Die Jahre mit Dir - Katharina Wolff - E-Book

Die Jahre mit Dir E-Book

Katharina Wolff

0,0
2,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Die Jahre mit Dir

Sie trafen sich im Sommer 1968 und nichts war mehr wie zuvor.
Zwei Teenager, ein Urlaub, ein Blick und die Welt stand still. Es war Liebe auf den ersten Blick. Doch ihre Familien waren dagegen. Zu jung, zu verschieden, zu weit auseinander.

Trotz allem kämpfen sie. Für ihre Liebe. Für einander. Doch das Leben treibt sie auseinander. Andere Partner, andere Wege, doch keiner bleibt.

Die Jahre vergehen. Sie begegnen sich. Sie verlieren sich. Und finden sich wieder. Immer wieder. Denn was sie verbindet, ist mehr als Erinnerung, es ist das, was bleibt.

 

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2025

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Katharina Wolff

Die Jahre mit Dir

UUID: fafc8e7e-c7d9-4e9a-a9a6-8232fcd64897
Dieses E-Book wurde mit Write ( https://writeapp.io) erstellt.
Mail-Adresse: [email protected]
Design: CANVA

(1) Copyright Katharina Wolff© 2025 von Katharina Wolff. Alle Rechte vorbehalten.

(2) Ohne schriftliche Genehmigung des Autors ist es nicht gestattet, dieses Werk oder Teile daraus in irgendeiner Form oder mit irgendwelchen Mitteln, elektronisch oder mechanisch, einschließlich Fotokopieren, Aufzeichnen oder Informationsspeicher- und -abfragesystemen, zu vervielfältigen oder zu übertragen.

(3) Dieses Werk ist frei erfunden. Namen, Personen, Orte und Ereignisse sind der Fantasie des Autors entsprungen oder frei erfunden. Ähnlichkeiten mit tatsächlichen Ereignissen, Orten oder lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

(4) Mit Ausnahme der Verwendung in einer Rezension ist die Vervielfältigung oder Verwertung dieses Werkes im Ganzen oder in Teilen, in welcher Form und mit welchen elektronischen, mechanischen oder sonstigen Mitteln auch immer, die heute bekannt sind oder in Zukunft erfunden werden, ohne die vorherige schriftliche Genehmigung des Herausgebers und des Inhabers des Urheberrechts an diesem Buch verboten.

(5) Herausgegeben von BookRix], einem Imprint von Street Lib. Vertrieben von Katharina Wolff

(6) eBook-Ausgabe: ISBN [10-stellige ISBN] / 978-[13-stellige ISBN]

UUID: 5df3f62b-50e9-4509-a5b6-7759931b588c
Dieses eBook wurde mit Write (https://writeapp.io) erstellt.

Inhaltsverzeichnis

Das erste Treffen-Sommer 1968

Zwei schöne Tage

Eine große Überraschung

Winterurlaub

Eine bittere Zeit

Auf und davon

Sechs Monate allein

Und die Sehnsucht war doch stärker

Wer sich in die Gefahr begibt

Ein letzter Versuch

Der neue Weg

Ein neuer Anfang fern von zuhause

Eine Begegnung mit Folgen

Ein leises Versprechen

Keine Antwort und ein verhängnisvoller Abend

Entscheidungen und ein Baby- und dann ist da Georg

Jahre der Entscheidung

Die Nacht, die alles veränderte

Jahre des Besinnens

Wieder vereint

Liebe ist mehr als nur ein Wort

Für immer

Und dennoch bleibt etwas

Anmerkungen

Das erste Treffen-Sommer 1968

Das erste Treffen – Sommer 1968

Der Juli brütet über Bayern. Die Luft steht still, kein Windhauch regt sich. Karoline sitzt gelangweilt auf dem kleinen Balkon der Ferienwohnung, den Blick auf das träge dahinfließende Leben des Dorfes gerichtet. Hier, irgendwo im Bayerischen Wald, scheint die Zeit eingefroren zu sein. Hätte sie doch nur ihren Willen durchgesetzt – Südtirol wäre ihr lieber gewesen. Dort gab es Freunde, Cafés, lebendige Abende. Aber hier? Nur Spaziergänge mit der Großmutter, die kaum noch zu Fuß gehen kann, und Familienessen mit Gesprächen, die sich im Kreis drehen.

