

»Großer Spaß. Wer sind Sie? Jemand vom Sender? Mit wem sind Sie zusammen? Wer sind die anderen Spaßmacher? Wer sind die Arschlöcher?« schrie er unbeherrscht und erschrak. Nicht. Nicht schreien. Die Person hat dann das Gefühl, hier ist etwas nicht in Ordnung. Kommt her. Schickt wen her. Die Polizei. Plötzlich wurde ihm widerlich heiß, Schweiß brach aus. Das kannte er. Kam vom Nobilam. Er hatte seit langem Schweißausbrüche, sehr oft nachts, im Schlaf, auch im Sender, bei der Arbeit. Ganz plötzlich. Der Schweiß rann ihm von der Stirn in die Augen. Das brannte. Über den Rücken rann auch Schweiß, er spürte es unter der Pyjamajacke. Ross trug einen Pyjama, er hatte sich für das Bett fertig gemacht, bevor er mit dem Kapselschlucken anfing. Er sagte: »Entschuldigen Sie. Tut mir leid. Nerven verloren. Sie suchen einen anderen Ross. Ross ist ein häufiger Name.«

»Sie wohnen in der Sandhöfer Allee?« Die Stimme klang sehr bestimmt.

»Ja.«

»Dann sind Sie es!«

Das wird ein Idiotengespräch, dachte er. Und wenn da noch ein paar im Sender hocken und mich auf den Arm nehmen? Nein, dachte er. Nein. Die sind alle froh, daß sie nichts mehr zu tun haben mit mir. Nicht anstreifen an mich. Ich habe die Pest. Die Pest habe ich. Aber wer ist dann die Frau? Wo ist die Frau? »Wo sind Sie?«

»In Kloten.«

»Wo?«

»Flughafen von Zürich. Heißt doch Kloten – oder?«

Plötzlich war da leise Musik. Langsame, altmodische, wehmütige Musik. Eine dunkle Frauenstimme sang: »… wenn ich mir was wünschen dürfte …« Sibylle. Unser Lied, dachte er. Wie kommt dieses Lied in die Leitung?

Jetzt zitterte er vor Schreck am ganzen Körper. Was soll das, dachte er entsetzt. Höre ich wieder eine Stimme, so wie ich die Stimme von Fritz gehört habe? Und Musik dazu? Unser Lied? Und eine zweite Stimme? Ist es das verfluchte Nobilam? Gehen die Erscheinungen wieder los? Fängt ein Medikamentendelirium an? Jetzt? Am Samstagabend? Mit all dem Nembutal im Bauch? Er geriet in Panik, sprang auf, schrie: »Sind Sie wirklich …?«

»Ich verstehe nicht.«

»… käm’ ich in Verlegenheit …« sang die Frauenstimme, rauschend setzte ein Orchester ein.

Oh, bitte, nein. Nein, nein, nein, dachte er verzweifelt. Er biß sich auf die Unterlippe. Er setzte sich. Auf einmal wurde ihm übel. So etwas kam häufig vor, ganz plötzlich. Das verdankte er auch dem verfluchten Nobilam. Aber ohne das verfluchte Nobilam kann ich nicht leben, dachte er. Immer schlimmer. Das wird immer schlimmer. Verrückt! Ich will ja gar nicht leben! Sterben will ich! Er trank, schenkte Whisky nach und trank wieder. Die Flasche stieß gegen das Glas, so sehr bebte seine Hand.

»Hallo!« Jetzt war die Frauenstimme unruhig. »Hallo! Was ist mit Ihnen? Sind Sie krank? Fehlt Ihnen etwas, Herr Ross?«

»Mir … geht … es … ausgezeichnet … Sind Sie wirklich …« Er schluckte. Die Übelkeit schwand.

»Was soll das heißen: Sind Sie wirklich?«

»Sind Sie wirklich … in … Kloten?« Nimm dich zusammen, Mensch. Scheißkerl. Neurotiker. Hysteriker, verfluchter. Zusammennehmen sollst du dich.

»Das sage ich doch! Ich spreche aus einer Bar. Der Mixer war so freundlich …«

»… was ich mir denn wünschen sollte …«

Das halte ich nicht aus. Das halte ich nicht aus. Er rief: »Ist da Musik?«

»Ja. Der Mixer hat eine Kassette in das Stereogerät gelegt. Sie können die Musik hören, wie?«

»Ah …« Große Erleichterung erfüllte ihn. Seine Stimmung wechselte von einer Sekunde zur anderen. Es gab diese Frau. Es gab ja auch »Wenn ich mir was wünschen dürfte«. Alles war wirklich. Kein Delirium würde ihm den Tod versauen. Aber weshalb wollte diese Frau ihn sprechen?

»… eine schlimme oder gute Zeit …« Die dunkle Frauenstimme. Das Orchester. Ein Klavier. Sibylle. Damals in Wien, als wir so jung und glücklich waren. Aber jetzt? Ausgerechnet jetzt? Ach, Sibylle …

»Ich bin gerade gelandet, Herr Ross.«

»Von wo kommen Sie?«

»Aus Buenos Aires.«

»… wenn ich mir was wünschen dürfte …« Die Dietrich war das, die sang! Die Dietrich. Marlene Dietrich.

»Woher?«

»Aus Buenos Aires.«

»… möcht’ ich etwas glücklich sein …«

»Es ist von größter Wichtigkeit. Ich muß Sie gleich sprechen.«

»… denn wenn ich gar zu glücklich wär’ …«

»Ich kenne Sie nicht!«

»… hätt’ ich Heimweh nach dem Traurigsein«, sang Marlene Dietrich. Das Orchester wurde lauter und brachte das Lied zu Ende. Andere Musik erklang.

»Aber ich kenne Sie!«

Das hielt kein Mensch aus. Das war unerträglich. Er ließ den Hörer fallen. Der Hörer fiel in seinen Schoß. Er legte ihn auf den Apparat und trank wieder, lange. Er keuchte ein wenig. Plötzlich ekelte er sich vor dem feuchten Pyjama. Unsicher stand er auf und ging durch das große, dunkle Arbeitszimmer mit den Bücherregalen ins Schlafzimmer, wo er eine der beiden Lampen links und rechts vom Bett anknipste. Aus dem Wandschrank holte er einen Schlafanzug, streifte den anderen ab, trat ins Badezimmer, rieb den Körper trocken und mit Eau de Cologne ein und zog den neuen Pyjama an. Wie eine mächtige Woge schlug Müdigkeit über ihm zusammen. Ins Bett. Jetzt ins Bett. Er hatte schon die Decke zurückgezogen, da fiel ihm etwas ein. Die Kapseln! Er mußte alle nehmen, auch die letzten. Und die Tür absperren! Er taumelte nun bereits auf dem Weg zurück zum Schreibtisch. Als er die letzten Kapseln mit Whisky geschluckt hatte, begann wieder das Telefon zu läuten. Jetzt schwer benommen, hob er ab und hörte sofort wieder ihre Stimme: »Hier ist …«

»Ja, ich weiß. Gehen Sie zum Teufel!« Er hatte genug. Ins Bett. Er wollte ins Bett. Schlafen. Tod. Frieden.

»Herr Ross, ich flehe Sie an!«

»Ja, ja«, sagte er und dachte: Die Dietrich singt nicht mehr. Diese andere Musik kenne ich nicht.

»Wir müssen eine Reise zusammen machen.«

»Nix«, sagte er.

»Was?«

»Nix. Ich reise gerade ab.«

»Aber … aber … Das dürfen Sie nicht!« schrie sie. Jetzt schrie sie.

Er lachte böse.

»Lachen Sie nicht! Sie wissen ja nicht, worum es geht!«

»Okay, okay«, sagte er und legte den Hörer auf.

