Die Insel der schwarzen Schmetterlinge - Leena Lander - E-Book

Die Insel der schwarzen Schmetterlinge E-Book

Leena Lander

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Beschreibung

Eine namenlose Insel in den Schären, irgendwo vor der Küste Finnlands: Hier ist nichts als das Erziehungsheim, in das der junge Juhani geschickt wird. Schnell bekommt er die strengen Regeln des Heimleiters zu spüren. Denn dieser will seinen Zöglingen zeigen, dass das Unmögliche möglich ist, und züchtet zu diesem Zweck und trotz des rauen, kalten Klimas in einem Treibhaus Seidenraupen. Doch dann geschieht ein Mord im Schmetterlingshaus, eine verhängnisvolle Affäre kommt ans Licht, und aus den Raupen schlüpfen keine weißen Falter, sondern schwarze ...

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Eine namenlose Insel in den Schären, irgendwo vor der Küste Finnlands: Hier liegt nur ein Erziehungsheim, in das der junge Juhani geschickt wird. Schnell bekommt er die strengen Regeln des Heimleiters zu spüren. Denn dieser will seinen Zöglingen zeigen, dass das Unmögliche möglich ist, und züchtet zu diesem Zweck und trotz des rauen, kalten Klimas in einem Treibhaus Seidenraupen. Doch dann geschieht ein Mord im Schmetterlingshaus, eine verhängnisvolle Affäre kommt ans Licht, und aus den Raupen schlüpfen keine weißen Falter, sondern schwarze …

LEENALANDER, geboren 1955, ist eine der international bekanntesten und erfolgreichsten Schriftstellerinnen der finnischen Gegenwartsliteratur. Ihre Bücher wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt und vielfach mit Preisen ausgezeichnet. Die Verfilmungen ihrer Romane »Die Insel der schwarzen Schmetterlinge« und »Die Unbeugsame« waren in Finnland große Erfolge. Leena Lander lebt mit ihrem Mann, dem Schriftsteller Hannu Raittila, im Südwesten von Finnland in der Nähe von Turku.

LEENA LANDER

Die Insel der schwarzen Schmetterlinge

ROMAN

Aus dem Finnischen von Angela Plöger

Die finnische Originalausgabe erschien 1991 unter dem TitelTummien perhosten koti bei Kirjayhtymä, Helsinki.

1. AuflageTaschenbuchausgabe Oktober 2014 Copyright © 1991 by Leena LanderPublished by arrangement with Werner Söderström Ltd. (WSOY) Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1998 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, MünchenUmschlaggestaltung: semper smile, MünchenUmschlagmotiv: Getty Images/Guy EdwardesSatz: Uhl + Massopust, Aalen

MI · Herstellung: scISBN 978-3-641-19784-1www.btb-verlag.dewww.facebook.com/btbverlagBesuchen Sie unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de

1. Kapitel

POLIZEILICHES UNTERSUCHUNGSPROTOKOLL

Betreff: Todesfall Tyyne Amanda Koskinen;Untersuchung der Todesursache

Am Donnerstag, dem 27. August 1969 um 7.20 Uhr, teilte der Direktor des Erziehungsheimes Olavi Markus Harjula dem Unterzeichneten telefonisch mit, dass er die Viehmagd Tyyne Amanda Koskinen am Morgen desselben Tages um 6.55 Uhr im Hühnerstall auf dem Gelände des Erziehungsheims N. auf der Insel X. tot auf dem Boden liegend vorgefunden habe. Unmittelbar nachdem er die Leiche gefunden hatte, rief Harjula telefonisch den Gemeindearzt Martti Hannu zur Stelle, der im Moment des Anrufs bei mir zum Fundort der Leiche unterwegs war.

Nachdem ich die Anzeige erhalten hatte, rief ich umgehend den Polizeichef des Kreises K. an, der den Unterzeichneten anwies, die Untersuchungen in der Sache zu führen. Unmittelbar darauf begab ich mich mit Polizeikonstabler Pertti Alinen auf die Insel X. und in den Hühnerstall, der zu den Gebäuden des o. g. Erziehungsheims gehört.

In dem Vorraum auf der Hofseite befindet sich die Tür zu einem Gang, von dem beidseits je eine Tür zu den Hühnerställen führt. Beide Türen waren geschlossen. Am entgegengesetzten Ende des Ganges befindet sich eine weitere Tür, die in eine kleine Kammer führt, in der gewöhnlich Eierpappen aufbewahrt werden.