„Mama, ich gehe ein Stück runter ins Dorf“, ruft sie.

„Aber sei pünktlich zurück – um sechs gibt’s Abendessen!“, mahnt die Mutter vom Wohnzimmer aus.

„Ich bin pünktlich“, versichert Karoline und schlüpft in ihre Sandalen.

Die Sonne brennt auf den Asphalt, während sie langsam die leicht abfallende Straße hinuntergeht. Ihre Gedanken schweifen ab – zu dem Jungen mit den dunklen Haaren, der ihr vor ein paar Tagen aus einem Dachfenster zugewunken hat. Nur ein kurzer Moment, aber sein Blick war direkt in ihren gefallen. Irgendetwas an ihm hatte sie berührt. Sie weiß, dass unten an der Kurve eine alte Bank steht. Von dort aus hat man genau Blick auf dieses Fenster. Vielleicht hat sie ja Glück.

Doch heute ist alles anders.

Noch bevor sie die Bank erreicht, sieht sie ihn dort sitzen – groß, gebräunt, lässig. Ihr Herz macht einen Satz. Er ist es. Und er sieht sie kommen.

„Grüß dich“, sagt er mit einem Lächeln, das so offen ist, dass Karoline sofort rot wird.

„Ich habe dich ein paar Mal gesehen“, fährt er fort. „Ich wollte dich kennenlernen. Ich bin Georg.“

„Ich bin Karoline“, murmelt sie, unsicher, aber innerlich aufgewühlt. Seine Stimme ist tief, sein Dialekt weich, fast melodisch.

„Magst du mit mir ins Café gehen? Ich lade dich auf ein Eis ein.“

Sie zögert nur einen Wimpernschlag lang. „Gern, aber ich muss um sechs zurück sein.“

„Kein Problem“, sagt Georg und steht auf. Sie gehen nebeneinander, und Karoline erzählt ihm von Dortmund, vom Gymnasium und vom grauen Alltag zu Hause. Georg berichtet von seiner Arbeit in der Glasbläserei, er wird im Oktober 17 Jahre, von seinen zwei kleinen Brüdern und seinen Eltern, die in einem der Nachbarhäuser wohnen.

Im Café lachen sie über Kleinigkeiten. Karoline ist fasziniert – nicht nur von seinem Aussehen, sondern auch davon, wie selbstverständlich Georg mit ihr spricht, als würden sie sich schon lange kennen.

Auf dem Rückweg bleibt er plötzlich stehen. „Ich bin froh, dass du gekommen bist“, sagt er. Dann küsst er sie auf die Wange. Ein elektrischer Moment.

„Bis morgen, um zwei? An der Bank?“ fragt er.

Sie nickt. „Ich freu mich.“

Als sie zurück in die Ferienwohnung kommt, fühlt sie sich verändert. Alles in ihr scheint heller, lebendiger. Und tief in ihrem Inneren spürt sie: Dieser eine Tag – dieser eine Blick – könnte alles verändern.

Zwei schöne Tage

Am nächsten Mittag steht Karoline früh vor dem Spiegel. Sie wechselt dreimal das Oberteil, bürstet nervös ihr Haar, kontrolliert noch einmal ihr Aussehen. Um Punkt halb zwei verlässt sie mit klopfendem Herzen die Wohnung.

Er ist bereits auf der Bank, als hätte er nur auf sie gewartet.

„Da bist Du ja“, sagt Georg mit einem schelmischen Lächeln.

„Natürlich. Ich wollte doch nicht zu spät kommen.“

Sie begrüßen sich mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange, der sich wie ein Versprechen anfühlt. Gemeinsam gehen sie durch die Gassen der kleinen Stadt, vorbei an bunt verputzten Häusern, dem alten Brunnen, den Georg ihr zeigt, als wäre es ein Geheimnis nur für sie. Im Eiscafé reden sie über dies und das – Familie, Schule, Träume. Es ist leicht mit ihm, mühelos. Und doch spürt Karoline unter der Oberfläche etwas Vibrieren – ein Ziehen, das sie nicht deuten kann.