Danach bückte er sich und stöpselte den Apparat aus. So. Nun konnte die Verrückte nicht mehr anrufen. Nun konnte niemand mehr anrufen. Er ging in die Diele, drehte das Sicherheitsschloß der Eingangstür zu, sperrte ab und legte die Kette vor. Aus dem Schlafzimmer fiel eine Lichtbahn in den Arbeitsraum. Ross knipste die Schreibtischlampe aus und taumelte zurück in das Schlafzimmer. Auch hier gingen die Fenster auf den Garten hinaus. Der Kater und die brünstige Katze schrien noch immer. Ross mußte ins Badezimmer. Den mysteriösen Anruf jener Frau hatte er längst vergessen. Er war jetzt sehr betrunken und sehr schläfrig. Plötzlich fielen ihm die Sätze Bertrand Russells auf der kleinen Silberplatte ein, und er dachte an den Teufel, der diese Welt aus Wirrwarr und Zufall mit Absicht geschaffen hatte. Er lächelte. Jetzt wirst du sterben, sagte er zu sich, und eine große Glückseligkeit überkam ihn. Er wurde mit jeder Minute ruhiger. Schlafen, dachte er. Schlafen und nie mehr aufwachen müssen. Er lächelte stärker. Es gibt kein Leben nach dem Tod, und es gibt keinen Gott. Das Argument, dachte er, das die, die an ihn glauben, anführen, nämlich das der ersten Ursache, ist Unfug. Sie behaupten, daß alles, was auf dieser Welt geschieht, eine Ursache hat und daß man zu einer ersten Ursache kommen muß, sofern man die Ketten aller Wirkungen und Ursachen immer weiter zurückverfolgt. Und diese erste Ursache nennen sie Gott. Wenn aber alles eine Ursache haben muß, dann muß auch Gott eine Ursache haben. Und wenn es etwas gibt, das keine Ursache hat, dann kann das ebensogut Gott wie die Welt sein. Wer, verflucht, dachte er, vermag mir einen Grund zu nennen, warum die Welt nicht auch ohne Ursache begonnen haben könnte oder warum sie nicht schon immer bestanden hat? Wer sagt, daß die Welt einen Anfang gehabt haben muß? Warum? Diese fixe Idee, daß alles einen Anfang gehabt haben muß, ist nur eine Folge unserer lächerlich beschränkten Vorstellungskraft.

Er verließ das Badezimmer, legte sich ins Bett und knipste das Licht aus. So hat also doch noch alles ein gutes Ende gefunden, dachte er. Im Garten kreischten die Katzen nun sehr laut, und aus einem von den Lichtern der großen Stadt milchig erhellten Himmel sanken Schneeflocken herab auf die schmutzige Erde. Wenige Minuten später war er eingeschlafen. Er träumte von dem Teufel, der die Welt erschaffen hatte.

2

Wir werden unser Recht natürlich niemals mit Gewalt durchsetzen, aber wir bestehen auf ihm, und wir halten es für selbstverständlich, daß dieses Recht auf Heimat und die Wiedervereinigung unseres Vaterlands in Frieden und Freiheit für alle wirklich deutsch denkenden Politiker eine Conditio sine qua non ist – und für alle anständigen ausländischen Politiker auch. Deshalb reagieren wir auf die seinerzeitige sogenannte Ostpolitik des Herrn Brandt und die skandalöse Anerkennung der Oder-Neisse-Linie immer weiter mit leidenschaftlicher Empörung. Wir haben diese Linie nicht anerkannt, und wir werden es niemals tun!«

Diese Worte sagte am Dienstag, dem 8. November 1983, im Studio III des Senders Frankfurt ein Mann namens Siegfried Woitech, von Beruf Stellvertretender Vorsitzender der Vereinigten Vertriebenenverbände Deutschlands e.V.

Daniel Ross, ein schlanker, fast hagerer Mann von sechsundvierzig Jahren mit dichtem, bereits völlig weißem Haar, schwermütigen grauen Augen und einem großen Mund in dem schmalen Gesicht, saß dem Funktionär an einem Tisch gegenüber. Die alle vierzehn Tage ausgestrahlte Sendung FOCUS, deren Redakteur und Moderator Ross seit sechs Jahren war, lief bereits fünf Minuten. Dieses bei den Zuschauern wegen seiner absoluten Natürlichkeit außerordentlich beliebte Magazin – es gab nur Interviews zu aktuellen Themen, und alle Diskussionen wurden live, ohne vorherige Probe gesendet – beschäftigte sich ähnlich wie das Magazin KENNZEICHEN D des Senders Freies Berlin mit Ereignissen, welche beide deutsche Staaten betrafen. In der dreiviertel Stunde, die FOCUS zwischen 21 Uhr und 21 Uhr 45 lief, gab es stets mehr Beiträge, und Ross sprach stets mit mehreren Menschen. Siegfried Woitech war eingeladen worden, weil sein Verband in der Dortmunder Westfalenhalle am 4. November eine Großkundgebung veranstaltet hatte, bei welcher es zu Tumulten und schweren Schlägereien zwischen sehr unterschiedlich orientierten Zuhörern gekommen war. Zwei Hundertschaften der Polizei hatten eingreifen müssen, es hatte elf Schwerverletzte und eine große Zahl Leichtverletzter gegeben. Eine Reihe von Personen war vorübergehend festgenommen worden. Zeitungen, Funk und Fernsehen berichteten daraufhin je nach Einstellung von »kommunistischen Terrortrupps« beziehungsweise von »rechtsradikalen Exzessen gefährlichster Art«. Siegfried Woitech war Daniel Ross’ erster Gast in der FOCUS-Sendung vom 8. November 1983. Drei elektronische Kameras nahmen das Gespräch auf. Ross hatte Woitech vor Beginn der Sendung in den Regieraum geführt, der einen Stock höher lag und durch dessen sehr großes Fenster man in das Studio hinabblicken konnte. Er hatte ihn mit dem Regisseur, der Bildmischerin und dem Produktions-Ingenieur bekannt gemacht, und der Funktionär wußte nun, daß Bildmischerinnen nach Weisung des Regisseurs ihre Auswahl unter den Aufnahmen trafen, welche die Kameraleute ihnen mit ihren schweren Apparaten auf die Monitorschirme im Regieraum lieferten. Alle Monitoren befanden sich über dem großen Regiepult. Die Tonqualität wurde in einem anderen Raum kontrolliert.

»Wenn bei der Kamera, die auf Sie gerichtet ist, ein Rotlicht zu blinken beginnt, dann ist Ihr Bild ausgewählt und geht direkt in den Äther hinaus. Sie sind dann auf allen Fernsehschirmen, auf denen FOCUS läuft, zu sehen«, hatte Ross dem Funktionär Woitech erklärt. Nun, da dieser seine Grundsatzerklärung und seine leidenschaftliche Empörung über die Ostpolitik Willy Brandts kundtat, blinkte das Rotlicht der Kamera, welche ihm gegenüber auf einer massigen Säule angebracht war. Die Vorstellung, daß viele Hunderttausende von Menschen im Land ihn sozusagen bei sich in der Stube hatten, brachte Woitech in einen leicht rauschartigen Zustand.

Da das Lämpchen der Kamera vor ihm noch immer zuckte, fügte er hinzu: »Herr Brandt war während des Krieges nicht hier. Wir wissen nicht, was er draußen gemacht hat. Wir waren hier. Wir wissen, was wir hier drinnen gemacht haben. Für meine Freunde und mich jedenfalls sind dies« – hier hob er die Stimme und den runden Kopf – »noch immer heilige Worte …« Er räusperte sich, blickte ernst direkt in das Objektiv der auf ihn gerichteten Kamera, und man sah, wie seine Augen feucht wurden. »Ich hab’ mich ergeben mit Herz und mit Hand dir, Land voll Lieb und Leben, mein teures Vaterland!«

Während dieser längeren Ausführung, bei der nur Woitech im Bild war, hatte eine Maskenbildnerin Daniel Ross’ Gesicht mit der aufweichenden Schminke frisch abgetupft und besorgt festgestellt, daß der Moderator einen heftigen Schweißausbruch hatte. Tropfen perlten ihm vom Kopf in den Nacken und in den Hemdkragen. Ross’ Lippen bebten. Seine Finger zitterten, er verschränkte die Hände über dem Knie.

»Was ist los?« flüsterte die Maskenbildnerin erschrocken. Der Moderator war bei allen beliebt und geschätzt.

Auf die Frage der jungen Frau schüttelte er nur den Kopf.