Als wir den langen Gang durch den Vorraum betraten, stellte ich fest, dass auf dem Fußboden die in der telefonischen Anzeige benannte Tyyne Amanda Koskinen tot auf dem Rücken lag. Die Leiche ruhte bei dem Fenster, das sich in der Mitte der Wand befindet, in einer Entfernung von etwa 1–2 Metern von dieser Wand, und zwar so, dass der Kopf in Richtung Außentür wies.

Als ich die Tote näher untersuchte, stellte ich fest, dass sich an ihrer Unterseite schon Flecke gebildet hatten und dass auch schon eine leichte Totenstarre eingetreten war. Aus Nase und Mund der Toten war Blut ausgetreten, jedoch so wenig, dass nichts davon auf den Fußboden und auch nichts auf das Gesicht geflossen war, abgesehen von dem Bereich des Mundes. Am Körper der Toten waren keine blauen Flecke zu erkennen und auch keine anderen Anzeichen äußerer Gewalteinwirkung, es gab lediglich ein paar Kotflecken, die offensichtlich von Hühnern stammten.

Die Tote war bekleidet mit einem langen Flanellnachthemd und einer braunen, handgestrickten Jacke, und an den Füßen trug sie Gummistiefel mit heruntergeklappten Schäften.

Vor der Abstellkammer befand sich neben einem kleinen Sprossenfenster ein umgekipptes Feldbett, vor dem ein Schlüsselbund lag, das der Toten gehört hatte. Andere Möbel befanden sich nicht in dem Gang, und auf dem Fußboden lag kein Teppich.

Als ich im Hühnerstall des Erziehungsheims eintraf, waren dort auch der Direktor Olavi Harjula, der Gemeindearzt Martti Hannu und Frau Anna Irene Harjula, die Ehefrau des Direktors, anwesend. Irene (der Rufname) Harjula wirkte sehr niedergeschlagen, und ihr Gang war schwankend, was offenbar daher rührte, dass der am Tatort anwesende Gemeindearzt Hannu ihr zuvor eine Beruhigungsspritze gegeben hatte.

Olavi Harjula, der die Leiche der Viehpflegerin Koskinen gefunden hatte, sagte mir, niemand habe aus Richtung des Hühnerstalls irgendetwas Ungewöhnliches gehört. Er selbst sei hineingegangen, um die Koskinen zu suchen, weil die Kühe so laut gebrüllt hätten. Daraus habe er geschlossen, dass sie nicht zur gewohnten Zeit, also etwa zwischen 5.30 Uhr und 6.30 Uhr, gemolken und gefüttert worden waren.

Als er die Tür zum Gang des Hühnerstalls öffnete, sei ihm als Erstes aufgefallen, dass der Gang voller Hühner war. Die eine der beiden Hühnerstalltüren habe offen gestanden, und von dort seien die Hühner in den Gang gelangt. Erst danach habe er die am Boden auf dem Rücken liegende Koskinen entdeckt, auf der ebenfalls einige Hühner herumspaziert seien.

Harjula sagte, als Erstes habe er versucht, die Koskinen zu sich zu bringen, von der er annahm, sie sei ausgerutscht und mit dem Kopf hart aufgeschlagen oder habe irgendeinen Anfall von Krankheit erlitten. Er habe versucht, die Koskinen an den Schultern aufzurichten, dann aber bemerkt, dass sie tot war. Danach habe er die Hühner zurück in den Stall gescheucht, die Tür geschlossen und sei eilig davongegangen, um den Arzt und die Polizei anzurufen. Weiterhin habe er das Vorgefallene auch seiner Frau Irene Harjula erzählt und sich u. a. darüber gewundert, warum Koskinen im Nachthemd in den Hühnerstall gegangen war.

Die Leiche der Koskinen wurde am selben Morgen in das Institut für Pathologie des Zentralen Universitätskrankenhauses von T. zur gerichtsmedizinischen Obduktion gebracht. Dessen Gutachten wird hier in Kopie beigefügt und lautet wie folgt:

Gutachten

Aus der vollständigen Obduktion der Tyyne Amanda Koskinen, die am 27.8.1969 in T. durchgeführt wurde, ergab sich, dass die Leiche keine äußeren Anzeichen von Gewaltanwendung aufwies. Am Hals befanden sich in Höhe des Kehlkopfes zu beiden Seiten der Mittellinie frische Blutergüsse im subkutanen Gewebe und in der Muskulatur.

