Hurra, wir leben noch - Johannes Mario Simmel - E-Book

Hurra, wir leben noch E-Book

Johannes Mario Simmel

0,0
6,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Johannes Mario Simmel erzählt, wie in den Jahren zwischen 1946 und 1976 aus Jakob Formann einer der erfolgreichsten, bekanntesten und reichsten Männer der Zeit wird, den seine Riesengeschäfte mit seinen Superfirmen um den ganzen Erdball jagen. Die Frauen fliegen ihm zu, vor Freunden kann er sich kaum retten, aber nicht wenige sind und bleiben eigentlich seine Feinde. So verliert Jakob Formann denn auch zur Zeit der Ölkrise durch ein Komplott alles, was er geschaffen und gewonnen hat, und ist arm wie am Anfang. Jetzt endlich aber hat er die Zeit, zu seiner großen Liebe von 1946 zurückzukehren - zu der Frau, die er nie vergessen hat ... Hurra, wir leben noch von Johannes Mario Simmel: der Klassiker im eBook!

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Seitenzahl: 1173

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Johannes Mario Simmel

Hurra, wir leben noch

Roman

Knaur e-books

Inhaltsübersicht

Die großen Zeiten, die [...]Für meine Helena [...]Wir haben den größten [...]Prolog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel1946 1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. Kapitel67. Kapitel68. Kapitel69. Kapitel70. Kapitel71. Kapitel72. Kapitel73. Kapitel74. Kapitel75. Kapitel76. Kapitel77. Kapitel78. Kapitel79. Kapitel80. Kapitel81. Kapitel82. Kapitel83. Kapitel84. Kapitel85. Kapitel86. Kapitel87. Kapitel88. Kapitel89. Kapitel90. Kapitel91. Kapitel92. Kapitel93. Kapitel94. Kapitel95. Kapitel96. Kapitel97. Kapitel98. Kapitel99. Kapitel100. Kapitel101. Kapitel1956 1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel1966 1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. Kapitel46. Kapitel47. Kapitel48. Kapitel49. Kapitel50. Kapitel51. Kapitel52. Kapitel53. Kapitel54. Kapitel55. Kapitel56. Kapitel57. Kapitel58. Kapitel59. Kapitel60. Kapitel61. Kapitel62. Kapitel63. Kapitel64. Kapitel65. Kapitel66. KapitelEpilog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. KapitelDank

Die großen Zeiten, die heldischen Zeiten brauchen große, heldische Menschen. Das haben uns die Lehrer in der Schule erzählt, und ich mußte immer denken: Was für ein Unfug. Wenn Helden schon überhaupt nötig sind, dann doch bitte für kleine, schlimme und schwierige Zeiten!

Die letzten dreißig Jahre zum Beispiel waren doch für uns alle wahrhaftig kein Honiglecken – oder? Denken wir nur an den Beginn. Und an heute.

Da gibt es nun einen Mann, der heißt natürlich nicht Jakob Formann, wie er in diesem Buch heißt, sondern ganz anders – und das ist so einer, wie ich ihn mir immer gewünscht habe: ein Held für schlechtes Wetter!

Jakob freilich würde bloß verlegen werden, wenn ihm das jemand mitten ins Gesicht sagte. Denn er findet sich alles andere als heldisch.

Ich habe diesen Jakob Formann, der in Wirklichkeit ganz anders heißt, innig in mein Herz geschlossen. Und darum, und zum Trost und zur Belehrung von uns allen, habe ich seine Geschichte aufgeschrieben.

J. M. S.

Für meine Helena

Wir haben den größten Krieg aller Zeiten angefangen und ihn glorreich verloren. Besonders glorreich verloren haben ihn jene, die ihn gewannen. Danach ging es uns eine Zeitlang miserabel. Danach ging es uns eine Zeitlang derart gut, daß die Welt Bauklötze staunte. Das nannte man das »Wirtschaftswunder«. Dann war diese Periode zu Ende, und es begann uns wieder wunderbar zu gehen. Ohne Zweifel wird alles bald wieder okay sein.

Warum das so ist, hat mir keiner der vielen Experten, die ich befragte, besser erklären können als Kurt Tucholsky, den ich zwar leider nicht mehr befragen konnte, der aber 1930 folgendes geschrieben hat:

DER KREISLAUF DER NATUR

 

Mein Vater hat einen Cousin, dessen Stiefvater ist mit seinem Großzwilling verheiratet. Und dem sein Onkel pflegt zu sagen: »Mein liebes Kind, da sind nun also die Würmer. Die Würmer werden von den Fröschen gefressen; die Frösche von den Störchen; die Störche bringen die Kinder; und die Kinder haben Würmer. So schließt sich der Kreislauf der Natur.«

[home]

Prolog

Die glücklichen Zeiten der Menschheit sind die leeren Blätter im Buch der Geschichte.

 

LEOPOLD VON RANKE (1795–1886)

1

Und mit der Wildheit eines Stiers nach vorn.

Und mit aller Wollust dieser Erde wieder zurück.

Nach vorn. Zurück. Ach, welche Wonne, ach, welches Glück. Blödsinniger Werbespruch: ›Nur fliegen ist schöner‹. Das Schönste auf der Welt war und ist und wird zu allen Zeiten bleiben: das da! Und vor. Und zurück. Gibt natürlich viele unter uns, die dabei mächtig schwitzen, dachte er. Richtig tropfen. Den Süßen ins Gesicht. Zwischen die Brüste. Auf den Bauch. Haben mir Frauen erzählt.

Und wieder nach unten. Und wieder – langsam! – nach oben. Ich, dachte er, tropfe niemals. Glückspilz, der ich bin. Heiß wird mir natürlich. Ist ja auch eine Anstrengung. Komisch, so heiß wie diesmal ist mir noch nie gewesen. Man muß schon sagen: gottverflucht heiß.

Und stellte mit blankem Entsetzen fest: Über seine Nase rann ein Schweißtropfen! Fiel abwärts.

Drip!

Und ein zweiter.

Drip!!

Entsetzlich.

Drip!!!

Ein dritter.

Grauenvoll, dachte er. Bin ich heute so aufgeregt? Oder werde ich alt? Oder was ist sonst los? Ich halte ja immer die Augen geschlossen dabei. Konzentriert man sich besser. Aber jetzt will ich doch eines riskieren. (Ein Auge.) Er riskierte eines. Danach ward ihm von einem Sekundenbruchteil zum anderen nicht mehr siedend heiß, sondern eisig kalt.

Ach du liebe Güte!

Kein Wunder, daß ich so schwitze.

Unter mir brennt ein Feuerchen. Wenn der Tank von einem Rolls-Royce, Marke ›Silver Shadow‹, explodiert, und wenn dabei das Benzin in Brand gerät – eijeijei! Ich habe einen Rolls-Royce, Marke ›Silver Shadow‹. Ich habe noch vier andere Autos. Aber mit dem ›Silver Shadow‹ bin ich heute nacht gefahren.

Und vor. Und zurück. Und vor. Und …

Wieso eigentlich, bitte recht herzlich. Riskieren wir mal zwei Augen. Alle, die wir haben.

Ogottogottogottogott!

Er begann plötzlich zu bibbern wie Sülze. Wie sehr viel Sülze. Nur nicht runterfallen, dachte er verzweifelt, nur nicht runterfallen, mitten hinein in das hübsche Feuerchen. Er lag, wie er jetzt feststellte, in der Gabelung zweier Äste eines großen Baumes. Der Baum stand direkt am Abhang einer Schlucht. Links von ihm befand sich die Brücke einer Autobahn mit durchbrochenem Geländer.

Durchbrochenem …

Und jetzt, schlagartig, erinnerte er sich.

Jetzt weiß ich wieder alles! Ich bin auf der verschneiten, vereisten Bahn der vereisten, verschneiten Brücke ins Schleudern geraten. Bei einer Geschwindigkeit von hundertzwanzig Stundenkilometern. Und mit einem Blutalkoholspiegel von ohne jeden Zweifel über zwei Promille. Auf und nieder. Nieder und auf. Aber jetzt macht mir das überhaupt keinen Spaß mehr. Sondern sozusagen im Gegenteil.

Das da, zu meiner Linken, ist eine Brücke. Muß sie sein. Ich erinnere mich, daß ich vor der Brücke ein gelbes Schild mit der Aufschrift WEYARN gesehen habe. Um Gottes willen, das ist ja die Mangfallbrücke! Das Tal da unten, in dem mein Rolls-Royce brennt, schätze ich auf gut und gerne siebzig Meter Tiefe, und ich bin ein hervorragender Schätzer. Und das Vor und Zurück, das mich so entzückt hat vor fünf Minuten noch, kommt vom Vor und Zurück der Äste, in die ich geflogen bin. Offenbar aus dem Rolls geschleudert, als der das Gitter durchbrach. Massel muß der Mensch haben.

Hm.

Feuerchen … Feuerchen …

Mit einem hübschen großen Feuerchen hat doch alles angefangen vor vielen, vielen Jahren. Wo war dieses andere Feuerchen? Warum brannte es?

Er grübelte.

Es kam nicht das geringste dabei heraus.

Infolgedessen fing er an zu beten.

Lieber Gott, ich flehe Dich an, wenn es Dich gibt, errette mich! Bitte! Ich will dann auch an Dich glauben, und ich will allen Menschen sagen, daß es Dich gibt und daß sie an Dich glauben müssen, nur laß mich jetzt mit dem Leben davonkommen. Du hast es schon oft getan, aber so brenzlig war es noch nie, Himmelarsch und – verzeih, lieber Gott, verzeih! Laß die Äste nicht abbrechen. Laß mich nicht hinunter in die Flammen meines ›Silver Shadow‹ fallen. Ich trete auch wieder in die Kirche ein. Ich wäre ja nie ausgetreten, wenn die Kirchensteuer nicht so irrsinnig hoch – hopps, Herrjeses, um Christi willen, jetzt wäre ich fast abgerutscht! Wegen eines sündhaften Gedankens. Meinetwegen sollen sie die Kirchensteuer doppelt so hoch ansetzen, die Geistlichen Herren. Dreimal so hoch! Nur laß mich von dem Baum da runter und in Sicherheit kommen, Vater im Himmel, Du!