»Alles in Ordnung?«

Er nickte und machte ein Zeichen, ihn allein zu lassen. Die Maskenbildnerin verschwand hinter der Studiokulisse. Zu den dort stehenden Studioarbeitern und zwei weiteren Gesprächspartnern von Ross, die hier warteten, sagte sie besorgt: »Der hat was. Sollen wir nicht einen Arzt …«

»Quatsch«, sagte ein Arbeiter. »Das ist dem doch schon ein paarmal passiert, Olga. Schluckt dauernd Pillen, weißt doch, vor jedem FOCUS. Die Pillen sind’s. Der braucht keinen Arzt.«

In der Tat hatte Ross schon solche Schweißausbrüche während einer Sendung gehabt, und sie waren, das sah der Arbeiter ganz richtig, auf eine größere Menge des Psychopharmakons Nobilam zurückzuführen, das Ross seit zwölf Jahren regelmäßig jeden Morgen in zu hoher Dosierung einnahm. Vor jeder FOCUS-Sendung und auch sonst bei allen Gelegenheiten, die große Konzentration und Anspannung erforderten, schluckte er eine zusätzliche Ration. Heute abend indessen, und er bemerkte es mit größter Nervosität, wirkte das Mittel, das ihn stets beruhigte und sicher machte, verkehrt. Es regte ihn auf! Er fühlte den Schweiß am ganzen Körper, sein Herz klopfte rasend, und blinder Zorn über das, was Woitech da von sich gegeben hatte, erfüllte ihn. Zuletzt hatte der seinem Poem noch die Worte »Armes, geteiltes Vaterland!« hinzugefügt.

Ross neigte sich vor. Auf der Stirn standen schon wieder einzelne Schweißtropfen. In seinem Gesicht zuckte es.

»Ajajajaj«, sagte der Regisseur oben in der Kabine. Er bog das Mikrofon, das vor ihm im Pult steckte, zu sich und sagte: »Zwo, Charley, geh ganz groß an Daniel ran!«

Der Mann hinter der Kamera 2 trug – wie seine Kollegen – Kopfhörer. Gleich darauf erschien Ross’ Gesicht bildfüllend auf einem Monitorschirm.

»Zwei«, sagte der Regisseur zu der Bildmischerin. Sie nickte, neigte sich über das Pult mit den vielen Reglern, Lämpchen und Schaltern, und sofort darauf begann das Rotlicht auf Kamera 2 zu blinken.

Ross sagte sehr erregt: »Unser armes Vaterland, lieber Herr Woitech, ist deshalb geteilt, weil wir Deutsche unter einem Verbrecherregime, unter den größten Verbrechern der mir bekannten Geschichte, einen verbrecherischen Krieg, den größten der mir bekannten Geschichte, begonnen haben …«

»Hohoho!« sagte der Regisseur am Pult in der einen Stock höher gelegenen Kabine. Er hieß Kramsky und war einigermaßen betrunken. Das war er häufig. Sehr viele Mitarbeiter des Senders Frankfurt – und anderer Sender – waren sehr häufig einigermaßen betrunken.

»… einen Krieg«, fuhr Ross immer lauter, immer leidenschaftlicher fort, während er das Blut in seinem Körper pochen fühlte und das verfluchte Nobilam verkehrt wirkte, verkehrt, verkehrt, »in dem sechzig Millionen Menschen krepiert sind, darunter allein vier Komma acht Millionen Deutsche und zwanzig Millionen Russen … einen Krieg …«

»Einen Moment, bitte«, sagte der Funktionär sehr ruhig.

»Jetzt rede ich, Herr Woitech. Ich habe Sie auch reden lassen … einen Krieg, in dem große, alte und schöne Städte, darunter die unsere, in Schutt und Asche sanken …«

»Immer gib ihm!« sagte Kramsky erfreut, und in das Mikrofon: »Noch näher ran an Daniel, wenn’s geht, Charley!«

Charley unten im Studio hinter der Kamera 2 nickte. Ross’ Bild wurde übergroß auf dem Monitor. Das Rotlicht der Kamera 2 blinkte, blinkte, blinkte …

Ross geriet außer sich. »… einen Krieg, in dem blühende Länder, darunter unser armes Vaterland, total verwüstet wurden und wir den unglücklichen Bewohnern all dieser Länder nichts gelassen haben als ihre Augen zum Weinen, einen Krieg, in dem in Konzentrationslagern deutsche Menschen ihre deutschen Menschenbrüder und sechs Millionen Juden ermordeten … einen Krieg, in dem …«

Woitech schüttelte den Kopf. »Fangen auch Sie wieder mit diesem empörenden Unsinn an, Herr Ross! Ein deutscher Moderator im deutschen Fernsehen will unbedingt die deutsche Schuld beweisen, tck, tck, tck.«

»Schorsch«, sagte der betrunkene Regisseur Kramsky entzückt, »jetzt du, schnell! Und geh auch ganz groß ran an den Kerl!«

Die Bildmischerin, eine hübsche junge Frau in einem blauen Kittel, begann zu zittern. »Aufhören!« rief sie. »Schluß!«

»Scheiße, aufhören«, sagte Kramsky. »Wann passiert schon mal so was?« Er schlug der Bildmischerin, die einen Schalter umdrehen wollte, auf die Hand. »Wirst du das sein lassen, du Luder? Scher dich weg! Weg, habe ich gesagt!« Er stieß sie fort. Sie glitt von ihrem Sitz, kam ins Taumeln, fing sich und landete mit dem Rücken an der Kabinenwand, wo sie stehen blieb, beide Fäuste an den Mund gepreßt.

Unterdessen hatte Woitech – man hörte es in der Kabine über Lautsprecher – leise, fast mahnend, weitergesprochen: »Was reden Sie doch für unverantwortliches Zeug, Herr Ross! Weltbekannte und geachtete amerikanische und englische Historiker wie Toland und Irving haben in ihren Werken festgestellt, daß dieser Krieg uns aufgezwungen worden ist. Und hören Sie bloß auf mit Ihren Juden! Gewiß, es wurden welche getötet. Aber niemals sechs Millionen. Höchstens zwei. Die alte Lüge, damit sich auch noch unsere Urenkel Israel gegenüber schuldig fühlen und zahlen, zahlen, zahlen …« Er warf eine Hand auf. »Wie viele Deutsche sind von Russen, Polen und Tschechen von Haus und Hof vertrieben worden? Wie vielen hat man die Heimat genommen? Ich will es Ihnen sagen, Herr Ross: Zwölf Millionen! Jawohl, zwölf Millionen Vertriebene! Wie viele Deutsche sind umgekommen auf der Flucht, durch Vertreibung und Verschleppung? Fast drei Millionen! Und wie viele sind nach fünfundvierzig viehisch ermordet worden? Hunderttausende, viele Hunderttausende! Man soll doch endlich aufhören, unser Volk in den Dreck zu ziehen!«

Während Woitech sprach, versuchte die Maskenbildnerin wieder, Daniel Ross’ Gesicht zu restaurieren. Er war nicht im Bild. Sie verteilte mit einer Quaste Pancake und flehte flüsternd: »Bitte, bitte, lieber Herr Ross, lassen Sie das! Hören Sie auf! Sie machen sich unglücklich …«

Er schüttelte stumm und erbittert den Kopf.

»Der hat doch was!« rief die Bildmischerin oben in der Kabine. »Seht ihr denn nicht, wie elend es dem Daniel geht? Abschalten, abschalten!«

»Finde ich ja auch«, sagte der Produktions-Ingenieur, der in einer Ecke saß. »Kramsky, du kriegst Ärger, sage ich dir.«

»Und die Zeitungen morgen? Und der Skandal, Mensch? Glaubst du, das lass’ ich mir nehmen?«

»Du bist verrückt! Du fliegst! Die feuern dich!«

»Ich bin besoffen. Kennst du einen einzigen Schwanz, den sie schon gefeuert haben, weil er besoffen war? Noch näher ran an den Woitech, eins!«

Woitech hatte weitergesprochen. »Wer waren die wahren Verbrecher? Wer hat die polnischen Offiziere in Katyn ermordet? Wer hat Dresden zerstört, als es von Flüchtlingen verstopft war? Wer hat unsere Frauen und Töchter vergewaltigt? Wer hat Menschen an Scheunentore genagelt? Sie aus dem Fenster gestürzt? In die Flüsse geschmissen, aneinandergebunden? Sie totgeprügelt, totgetreten, totgequält? Diese asiatischen Horden …«

In der Regiekabine läutete das Telefon. Der Produktions-Ingenieur nahm ab und meldete sich. Eine laute Stimme schlug ihm aus dem Hörer entgegen. Erschrocken richtete er sich auf.