Nach einer Weile sagt Georg: „Magst Du mit mir spazieren gehen? Ich will Dir etwas zeigen.“

Sie gehen in eine ruhige Seitenstraße, dann hinaus in die Felder. Der Wald liegt still und geheimnisvoll vor ihnen, Vögel zwitschern, der Wind raschelt sanft durch die Bäume.

Plötzlich bleibt Georg stehen.

Er sieht sie an – lange. „Karoline, darf ich Dich küssen?“

Und bevor sie antworten kann, beugt er sich vor und küsst sie. Zärtlich, doch zugleich fordernd. Seine Zunge berührt ihre Lippen. Karoline erschrickt. Es ist zu viel. Zu schnell.

Sie weicht zurück. „Georg… bitte nicht. Ich… ich kann das noch nicht.“

Er wirkt verlegen, aber nicht wütend. „Tut mir leid. Ich dachte… na ja, du kommst aus der Großstadt. Ich habe mich wohl geirrt.“

Karoline hebt den Kopf. „Ich habe einfach noch keine Erfahrung. Ich bin fünfzehn. Du bist der erste Junge, mit dem ich überhaupt so…“

Georg nickt langsam. „Dann will ich vorsichtig sein. Ich mag Dich wirklich.“

Sie gehen weiter – Hand in Hand. Und obwohl sie schweigen, ist da etwas zwischen ihnen, das stärker wird.

Im Wald hält er erneut inne. „Darf ich’s nochmal versuchen? Nur ein bisschen.“

Karoline zögert. Dann nickt sie.

Er küsst sie wieder. Langsamer diesmal. Sie lässt es zu – kurz, ein Hauch, ein Tastversuch. Doch dann zieht sie sich zurück. „Georg… es ist besser, wir hören auf.“

„Okay“, sagt er leise. „Ich will dich nicht drängen.“

Sie gehen zurück zur Bank. Am Abschied umarmt er sie sanft, ihre Wangen streifen einander. Als Karoline ihn gehen sieht, pocht ihr Herz heftig. Was war das gerade? Ein erster Schritt – oder eine unsichtbare Grenze?

Am Abend, allein im Zimmer, legt sie sich ins Bett und starrt lange an die Decke. Ihr Herz ist aufgewühlt, ihr Kopf voll von Fragen. Und doch weiß sie mit einer seltsamen Sicherheit: Sie wird ihn wiedersehen, obwohl sie jetzt sehr traurig ist, denn morgen geht es heim.

Am nächsten Tag huscht sie kurz aus der Ferienwohnung, um sich von ihm zu verabschieden. Ein Kuss, eine Umarmung und weg ist sie!

Eine große Überraschung

Die Wochen nach den Sommerferien ziehen sich. Karoline geht wieder zur Schule, fährt jeden Morgen durch das dichte Verkehrschaos Dortmunds, über holprige Straßen und vorbei an grauen Häuserzeilen. Doch ihre Gedanken sind immer wieder bei ihm – bei Georg. Sein Lächeln. Der Klang seiner Stimme. Die wenigen Küsse, die so viel in ihr bewegt haben.

Doch die Realität holt sie schnell ein. Die letzte Mathearbeit – eine Fünf. Französisch – kaum besser. Nur in Englisch fühlt sie sich sicher, da kann sie glänzen. Und heute, heute ist der Tag der Englischklausur.

Karoline schreibt konzentriert, ist fast erleichtert, als der Gong die Stunde beendet. Sie schwingt sich aufs Fahrrad und tritt kräftig in die Pedale, freut sich auf ein ruhiges Mittagessen zu Hause. Aber als sie in ihre Straße einbiegt, bleibt ihr fast das Herz stehen.

Vor dem Haus stehen Menschen – vertraut und doch fehl am Platz.

Sie erkennt ihn sofort.

Georg.

Er ist hier!

Ein wirkt jetzt ein bisschen älter, doch noch immer ist dieser Ausdruck in seinen Augen. Neben ihm ein fremder Junge. Und da – ihre Mutter, ihre Großmutter. Was ist hier los?

Karoline stellt das Rad ab, geht langsam auf die kleine Gruppe zu, bemüht sich um Fassung. Ihr Blick huscht zwischen Georg, dem fremden Jungen und ihrer Familie hin und her.