Er machte eine kleine Bewegung.

Sogleich knirschten sämtliche Äste, die der Baum besaß. Der Baum selber knirschte auch. Ojojojoj. So geht das nicht. Ich muß zurückrobben. Wie ich in Rußland vorgerobbt bin in diesem Dorf, wie hieß es gleich? Lyubcha hieß es, Donnerwetter, was für ein Gedächtnis ich habe, vorgerobbt mit drei Hohlhaftladungen. Ich bin ein sportgestählter Mensch. Immer gewesen. Ein Stalinpanzer und zwei T34 sind hochgegangen. Aber keinem Menschen ist ein einziges Haar gekrümmt worden! Weder den russischen Soldaten noch mir. Denn ich habe in einer Scheune gelegen und gewartet, bis sich alle Herren Rotarmisten zur Ruhe begeben hatten. Und ich habe die Panzer auch nicht zum Spaß kaputtgemacht, Du weißt, lieber Gott, was so ein Stalin oder so ein T34 kostet, wieviel Arbeit darin steckt. Ich habe es einfach tun müssen, weil die verfluchten Hunde von dieser ›Alarmkompanie‹, in die sie mich strafhalber gesteckt haben, nachdem ich die Verlobte jenes Ritterkreuzträgers aufs Kreuz gelegt … Lieber Gott, ich bin besoffen!

Heilige Jungfrau Maria, jetzt ist da unten auch noch der Reservetank explodiert. Schon zum zweitenmal, daß ich mit einem Rolls-Royce solchen Ärger habe. Das erstemal, in Neumexiko, da ist mir einer plötzlich stehengeblieben. Einfach stehen! Die Benzinpumpe total im – verzeih, verzeih, lieber Gott! Da habe ich aus dem nächsten Kaff nach London telegrafiert an Rolls-Royce, daß der Wagen reparaturbedürftig ist. Und die haben zurücktelegrafiert: ›rolls royce niemals reparaturbedürftig stop mechaniker kommt mit nächster maschine bea.‹

So ist es gut! Immer schön weiter zurückrobben! Zwanzig Zentimeter habe ich schon geschafft. Höchstens drei Meter habe ich noch.

In der Tiefe, sehr klein, sehe ich jetzt Menschen auf den Steilhängen herumklettern, Männlein, Weiblein. Höre, sehr undeutlich, ihre Stimmen …

»Der wo in dem Schlitten gsessn is, den gibt’s nimmer, den hat’s zrissen!«

»Nacha müssat aba doch wenigstens der Kopf und die Haxn und ois andere da rumkugeln! I find aba nix!«

»Natürli war er bsoffn! Gschieht eam ganz recht! Bsoffne Sau.«

»Zum erstenmal seit sechs Wocha hob i wieda richtig gschlaffa! Und da muaß si der Depp darenna! Die glaubn aa, sie kenna si ois erlaubn, de Kapitalisten, de dreckatn!«

Ermutigend, solch Stimmchen zu hören. Wahrlich, ich sage euch … Sirenen.

Wieso Sirenen?

Ach, hat wohl jemand die Feuerwehr alarmiert. Kommen sie schon über die verschneiten Felder gebraust, die braven Buben. Schön groß und rot, die Feuerwehrwagen mit den kreisenden Lichtern. Verdammt, jetzt wäre ich fast wieder hinuntergekracht! Langsamer, Mensch, langsamer robben! Und verzeih das ›verdammt‹, lieber Gott, bitte. Kommt alles nur, weil ich blau bin, so blau, so blau. Damals, in Rußland, war ich stocknüchtern. Und bin auf einem Sandboden gerobbt, nicht auf einem vereisten, rissigen Ast. Und kam direkt aus einem Lazarett und nicht direkt vom Wiener Opernball. Und hatte eine Landseruniform an, eine verdreckte, und nicht einen verdreckten Frack wie jetzt. Verdreckt ist er und zerrissen, der Kragen erwürgt mich fast, und mit dem elenden Ding hätte ich mir eben um ein Haar ein Auge ausgestochen. Das elende Ding da ist das ›Große Silberne Ehrenzeichen am Band für Verdienste um die Republik Österreich‹.

Sie haben es mir heute vormittag – nein, gestern vormittag! – feierlich verliehen. Und Punkt Mitternacht, auf dem Opernball, sind sie dann alle gratulieren gekommen. Jetzt ist es sechs Minuten nach sechs Uhr früh, erkenne ich auf meiner Armbanduhr, die – Dir sei es gedankt – ein Leuchtzifferblatt hat. Vor sechs Stunden also ist das gewesen. Siehst du, Jakob, du kannst noch richtig zählen, du hast noch alle Tassen im Schrank, du erinnerst dich an den Opernball. Bundeskanzler Dr.Josef Klaus (Österreichische Volkspartei, rechts, schwarz, aber ein ganz reizender Mensch) hat den grippekranken Bundespräsidenten Adolf Schärf (Sozialdemokratische Partei Österreich, links, rot, aber auch ein ganz reizender Mensch) vertreten.

Noch langsamer robben!

Das Jahr 1965 fängt an …

Das neue Jahr wird in der Bundesrepublik Deutschland mit einem Feuerwerk für 50 Millionen Mark begrüßt.

Der Frankfurter Zoodirektor Dr.Bernhard Grzimek kämpft erbittert gegen Leopardenpelze.

Am 5. Januar wird Konrad Adenauer, deutscher Bundeskanzler von 1949 bis 1963, 89 Jahre alt.

Seit 6. Januar bewohnt der arabische Exkönig Ibn Saud das 12. Stockwerk des Wiener Hotels ›Intercontinental‹. Mit ihm sind gekommen: eine ungenannte Zahl seiner insgesamt 22 legitimen Söhne; 40 Hofbeamte; nicht wenige Haremsdamen (wieviel, wird weder von der Polizei noch vom Hotel verraten); drei Ärzte mit Sauerstoff-Flaschen und Blutkonserven. Ibn Saud ist seit 1959 Ehrenpräsident des Kreisverbandes Freiburg im Bund der Kinderreichen.

Am 25. Januar stirbt Winston Churchill, von 1940 bis 1945 und von 1951 bis 1955 britischer Premierminister, 90 Jahre alt.

In der UdSSR ist am 14. Oktober 1964 Nikita Chruschtschow von allen seinen Ämtern entbunden worden. Zu seinen Nachfolgern Leonid Breschnew als Parteichef und Aleksej Kossygin als Ministerpräsident tritt als Staatspräsident Nikolaj Wiktoriwitsch Podgorny.

Am 4. Februar 1965 wird Professor Ludwig Erhard, der »Vater des deutschen Wirtschaftswunders« und seit 1963 Bundeskanzler, 68 Jahre alt.

Seit diesem Jahr starrt man in der BR auf das Gespenst der »Rezession«: Die privaten Einkommen wachsen stärker als die Erträge aus der Leistung der Wirtschaft.

Drittes Passierscheinabkommen (vorher 1963 und 1964) zwischen dem Senat von (West-)Berlin und der DDR: West-Berlinern ist ein zeitlich begrenzter Besuch von Verwandten in Ost-Berlin gestattet.

Man tanzt jetzt »Let Kiss« – zwei Hopser nach links, zwei nach rechts, dann ein Sprung vor, zwei zurück und schließlich drei Hüpfer nach vorn und ein Küßchen für den Partner.

In den USA erhält durch den Krieg in Vietnam die Rüstungsindustrie im Jahr 1965 zusätzlich Aufträge in Höhe von 1 700 000 000 $.

Am 25. Februar findet der Wiener Opernball statt – es ist der zehnte seit Kriegsende. Als die letzten Besucher sich gegen vier Uhr morgens zur traditionellen Gulaschsuppe in der Eden-Bar treffen, wirft dort, wie der Münchner Klatschkolumnist Hunter notiert, ein Unbekannter eine Stinkbombe.

Heute, am 26. Februar 1965, habe ich Geburtstag. Meinen fünfundvierzigsten. Hätte ich mir natürlich auch nicht träumen lassen, daß ich meinen fünfundvierzigsten Geburtstag so – Vorsicht, Gabelung! – verbringen werde.

Sechstausend Gäste sind in der Staatsoper gewesen. Ich war die absolute Attraktion. Hab’ ich mir zumindest eingebildet. Wie sehr viele andere auch. Das österreichische Wunderkind!

»Lassenses brenna, Chef, der Bsoffene is hin, der pickt da oben irgendwo im Schnee!« Eine zwitschernde Stimme aus der Tiefe. Nein, zartes Kind, das da gerufen hat, indessen die braven Buben von der Feuerwehr Schaum zu verspritzen begannen, picken tu ich nicht im Schnee, sondern hier oben auf dem Baum, und hin bin ich auch noch nicht. Der Allmächtige wird mich jetzt nicht sterben und verderben lassen. Hoffentlich.