»Hier ist Colledo!« rief die Männerstimme. »Wer sind Sie?«

»Zettler. Produktions-Ingenieur, Herr Colledo.«

Aus dem Lautsprecher drang die Stimme von Ross unten im Studio. »Asiatische Horden … Da haben wir ja endlich wieder auch den schönen alten Ton! Und Sie wollen eine Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit, ein Mann wie Sie?«

»Wer ist Regisseur?«

»Kramsky.«

»Geben Sie ihn mir! Na, los, los, los!«

Der Produktions-Ingenieur reichte dem Regisseur den Hörer. »Da hast du jetzt die Scheiße«, sagte er. »Colledo.«

Der Regisseur meldete sich.

»Kramsky!« brüllte Conrad Colledo, Hauptabteilungsleiter für Politik und Zeitgeschehen des Senders. »Was ist los mit Ihnen? Wieder besoffen, was?«

»Ja, Herr Colledo …«

Währenddessen hatte Ross weitergeschrien. Schminke rann ihm nun mit dem Schweiß vom Gesicht über den Hals auf das Hemd. Von Zeit zu Zeit rang er nach Luft. »Wiedervereinigung! Hören Sie, wir haben drei Kriege in siebzig Jahren angefangen! Ein vereintes Deutschland ist viel zu gefährlich. Es muß geteilt bleiben. Das ist die Meinung der ganzen Welt.«

»Wieso läuft das immer noch?« ertönte Colledos Stimme aus dem Hörer.

»Ich habe … Wir sind … völlig außer uns … Wir … Entschuldigen Sie, Herr Colledo, entschuldigen Sie, bitte!«

»Abschalten, sage ich!« schrie Colledo.

»Nicht mal Sie, Herr Woitech, nicht mal Sie wollen die Wiedervereinigung, seien Sie doch ehrlich! Wie hoch ist denn Ihr Gehalt als …«

Ross’ Stimme brach ab. Die Monitoren in der Regiekabine flimmerten schwarz. Kramsky hatte endlich die Sendung unterbrochen. Durch die große Glasscheibe sah er, wie die drei Kameraleute, die Maskenbildnerin und die Studioarbeiter zu den beiden Männern am Tisch in der Dekoration eilten und sie zu beruhigen suchten. Auf den Monitoren erschien eine Schrift: STÖRUNG. Musik setzte ein.

»Gott sei Dank, ein normaler Mensch im Haus«, erklang Colledos Stimme aus dem Hörer. »Wer ist Abendsprecherin?«

»Die Ilse.«

»Ich rufe sie sofort an und sage ihr, was sie sagen soll. Sie kümmern sich um Ross und diesen Woitech. Der darf auf keinen Fall das Haus verlassen. Verstecken Sie ihn in einer Garderobe. Der Mann muß bewacht werden. Geben Sie ihm Sekt, Kaviar, was weiß ich … Auf keinen Fall dürfen Journalisten an ihn ran, bevor ich mit ihm gesprochen habe.«

»Alle Tore sind abgeschlossen, Herr Colledo.«

»Übers Telefon, meine ich, Sie besoffener Lump! Das haben Sie absichtlich gemacht, geben Sie es zu!«

»Herr Colledo, ich schwöre …«

»Jajaja. Keiner von Ihnen geht fort! Ich fahre sofort los. In dreißig Minuten bin ich im Sender.«

»Herrje …« Kramksy hatte durch die Scheibe ins Studio gesehen.

»Was heißt herrje?«

»Herrn Ross geht’s nicht gut. Zwei Studioarbeiter stützen ihn. Dem geht’s ganz mies, Herr Colledo.«

»Sie sollen ihn zum Studioarzt bringen!«

Kramsky stellte die Lautsprecherverbindung zum Atelier her und rief in das Mikrofon: »Bringt ihn zum Arzt!«

»Auf deine Eitzes hamwa jewartet!« schrie ein Arbeiter zurück.

»Sie«, tobte Colledo, »gehen sofort auch zum Arzt und blasen ins Röhrchen, Kramsky! Sofort, habe ich gesagt. Der Zettler auch! Haben Sie verstanden?« Die Verbindung war unterbrochen.

Die Bildmischerin schluchzte laut auf.

»Hör auf, blöde Kuh«, sagte Kramsky, und zu dem Produktions-Ingenieur: »Also, was ist, gehen wir?«

»Ich komme gleich nach.«

Kramsky verschwand. Die Tür fiel hinter ihm zu.

Der Produktions-Ingenieur bückte sich tief und zog eine Cognacflasche aus einer Bodenlade. Er entkorkte sie und trank in mächtigen Schlucken.

»Was machen Sie da?« rief die Bildmischerin entsetzt.

»Siehste doch. Ich besaufe mich. Muß auch besoffen sein. Wenn ich nicht besoffen bin, gibt’s keine Entschuldigung für mich dafür, daß ich nicht früher abgeschaltet habe.« Er hob die Flasche wieder. Dann sagte er: »Idioten, die wir sind.«

3

Kramsky und Zettler haben beide mehr als eineinhalb Promille«, sagte Conrad Colledo und ging in seinem großen Dienstzimmer schnell auf und ab. »Du überhaupt nichts. Es ist zum Heulen, Mensch. Warum hast du dich nicht auch besaufen können?«

Daniel Ross antwortete nicht.

Er saß in einem Stahlrohrsessel und starrte die Picasso-Lithographie an der Wand an. Sie zeigte einen Frauenkopf im Profil und zugleich von vorne. Die Frau hatte nur ein Auge.

Das große Verwaltungsgebäude war durch einen Gangtrakt mit den Aufnahmestudios verbunden. Der Sender Frankfurt befand sich nahe der Stadt Königstein im Taunus am Fuß des Großen Feldbergs, fünfundzwanzig Autominuten von Frankfurt entfernt.

»Wenn du betrunken gewesen wärst, würde gar nichts passieren. Du weißt doch, in den Anstalten wird derart ungeheuerlich gesoffen, daß man ein extrastarkes soziales Netz für Alkoholiker installiert hat. Niemand wird gefeuert, weil er blau ist, auch wenn er etwas ganz Übles anstellt. Schau dir den Juhnke an. Was der schon für Sendungen geschmissen hat! Und? Alle lieben ihn. Du mit deinen Scheißpillen. Jetzt haben wir die Katastrophe.«

Ross antwortete noch immer nicht.

Er war sehr blaß, und sein Gesicht glänzte von der Creme, mit welcher die Maskenbildnerin die Schminke abgerieben hatte. Es war ihr zuviel Creme auf die Haut geraten, und als sie den Überschuß mit einem Kleenextuch entfernen wollte, hatte Ross sie, bebend vor Unruhe, weggestoßen und war fortgelaufen. Schminke befleckte den weißen Kragen des Hemdes, den Ross geöffnet trug, die Krawatte herabgezerrt, die Jacke ausgezogen, weil ihm wieder heiß war. Unter den grauen Augen lagen dunkle Ringe, das weiße Haar glänzte im Licht der starken Deckenbeleuchtung.

Es war nach Mitternacht. Colledo hatte Stunden mit dem erbitterten Siegfried Woitech zugebracht und all seine Überredungskunst aufgeboten. Zwischendurch waren ihm die Blutalkoholwerte Kramskys und Zettlers mitgeteilt worden, und er hatte lautlos geflucht, als er auf dem Formular des Arztes den Namen seines alten Freundes Daniel Ross las und daneben eine durchgestrichene Null sah.

Dann hatte er sich wieder dem Funktionär zugewandt, dem in seiner Ehre zutiefst getroffenen aufrechten Demokraten – mit diesen Worten charakterisierte Woitech sich selber. Colledo war klar, daß er alles tun mußte, um ihn zu beruhigen. Kein vernünftiger Mensch legte sich mit den Vertriebenenverbänden an. Colledo hatte noch von zu Hause mit dem Intendanten, Herrn von Karrelis, telefoniert und über Daniel Ross’ Zukunft gesprochen. Dem übererregten Siegfried Woitech erklärte Colledo dann, der Intendant des Senders sichere zu, daß Ross morgen, Mittwoch, zur besten Sendezeit, im Anschluß an die 20-Uhr-Nachrichten, vor der Kamera darum bitten würde, ihm seine schwere Entgleisung zu verzeihen.

»Das wird er tatsächlich tun?« fragte der Funktionär ungläubig.

»Sie haben das Wort des Intendanten, Herr Woitech. Daniel Ross wird sich in aller Form entschuldigen und eine Ehrenerklärung für Sie und die Vertriebenenverbände abgeben. Damit ist Ihre Ehre dann aber doch wahrhaftig wiederhergestellt – oder?«

»Na ja, schon«, sagte Woitech. Er lachte plötzlich.