„Georg … was machst du denn hier?“, fragt sie leise, fast fassungslos.

Er lächelt, schüchtern, aber mit einem Schimmer Stolz in der Stimme: „Ich hab’s einfach nicht mehr ausgehalten. Ich musste dich sehen. Ich habe dir so viele Briefe geschrieben – aber du hast nur zwei beantwortet. Das hier ist mein Freund Uli. Er hat mich begleitet.“

Karoline erstarrt. Briefe?

Nur zwei hatte sie je bekommen. Der Rest … anscheinend verschwunden.

Sie blickt zu ihrer Mutter, dann zur Großmutter. Beide schauen weg. Ihre Schwester Katharina steht einige Meter entfernt und beobachtet die Szene mit verschlossener Miene.

„Wir sollten hineingehen“, sagt ihre Mutter schließlich knapp, „Die Nachbarn schauen schon.“

In der Küche herrscht schlechte Stimmung. Georg sitzt neben ihr auf der Eckbank, ihre Großmutter gegenüber, die Arme verschränkt. Die Mutter steht im Flur.

„Wissen deine Eltern, dass du hier bist?“, fragt sie scharf, als sie zurückkommt.

Georg senkt den Blick. „Nein. Sie … sie wissen es nicht. Aber sie machen sich bestimmt Sorgen.“

„Dann werden wir sie jetzt anrufen. Ich will keinen Ärger mit der Polizei oder dem Jugendamt.“

Es folgen ein paar abgedämpfte Worte am Telefon, die niemand wirklich versteht. Als die Mutter zurückkommt, sagt sie kühl: „Deine Eltern sind unterwegs. Sie holen euch ab.“

Karoline spürt, wie ihr das Herz in die Tiefe sinkt. Gerade war er da. Jetzt soll er schon wieder weg?

Es ist übermäßig still beim gemeinsamen Abendessen. Danach gehen Karoline, ihre Schwester, Georg und Uli in den kleinen Park gegenüber.

Georg nimmt ihre Hand. „Ich habe dich vermisst und dir geschrieben, immer wieder. Warum hast du nicht geantwortet?“

Karoline schüttelt den Kopf. „Ich habe nur zwei Briefe bekommen und mich gewundert. Ehrlich. Ich habe nie aufgehört, an dich zu denken.“

Sie sehen sich an. Ein stilles Versprechen liegt zwischen ihren Blicken – trotz allem. Trotz aller Hindernisse.

Später am Abend, als alle schlafen, flüstert Georg ihr beim Hochgehen ins Mansardenzimmer zu: „Komm zu mir. Nur kurz. Ich will dich einfach in meinen Armen halten. Es passiert nichts – ich schwöre es dir.“

Und obwohl es gegen ihre Prinzipien ist, schleicht Karoline kurz vor Mitternacht mit klopfendem Herzen die Treppe hoch.

Georg sitzt auf dem Bett, zieht sie zu sich. Er streicht ihr sanft übers Haar, küsst sie auf die Stirn. Doch als seine Hand über ihren Rücken gleitet, erstarrt Karoline. Sie weicht zurück.

„Georg… Bitte nicht. Nicht so.“

Er nickt. „Okay. Ist in Ordnung. Ich bin einfach nur froh, dass du da bist.“

Sie bleibt eine halbe Stunde. Dann geht sie leise zurück in ihr Zimmer. Und während sie sich unter die Decke kuschelt, weiß sie: Diese halbe Stunde wird sie nie vergessen, es ist nichts passiert, aber sie weiß, da ist jemand, der sie lieb hat.

Am nächsten Morgen ist alles anders. Der Himmel ist grau, als wüsste er, dass Abschied bevorsteht.

Karoline sitzt in der Schule, doch ihre Gedanken sind wie Watte – gedämpft, abgelenkt, nur bei Georg. In Mathematik versteht sie kaum ein Wort, und als der Unterricht endlich um zwölf endet, springt sie auf, fährt hastig mit dem Rad nach Hause.

Als sie in ihre Straße einbiegt, stockt ihr der Atem.

Vier Erwachsene.

Georgs und Ulis Eltern.

Sie stehen im Kreis, diskutieren, mit ernsten Gesichtern, während Georg und Uli danebenstehen – die Köpfe gesenkt, wie zwei Jungen, die wissen, dass sie gleich bestraft werden.