An den anderen Organen wurde nichts Absonderliches festgestellt. Das Jungfernhäutchen ist völlig intakt. Eine dem Herzmuskel entnommene Gewebeprobe ergab, dass der Herzmuskel histologisch normal ist und keine Blutergüsse aufweist.

Aus den oben genannten Untersuchungsergebnissen kann man schließen, dass Koskinens Hals von einem stumpfen Stoß getroffen wurde. Die Todesursache lässt sich aufgrund des Obduktionsergebnisses nicht mit Sicherheit bestimmen; da aber sonst keine weiteren organischen Veränderungen feststellbar sind, muss man annehmen, dass der Tod durch einen Schlag gegen das Halsnervengeflecht und einen infolgedessen eingetretenen reflexartigen Herzstillstand verursacht wurde. Den Totenschein habe ich ausgestellt und als Todesursache einen dumpfen Stoß gegen den Hals (Contusio colli 920 M 8) angegeben.

Aufgrund des oben Gesagten lässt sich die Möglichkeit äußerer Gewalteinwirkung nicht ausschließen.

Ich versichere bei Ehre und Gewissen, dass das oben Gesagte richtig ist.

T., den 27.8. 1969

Bezirksarzt des Bezirks K.

Asko Helkkä

2. Kapitel

Als Juhani Johansson das Meer zum ersten Mal sah, war es nicht so blau, wie er es sich vorgestellt hatte.

Seltsam, dass er jetzt daran denken muss, während er neben dem Geschäftsführer der Baugesellschaft steht und sein künftiges Arbeitszimmer in der obersten Etage in Augenschein nimmt.

Wie er da am Fenster steht, die Hände in den Taschen des Anzugs, den er in Brüssel gekauft hat, und auf das Meer hinausschaut, das da ebenso grau und melancholisch vor ihm wogt wie vor einem Vierteljahrhundert, erinnert er sich wieder an seine damalige Enttäuschung. Das Meer war nicht blau, und das schmerzte viel mehr als der Biss des in Panik geratenen Nerzes.

Auch an die Wut und die Angst erinnert er sich, an die Wut auf all die Menschen, die er traf, und an die Angst vor der halb im Nebel versunkenen Insel, aber die können ihm nicht mehr so wehtun wie die Enttäuschung, von der er jetzt, fünfundzwanzig Jahre später, weiß, dass sie umsonst war. Wenn er könnte, würde er seine Hand nach den mageren Schultern des Jungen ausstrecken, sie ermutigend drücken und sagen:

Du wirst noch sehen, wie es vor dir erglänzt, genauso atemberaubend blau, wie du es dir nur erträumen kannst! Hörst du, kleiner Bub, das Meer hat dich nicht betrogen!

Während Juhani Johansson die Havanna nimmt, die ihm der Geschäftsführer der Baugesellschaft anbietet, und sie routiniert befeuchtet, fällt ihm ein lächerliches Detail am Ärmel des Beamten wieder ein. Da war ein Fleck. Und der sah genauso aus wie Blut. Der Fleck befand sich versteckt an der Unterseite des blauen Ärmels seiner Uniformjacke und wurde erst sichtbar, als der Beamte die Arme hob, um die Tasche von der Gepäckablage herunterzunehmen.

Aber konnten Beamte denn richtiges Blut verströmen? Sie waren doch immer so leblos. Leblos und peinlich sauber.

Erst jetzt, ein Vierteljahrhundert danach, wird er wirklich wütend auf den Beamten, der sich entgegen aller Wahrscheinlichkeit schnitt und auf diese Weise versuchte, als Mensch durchzugehen, der aber dennoch seine Hand kein einziges Mal auf die mageren Schultern des Jungen legte, um sie ermutigend zu drücken. Warum macht er dem unausstehlichen, bösen kleinen Juhani Johansson nicht ein wenig Mut? Diesem Jungen, der vom Meer enttäuscht ist, weil es keine große blaue Fläche ist und sich keine Nixen mit rosig schimmernden Brüsten über glitzernden Schuppen darin tummeln? Das Meer, in das man vom hohen Felsen hinabtauchen könnte, hinunter zu den von Wasserlilien bewachsenen, am Grunde wartenden Schätzen.

Die Fantasien eines Neunjährigen! Etwas Zerbrechlicheres gibt es gar nicht.