»Was gibt es?« fragte Colledo.

»Sie haben mir die ganze Zeit Sekt angeboten, Herr Colledo, und ich habe natürlich abgelehnt. Tja, wenn das so ist – wirklich, ich glaube, ich trinke doch ein Glas nach der ganzen Aufregung. Aber Sie müssen mit mir trinken!«

»Gerne.« Colledo nahm eine Flasche aus einem Kübel, den ein Mädchen vor Stunden zusammen mit zwei Gläsern aus der Kantine gebracht hatte. Colledo öffnete die Flasche, goß die Gläser halb voll und reichte eines davon dem Mann mit dem Rundkopf.

»Anstoßen!« rief Woitech.

Also stießen sie die Gläser aneinander und tranken, nachdem Woitech sein Glas zuvor noch hochgehoben und Colledo ernst in die Augen gesehen hatte, während er laut »Ihr Wohl!« wünschte.

Nach dem dritten Glas war er gerührt und feierlich. »Sie sind ein unerhört anständiger Mensch, Herr Colledo. Und Ihr Herr Intendant auch. Ich werde selbstverständlich meinen Kameraden sagen, wie Sie sich benommen, wie Sie durchgegriffen haben. Hut ab, Herr Colledo! Das ist schon sehr korrekt! Auch allen Journalisten werde ich das sagen. Es tut mir ja leid um den Herrn Ross, aber ein Mann, der kein Interview leiten kann, ist für so eine Sendung wirklich unmöglich. Wirklich, nicht?«

»Herr Ross ist ein sehr tüchtiger Mann, nur leider krank.«

»Was fehlt ihm denn?«

»Die Nerven, Herr Woitech.«

»Ja, dann. Ja, dann aber erst recht! Sie können doch nicht einen Nervenkranken hier rumtoben lassen!«

4

Diese letzten Sätze berichtete Conrad Colledo dann später in seinem Dienstzimmer Daniel Ross nicht. Alles andere schon. Ross saß reglos und hörte ohne Widerspruch zu. Colledo rannte noch immer hin und her.

»Würde es dir sehr viel ausmachen, dich hinzusetzen, Conny?« fragte Ross heiser.

»Entschuldige.«

»Entschuldige du. Ich habe wahnsinnige Kopfschmerzen.«

Colledo ließ sich in den Stahlrohrsessel hinter seinem Stahlrohrschreibtisch mit dicker Glasplatte fallen. Der sehr große Raum war modern eingerichtet und hatte vier Fenster, die man des Airconditionings wegen nicht öffnen konnte. Die vier Fenster waren ein Statussymbol. Sie zeigten an, daß Colledo eine sehr hohe Position innerhalb der Hierarchie des Senders bekleidete. Es gab Drei-, Zwei- und eine Menge Ein-Fenster-Angestellte. Das Büro des Intendanten hatte sechs Fenster und war riesenhaft.

»Du wirst dich also heute abend entschuldigen, Danny«, sagte Colledo leise. Es klang wie eine Bitte.

»Natürlich«, sagte Ross, ohne den Kopf zu heben. »Ich tue alles. Es tut mir auch wirklich leid.«

»Und daß du danach nicht mehr vor eine Kamera darfst, verstehst du auch.«

»Verstehe ich auch. Ich habe sehr an FOCUS gehangen. Es war meine Sendung. Ich habe sie aufgebaut. Sechs Jahre lang hat mir dank dir niemand auch nur ein einziges Mal reingeredet.«

»Ja, aber jetzt …«

»… ist Schluß. Klar. Völlig klar.« Ross fragte: »Und was geschieht mit mir?«

»Kinderstunde«, sagte Colledo erschöpft. Auch er zerrte seine Krawatte herunter und öffnete den Kragen.

»Was?«

»Natürlich nicht Kinderstunde!« Colledo schlug mit der Hand auf die Glasplatte. »Ich wollte damit sagen: etwas ähnlich Attraktives. Irgendeine absolut unwichtige Position in einer absolut unwichtigen Abteilung.«

»Es ist dir doch klar«, sagte Ross, während er den Freund endlich ansah, »daß ich mir das nicht leisten kann. Wegen der Kollegen in den anderen Sendern. Und aus Gründen der – verzeih das harte Wort – Selbstachtung. Ist dir das auch klar?«

»Natürlich.«

»Was geschieht also, wenn ich mich weigere, eine solche Position anzunehmen?«

»Dann mußt du kündigen. Schau mich nicht so an, Mensch!« schrie Colledo. »Verflucht, schau nicht so! Ich bin dein Freund! Einundzwanzig Jahre lang haben wir zusammen gearbeitet. Dir verdanke ich, daß ich auf diesem Sessel sitze. Du hast mich von der SÜDDEUTSCHEN weggeholt, als hier die Stelle frei wurde. Glaubst du, das kann ich je vergessen? Deine gottverdammten Tabletten! Mußt du die unbedingt nehmen? Kannst du denn ohne den Dreck nicht leben?«

»Nein«, sagte Ross. »Das kann ich nicht.«

»Verzeih!« sagte Colledo.

Danach schwiegen beide. Sie hörten die an- und wieder abschwellende Sirene einer Ambulanz.

»Wenn ich kündige, bekomme ich dann eine Abfindung?« fragte Ross endlich.

»Nein.«

»Und wenn ich mich nicht versetzen lasse und nicht kündige?«

»Ich habe das schon alles mit dem Intendanten besprochen. Du hast so lange prima gearbeitet, Danny. Der Sender wird dir kündigen. Dann kriegst du eine Abfindung. Aber raus mußt du. In deinem Zustand passiert das nächste Mal wieder so was. Herrgott, was für eine gemeine, dreckige Geschichte! Deine Tabletten! Deine Tablettenfresserei ist schuld an allem! Deine Karriere ruinierst du dir mit dem Zeug, deine Gesundheit, deine Arbeitskraft!«

»Das stimmt nicht«, sagte Ross. Es klang hochmütig. »Ich nehme das Zeug seit zwölf Jahren. Hast du je bemerkt, daß ich deshalb nicht anständig arbeiten konnte? Nie hast du es bemerkt! Ohne das Zeug könnte ich nicht arbeiten.«

»Weil du süchtig bist.«

»Ich bin nicht süchtig. Ich brauche nur mein Quantum. Es wird nicht mehr. Bleibt immer gleich. Was glaubst du, wie viele Menschen Tranquilizer nehmen? Woraus besteht denn unser Leben? Aus Nervosität, Angespanntheit, Angst, es nicht zu schaffen, unbestimmter Angst, Angst vor der nächsten Katastrophe. Angst! Angst! Angst! Muß man sich eben helfen, wenn man so veranlagt ist. Du, du bist nicht so veranlagt, sei froh! Viele saufen, du siehst es ja, das ganze Fernsehen geht unter in Schnaps. Andere nehmen Tranquilizer. Ich zum Beispiel.«

»Die Zustände, die du nennst, sind Teile unseres Lebens. Angst ist oft eine wichtige Sicherheitsvorkehrung. Angespanntheit kann die Leistungsfähigkeit erhöhen.«

»Und wenn du den Streß nicht mehr aushältst? Die Hetze? Die Angst? Ach was, das verstehst du ja doch nicht. Ich würde auch lieber saufen, das kannst du mir glauben. Jedermann wäre lieb zu mir. Und so besorgt. Saufen ist erlaubt, Pillen sind verboten.«

»Du kannst die Menschen nicht befreien, aber du kannst ihnen helfen, sich weniger schlecht zu fühlen«, sagte Colledo.