Dieses ›Große Silberne Ehrenzeichen am Band‹ macht mich noch wahnsinnig. Eben hätte ich mir fast den Hals aufgeschlitzt daran. Eine Freude haben sie mir bereiten wollen zu meinem Geburtstag. Und dann – Achtung, da kracht ein Zweig! – die Mitternacht! Geht da die Tür von der mittleren Loge auf (ich habe ein paar Freunde eingeladen und drei Logen gehabt), geht da also die Tür auf, und herein kommt der Kreisky und sagt …

2

»…daß der Herr Bundeskanzler auf dem Weg zu Ihnen ist, mein lieber Herr Formann«, sagte Österreichs Außenminister Dr.Bruno Kreisky. »Das ist aber lieb von ihm«, antwortete Jakob gerührt. Die Damen und Herren in seiner Loge erstarrten vor Ehrfurcht. Jakob zog an seiner Frackweste. Er besaß ein Dutzend Fräcke, und obwohl sein Schneider ihm immer wieder versicherte, der Frack sei der Anzug des Gentleman und so bequem zu tragen wie kein anderer, hatte Jakob sich niemals an diese Art von Kleidung gewöhnen können. Er haßte es, wenn er einen Frack anziehen mußte, und so war er denn mit den Jahren immer tiefer in das Hassen seiner Fräcke hineingeraten. Nur ein Sadist konnte so ein Ding erfunden haben! Der Metallknopf, der einem am Kragen die Luft nahm! Der beinharte Hemdeinsatz unter der Frackweste, der einen nicht leger sitzen ließ, sondern immer nur absolut aufrecht und steif, damit man das untere Ende nicht in die … in den Leib bekam! Die Bänder, mit denen Hemd und Weste festgezurrt werden mußten, als wäre man eine Rennjacht! Und die anderen Bänder, die verhinderten, daß die Hose hinunter und die Frackweste hinauf rutschten, indem sie beide verbanden! Die – ach was! Am schlimmsten war die entsetzliche Hitze, die so ein Frack entfachte – und dazu noch ein Opernhaus mit sechstausend Menschen und keiner Airconditioning.

Wann immer er einen Frack tragen mußte, trank Jakob, ehe er sich ins Vergnügen stürzte, ein großes Glas Salzwasser. Das verhinderte Schweißausbrüche – eine Zeitlang wenigstens. Dafür mußte er dann aber auch stets Traubenzuckertäfelchen mit sich tragen. Wegen des Kreislaufs. Ach, dachte Jakob, waren das noch schöne Zeiten damals, 1945, als wir nichts zu fressen und keinen Groschen und nur alte Fetzen und durchlöcherte Schuhe hatten! Und noch nicht wußten, was Ährkondischenning ist …

1965 kostete eine Loge für den Opernball im Ersten Rang offiziell 60 000 Schilling. Im ›Schleich‹ kostete sie das Dreifache. Jakob hatte, nachdem er das erfuhr, freiwillig pro Loge 180 000 Schilling bezahlt, denn er wußte, wie seine liebe, langjährige Freundin Christi Gräfin Schönfeldt, Arrangeurin aller Opernbälle, stets dafür sorgte, daß der Reinertrag dieses großen Festes denen zugute kam, die sehr alt oder sehr jung, auf alle Fälle aber sehr arm und sehr hilflos waren. Vor zwanzig Jahren war Jakob Formann das selber gewesen: sehr jung und sehr arm und sehr hilflos. So wie wir alle 1945 eben. Nein, noch etwas mehr! Danach allerdings war Jakob einiges passiert. Exemplarisches. Darum erzählen wir ja diese Geschichte.

3

»Happy birthday to you, happy birthday to you, happy birthday, dear Jakob, happy birthday to you!« sang der Kanzler der Bundesrepublik Österreich, Dr.Josef Klaus, und viele, viele sangen mit.

Jakob mußte mit den Tränen kämpfen.

»Ich dank’ dir schön, Herr Kanzler«, sagte Jakob und fuhr sich mit einem Handrücken über die Augen. »Euch allen danke ich!«

Die beiden Herren standen einander in Jakobs mit dunkelrotem Samt ausgeschlagener Mittelloge gegenüber. Von hinten strahlten nun Scheinwerfer herein und verbreiteten eine grauenvolle Hitze. Kameras klickten ununterbrochen. Andere surrten. Fernsehen und Wochenschau. Und in Jakobs Hort, der normalerweise acht, höchstens zehn Personen aufzunehmen imstande war, drängten immer neue Menschen, um dem Geburtstagskind die Hand zu schütteln – Minister (sieben, acht, neun, zählte Jakob mechanisch mit), Generalsekretäre politischer Parteien (eins, zwei, drei, vier), ausländische Diplomaten (elf, zwölf, dreizehn). Jakobs Gäste, allen voran seine geliebte, göttliche Natascha, waren ohne Mitleid auf den Gang hinausgequetscht worden. Hoffentlich bricht die Loge nicht ab und kracht ins Parkett, dachte Jakob. Im Parkett befand sich ein großer Teil dessen, was man ›die Weltprominenz‹ nennt. Ein anderer Teil starrte aus Logen herüber.

Der Salztrick ist im Eimer, dachte Jakob, während er spürte, wie ihm Schweißbächlein über Brust und Rücken zu strömen begannen. Der Klaus sieht auch aus wie aus dem Wasser gezogen.

»Das ist der schönste Moment in meinem Leben, Herr Kanzler«, sagte Jakob. Haben mich also sechs rote Großkopfete hofiert, dachte er, und fünf schwarze, und jetzt noch der Kanzler! Die Kirche und die Kommunisten, sinnierte er, die wirklich außergewöhnlich vieles gemeinsam haben, beileibe nicht nur dies, daß ihre Großkopfeten nicht zum Opernball kommen, haben mir durch ihre Funktionäre ihre besten Wünsche übermitteln lassen. Na, sie haben ja auch alle, alle von mir Wahl- und andere Spenden erhalten, und das nicht zu knapp. Ich bin ein einfacher Mensch. Jeder einzelne von denen will doch eigentlich nur das Beste für die Menschen, wie ich das verstehe. Was soll man da machen? Muß man sehen, hehe, daß man ein gerechter Mensch bleibt und allen geben, dachte Jakob, in Erinnerung versunken, wieder achteinhalb Zentimeter vom Ast des vereisten Baumes über der Mangfallschlucht da bei Weyarn in Oberbayern zurückrobbend. Lieber Gott, hilf …

»Herr Formann, du bist ein Österreicher«, sagte der Kanzler. »Und wir alle sind stolz auf dich!«

»Ich hab bloß a bißl mehr Glück gehabt als andere«, murmelte Jakob verlegen.

»Immer noch die alte Bescheidenheit«, murmelte der Kanzler.

»Schau mal, Herr Formann, ich komm’ doch wirklich in der ganzen Welt herum, aber nirgendwo und bei niemandem hab’ ich so herrliche Eier gesehen wie bei dir!«

(Und wieder elf Zentimeter zurückgerobbt …)

»Herr Kanzler«, sprach Jakob, während an seiner linken Schläfe eine Narbe zu pochen begann, die ein Scharfschütze der Roten Armee, der sehr gut, aber nicht gut genug schoß, ihm einstens beschert hatte, »die Güte meiner Eier ist nicht mein Verdienst.«

Na also. Der Herr Minister für Kultur und Volksbildung. Noch ein Schwarzer!

»Wessen Verdienst denn?« fragte der Kanzler ernst. »Nur das deine. Es sind doch deine Eier! Und auch darüber freuen wir uns alle, und auch darauf sind wir stolz, daß es ein Österreicher ist, der die exquisitesten Eier der Welt hat!«

Beifall ringsum. Jakobs Gesicht nahm die Farbe einer überreifen Tomate an. Er lächelte und verneigte sich beschämt in die Runde. Nelson Aldrich Rockefeller und seine Frau winkten ihm aus der Loge gegenüber zu. Er winkte zurück.

(Wenn ich mich jetzt wie ein Affe auf den Ast unter mir schwinge, gewinne ich mindestens einen Meter. Und verliere vielleicht das Leben. Er schwang. Der Ast brach nicht. Morgen nichts wie wieder rein in die Kirche!)

Das Orchester spielte den ›Donauwalzer‹, während Jakob den Blick durch die Staatsoper kreisen ließ und Minister, Präsidenten, Filmstars, Scheichs, Industrielle, Wissenschaftler, Künstler, Aristokraten, hinreißend schöne Frauen und hinreißend reiche Millionäre erblickte und grüßte. Und siehe, da ward es ihm übel, ganz plötzlich.

Das kam, weil Jakob keinen Alkohol vertrug. Weil er niemals frivolen Herzens Geistiges trank. Weil er stets auf seine Gesundheit bedacht war. Und das war sehr vernünftig von ihm. Manchmal natürlich, wie an diesem Abend, ging es einfach nicht anders. Seine neunzehn Gäste und er hatten bislang einundvierzig Flaschen ›Roederer Crystal‹ getrunken. Zwanzig leere weitere hatte der Kellner dazugestellt. Und Jakob, des Alkohols ungewohnt, fühlte, daß er blau war und immer blauer wurde.

(Und vor zwanzig Jahren kein Dach über dem Kopf. Schlafen, wenn du Glück hattest, in Wärmestuben. Ein Paar Stiefel für eine Zigarette. Tja …)

Jakobs neunzehn Gäste bewohnten allesamt Luxusappartements im nahen Hotel IMPERIAL Freunde aus Übersee hatte er mit einer Düsenmaschine, Typ Boeing 727, einfliegen lassen. Freunde aus Europa hatte eine ›Mystère‹ herangebracht. Er selber war mit einer zweiten ›Mystère‹ aus Istanbul gekommen. Der Flugpark gehörte ihm ebenso wie ein Fuhrpark von zwei Mercedes, zwei Porsche und einem Rolls-Royce, Typ ›Silver Shadow‹.

»Sei so gut, Herr Formann«, sagte die bekannteste Wiener Gesellschaftsintrigantin, »darf ich dich umarmen?«

»Aber bitte, natürlich«, sagte Jakob und dachte: In Österreich bleibt einem auch nichts erspart!

Und so wurde er denn umarmt und auf die rechte und auf die linke Wange geküßt.

(Genauso, wie ich meine Wahlspenden verteile, dachte er.)

Am Stamme angelangt!