Der Mann lehnt sich gegen das kleine Lüftungsgitter, bedauert, dass es so schmal ist. Wie herrlich wäre es doch, hinauszutreten und die Seeluft tief in die Lungen zu saugen. Schade, dass zu dem Zimmer kein Balkon gehört, so wie zum Zimmer des Geschäftsführers. Das emsige Getöse der Gabelstapler und Kräne ist allerdings trotzdem zu hören.

Ob der Beamte wohl noch lebt?

Und wenn er ihn ausfindig machen und ihm endlich alles mit barer Münze heimzahlen würde?

»Du bist doch … hm … Waise?«, fragt der Geschäftsführer der Baugesellschaft, als Juhani Johansson vom Fenster hinter den großen Schreibtisch tritt und sich in den Stuhl mit den Rollen setzt, der zu niedrig für ihn ist.

»Waise?«

Darauf ist er nicht vorbereitet, dass man ihm plötzlich seinen Schutzschild stiehlt.

War es der Verteidiger der »Bärenjungen«? Irgendwann in den Sechzigerjahren, als sie noch auf der Eisbahn unter freiem Himmel spielten. Der Wind schaukelt sich in den Lampen. Der Verteidiger der Gäste gleitet ohne Helm unaufhaltsam einem Schmetterschlag entgegen. Er bekommt den Puck mitten ins Gesicht verpasst, sodass es kracht.

»Wie du siehst, wissen wir mehr von dir, als du denkst«, lacht der Geschäftsführer.

»Offensichtlich«, sagt der Mann und greift in die Tasche.

Der Geschäftsführer gibt ihm Feuer – wo sie jetzt doch fast gleichberechtigt sind.

Auf dem Tisch steht ein chinesischer Drache, der aus seinem steinernen Schlund eigentlich Feuer speien sollte, aber er tut es nicht.

»Der funktioniert schon seit zwanzig Jahren nicht mehr. Ich konnte mich nur nicht dazu entschließen, ihn wegzuwerfen, weil er doch so verflixt hübsch ist«, sagt der Geschäftsführer und berührt den grüngestreiften Schwanz des Drachen.

Der Geschäftsführer ist ein kleiner, aber für sein Alter eleganter Mann, und die Frauen finden sicherlich, dass er gut aussieht. Doch seine Stimme knarrt schon leicht, und das verrät sein wahres Alter. Sein Leben lang war er mit derselben Frau verheiratet, die es nicht geschafft hat, ihm auch nur ein einziges Kind zu gebären. Eine Scheidung kam nicht infrage, denn die Baugesellschaft ist ein Erbe vom Vater der Frau. Und die hält immer noch die Mehrheit der Aktien.

»Wenn ich so ein Ding hätte, würde ich keine Ruhe geben, bis es wieder in Ordnung wäre«, sagt Juhani Johansson.

»Ich weiß, deshalb haben wir dich ja auch eingestellt«, lacht der Geschäftsführer und legt ihm den Drachen in die Hand.

»Offensichtlich«, sagt der Mann wieder und wendet das Feuerzeug hin und her.

Jetzt durchschaue ich dich. Du täuschst mich nicht mehr. Du schacherst. Das ist dein Stil. Zuerst verletzt du einen. Dann tust du so, als wäre nichts gewesen. Und dann startest du einen neuen Angriff.

Durch den Spalt der offenen Tür ist zu sehen, wie die hagere Putzfrau im Korridor hinter der surrenden Bohnermaschine herschlurft. In den Duft der Zigarre mischt sich der stechende Geruch von Bohnerwachs.

»Du nimmst es uns doch nicht übel, dass wir uns für deine Herkunft interessiert haben? Du selbst sagst darüber ja nicht viel.« Der Geschäftsführer lächelt, um Entschuldigung bittend.

»Du kennst mich doch. Du kennst mich seit Jahren. Mir wäre es gar nicht in den Sinn gekommen, dass meine Kindheit irgendetwas mit der Sache zu tun haben könnte.«

»Natürlich hat sie nichts damit zu tun«, versichert der Geschäftsführer eilig. »Was du als Minderjähriger gemacht hast, hat keinen Einfluss auf die Wahrnehmung dieser Aufgabe. Im Gegenteil: entsprechende Erfahrungen sind nur von Vorteil.«

Der kameradschaftliche Ton des Geschäftsführers kann Juhani Johansson nicht mehr täuschen.