»Was heißt das?«

»Amerikanischer Werbetext für Ärzte. Habe ich gelesen, als ich das letzte Mal in New York war. Soll die Ärzte motivieren, Beruhigungsmittel zu verschreiben – das größte pharmazeutische Geschäft der Welt.«

Ross winkte fahrig ab. »Keine Diskussion, bitte. Ich entschuldige mich heute abend. Kündigen tue ich jetzt schon.« Er hatte in seiner Hosentasche gewühlt, nun zog er eine Packung Nobilam heraus und ein Blatt bedrucktes Papier. »Nur eines noch: Ich weiß jetzt, warum mir das gestern abend passiert ist. Kommt unter zehntausend Fällen einmal vor. Ausgerechnet mich mußte es erwischen.«

»Wovon redest du, verflucht nochmal?«

»Hier!« Ross hielt das Papier hoch. »Das ist ein Waschzettel. Liegt jedem Medikament bei. Auch dem da. Ja, schau es an! Nobilam heißt das Zeug, ohne das ich nicht arbeiten kann – und nicht leben. Schau es dir gut an!«

»Rede nicht so mit mir, Mensch!«

»Entschuldige. Tut mir leid. Wirklich. Paß auf, Conny. Nachdem … nachdem ich die Sendung geschmissen hatte, fiel mir ein, auf dem Waschzettel einmal etwas gelesen zu haben. Und da steht es! Da steht …« Ross fuhr mit einem Finger die Zeilen entlang. »Hier!« Er las vor: »›Auf die Möglichkeit einer paradoxen Reaktion, Erregung statt Sedierung‹ – verstehst du? Erregung statt Sedierung! – ›die auch bei vergleichbar sedativ wirkenden Medikamenten einsetzen kann, wird hingewiesen!‹« Ross schlug mit einer Hand auf den Zettel. »Erregung statt Sedierung! Das Zeug hat verkehrt gewirkt heute abend. Zwölf Jahre nehme ich es, und alles geht gut. Und dann passiert so was. Und natürlich prompt in der Sendung!«

»Danny! Ich bitte dich! Ich bin dein Freund. Ich kann nicht mitansehen, wie du verreckst an dem Zeug. Doch, sei ruhig, verreckst, habe ich gesagt, und das tust du. Jetzt, ohne Job, wird die Angst immer größer werden. Die Unruhe. Die Nervosität. Sei ruhig, unterbrich mich nicht! Denkst du, in unserer Branche hält einer die Schnauze? Was glaubst du, wie viele Kollegen schon wissen von deiner Tablettenfresserei? Die meisten, Danny, die meisten. Und die, die es noch nicht wissen, werden es jetzt erfahren. Laß mal erst die Jungs von der Revolverpresse anfangen! Warte, bis Du-weißt-schon-wer auftaucht! Es wird dir nach dem, was passiert ist, nicht möglich sein, einen anderen Job zu finden – in deinem Zustand. Du mußt, hörst du, du mußt ganz einfach eine Entziehungskur machen! Das ist das erste, was du machen mußt. Darum bitte ich dich. Ich flehe dich an, geh in eine Klinik, mach eine Entziehungskur, mir zuliebe, ja, Danny?«

»Nein«, sagte Ross und sah wieder zu Boden.

»Aber warum nicht? Warum nicht, Mensch?«

»Weil ich schon eine gemacht habe.«

»Du hast schon …«

»Ja.«

»Wann?«

»Vor zwölf Jahren.«

»Vor zwölf Jahren? Neunzehnhunderteinundsiebzig? Da hast du doch noch das Südosteuropa-Studio in Wien geleitet!«

»Ich habe die Kur in Wien gemacht. Deshalb weißt du nichts davon. Niemand im Haus weiß etwas davon. In Wien, ja. Psychiatrie der Universitätskliniken. Allgemeines Krankenhaus.«

»Aber … aber … Du sagst doch, du nimmst dieses Zeug seit zwölf Jahren. Ich versteh’ das nicht. Was haben sie dir denn da vor zwölf Jahren entzogen in Wien?«

»Oxazepam«, sagte Ross.

»Oxa …«

»Oxazepam. Ein anderes Mittel. Ein sehr gutes. Ich habe es nur ein einziges Jahr lang genommen. Viel zu viel. Von dem Oxazepam mußte ich wirklich runter. Das ging nicht mehr weiter. So was wie heute abend hätte damals jeden Tag passieren können.«

»Und da haben sie dir vor zwölf Jahren dann Nobilam gegeben anstelle von Oxazepam?«

»Ja«, sagte Ross. »Und vor dem Oxazepam habe ich sieben Jahre lang Valium genommen.«

Colledo flüsterte: »Und nach sieben Jahren Valium hast du schon eine Entziehungskur gemacht?«

»Ja. Auch in Wien. Auch Allgemeines Krankenhaus. Großartige Leute. Sie haben erkannt, daß ich mein verrücktes Leben ohne irgendein Mittel einfach nicht ertragen kann. Nicht ertragen kann! Deshalb haben sie versucht, mich stufenweise zu entziehen. Deshalb bekam ich also Nobilam. Was hast du, Conny? Conny, was ist los mit dir?«

Colledo war aufgestanden und an eines der nachtdunklen Fenster getreten. Sein Büro lag im achten Stock des Gebäudes. Er sah hinüber auf den grandiosen Lichterteppich von Frankfurt. Regen schlug gegen die Scheibe.

»Mein Gott«, sagte er erstickt, »was bist du für ein armer Hund.«

Wieder folgte Schweigen.

Dann sagte Colledo, auf die Millionen bunten Lichter der Stadt in der Ferne blickend: »Geh wieder nach Wien, Danny! Bitte! Geh wieder zu diesen Spezialisten! Mach wieder eine Kur!«

»Nein«, sagte Ross, und seine Stimme klang plötzlich hart. »Nein, ich gehe nicht nach Wien. Niemals.«

»Aber warum nicht? Warum nicht, Danny?«

»Weil dort die einzigen arbeiten, zu denen ich Vertrauen habe, die mich kennen, die wissen, was mit mir los ist.«

»Du meinst: Deshalb gehst du zu niemand anderem?«

»Ja.«

»Ich verstehe nicht. Aber warum dann nicht nach Wien? Zu deinen Freunden, zu dem Arzt, der dein Vertrauen hat, der dich so gut kennt. Warum nicht, Danny? Warum nicht?«

»Es ist kein Arzt«, sagte Ross, sehr leise. »Es ist eine Ärztin. Und ich … ich schäme mich zu sehr vor ihr.«

5

Da waren Wärme, goldenes Licht und Stille.

Da waren Wolken, silbern, gewaltig, phantastisch geformt.

Und da war keine Sorge mehr, keine Mühsal, keine Eile, keine Traurigkeit. Da war keine Angst mehr, nein, keine Angst.

Da war die rote Rose.

Er betrachtete sie glücklich und dachte: Die Rose bin ich. Mein Körper, in Erde gebettet, ist zerfallen. Ein Teil von ihm, seine organischen Bestandteile, haben sich verwandelt in Kohlensäure und Ammoniak und ausgebreitet über die ganze Welt. Die anorganischen Bestandteile, die verschiedenen Salze, sind eingedrungen in den Boden, in dem ich liege, und sie haben diese Rose zum Wachsen gebracht, diese wunderbare Rose. Ich bin eine Rose geworden. Eine Rose und auch eine Wolke, denn die Gase in meinem Körper sind zum Himmel aufgestiegen. Ich bin eine Wolke.

Es begann zu regnen, sanft und leicht. Ich bin der Regen, dachte er, ja, auch der Regen. Es gibt eine Weltenergie, deren Größe genau festgelegt ist. Nicht das kleinste Partikel dieser Energie darf jemals verlorengehen. Nur verwandeln darf sie sich. In andere Energie. In unendlich viele andere Energien. Wärme zum Beispiel. Die Energie, die meinen Körper verließ, als ich starb, ist Wärme geworden, Wärme, die ich spüre, goldenes Licht, das die Rose bescheint. Ich bin das Licht, dachte er. Ich bin die Wärme. Jeder Baum, jedes Blatt, jeder Stein enthält einen Teil von mir. Denn die Bestandteile meines Körpers sind nun überall, am Himmel und auf Erden. Ich bin die Erde. Ich bin der Fluß. Ich bin das Meer. Ich bin etwas von allem geworden, das es in dem unendlichen Weltall gibt. Ich bin das Weltall. Das Weltall, das immer da war, das niemals begonnen hat, das es nicht nötig hatte, jemals zu beginnen. Nichts bin ich mehr, nun bin ich alles. Und habe endlich Frieden.