Nun muß ich springen, runter in den Schnee. Jetzt werden wir gleich sehen, ob es Dich gibt, lieber Gott. Wenn es Dich nicht gibt, sause ich nach dem Sprung über den Steilhang ins Tal. Wenn es Dich gibt, bleibe ich oben.

Du kannst es Dir aussuchen, dachte Jakob und sprang.

Er blieb oben.

Längere Zeit konnte er nur liegen. Er keuchte. Er war schweißüberströmt, total erledigt. Seine Hände zitterten wie die eines alten Süffels. Ihm wurde wieder übel, mächtig übel. Alles kreiste um ihn. Vorsichtshalber legte er beide Arme um den Baumstamm und preßte eine Wange an die eisige Rinde. Also gibt es Dich, Gott. Gott sei Dank, dachte er. Das Leuchtzifferblatt seiner Uhr zeigte 6 Uhr 13.

4

Seine Armbanduhr hatte 4 Uhr 21 gezeigt, als Herr Walter Horvath zu ihm sagte: »Ich bitt’ Sie um alles in der Welt, Herr Formann, tun S’ das nicht!« Und als Herr Alexander Fleischer hinzufügte: »Das wär’ doch glatter Selbstmord, wär’ das, Herr Formann!«

Die Herren Fleischer und Horvath waren (und sind noch immer) die Nachtportiers des Hotels IMPERIAL.

Jakob, im Frack, eine weiße Nelke im Knopfloch, erwiderte freundlich, aber bestimmt: »Ich brauch’ meinen Rolls!« Er stieß dezent auf und verspürte den würzigen Geschmack der hervorragenden Gulaschsuppe, die er mit seinen Gästen nach Verlassen des Opernballs im Stadtpalais der Gräfin Vera Czerny-Wiskowitsch zu sich genommen hatte. Das Pilsner Urquell, das er dazu durstig getrunken hatte, erhöhte seinen Alkoholspiegel erheblich. »Lassen Sie den Rolls aus der Garage holen«, sagte Jakob und fügte mit gewinnendem Lächeln hinzu: »Bitte schön!« Jakob Formann war, wenn überhaupt, liebenswert betrunken; niemals stänkerte er, niemals suchte er Streit.

Außer den beiden Nachtportiers und ihm befanden sich noch drei Putzfrauen in der Hotelhalle. Jakobs Gäste hatten sich bereits auf ihre Appartements zurückgezogen.

»Bei dem Nebel und dem Schnee und dem Glatteis«, sagte Herr Fleischer nun besorgt. »Ein Wahnsinn ist das, Herr Formann!«

»Gar kein Wahnsinn! Ich muß um neun in München sein! Wichtige Vorstandssitzung um zehn!« Alles war genau geplant, es hätte prima geklappt, wäre nicht der verfluchte Nebel gekommen.

Daß der verfluchte Nebel gekommen war und die Flughäfen von Wien und München geschlossen werden mußten, hatte Jakobs Chefpilot ihm telefonisch mitgeteilt, als er noch bei der gräflichen Gulaschsuppe saß. Fliegen fiel aus.

»Nehmen Sie doch wenigstens einen von Ihren Chauffeuren«, bat Herr Horvath. »Der soll Sie fahren, wenn es denn schon sein muß!«

»Herr Horvath, für was halten Sie mich? Für einen dreckigen kapitalistischen Ausbeuter? Meine Chauffeure haben die ganze Nacht aufbleiben müssen, um uns vom IMPERIAL in die Oper zu bringen und von der Oper zur Gräfin und von der Gräfin zurück ins IMPERIAL!«

»Sie waren doch auch die ganze Nacht auf, Herr Formann!«

»Aber zu meinem Vergnügen, Herr Fleischer!«

»Herr Formann, sein S’ doch vernünftig! Sie können nicht selber fahren! Sie sind übermüdet! Sie sind … sind …«

»Besoffen, meinen Sie!«

»Ich würd’ mir nie erlauben …«

»Besoffen fahr’ ich am besten! Also los, los, los, meine Herren, Beeilung, den Rolls, bitte! Ich habe nicht einmal mehr Zeit, mich umzuziehen. Das tu’ ich dann in meiner Wohnung in München!«

Herr Fleischer und Herr Horvath sahen einander an.

Na ja, sagte der Blick.

5

Na ja, und jetzt sitzt unser Freund am westlichen Steilhang des Tals der Mangfall, total erledigt, zu Tode erschöpft, in weißer Finsternis. Das ›Große Silberne Ehrenabzeichen‹ wollte sich gerade in seine Kehle bohren. Er schlägt danach. Die Armbanduhr zeigt 6 Uhr 13.

Um 6 Uhr 13 am 26. Februar 1965 – und schon geraume Zeit davor – nannte Jakob Formann dies sein eigen: riesige Werke zur Erzeugung von Plastik-Produkten jeglicher Art; neun Fabriken zur Herstellung von Fertighäusern; eine Hochseeflotte, modernste Fahrgast-Motorschiffe, Frachter, Tanker; ein Großklinikum, eine große Illustrierte, ein Anlageberatungs-Büro (mit zahlreichen Außenstellen) für Projekte in Zonenrandgebieten und West-Berlin; ein internationales Reiseunternehmen (Züge, Busse, Schiffe, Flugzeuge – was man halt so braucht); ein mit diesem Reiseunternehmen gekoppeltes Möbelversandhaus, beide wiederum gekoppelt mit einer Immobilienfirma – und diverse andere Kleinigkeiten. Nach dem sogenannten ›Schachtelsystem‹, beziehungsweise als Mitbesitzer war Jakob Formann beteiligt an: den beiden gewaltigsten Brauereien der Welt; einer Lebens- und sonstigen Versicherung; an der bekanntesten deutschen Automobilfabrik. Er besaß vielerlei Aktien. Und Orden, Orden, Orden. Und Eier, Eier, Eier …

Unten, in der Tiefe des Mangfalltales, hatten die braven Buben von der Feuerwehr ganze Arbeit geleistet. Nichts brannte mehr. Die meisten Anrainer waren wieder nach Hause gegangen. Zwei VW-Kombis der Polizei standen nun neben den Löschzügen. Jakob, die Arme immer noch fest um den Baumstamm geschlungen, sah, wie die Feuerwehrleute und die Polizisten diskutierten. Der Rolls war nur noch schaumbespritzter, ausgeglühter Schrott. Wo aber war die Leiche des Fahrers? Das interessierte die Polizisten natürlich. Suchscheinwerfer irrten über die Abhänge, mahnende Rufe durch ein Megaphon erklangen: »Mann! Leben Sie noch! Wo sind Sie? Melden Sie sich! Werfen Sie einen Stein! Geben Sie uns ein Zeichen!«

Jakob öffnete den Mund, um »Hier!« zu brüllen. Der Mund blieb offen – stumm.

Der Schock …

Der furchtbare Schock! Jetzt erst hat er eingesetzt. Ich kann nicht schreien. Ich kann nicht flüstern. Ich kann kein Glied bewegen. Nicht einmal einen kleinen Finger, alle Nägel krallen sich in die Baumrinde. Vielleicht kriege ich einen Herzinfarkt. Oder habe schon einen. Zu blöd. Sterben hätte ich auch im IMPERIAL können. Viel gemütlicher wäre es da gewesen.

6

Neben seinen Flugzeugen und Luxusautos besaß Jakob Formann, am Morgen dieses 26. Februar 1965 mit rapide schwindenden Kräften dem Tod im Mangfalltal entgegenbangend, eine herrliche Jacht und, natürlich, die verschiedensten Domizile: ein Schloß samt Park in Bayern; eine Villa samt Park in Beverly Hills, California; eine Villa samt Park vor Rom; eine ebensolche samt Park auf Cap d’Antibes; ein Haus in Gstaad; ein halbes Dutzend Wohnungen; dazu Jahresappartements in den besten Hotels von Wien, London, New York, Tokio und Rio de Janeiro.

Auch auf dem Höhepunkt seines Erfolgs indessen war er ein Mann geblieben, der die einfachen Freuden des Lebens allen anderen vorzog. Niemals, nicht bei Hitze, nicht bei Kälte, nicht bei Regen, nicht bei Schnee, verzichtete er auf die tägliche Radtour über mindestens zwanzig Kilometer. Er betrieb Ertüchtigungssport jeglicher Art. Es gab keine noch so schmutzige, noch so schwere Arbeit, bei der er nicht sofort mit Hand angelegt hätte, wenn es not tat. Dafür liebten ihn alle, die für ihn schufteten. Und er liebte sie alle. Jederzeit hätte er, vor die freie Wahl gestellt, ein Staatsdiner bei Königin Juliane der Niederlande für eine zünftige Brotzeit mit seinen Arbeitern schießen lassen! (Graubrot mit Schweineschmalz!) Er fühlte sich als einer der ihren, sein Leben lang. Nach dem Vorbild von Ernst Abbe und dem Zeiss-Werk (Gott, sind wir gebildet!) hatte er in seinen Betrieben ein System echter Gewinnbeteiligung eingeführt. Er …

Moment mal!

Natürlich war Jakob Formann auch ein Gauner und ein Haderlump und ein Fallot, und wo er nur konnte, beschiß er und legte er andere herein – genau wie wir das alle tun. Er war eben ein ganz normaler Mensch, der auch häufig genug von seinen Ellbogen Gebrauch machte.

1965 war sein Name weltbekannt.