»Nimm es mir nicht übel – aber ich spreche nicht gern darüber.«

Dabei scherst du dich doch einen Dreck um meine Gefühle. Wenn du nur für dein Geld einen ordentlichen Gegenwert kriegst.

Er mag das Lächeln des Geschäftsführers nicht: es ist ebenso echt wie die Zähne des Oberkiefers, die es entblößt.

»Natürlich war das alles ziemlich überraschend. Es hat in mir eine neue Art von Mitgefühl für dich geweckt«, bemerkt der Geschäftsführer.

»Mitgefühl?«

»Oder eher Bewunderung. Nicht viele würden darauf wetten, dass man mit deiner Vergangenheit in so eine Position aufsteigt.«

Draußen, auf dem Fenstersims des zum Meer gehenden Zimmers des stellvertretenden Geschäftsführers, haben sich zwei perlgraue Tauben niedergelassen. Sie schubsen sich gegenseitig, als gäbe es dort nicht Platz genug für beide.

»Ich bin nicht der Einzige.«

»Nein. Das ist wahr.«

Die Antwort kommt zu schnell. Und wieder dieses allzu breite Lächeln, wo es nichts zu lächeln gibt.

Nur Ruhe! Nichts übereilen.

Es geht jetzt nur darum, auf die Eröffnung des Spiels richtig zu reagieren; vorauszuahnen, von welcher Seite der Gegner den Puck ins Tor zu bugsieren versucht.

»Dies ist keine Anklage«, präzisiert der Geschäftsführer mühsam. »Es kann ja keiner was dafür, dass er hm … Waise wird.«

»Früher oder später geht es uns allen so«, entgegnet Johansson mit schiefem Lächeln.

»Wie meinst du das?«

»Wir Waisen sollten zusammenhalten«, antwortet er. »Deine Eltern leben doch auch nicht mehr?«

Verblüffte Stille.

Dann bricht der Geschäftsführer in dröhnendes Gelächter aus.

»So ist es richtig, ich liebe schlagfertige Männer, und ich finde es bombig, dass wir hier schon ganz vertraut wie Vater und Sohn miteinander debattieren.«

Doch unvermittelt wird er ernst, legt Johansson die Hand auf die Schulter und sieht ihn forschend an:

»Du willst diese Stellung und dieses Zimmer. Und ich will, dass du sie auch bekommst. Aber zuerst musst du mir etwas erzählen. Es ist keine große Sache, aber ich muss sie wissen.«

»Was denn?«

»Nehmen wir einen Kognak? Schenk du ein. Du bist ja hier bald der Hausherr. Da im Schrank, ganz rechts.«

Das gedämpfte Klacken der Tür.

»Wieso sitzt der so fest? Ich war überzeugt, dass dein Vorgänger ihn mehrmals täglich geöffnet hat«, sagt der Geschäftsführer.

Der Korken rührt sich nicht vom Fleck. Schon mal geöffnet, und doch voll. Sie hätten die Flasche gegen eine neue austauschen sollen.

Die Gläser klingen, auf den gemeinsamen Erfolg!

Außerdem war ich keine solche Waise, wie du denkst: Meine einfältige Mutter hat mich nicht gleich nach der Geburt in die verrostete Mülltonne hinten auf dem Hof geworfen. Man hat mich nicht zwischen Monatsbinden aufgefunden und mit Eierschalen hinter den Ohren …

»Also«, fragt Juhani Johansson, »was willst du wissen?«

Der Geschäftsführer räuspert sich. Das ist keine Verstellung. Ihm steigt das Wasser in die Augen.

Ein Magengeschwür?

»Soweit ich weiß, gab es dort im Erziehungsheim einen Vorfall«, sagt der Geschäftsführer. Er hat sein Taschentuch hervorgeholt und betupft sich damit die Augen.

»Ja«, entgegnet Johansson, »wo passiert denn nichts.«

»Ich meine die Geschichte, über die auch die Zeitungen berichteten.«

»Die Zeitungen haben viel über uns berichtet.«

Einmal sogar mit Bild. Von Pontus, als er bei der Landwirtschaftsausstellung den ersten Preis bekommen hatte. Der stattlichste Zuchtbulle der Provinz! Und das war er wirklich, solche Klöten hatte man noch nicht gesehen.

Er hantiert mit dem Stuhl herum, will ihn zehn Zentimeter höher stellen.