Wie schön ist das, dachte er. Wie schön ist der Tod, wie schön die Ewigkeit. Ja, auch die Ewigkeit bin ich nun. Warum habe ich das nicht früher gewußt? Warum habe ich mir das früher nicht vorstellen können? Ich wollte, ich wäre sofort nach meiner Geburt gestorben. Nein, überlegte er, das ist ein falscher Gedanke. Ich durfte nicht gleich sterben. Ich mußte heranwachsen, damit mein Körper alle jene Bestandteile erhielt, die sich nun verwandelt haben. Ich habe leben müssen, um auf diese Weise universell sein zu dürfen: ein Teil von allem, was blüht und lebt und gedeiht, ja, was geschieht auf dieser Welt, in diesem Weltall, denn gewiß habe ich auch mit meinen Erlebnissen, den guten und den bösen, mit meinen Gedanken, mit meiner Arbeit Energie geschaffen und eingebracht in den Tod, auf daß diese Energie ein Teil der Weltenergie wird.

Und er sah wieder die Rose, und da waren Wärme, goldenes Licht und Stille.

Etwas Furchtbares geschah. Er wußte nicht, was. Aber die Stille wurde plötzlich gestört durch ein lautes, grauenvolles Durcheinander von abscheulichen Tönen, einen infernalischen Lärm, und da war kein goldenes Licht mehr, sondern Finsternis, oh, grauenvolle Finsternis, und da war keine Wärme mehr, sondern Kälte, schreckliche Kälte, die ihn erschauern ließ.

Schwerelos war er gewesen im Glück. Nun fühlte er plötzlich wieder seinen Körper. Sein Körper wurde hin und her gezerrt, hochgezogen, fallen gelassen. Immer mehr physische Empfindungen machten sich bemerkbar – Kopfschmerz, Gliederschmerz und Kälte, die Kälte, die große Kälte. Voll Entsetzen dachte er: Das ist nicht der Tod.

Im nächsten Moment schlug jemand ihm zweimal sehr heftig ins Gesicht, und eine Frauenstimme schrie: »Schlucken Sie!« Gleich darauf glaubte er, ersticken zu müssen. Seine Nase war verschlossen, schmerzhaft wurden ihre Flügel zusammengedrückt. Luft! Er brauchte Luft. Er hatte keine Luft gebraucht eben noch, nun brauchte er sie. Er empfand wieder Angst, elende Angst. Sein Körper, das fühlte er, wand sich, dann riß er den Mund auf, weit auf, um durch den Mund atmen zu können. Bevor er es konnte, floß heiße, höchst grauenvoll schmeckende Flüssigkeit in seine Kehle. Er wollte sie ausspeien, so entsetzlich schmeckte sie, aber statt dessen schluckte er. Es kam immer mehr von dieser bestialischen Jauche, und er schluckte, schluckte, denn er mußte doch atmen, atmen durch den offenen Mund. Er stöhnte. Das hielt er nicht aus. Das hielt niemand aus. Das war zu arg. Zu arg. Die Flüssigkeit hatte seinen Magen erreicht. Der revoltierte sofort. Die Flüssigkeit schoß wieder hoch. Er fühlte, wie er sich erbrach, erbrach mit größter Heftigkeit. Ekel schüttelte ihn. Er öffnete mühsam, so mühsam die Augen. Alles sah er durch Schleier und Schlieren. Sein Kopf schmerzte zum Zerspringen. Wo war er? In der Badewanne. Wie war er in die Badewanne gekommen? Über sich erblickte er eine Frau, die sich zu ihm herabbeugte. Sie schien nackt zu sein wie er. Warmes Wasser traf ihn. Diese Frau … diese Frau … Sie spülte ihn mit der Brause sauber.

Er saß, bemerkte er jetzt, mit dem Rücken gegen die Wannenwand gelehnt. Er holte Luft, tief Luft, jetzt war die Nase frei.

Gleich darauf war sie wieder verschlossen. Die Frau preßte die Flügel zusammen. Er riß den Mund auf. Im nächsten Augenblick schoß die heiße Jauche in seinen Hals, diese widerliche Jauche. Die Frau sagte etwas. Er verstand sie nicht. Er begann von neuem, sich zu übergeben. Das halte ich nicht aus, dachte er. Das ist zuviel. Das ertrage ich nicht. Tot! Tot! Ich will tot sein.

Ein furchtbarer Verdacht regte sich in ihm: Er sollte ins Leben zurückgeholt werden! In das elende, schmutzige Leben. Aus dem Weltall des Todes. Von jener nackten Frau mit den großen Brüsten, die sich jetzt wieder über ihn geneigt hatte, während die Brause alles fortspülte.

Rasselnd holte er Luft durch den Mund. Er weinte jetzt vor Wut und Hilflosigkeit. Wieder sagte die Frau etwas. Wieder verstand er sie nicht. Ohne Mitleid war sie. Ohne Mitleid drückte sie seine Nasenflügel zusammen, wieder mußte er den Mund aufreißen, wieder schoß die Jauche in seinen Hals, ließ ihn erbrechen, erbrechen.

Er fühlte sich entsetzlich schwach. Sein Herz klopfte rasend. Dann war die Qual wieder vorbei. Er konnte atmen. Warm floß das Wasser der Brause über seine Brust. Eine Hand berührte seine Hand. Es dauerte lange, bis er begriff: Die fremde Frau fühlte seinen Puls. Plötzlich war er allein. Sie hatte das Badezimmer verlassen. Sein Kopf glitt seitlich auf die kalten Kacheln des Wannenrandes. Er war so schwach, daß er die Augen nicht länger offenhalten konnte. Sein Schädel schmerzte zum Zerspringen. Die Rose, dachte er.

 

Dann war sie wieder da.

Sie packte ihn bei den Haaren und zog seinen Kopf zurück. Sie kniff seine Nasenflügel zusammen. Er riß den Mund auf. Die Tortur ging weiter. Sie goß ihm neue Jauche in den Hals. Er übergab sich. Sie brauste ihn sauber und sagte wieder etwas. Diesmal schrie sie. Sein ganzer Körper bebte nun. Vor seinen Augen drehten sich schwarze Schlieren und Ringe. Er hörte die junge Frau keuchen. Es mußte für sie eine große Anstrengung bedeuten, was sie tat. Sie hielt seinen Kopf, sie verhinderte, daß er in die Wanne hineinglitt. In der anderen Hand hielt sie ein Gefäß mit der widerwärtigen Flüssigkeit. Ja, sie keuchte vor Anstrengung. Aber sie gab erst auf, als er das Bewußtsein verlor.

 

Er kam zu sich, und sofort drückte sie ihm wieder die Nase zu. Es ging weiter. Er wurde immer schwächer. Sie goß ihm die Jauche in den Mund. Er übergab sich. Er verlor das Bewußtsein. Er kam wieder zu sich. Alles begann von neuem. Nach der ersten Sekunde der Ewigkeit war es dann so weit, daß er nur noch bittere Galle ausspie. Nun war eine Weile Ruhe. Dann goß die Frau warmes Wasser in seine Kehle. Auch das behielt er nicht. Dreimal warmes Wasser. Darauf fühlte er, wie sein Herz stehenblieb. Sie hat dich getötet, dachte er. Danke. Alles wurde schwarz um ihn. Die Stille kehrte wieder. Willkommen, Tod, dachte er.

 

Er schlug die Augen auf.

Jetzt sah er klar. Sie saß auf dem Bettrand. Er lag bis zum Hals zugedeckt. Sie war nun nicht mehr nackt. Sie trug einen fleischfarbenen Büstenhalter und einen fleischfarbenen Slip. Sie hatte glänzend schwarzes Haar und leuchtende blaue Augen. Ihre Haut war von der Sonne tief gebräunt.

»Wer sind Sie?« Er brachte die Worte kaum verständlich heraus.

»Nicht reden!«

»Wie sind Sie hier hereingekommen?«

Sie schüttelte nur den Kopf und legte einen Zeigefinger auf die vollen, schön geschwungenen Lippen.

»Muß ich jetzt leben?«

»Nicht reden!« sagte sie.

Alles wurde wieder schwarz.

 

Er erwachte. Sie saß an seinem Bett. Nun trug sie einen blauen Morgenmantel. Ihr Gesicht war bleich. Sie sah erschöpft aus. Die Lampe neben dem Bett brannte noch, aber es war Tag. Vor den Fenstern schneite es heftig. Sturm tobte und trieb Schneewehen vor sich her. Er hörte einen Fensterladen klappern.

»Hallo«, sagte sie.

Er antwortete nicht.

»Sie haben lange geschlafen. Dreizehn Stunden. Vierzehn. Es ist fast elf.« Sie hatte auf das Tischchen neben dem Bett gesehen. Dort stand ein elektrischer Musikwecker.