Er baute gigantische Anlagen in Amerika und in der Sowjetunion, in Japan, Deutschland, Polen und Jugoslawien. Sogar in China! Für Jakob Formann gab es keine politischen Grenzen, keine politischen Schwierigkeiten. Dieser Mann war wahrhaft kosmopolitisch, gleichermaßen begehrt vom Kreml wie vom Weißen Haus. Das kam: Er ließ sich ständig über die verschiedensten Ideologien informieren, langsam und gründlich, denn da war er kein schneller Denker. Alle Ideologien, so befand er stets nach genauer Prüfung (siehe auch unter Spenden für alle politischen Parteien und Kirchen), wollten nur das Allerbeste für die Menschen! Was hätte ihn also an einer einzigen Ideologie stören können? Und was (bei solchen Spenden!) irgendeinen Ideologen an ihm? Letztlich und endlich waren diesem Jakob die Menschen doch lieber als die Ideologien. Das Liebste auf der Welt waren ihm vernünftige Menschen ohne Ideologien.

»Hallo! Hallo! Wenn Sie noch nicht tot sind, geben Sie ein Zeichen!« hallte die von hoher Intelligenz zeugende Formulierung der Megaphonstimme aus der Tiefe zu ihm herauf. Die Lichtkegel der Suchscheinwerfer glitten über die Steilhänge, immer weiter.

Tut mir leid, meine Herren, dachte Jakob traurig. Ich kann Ihnen nicht helfen. Stimme habe ich keine mehr. Zum Zeichengeben bin ich zu schwach. Tot bin ich noch nicht, vielleicht werde ich es bald sein. Mein Hintern ist schon angefroren. Wie lange wird es dauern, bis die Große Kälte meinen Kopf erreicht? Was nützen mir meine Millionen, wenn ich nicht einmal mehr »Hilfe« flüstern kann?

In New York und Tokio, in Moskau und Neu-Delhi, Stockholm und Hamburg, so dachte er benommen und immer benommener, habe ich in der letzten Zeit immer wieder vom Leistungsknick reden gehört, von einer Krise zwischen vierzig und fünfzig. Immer nur gelacht habe ich darüber. Ein sehr dummes Lachen ist das wohl gewesen …

»Hallo! Hallo!«

Ausgerechnet jetzt, dachte er erbittert.

Ausgerechnet jetzt muß mir dieses Gedicht einfallen – Gesang heißt das, Trottel! – dieser Gesang, den meine geliebte Natascha da auf Cap d’Antibes rezitiert hat.

Von Danton. Quatsch! Danton ist dieser Maler mit den hochgezwirbelten Schnurrbartenden, der diese Pfannkuchenuhren malt. Nein, Dante heißt der Kerl! (Jetzt kommt die Kälte schon die Beine herauf.) Die ›Göttliche Komödie‹ hat er geschrieben. Komisch, ausgerechnet der Gesang fällt mir jetzt wieder ein. Wohl schon Agonie …

»Hallo! Hallo!«

Ja, schreit nur schön. Ich kann euch nicht helfen. Wenn ich jetzt sterbe, dann sterbe ich intellell. Ich behalte doch nie auch nur den Namen eines einzigen Dichters oder Musikers oder Bildhauers. Bin immer ein einfacher Mann geblieben. Scheißfrack! Aber an diesem Knick in der Lebensmitte scheint was dran zu sein. Mich wenigstens hat es erwischt. Und wie. Mein lieber Mann!

Gerade in der Mitte meiner Lebensreise

Befand ich mich in einem dunklen Walde,

Weil ich den rechten Weg verloren hatte.

Wie er gewesen, wäre schwer zu sagen.

Der wilde Wald, der harte und gedrängte,

Der in Gedanken noch die Angst erneuert,

Fast gleichet seine Bitternis dem Tode …

Dem Tode. Da haben wir’s. Warum mußte ich mir gerade diesen Quatsch merken? Jetzt ist die Kälte schon im Bauch. Die Finger frieren ab. Ich kann nicht mehr vernünftig denken …

»Hallo! … Hallo! …« Nur noch ganz verweht und leise drang die Stimme an sein Ohr. Sie ging ihn nichts mehr an.

[home]

1946 

Ein ›Wirtschaftswunder‹ hat es nie gegeben!

 

Professor Dr. ALEX MÖLLER,ehemaliger Finanzministerder Bundesrepublik Deutschland

1

Auf einem stillen Leckt-mich-am-Arsch-Standpunkt hielt Jakob Formann Wache vor dem Stacheldrahtzaun neben der Einfahrt A des amerikanischen Fliegerhorsts Hörsching in der Nähe von Linz. Er lehnte da um 17 Uhr 30 am 3. November 1946 und hörte seit langem das Dröhnen der Motoren einer ›Flying Fortress‹, die beharrlich über dem Flughafen ihre Runden drehte.

Zuerst hatte Jakob noch den Kopf gehoben und die ›Flying Fortress‹ beobachtet, doch bald war ihm das zu strapaziös geworden. Mochten die Piloten der Maschine besoffen oder verrückt oder beides sein – ihn interessierte es nicht. Er hatte das Dritte Reich, den Krieg in Rußland und zahlreiche weitere lebensgefährliche Ereignisse überstanden und dabei herausbekommen, daß es nicht lohnt, in einer Welt wie dieser über irgend jemanden empört, begeistert, traurig, erfreut, erstaunt, verblüfft, will sagen: auch nur geringstens gefühlsmäßig engagiert zu sein. Es lohnt nicht, wegen irgend jemandem oder irgend etwas den Atem, geschweige denn den Kopf zu verlieren. Jakob Formann war seit Jahren – und, wie er sich ausgerechnet hatte, wohl noch auf Jahre hinaus – vollauf mit Überleben beschäftigt. Solcherlei Erkenntnis hatte ihm seinen stillen Leckt-mich-am-Arsch-Standpunkt beschert.

Die ›Flying Fortress‹ drehte nach wie vor ihre Runden. Sie donnerte über den entspannten ›Civilian Guard‹ Jakob Formann hinweg, der in die Lektüre des Annoncenteils des NEUEN ÖSTERREICH vom Vortag vertieft war.

Der Annoncenteil nahm den größten Raum der nur acht Seiten umfassenden Zeitung ein. Versunken las Jakob, was so gesucht und was geboten wurde …

Gesucht: politisch unbelasteter Mezzosopran; schwarze Breeches-Hosen und Schaftstiefel (ach ja, dachte Jakob) gg. Herrenfahrrad; linker Herrenhalbschuh (42) eines Oberschenkelamputierten gg. rechten; Filzhut gg. Bratpfanne; Kleinbildkamera gg. Kinderwagen; elektrischer Kocher gg. Dachziegel; Christus am Ölberg (Holzplastik) gg. Baumaterial; Kleiderschrank gg. 16 m Vorhangstoff; Rollschrank gg. Rasiermesser; 15 m Seil gg. Beil (nanu, dachte Jakob); gläubiger Landwirtssohn möchte auf diesem Wege prüfen, ob Gott der Herr einen mittleren landwirtschaftl. Betrieb in der US-Zone Österreichs, evtl. auf Rentenbasis, für ihn bereithält; 3500 Gasmasken gg ….

In dem Wachhäuschen beim Eingang A des US-Fliegerhorsts Hörsching begann das Telefon zu schrillen. Scheiße, dachte Jakob, wieder kein Mantel. Er ließ das Telefon einige Male schrillen in der innigen Hoffnung, es werde verstummen. Das weite Gelände des Airfield mit all den Baracken, dem Tower, den Maschinen und Hangars sowie dem oben elektrisch geladenen Stacheldrahtzaun wurde nachts von mächtigen Scheinwerfern angestrahlt. Noch war es nicht Nacht. Der Winter 1946/47 sollte viel ärger werden als der Katastrophenwinter 1945/46, aber er ließ sich mehr Zeit damit.

Die Stadt Linz befand sich in der amerikanischen Zone Österreichs, nahe der Demarkationslinie zur sowjetischen, und die Umgebung der Stadt Linz war damals ganz außerordentlich trostlos. Am absolut trostlosesten sah es rund um den Fliegerhorst Hörsching aus, was gar manchen Sieger der Neuen Welt ins Krankenhaus brachte. Nach einer vergilbten Statistik dieses Jahres waren es in Hörsching siebenundsechzig Sieger: dreiundsechzig wegen eines HWG-Trippers (depressive Stimmungslage, häufig wechselnder Geschlechtsverkehr) und vier wegen seelischer Defekte (depressive Neurosen). Die Stimmung unter den hier Diensttuenden und Kommandierenden war aggressiv-trostlos.

Das Telefon klingelte weiter.

Gemächlich schritt Jakob Formann nun die geteerte Straße entlang zu dem Wachhäuschen; sie wurde an beiden Seiten ebenfalls von oben elektrisch geladenem Stacheldrahtzaun gesäumt. Etwa zweihundert Meter entfernt stand ein wirtlicher aussehendes, größeres Häuschen. In ihm tat die Militärpolizei Dienst, und vor ihm befand sich ein Schlagbaum. Dahinter erst begann das eigentliche Gelände des Fliegerhorsts.

Jakob betrat den klosettgroßen Holzverschlag, der den österreichischen Bewachern des Airfield zugedacht war, nahm den Hörer des Feldtelefons ans Ohr und meldete sich in makellosem Englisch: »Entrance A, Civilian Guard Jakob Formann speaking!«

Alles Folgende wurde in englischer Sprache erledigt.

1945 – das Ende vom Ende

»Es geht alles vorüber./es geht alles vorbei,/im April geht der Führer/und im Mai die Partei!« Lied deutscher Landser seit 1944.

9. Mai 1945. 00.01 Uhr: Bedingungslose Kapitulation des »Großdeutschen Reiches«.

Bilanz des Zweiten Weltkrieges: 53.3 Millionen Tote in aller Welt, 20 Millionen Heimatlose, Vertriebene und Flüchtlinge in Europa.

Allein in Westdeutschland zerstört: 2.25 Millionen Wohnungen, 4752 Brücken, 4300 Kilometer Eisenbahnschienen.

Gesamtkosten: 3 000 000 000 000 Dollar.