»Ich meine den Todesfall Ende der Sechzigerjahre. Der mit den mysteriösen Umständen, wie es so schön heißt«, fügt der Geschäftsführer hinzu und lächelt verlegen.

Während Johansson den alten Mann betrachtet, der sich im lederbezogenen Drehstuhl unter dem Lüftungsgitter und der norwegischen Fjälllandschaft zurücklehnt, nimmt er im Atemgeräusch des Geschäftsführers der Baugesellschaft zum ersten Mal eine neue Nuance wahr, ein kleines, mühsames Pfeifen, das ihm die Entladung einer unterdrückten Spannung verrät.

Dieser Mensch, der sich seiner Macht so bewusst ist, hatte diesen Augenblick also gefürchtet und sich dazu zwingen müssen, die Sache zur Sprache zu bringen. Plötzlich erscheint ihm der Geschäftsführer klein und irgendwie hilflos.

»Ich erinnere mich an nichts dergleichen«, entgegnet er, forscher, als es nötig gewesen wäre.

»Seltsam. Dich hat man doch auch verhört. Und deinen Schwiegervater.«

Juhani Johansson kann sich eines Lächelns nicht erwehren. Es ist eines von der Sorte, von dem anderen das Wort im Halse steckenbleibt.

Jalonen kriegt den Puck bei der blauen Linie zu schnappen. Die Stürmer treiben das Spiel in die Ecken. Die beiden Verteidiger wissen nicht, was sie tun sollen, sie gleiten zur Seite. Jalonen gibt nicht ab, sondern beschließt, im Mittelfeld durchzubrechen. Die Verteidiger stürzen hinterher und rempeln ihn an. Jalonen schwankt, hält den Stock mit einer Hand, hat aber immer noch den Puck. Der Torhüter gleitet ihm entgegen, hinaus aufs Eis. Jalonen schlägt den Puck mit einer Hand. Er flattert wie ein Schmetterling ins Netz, haargenau in die Mitte.

»Ach, darum geht es? Hast du jetzt auch etwas gegen die Schriften meines Schwiegervaters?«

»Versteh mich nicht falsch, mein Freund«, sagt der Geschäftsführer. »Ich liebe das Meer auch und möchte nicht, dass es ihm schlecht ergeht … Mensch, ich verbringe doch jedes freie Wochenende im Sommerhaus mit Fischen und Angeln! Aber es geht um die Leute. Du verstehst doch wohl, dass uns der Auftrag entgeht, wenn ein paar unzurechnungsfähige Spinner eine solche Hysterie entfachen, dass die ganze Fabrik …«

»Ich bin nicht der Aufpasser meines Schwiegervaters.«

»Also, die Rezession steht vor der Tür. Wir können es uns nicht leisten, auch nur einen einzigen Auftrag zu verlieren. Und das wäre ja auch ein ausgesprochen schlechter Einstieg für dich, findest du nicht?«

»Wir wollen doch nicht übertreiben. Nenne mir nur eine einzige Fabrik in diesem Land, die wegen der Umweltschützer geschlossen worden wäre oder auch nur einen Nachteil erlitten hätte.«

Er zwingt sich, ruhig zu bleiben.

»Darum geht es nicht«, braust der Geschäftsführer auf und versetzt dem Drachen einen Stoß, dass er zum anderen Tischrand rutscht. »Das musst du dir mal vorstellen, die müssen dort Anlagen für Millionen einbauen, sodass sie von Erweiterungsbauten noch auf Jahre hinaus nur träumen können!«

»Das glaub ich nicht. Absolut nicht!«

Natürlich glaube ich es. Aber auch für die Wirtschaft ist es nicht sinnvoll, sich in Scheiße zu begraben. Kranke konsumieren nicht.

»Was soll das heißen, du bist nicht der Aufpasser deines Schwiegervaters? Was ist das für ein Kerl, der seine Verwandtschaft nicht zügeln kann? Oder seid ihr zerstritten?«

Stille. »Ich mach dir keine Vorwürfe. Der Mann ist doch total verrückt, nicht wahr?«

Elektroschocks hat man ihm noch nicht verordnet, falls du das meinst. Aber natürlich ist er seelisch erschüttert, paranoid. Und er ist der Mann, ohne den ich ein Nichts wäre.

»Für meine Arbeit ist dieser Aspekt ziemlich irrelevant«, sagt Juhani Johansson.