»Fast vierzehn Studen?« Sein Kopf schmerzte noch immer.

»Ja, Herr Ross.«

»Sie kennen meinen …« Er brach ab.

»Ich bin Mercedes Olivera.«

Er zuckte mit den Schultern. Sein Kopf schmerzte immer heftiger.

»Sie erinnern sich nicht?«

»Woran?«

»Ich habe angerufen. Gestern.«

Er sah sie stumm an.

»Aus Zürich. Vom Flughafen.«

»Oh …« Er stöhnte. Alles fiel ihm wieder ein.

»Jetzt erinnern Sie sich, ja?«

»Ja.«

»Sie wollten sich das Leben nehmen, Herr Ross. Warum?«

»Das geht Sie nichts an. Sie haben mich zurückgeholt. Warum?«

»Ich konnte Sie doch nicht sterben lassen, mein Gott!«

»Weshalb nicht?«

»Herr Ross, bitte!« Sie legte eine Hand an seine Wange.

»Nicht« sagte er.

»Was nicht?«

»Nehmen Sie die Hand fort! Ich mag das nicht.«

Sie zog die Hand zurück.

»Was geht es Sie an, wenn ich sterben will? Sie haben alles kaputtgemacht.«

»Sie sind noch sehr schwach, Herr Ross. Jeder Mensch geht mich etwas an, der im Sterben liegt.«

»Florence Nightingale«, sagte er. »Edle Schwester. Guter Mensch. Alles kaputtgemacht haben Sie.«

»Lassen Sie mich Ihren Puls fühlen!«

»Rühren Sie mich nicht an!« Zornig sagte er: »Ohne Sie hätte ich jetzt meinen Frieden. Gemein. Es ist gemein, was Sie getan haben.«

»Sie stehen vor dem wichtigsten Moment Ihres Lebens. Sie müssen leben!«

»Ich hasse Sie«, sagte er. Dann war er wieder eingeschlafen.

 

Als er erwachte, war es vor den Fenstern dunkel. Der Sturm heulte noch immer. Er peitschte Schnee gegen die Scheiben. Wieder saß die junge Frau an seinem Bett. Sie sah nun unendlich müde aus, aber sie lächelte.

»Na, Murmeltier?«

»Wie lange habe ich diesmal geschlafen?«

»Über sieben Stunden. Es ist sechs Uhr abends.«

Er versuchte sich aufzurichten, ächzte und fiel in das Kissen zurück.

»Was ist?«

»Ich muß ins Bad.«

Sie neigte sich vor. »Warten Sie, ich stütze Sie.«

»Ich kann allein gehen.«

»Nein, das können Sie nicht.« Ihr Gesicht war nun sehr nahe vor seinem. Der Morgenrock klaffte, er sah die großen, schönen Brüste in dem weit ausgeschnittenen Büstenhalter, aber er fühlte keine Begierde, er war viel zu schwach. Sie zog ihn an den Schultern hoch, zu sich empor. Einen Moment lang ruhte sein Kopf an ihrer Schulter. Er spürte den Duft von Parfum. »So«, sagte sie, »jetzt die Beine aus dem Bett! Langsam! Ihr Kreislauf!«

Folgsam ließ er langsam die Beine aus dem Bett gleiten.

Sie legte eine Hand um seine Schultern. »Ich führe Sie.«

»Nicht nötig …« Er stand auf. Wild drehte sich alles um ihn. »Doch, bitte«, sagte er. Dann bemerkte er, daß er nackt war. Schritt um Schritt führte sie ihn ins Badezimmer. Er ließ sich auf die Klosettbrille sinken. Immer noch stützte sie ihn.

»Kann ich Sie allein lassen?«

»Bleiben Sie lieber da! Mir ist sehr flau. Eine Zumutung, ich weiß. Verzeihen Sie!«

»Ich habe schon mal einen nackten Mann gesehen, Herr Ross. Auch in einer solchen Situation.«

Das Badezimmer war sauber. Er sagte: »In der Wanne haben Sie mir dieses Dreckszeug in den Mund geschüttet, um meinen Magen leerzukriegen, ja?«

»Ja, Herr Ross. Es war eine höllisch schwere Arbeit. Zuerst mußte ich Sie vom Bett hierher schleifen. Sie waren so schwer, daß ich Sie zweimal fallen ließ. Dann mußte ich mich ausziehen, weil mir zu heiß wurde. Und um meine Sachen zu schützen. Das Ärgste war, Sie über den Wannenrand zu kriegen. Und wieder heraus. Aber ich mußte es in der Wanne tun, weil ich doch Wasser brauchte. Während Sie schliefen, habe ich hier saubergemacht und gebadet.«

»Was für eine Konversation«, sagte er.

»Glauben Sie, Sie können jetzt etwas essen? Fleischbrühe?«

»Ich weiß nicht.«

»Sie müssen. Sie haben ein paar Flaschen Mineralwasser getrunken.«

»Wann?«

»Immer, wenn Sie kurz wach waren, gab ich es Ihnen.«

»Keine Ahnung.«

»Sie haben enorm viel Flüssigkeit verloren. Wir mußten sie ersetzen.«

»Ich habe enorm viel getrunken?«

»Merken Sie das nicht?« Sie sah ihn lächelnd an.

Er erwiderte das Lächeln mit zitternden Lippen. »Wie alt sind Sie?«

»Dreiunddreißig. Warum?«

»Ganz schön schamlos für dreiunddreißig.«

»Absolut schamlos. Gott, bin ich froh!«

»Worüber?«

»Daß es Ihnen schon wieder so viel besser geht.«

»Was haben Sie mit meinem Pyjama gemacht?«

»Ihnen ausgezogen. Ich konnte Sie doch nicht mit dem Pyjama in die Wanne …«

»Natürlich nicht.« Er stand auf. Seine Knie zitterten heftig. »Wenn Sie noch einmal so freundlich sein wollen?«

Sie stützte ihn auf dem Weg zurück zum Bett, und wieder roch er den Duft des Parfums und den Duft ihrer Haut.

»Was haben Sie da in mich hineingeschüttet?« fragte er, als er wieder lag.

»Alles mögliche. Als ich Sie sah …«

»Wie sind Sie hereingekommen?«

»Ich habe ein Küchenfenster eingeschlagen, vom Garten aus, und den Riegel geöffnet. Gott sei Dank wohnen Sie parterre! Natürlich habe ich zuerst geläutet – lange. Als Sie nicht aufmachten, bekam ich es mit der Angst. Sie hatten am Telefon eine so seltsame Stimme. Es wohnen Leute über Ihnen, nicht wahr?«

»Ein altes Ehepaar und ein Mann allein.«

»Ich hatte ein schlimmes Gefühl. Ich wollte keinesfalls Aufsehen erregen. Sonst wären die anderen Mieter mißtrauisch geworden. Sie hätten gewiß die Polizei gerufen – jedenfalls bestand die große Gefahr –, und die hätte Ihre Wohnungstür aufgebrochen. Und dann wären Sie auf der Psychiatrie gelandet. Dorthin werden Selbstmörder doch gebracht, nicht wahr?«

»Sie ist ganz in der Nähe.«

»Wer?«

»Die Psychiatrie. Keinen halben Kilometer entfernt.«

»Sehen Sie! Natürlich hätte man Sie dortbehalten. Wochenlang. Und das ist einfach unmöglich.«

»Warum?«

»Ihr Vater erwartet Sie.«

Er schluckte schwer. Er starrte sie an. Er versuchte zu sprechen. Der Versuch mißlang. Zu groß war der Schock.

»Was haben Sie?«

»Mein Vater …«

»Ja?«

»Mein Vater ist im März neunzehnhundertfünfundvierzig gefallen.«

»Nein.«

»Was nein?«

»Nein, er ist nicht gefallen. Er lebt. In Buenos Aires. Er heißt jetzt Olivera und erwartet Sie. Deshalb bin ich nach Deutschland gekommen.«

»Warum?«

»Um Sie zu ihm zu bringen.«

»Sie können mich nicht zu ihm bringen. Was soll der Unsinn?« Er regte sich auf. »Mein Vater ist seit neununddreißig Jahren tot!«

»Er ist nicht tot. Er lebt. Er lebt. So glauben Sie mir doch! Bitte, bitte, bitte! Er lebt und will Ihnen etwas geben. Schnellstens.«

Das alles war zu viel für ihn. Er schwieg und starrte sie an.