Die Lebensmittelkarten der Stadtverwaltung von Berlin sahen für die Zeit vom 15. bis 31. Mai 1945 vor:

für Schwerarbeiter: Tagesration Brot 600 g, Fleisch 100 g, Fett 30 g, Kartoffeln 400 g, Nährmittel 80 g, Zucker 25 g; Monatsration Salz 400 g, Bohnenkaffee 100 g. Kaffee-Ersatz 100 g, echter Tee 20 g …

für die sonstige Bevölkerung: Tagesration Brot 300 g. Fleisch 20 g, Fett 7 g, Nährmittel 30 g, Kartoffeln 400 g. Zucker 15 g; Monatsration Salz 400 g. Bohnenkaffee 25 g, Kaffee-Ersatz 100 g. echter Tee 20 g.

»Verdiente Gelehrte. Ingenieure. Ärzte, Kultur- und Kunstschaffende sowie die leitenden Personen der Stadt- und Bezirksverwaltungen, großen Industrie- und Transportunternehmen erhalten … Lebensmittelrationen … für Schwerarbeiter.«

»Der Juli ist nun zu Ende, ohne daß wir« (in dem von den Sowjets besetzten Berlin) »ein Gramm Fett bekommen hätten, kein Fleisch, kein Gemüse, kein Obst, kein Salz, keinen Essig, keinen Ersatzkaffee, nur das Brot und einen Teil der Kartoffeln und 620 g Zucker, 600 g Mehl und 7 Suppenwürfel« (Margret Boveri in »Tage des Überlebens«).

»Therese Neumann« (47 Jahre alte, 55 kg wiegende Landwirtstochter im bayerisch-oberpfälzischen Konnersreuth, seit 1926 mit den Wundmalen Christi stigmatisiert und angeblich ohne jede Nahrungsaufnahme lebend) »ist zweifellos der einzige Mensch in Deutschland, der keine Lebensmittelkarte bezieht« (Pfarrer Josef Naber Konnersreuth).

26. Juni 1945: »Wir, die Völker der Vereinten Nationen, sind entschlossen, die kommende Generation vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zu unseren Lebzeiten zweimal unsagbares Elend über die Menschheit gebracht hat« (Charta der UN).

6. August 1945: Die erste amerikanische Atombombe vernichtet die japanische Hafenstadt Hiroshima.

Von dem Schweizer Arzt und Philosophen Max Picard erscheint das Buch »Hitler in uns selbst«.

Am 6. Oktober 1945 kommt in München die Nummer 1 der »Süddeutschen Zeitung« heraus. Die Druckplatten sind aus dem eingeschmolzenen Bleisatz für Adolf Hitlers »Mein Kampf« gegossen. Aus der Nr. 1 der »Neuen Zeitung« (18. Oktober 1945): Erich Engel hat soeben die Münchner Kammerspiele mit »Macbeth« eröffnet. – Dort spielt auch das Kabarett »Die Schaubude« (mit Texten von Erich Kästner). – Im Ballsaal der Münchner Residenz werden gezeigt: Goldonis »Kaffeehaus«. Lessings »Nathan« und Anouilhs »Antigone«.

20. November 1945 bis 1. Oktober 1946: Nürnberger Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher, 12 Todesurteile (vollstreckt am 16. Oktober 1946).

Eine bebende Männerstimme drang an Jakobs Ohr: »Hier ist Colonel Hobson!«

Auch noch dieser Kretin, dachte Jakob und erwiderte in lässigster Haltung, den militärischen Schneid lediglich in der Stimme: »Yessir?«

»Goddammit, endlich! Kommen Sie sofort zu mir in den Tower! Grauenhafte Sauerei hier! Brauche jemanden, der Deutsch und Englisch spricht!«

»Ich komme, Sir«, sagte Jakob, legte den Hörer behutsam nieder und machte sich ohne jede Hast auf den Weg. Seine hervorragenden Englischkenntnisse verdankte er dem Umstand, daß er viele Jahre in England zugebracht hatte; dort vertrat sein Vater eine Wiener Fabrik, die sich mit dem Bau von Holzverarbeitungsmaschinen beschäftigte.

Es dämmerte bereits ziemlich stark. Jakob trug eine blaugefärbte amerikanische Armeehose, ein ebenso behandeltes Armeehemd und ein Armeejackett. Dazu eine Armeekrawatte und einen grüngestrichenen Armeeplastikhelm mit den großen weißen Buchstaben C und G (für Civilian Guard, also Ziviler Wachdienst). Armeestiefel besaß er nicht. Die Fußbekleidung, die er trug, hatte er in einem winzigen tschechischen Ort, Mukulow, ganz nahe der österreichischen Grenze, gestohlen, und weil der Diebstahl schon längere Zeit zurücklag, befanden die Schuhe sich in einem erbärmlichen Zustand.

Die ›Flying Fortress‹ donnerte wieder über den Platz hinweg.

Jakob erreichte die komfortable MP-Baracke und öffnete die Eingangstür, um drei Herren zu sagen, daß etwas faul und er gerufen worden war. MPs und Civilian Guards arbeiteten hier rund um die Uhr, in einem Achtstundenturnus. Die gleichen MPs verlangten stets die gleichen Civilian Guards, und so hatte sich Jakob herzlich befreundet mit drei jungen Männern etwa seines Alters und exakt seines eingangs erwähnten Grundsatzstandpunktes. Es handelte sich um den Master-Sergeant George Misaras (Eltern aus Marghita, Rumänien, in die Vereinigten Staaten eingewandert), um den Gefreiten Mojshe Faynberg, einen bleichen, dicken Jungen mit rotem Haar, Sohn eines Flickschusters aus New Yorks Bronx, und um den Sergeanten Jesus Washington Meyer aus dem Staate Alabama und daselbst aus der Stadt Tuscaloosa. Diese drei jungen Männer hatten den D-Day, die Invasion am Abschnitt ›Omaha Beach‹ der Normandieküste, mitgemacht und sich durch halb Europa gekämpft – ebenso ungern, wie Jakob in den großen Hitlerkrieg gezogen war, um in Rußland zu überleben.

George Misaras saß hinter einem pompösen Schreibtisch (hinter dem vor zwei Jährchen noch ein Gauleiter gesessen hatte), die Schuhe auf der Tischplatte, als Jakob hereinkam. Er hatte sich durch Lektüre eines Comic-Strip-Heftchens fortgebildet. Jesus Washington Meyer und Mojshe Faynberg waren damit beschäftigt, ein neues Pin-up-Foto von Jane Russel an einer Wand zu befestigen, an der schon viele andere Pin-up-Fotos, etwa von Rita Hayworth, Lana Turner oder Betty Grable, prangten.

»Was is’ los, Jake?« fragte Misaras. »Kalt? Willst ’n Schluck heißen Kaffee?«

»Mann, hat die ein Paar Augen! Nein, danke, George«, sagte Jakob.

»Howard Hughes«, sagte Mojshe, Reißzwecken zwischen den Lippen.

»Howard wer?«

»Hughes! Aus rostfreiem Stahl! Komplizierte Konstruktion!«

»Was?«

»Der Beha von der Tante! Ins Kleid gearbeitet. Raffiniert, wie? Hat dieser Howard Hughes eigens für die Jane Russel erfunden. Der erfindet dauernd was. Is’ Multimillionär. Hätte es nicht nötig.«

»Der Colonel hat mich gerade angerufen. Ich soll rauf in den Tower kommen, übersetzen.«

»Was übersetzen?« fragte der riesenhafte Neger Jesus Washington Meyer.

»Keine Ahnung. Bloß: Es ist jetzt niemand beim Eingang.«

»Na und? Ist es dein Airfield?« Mojshe zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich hängt’s mit diesem Drecksbomber zusammen, der da über uns rumkurvt.«

»Kann schon sein. Nur: Warum kurvt er? Trouble, sage ich euch!«

»Diese Arschlöcher von Piloten machen mich noch wahnsinnig«, sagte Jesus. »Scheiß auf das ganze Air Corps!«

»Ja, das ist leicht gesagt«, murmelte Mojshe versonnen.

2

»Verrückt!« kreischte Colonel Peter Milhouse Hobson hysterisch, knallrot im Gesicht, die Arme hochwerfend, im obersten Stockwerk des Towers, zwischen drei Soldaten, die vor ihren Radargeräten und Sprechfunkanlagen arbeiteten, hin und her rennend. »Ich werde verrückt, verrückt, verrückt!«

Zwei der drei Fluglotsen wiesen gleichfalls Zeichen psychischer Störungen auf. Sie bellten in ihre Mikrofone, stotterten und fluchten, und viele ihrer Angaben zur Sicherung des umliegenden amerikanischen Luftraums waren falsch. Die beiden sind schon geschafft, dachte Jakob. Der dritte ist es nicht. Der dritte Lotse saß entspannt auf seinem Drehstuhl und blies Kinderkaugummi rhythmisch zu Blasen auf. Als er Jakob sah, kniff er ein Auge zu. Nanu, dachte Jakob, ein Warmer? Ach nein, sicherlich nur ein normaler Mensch.

Im Tower lief stets ein Tonband, das auch mit den Telefonleitungen verbunden war. Dieses Band zeichnete alle Gespräche auf für den Fall, daß es zu Unstimmigkeiten, Ungenauigkeiten oder, Gott behüte, einem Unglück kam. Kam es, Gott behüte, zu einem Unglück und gab es dabei, Gott behüte, Verletzte oder gar Tote, so konnte man mit Hilfe des Tonbands jederzeit feststellen, wer woran Schuld trug. Eine äußerst praktische Anlage. Die Luftwaffe der Vereinigten Staaten, der wir an dieser Stelle unseren tiefempfundenen Dank aussprechen, hat uns aus ihren Archiven jenes exemplarische Band zur Verfügung gestellt, das am frühen Abend des 3. November 1946 gerade lief.

Ton ab! Band läuft.