»Irrelevant? Verschon mich bloß mit deinem intellektuellen Quatsch, Junge. Du weißt, was ich meine. Ich pflege kein Blatt vor den Mund zu nehmen und erwarte das auch von anderen.«

»Mein Schwiegervater ist nur einer von denen, die gegen Abwassereinleitungen sind. Du kannst nicht alle Verwandten der Umweltschützer einstellen, damit sie ihre Angehörigen an die Kandare nehmen!«

»Aber er hat Fotos«, sagt der Geschäftsführer der Baugesellschaft und reckt den Zeigefinger triumphierend in die Höhe. »Er hat Fotos, und die werden in der Zeitung veröffentlicht. Da fragt man sich doch, ob in den Redaktionen nur Kommunisten sitzen oder was. Die haben doch überhaupt keinen Sinn für das, was man abdrucken sollte und was nicht. Und dann sehen die Leute sich diese aufgedunsenen Fische an und kriegen allerlei fantastische Ideen! Das Volk, weißt du, das ist so blöd, das begreift gar nicht, wie Bilder lügen können.«

Die Hand des Geschäftsführers hat sich zur Faust geballt. Am Zeigefinger prangt ein breiter Siegelring mit blauem Stein.

Juhani Johansson sieht nur die Kraft, die unter der angespannten, unbehaarten Haut spielt, das unsichtbare Netz von Beziehungen, die Macht des Geschäftsführers der Baugesellschaft. Es ist eine ungeheure Macht, die Menschen klein und ersetzlich und immer wieder käuflich und verkäuflich macht.

Johansson denkt an den großen Konferenztisch aus Nussbaumholz, an dem er nun endlich Platz nehmen kann. Er sieht, wie er sich noch stärker als bisher mit diesem Mann verbündet. Wie er ohne Bedauern die letzten Reste seines früheren Lebens zertritt, wie er unter kameradschaftlichem Geplauder mit dem Ellbogen die schweren Türen beiseiteschiebt, die in die Kabinetts des innersten Zirkels führen, wie er durch den Euroqualm hindurch die dort sitzenden Männer begrüßt, ohne sich um die faktische, aber mit Stillschweigen übergangene Anwesenheit ihrer stummen, hübschen Sekretärinnen zu kümmern, immer bereit, auf kultivierte Weise und scheinbar gelassen, aber gierig und zielstrebig, täglich sein Schäfchen ins Trockene zu bringen.

Das ist es doch, was ich immer gewollt habe, oder? Dafür hab ich all die Jahre geschuftet.

»Die Ergüsse eines einzelnen tragikomischen Irren beweisen ja nichts. Aber sie verursachen bedauerliche Missverständnisse«, sagt der Geschäftsführer.

»Ich verstehe«, sagt der künftige stellvertretende Geschäftsführer.

Und er versteht es ja auch.

Der alte Mann verbirgt nur mit Mühe seine Verwunderung. Dass er den anderen so mühelos zur Einsicht bringen würde, hatte er nicht erwartet.

»Versteh mich nicht falsch. Ich habe nichts gegen deine Familie. Persönlich. Aber ich muss in erster Linie an die Firma denken. Ich bin für die Arbeitsplätze unzähliger Leute verantwortlich. Und jetzt mach ich mir Sorgen. Ein bisschen so wie der Hirte um seine Herde. Ich habe keine anderen Kinder als die, die hier im Unternehmen arbeiten. Verstehst du, was ich meine? So wie dein Vater sich deinetwegen Sorgen machen würde, wenn er noch lebte.«

»Natürlich.«

»Ich bin kein schlechter Mensch. Ich liebe die Natur genauso wie alle anderen. Ich kann sogar sagen, dass einige dieser Vorher-nachher-Bilder mich zutiefst berührt haben. Zum Beispiel die mit diesen blauroten Blumen. Was waren das noch für welche?«

»Keine Ahnung.«

»Auf jeden Fall waren sie sehr schön.«

»Ja.«

»Ja, das sind sie, verdammt noch mal!«, beteuert der Geschäftsführer. »Es ist wirklich schade, wenn sie aussterben, aber das kann doch nicht meine Schuld sein. Lächerlich, so etwas zu behaupten.«

Juhani Johansson leert sein Glas und tritt wieder ans Fenster.

Ich kannte eine Frau, die sie züchtete. Diese und andere Blumen. Sie pflanzte Blumen und entzündete Feuer. In jedem von uns.

Die Fahnenschnüre peitschen die schwarz gewordenen Masten.