»Rufen Hörsching Tower … Hier ist Flug Eins-acht-eins …«

»Ich verstehe Sie, Eins-acht-eins. Was gibt’s?«

»Was sollen diese ewigen Warteschleifen, Hörsching Tower? Wir haben hier schon alle den Drehwurm!«

»Nur noch ein Weilchen, Eins-acht-eins. Wir haben jetzt einen Dolmetscher hier. Es wird sich gleich alles klären. Over!«

»Gleich klären? Wissen Sie, was Sie mich können, Hörsching Tower? Sie können …«

»Kein Wort weiter, Eins-acht-eins! Machen Sie sich nicht unglücklich! Colonel Hobson steht neben mir. Hört jedes Wort. Er bringt Sie vors Kriegsgericht!«

»Kriegsgericht, ha! Ich habe in diesem Scheißkrieg zweiunddreißig Tageseinsätze über deutschen Städten geflogen und lebe noch immer! Glauben Sie, ich habe vor Ihrem Colonel Angst?«

»Und ich war über Monte Cassino und über Saint Lô und habe vierzig Einsätze überlebt! Glauben Sie, Sie können sich mit mir anlegen, Captain? Sie bleiben auf tausend Meter und drehen noch zehn Minuten Ihre Runden. Over! … Was suchen denn Sie hier?« Die letzten Sätze hatte Colonel Hobson gesprochen.

»Sie haben mich rufen lassen, Sir.«

»Ich Sie? Niemals!«

»Aber ja doch, Sir. Wegen des Bombers, Sir. Ich bin Civilian Guard Jakob Formann!«

»Ach so. Entschuldigen Sie, Formann. Hahaha! Ist gar kein Bomber!«

»Sir, das ist eine ›Fliegende Festung‹! Ich bin lange genug hier, um …«

»Das ist eine umgebaute ›Fliegende Festung‹. Eine als Transporter umgebaute! Verstanden?«

»Nein, Sir.«

»Was soll das heißen?«

»Das soll heißen, daß ich nicht verstanden habe, Sir!«

»Sie, wenn Sie mir frech kommen, bringe ich Sie …«

Das Folgende unverständlich, weil Motorengeräusch alles übertönt. Geräusch wird leiser.

»Hier ist der Captain. Sorry, Gentlemen. Habe auf den falschen Hebel gedrückt. Kann vorkommen. Wird wieder vorkommen, wenn ihr uns nicht bald sagt, was wir tun sollen!«

»Mann, steck dir doch deinen Hebel in den Arsch!«

»Ruhe! Der Befehlshabende hier bin ich! Und ich dulde diesen Bordellton nicht!«

»Hr-rm. Sofern ich mir eine Bemerkung erlauben darf, Sir: Wenn das da über uns ein Transporter ist und kein Bomber, dann müssen die Passagiere doch auch langsam durchdrehen, weil die Maschine immer im Kreis fliegt, Sir!«

»Ist ja auch schon passiert!«

»Was ist auch schon passiert, Sir?«

»Na, was Sie sagen! Sind schon welche ausgekrochen.«

»Au … au … ausgekrochen, Sir?«

»Ja doch, verflucht!«

»Au … au … aus der Maschine, Sir?«

»Aus ihren Schalen, dämlicher Kraut!«

»Entschuldigen Sie, Sir, aber Menschen haben keine Schalen.«

»Wer redet denn von Menschen?«

»Sie, Sir!«

»Niemals! Niemals habe ich …«

»Chörsching Tower! Chierr Vienna Center … Chierr Vienna Center. Chörsching Tower, bitte kommen!«

»Das sind die Russen, Mann! Los, los, los, gehen Sie ran!«

»Vienna Center … Vienna Center … Hier ist Hörsching Tower! Es spricht der Dolmetscher.«

»Freundschaft, Genosse Dolmetscher, Freundschaft! Chörren zu und übbersetzen Colonel Chobson: Chabben nicht gefunden Genossen Generalmajor Tschurasjew. Tutt uns leid, Chörsching Tower. Obberbefehlshaber von sowjetische Besatzungstruppen in Österreich, Genosse Generalmajor Tschurasjew, ist gefarren auf Semmering. Mit Genossin Gemahlin. Abgestiegen Chotell Panhans …«

Hin- und Herübersetzen Jakobs.

»Colonel Hobson läßt ihnen mitteilen: Dann fliegt die Maschine eben so in den Korridor ein, Vienna Center!«

»Dann fliegt Maschinn ebben nicht so in Korridor ein! Sagen das Colonel Chobson! Schlimme Sache sonst! Amerikanskaja aggressija! Over!« Jakob übersetzt. Der Colonel flucht.

Dann wieder Jakobs Stimme: »Wenn Sie schon nicht Menschen gesagt haben, dann haben Sie aber Passagiere gesagt, Sir!«

»Passagiere, ja! Aber Menschen, nein! Westmorelands!«

Jetzt sehr starke Motorengeräusche.

Dann:

»…wissen nicht, was Westmorelands sind, Sie – wie heißen Sie?«

»Formann, Sir. Jakob Formann, Sir. Nein, Sir, weiß nicht, was Westmorelands sind.«

»Küken, Formann! Hochgezüchtete Küken! Über Ihnen! Vierzigtausend! Vierzigtausend!«

»Yesssirr, Colonel, Sir!«

»Passen Sie auf, Formann: Gestern früh startete drüben eine ›Fliegende Festung‹. Alles klar?«

»Alles klar, Sir.«

»Unsere ›Fliegende Festung‹, alles klar? Die da oben, kapiert?«

»Kapiert, Sir.«

»An Bord eine Ladung angebrüteter Eier von Westmoreland-Hühnern für österreichische Landwirtschaftsbetriebe, die daniederliegen. Spende des ›American Friends Committee‹. Alles …«

»…klar, ja, Sir!«

»Maschine hatte Defekt in Treibstoffleitung! Stellte sich bei Zwischenlandung in Frankfurt heraus. Aufenthalt wegen Reparatur: Sieben Stunden!«

»Verstehe, Sir. Die ›Fliegende Festung‹ hätte Linz sieben Stunden früher erreicht und den Luftkorridor zu Mittag passiert, und alle vierzigtausend Eier sind so angebrütet, daß die erste Schale erst gebrochen wäre, wenn das letzte Ei den Bauernhof erreicht hätte.«

»Phantastisch, wie schnell … äh … äh … Wie heißen Sie?«

»Jakob Formann, Sir.«

»…wie schnell Sie das begriffen haben, Formann.«

»Gesunder Menschenverstand einfach, Sir.«

»Das sagen Sie so. Wenn Sie wüßten, was für ein Idiot ich … äh, mit was für Idioten ich es zu tun habe, dann …«

Die Maschine muß direkt jetzt über den Tower geflogen sein, so laut ist an dieser Stelle das Motorengeheul.

Danach: »Verstehen Sie jetzt die grausige Situation, in der wir uns befinden, Formann?«

»Yes, Sir!«

Stoptaste drücken. Band steht.

3

Als wir den Krieg mit Hilfe der ›Vorsehung‹ verloren hatten, teilten die Sieger Deutschland und Österreich in Besatzungszonen auf. Berlin und Wien lagen tief in den sowjetischen Zonen. Westalliierte Flugzeuge mußten den Weg nach Berlin oder Wien auf vorgeschriebenen ›Luftstraßen‹ zurücklegen. In Österreich gab es einen einzigen Luftkorridor. Der durfte ›aus Sicherheitsgründen‹ nur bei Tageslicht benützt werden. Nachts nicht und nicht nach Einbruch der Dämmerung solcher Art, daß die Sichtweite weniger als vierhundert Meter betrug.

Am 3. November 1946 ging die Sonne um 7 Uhr 19 auf, und um 16 Uhr 48 ging sie unter. Dann kam die Dämmerung, die tiefe Dämmerung und endlich die Nacht, in der es verboten war, in den Luftkorridor einzufliegen. Als die ›Fliegende Festung‹ über dem amerikanischen Fliegerhorst Hörsching zu kreisen begonnen hatte, war es 17 Uhr 10 gewesen, und Vienna Control hatte ›Njet!‹ gesagt.

Jetzt, um 17 Uhr 42, dreht die ›Fliegende Festung‹ noch immer ihre Runde.

Es ist mittlerweile sehr dämmrig geworden.

Und Samstag ist es dazu.

4

Ton ab! Band läuft weiter.

»Verflucht noch mal, Herr Kollege, die Küken müssen nach Wien und von dort auf die Bauernhöfe! Sie wissen es so gut wie ich, daß ein neugeborenes Küken die erste Nahrung und die erste Flüssigkeit nur an dem Ort zu sich nehmen darf, an dem es dann immer bleibt.«

»Ach, leckt’s mich doch am Arsch!«

»Sie als befreiter Österreicher und Dolmetscher im Provost Marshal Office in Wien wollen also die Verantwortung für den Tod von vierzigtausend unschuldigen Küken auf Ihre Schultern laden?«

»Ich will überhaupt nix laden! Heut ist Samstag! Da sind die Hohen Herren alle weg! Der Provost Marshal ist nicht da, das habe ich Ihnen schon zweimal gesagt! Der ist übers Weekend nach Salzburg gefahren, mit seiner Frau!«

»Wer ist denn sein Stellvertreter?«

»Colonel Worsley. Steht hier neben mir. Er sagt gerade, daß er nichts tun kann. Versuchen Sie’s doch bei den Engländern, Herr Kollege. Die sind schließlich auch eine Schutzmacht Österreichs! Heil … äh, ’tschuldigung, Servus!«

Klick.

»Der Kerl hat aufgehängt!«

Jakob übersetzt.

Allgemeines Fluchen.