»Ein Sturm kommt auf«, sagt er mit dem Rücken zum Zimmer.

»Glaubst du?«, fragt der Geschäftsführer der Baugesellschaft. Er ist sich nicht sicher, ob Johansson gleichnishaft spricht.

»Ich weiß es.«

»So, so. Na dann, alle Mann an die Ruder«, probiert der Geschäftsführer es vorsichtig mit einem Scherz.

»Ganz recht.«

»Hör mal, noch ein Wörtchen zu diesem Todesfall. Du glaubst doch wohl nicht, dass ich im Ernst annehmen würde, du hättest etwas damit zu tun?«

»Natürlich nicht.«

Er hält mich für einen potenziellen Mörder, aber das stört ihn nicht weiter!

»Wusst ich’s doch. Sonst hätte ich die Sache doch gar nicht zur Sprache gebracht. Wir zwei haben uns doch immer gut verstanden. Trinken wir darauf?«

Der Geschäftsführer der Baugesellschaft steht mitten im Zimmer und starrt auf das Glas in seiner Hand, als stünde dort geschrieben, was als Nächstes geschieht.

»Ich glaube, ich werde es bei dem einen belassen.«

»Ach was! Einen über den Durst zu trinken, tut verdammt gut. Zum Kuckuck mit den fanatischen Abstinenzlern«, sagt der Geschäftsführer und zwinkert Johansson zu.

Widerlicher Typ!

Seine gekünstelten, weibischen Kraftausdrücke und sein teures Rasierwasser, sein protziger Siegelring, seine ständige Wachsamkeit, mit der er darauf achtet, dass ihm auch nicht die geringste Chance, aus einer Sache Nutzen zu schlagen, entgeht.

Und doch weiß Johansson nur allzu gut, dass der Alte auch seine menschenfreundlichen Seiten hat und dass er in uneigennütziger Weise hilfsbereit sein kann: Er hat selbst erlebt, wie der Geschäftsführer Selbstlosigkeit und Anteilnahme bewies, ohne dass er davon profitierte.

Er war dabei, als der Geschäftsführer, aufrichtig bewegt, einen alten, treuen Mitarbeiter mit wertvollen Geschenken in den Ruhestand verabschiedete. Und er war dabei, als der Geschäftsführer, nachdem er, außer sich vor Schreck, Zeuge eines Verkehrsunfalls geworden war, der verunglückten alten Frau ins Krankenhaus Blumen schickte.

Der Geschäftsführer war für ihn der wandelnde Beweis dafür, dass das Individuum im harten Geschäftsleben seine Menschlichkeit bewahren kann.

Jetzt aber steht der Geschäftsführer plötzlich auf der Gegenseite.

Juhani Johansson wundert sich im Stillen, wie plötzlich und aus wie geringem Anlass die Dinge sich in ihr Gegenteil verkehren können. Einige unerwartete Sätze, und ein nützlicher Verbündeter ist auf rätselhafte Weise aus einem von uns unwiederbringlich zu einem von ihnen geworden.

Das hindert Juhani Johansson freilich nicht daran, als nächster Untergebener dieses wohlhabenden und erfolgreichen Mannes zu arbeiten. Es hindert ihn auch nicht daran, sich diesem Mann gegenüber auf konventionelle Weise kameradschaftlich und loyal zu verhalten. Eigentlich hindert es ihn an nichts, was dieser Mann, der Geschäftsführer der Baugesellschaft, für wichtig hält. Denn eines Tages werden die Ärzte seine Haut zu blass finden, und er wird schnell an seiner Leberzirrhose oder an Dickdarmkrebs zugrunde gehen. Jedenfalls wird er eines selbst verschuldeten Wohlstandstodes sterben.

Und Juhani Johansson wird seinen Thron und vielleicht auch seine Krankheiten erben.

Was hat es da noch für eine Bedeutung, dass er ihm nicht mehr vertrauen will und kann? Er ist doch kein kleiner Junge mehr, der seine Hilflosigkeit durch Bettnässen, Schluckauf oder Fluchen zu erkennen gibt, er braucht nicht mehr die Männerhand, die sich auf seine Schultern legt, er bettelt um niemandes Zuneigung.

Das, was er verloren hat, ist völlig bedeutungslos. Den Respekt, die Möglichkeit, zu jemandem wenigstens ein wenig und hin und wieder aufzublicken. Aus Erfahrung hätte er wissen müssen, dass es immer so kommt. Früher oder später.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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