»Hörsching Tower! Hier Eins-acht-eins … Bitte kommen!«

»Was gibt’s?«

»Vierunddreißig weitere ausgekrochen, Colonel, Sir!«

»Machen Sie mich nicht wahnsinnig!«

Jetzt eine neue Stimme, lupenreines King’s English, schneidig: »Kommandantur Wien, McIntosh!«

»Wer ist denn um Gottes willen nun wieder McIntosh?«

»Colonel McIntosh, Vertreter Seiner Exzellenz, des Herrn britischen Stadtkommandanten.«

»Aha. Und der ist also auch mit seiner Frau …«

»No, Sir. Der ist mit einem Freund zur Jagd nach Kärnten.«

»Jagen, fischen, vogelstellen, das hält jung die Junggesellen …«

»Haben Sie den Verstand verloren, Formann?«

»Ach, das fiel mir gerade so ein, Sir.«

»Reißen Sie sich gefälligst zusammen, Kerl! Hallo, Colonel! Hören Sie: Wir haben über unseren Köpfen …«

»Vierzigtausend bebrütete Eier, ja, ja. Ich weiß, ich weiß. Die Herren amerikanischen Verbündeten haben uns bereits unterrichtet. Ich bin beauftragt, Sir, Ihnen mitzuteilen, daß das Britische Empire in dieser Angelegenheit strikteste Enthaltsamkeit üben muß. Warum versuchen Sie es nicht bei Seiner Exzellenz, dem Herrn französischen Stadtkommandanten? Auch Frankreich ist für das befreite Österreich verantwortlich!«

Auf dem Band ist nunmehr ein gräßliches Durcheinander von Stimmen und Geräuschen zu hören. Dann erklingt eine neue, helle Stimme, die in melodischem, leicht singendem Wienerisch mitteilt, Seine Exzellenz, der französische Stadtkommandant von Wien, sei nach Berlin geflogen – einer Einladung Jean Cocteaus folgend.

»Jean wer?« (Jakob fragt.)

»Cocteau, Süßer! Monsieur Cocteau zeigt im Maison de France am Kurfürstendamm seinen neuen Film ›La Belle et la Bête‹ mit Jean Marais. Zur Sache, Chéri! Der Vertreter des Herrn Stadtkommandanten läßt bestellen, daß er die Infamie der Engländer, die Grande Nation in diese Affäre hineinzuziehen, durchaus erwartet hat. Es möge sich indessen niemand täuschen: Frankreich hat nicht die Absicht, sich eines Problems anzunehmen, das ausschließlich Amerika und Rußland angeht. Adiööööh, Liebling!«

Folgt Jakobs Übersetzung.

Dann die Stimme des Colonel Hobson, eiskalt: »Jim, geben Sie mir OMGUS in Berlin. General Robert Loosey!«

»Hörsching Tower! …Hier ist Eins-acht-eins … Wieder dreizehn ausgekrochen. Over!«

»Haben Sie endlich Berlin, verflucht! Jim?«

»Ja. Vermittlung OMGUS sagt, daß General Loosey nicht da ist.«

»Dann geben Sie mir Generalmajor Lucius D. Clay!«

»Wollte ich schon. Ist auch nicht da.«

»Sondern wo?«

»Weiß Vermittlung nicht, Colonel, Sir. General Loosey soll irgendwo bei Frankfurt sein. In Bad Nauheim.«

»Wo?«

»Bad Nauheim, Sir. Mit Frau und Tocher und Schwiegersohn und drei Enkelkindern … Wann kommt Loosey zurück, Frankfurt!«

»Er übernachtet in Nauheim. Hat sich fürs Weekend freigenommen, Sir. Fliegt erst Montag früh zurück nach Berlin.«

»Da muß doch irgendein Diensthabender in Berlin sein, gottverdammt, Jim!«

»Ist auch einer, Colonel, Sir!«

»Geben Sie mir den Kerl!«

»Ich habe Berlin auf Standleitung, Colonel, Sir!«

»Also nichts wie her mit dem Diensthabenden! Mit dem rede ich jetzt mal ein Wörtchen! Und wenn der kneift, rufe ich Washington, Saustall, verfluchter!«

»Hörsching Tower! … Hörsching Tower! … Hier Eins-acht-eins! … Wieder einundzwanzig ausgekrochen!«

»Geburtenzahlen werden ab sofort immer erst gemeldet, wenn das nächste Hundert voll ist, Eins-acht-eins! Herrgott! Gebt mir fünf Minuten Zeit, dann sieht die Sache anders aus!« schrie der Colonel. Die Lautstärke hat seine Stimme völlig verändert, dachte Jakob. Er fühlte sich schwindlig. Die Narbe an seiner Schläfe begann zu pochen. Das Gesicht rötete sich und nahm einen idiotischen Ausdruck an, wie stets, wenn Jakob Formann ganz intensiv nachdachte. Seine gesamte Intelligenz stülpte sich dann sozusagen nach innen, und für die Fassade (das Gesicht zum Beispiel) blieb nichts, aber auch gar nichts übrig. Er wirkte stets wie ein armer Trottel, wenn er gerade alles andere als ein armer Trottel war. Raum und Zeit verschwammen für ihn, und gleich einem eigenwilligen Echo von des Colonels Gebrüll schmetterte eine andere Stimme in Jakobs innerem Ohr: »Nun, deutsches Volk, gib mir die Zeit von vier Jahren und dann urteile und richte mich!«

Es war die Stimme des Adolf Hitler.

5

1933, am 1. Februar, war es, als der Kerl das geschrien hat. Noch in Deutschland. Da war ich dreizehn Jahre alt. Und im Gymnasium. Ich war ein schlechter Schüler, von Latein über Physik bis Mathematik in allen Fächern der Faulste – der ›Klassen-Idiot‹. Aber ein schlauer Idiot, weiß der Himmel.

1938 schrie der Kerl noch immer, jetzt auch in Wien. Eigentlich hätte ich 1938 die Matura machen müssen. (Abitur nennen sie das in Deutschland.) Habe ich? Einen Dreck habe ich! Ein Jahr vorher haben sie mich nämlich aus der Schule gefeuert. Weil ich ihnen wohl zu schlau gewesen bin. Und zu frech. Also habe ich mich halt ein bißchen beschäftigt, bis zum Februar 1939. Und, wupp, war ich auch schon beim Reichsarbeitsdienst. Steine klopfen. Autobahn bauen. In verstunkenen Baracken schlafen. Abitur? Ha! Nach einem halben Jahr Arbeitsdienst bin ich sofort zum Barras überstellt worden. In eine verstunkene Kaserne. Und habe ich strammstehen gelernt. Griffe kloppen, Menschen töten. In der Deutschen Wehrmacht. Am 1. September 1939 ist es dann losgegangen. Noch im gleichen Jahr war ich schon im schönsten Schlamassel. Bin drin geblieben, bis ich in Gefangenschaft geriet, 1945. Aus der habe ich mich dann selber entlassen; aber das steht nicht zur Diskussion. 1945, im November, bin ich in Wien angekommen. Abgerissen, ausgehungert, halb erfroren. Haus weg. Eltern weg. Alles weg.

»Gib mir die Zeit von vier Jahren …«

Vier Jahre!

Ich habe ihm sieben Jahre gegeben, dem Sauhund! Sieben Jahre habe ich ihm geben müssen wie so viele Millionen andere arme Kerle. Erstaunlicherweise lebe ich noch. Aber wie! Als ›Civilian Guard‹. Bin nichts. Habe nichts. Außer meinen Leckt-mich-am-Arsch-Standpunkt. Den will ich auch behalten! Aber je länger ich mir das Theater ansehe, das dieser idiotische Colonel da mit den vierzigtausend Westmoreland-Küken aufführt, das Theater, das sie alle, alle diese verehrungswürdigen Sieger aufführen mit den vierzigtausend Küken, desto größer wird meine Wut über die verlorenen Jahre. Ich habe den Krieg nicht angefangen. Jetzt wollen wir doch mal sehen, ob ich ihn wirklich verloren habe, Himmel, Arsch und Zwirn! Diese blödsinnigen Eier …

Eier? Mit Eiern hat’s doch schon mal was gegeben in meinem Leben! Ich muß mich nur daran erinnern! Wie war das bloß? Und wo? Das wird mir schon wieder einfallen. Muß mir wieder einfallen. Denn jetzt hole ich mir meine verlorenen Jahre zurück, verflucht! Jetzt führe ich meinen Krieg, meinen eigenen Krieg, verdammt! Auf meine Weise! Zu meinem Wohle! Auf eigene Rechnung und Gefahr! Für mich – und nicht für Ehre, Führer, Vaterland und diesen ganzen Scheiß! Ich habe die Schnauze voll! Gestrichen voll! Nun laßt mich mal ran! Nun gebt auch mir mal ein paar Jahre Zeit! Sieben Jahre Zeit gebt mir, ihr Hohen Herren ringsherum, und dann urteilt und richtet mich!

Himmelherrgottnochmal, wenn ich bloß wüßte, wie das damals mit den Eiern war!

Langsam. Von vorn.

In Krakau war es, das weiß ich bestimmt.

Was war das? Was? Ich muß es genau wissen, dann kann ich dieses Rindvieh von Colonel vielleicht reinlegen und meinen Krieg anfangen! Krakau … Krakau … Im Lazarett lag ich da mal … Das Lazarett war in der Universitätsklinik … Und da war die blonde Friederike … Süßes Mädchen … Hat in der Klinik gearbeitet … Und mir erzählt, was sie da machen. Was sie da machen … etwas mit Eiern … Was haben sie da bloß gemacht mit den Eiern?

6

Das Band ist inzwischen weitergelaufen. In seiner Erinnerung an die Zeit in Krakau wühlend, hörte Jakob das Gekläff des Colonels, der nun den Diensthabenden bei OMGUS, Berlin, am Apparat hat: »… und ich sage Ihnen, Major: Wenn wir nicht wollen, daß die Kommunisten uns überrennen, dann müssen wir einig und starken Herzens …«