Karoline stellt ihr Fahrrad ab und tritt vorsichtig näher.

„Du hast unseren Sohn hierhergelockt!“, zischt Georgs Mutter, kaum dass sie sie erblickt. „Was hast du dir dabei gedacht?“

Karoline blickt sie fassungslos an. „Ich … ich wusste doch gar nicht, dass er kommt.“

Aber ihre Worte prallen ab. Die Frau ist aufgebracht, der Vater ebenfalls, wenn auch schweigsamer. Schließlich sagt Georgs Mutter mit zusammengepressten Lippen: „Wenn ihr im Winterurlaub wieder im Bayerischen Wald seid, könnt ihr euch wiedersehen. Aber jetzt ist Schluss – Georg, Uli, holt eure Sachen.“

Georgs Blick trifft Karolines. Traurig. Hilflos.

Sie weiß, er würde bleiben, wenn er könnte.

Ein Taxi biegt um die Ecke, hält am Bordstein. Niemand sagt etwas. Karoline kämpft gegen die Tränen an, doch als Georg ins Auto steigt und sich noch einmal zu ihr umdreht, kann sie nicht mehr. Sie hebt die Hand, winkt, ein stummes „Ich hab dich lieb“ auf den Lippen.

Dann ist er fort.

Das Haus ist still, als sie wieder eintritt. Die Großmutter sitzt bereits am Küchentisch und wartet.

„Was willst du mit dem Jungen?“, fragt sie streng. „Du bist viel zu jung. Konzentriere dich lieber auf die Schule.“

Karoline sagt nichts. Kein Wort. Ihre Mutter steht am Fenster, den Rücken zugewandt. Kein Blick. Kein Trost.

In ihrem Zimmer streicht Karoline über das Kopfkissen, auf dem Georg letzte Nacht kurz gelegen hat. Der Abdruck ist längst verschwunden. Aber sie kann ihn noch spüren – seinen Duft, seine Nähe, seine Wärme.

Am Abend klingelt das Telefon. Karoline reißt es sich fast aus der Hand.

Georg.

Seine Stimme klingt weit weg, ein wenig brüchig.

„Ich vermiss dich so, Karoline. Bitte … Vergiss mich nicht. Weihnachten ist nicht mehr weit.“

Sie schließt die Augen. „Ich hab dich auch lieb, Georg. Ich schreibe dir, versprochen.“

Noch in derselben Nacht sitzt sie mit einer heißen Tasse Tee an ihrem Schreibtisch. Ihr Stift gleitet über das Papier, während sie ihre Gefühle in Worte gießt – über ihren Kummer, die Sehnsucht, die Hoffnung auf ein Wiedersehen im Winter. Als sie den Umschlag zuklebt, drückt sie ihn fest an ihr Herz.

Der Brief ist ihr Anker – und ihr Versprechen.

Doch die nächsten Wochen kommen keine Antworten. Kein einziger Brief von Georg erreicht sie, obwohl er am Telefon immer wieder sagt: „Ich habe geschrieben, ehrlich.“

In Karoline wächst ein Verdacht.

Wer steckt dahinter? Wer fängt ihre Post ab?

Ein kalter Herbstwind fegt durch die Straßen. Und in ihrem Herzen wächst etwas, das sie bisher kaum kannte: der feste Wille, sich nicht mehr alles gefallen zu lassen.

Winterurlaub

Dezember 1968 – der Bayerische Wald liegt unter einer dicken Schneedecke. Die Welt wirkt wie verzaubert. Die Luft riecht nach Tannenharz und Kälte, und als Karoline mit ihrer Familie aus dem Zug steigt, ist ihr ein einziger Gedanke, der sie durchströmt: Georg.

Hat er noch an sie gedacht?

Wird er sie wiedererkennen?

Als sie sich am nächsten Nachmittag auf den Weg ins Dorf macht, klopft ihr Herz so laut, dass sie es zu hören meint. Und dann – fast wie in einem Film – steht er plötzlich vor ihr. Braun gebrannt wie immer, mit dunklem Haar und diesem Lächeln, das sie nie vergessen hat.

„Karoline …“, sagt er, als würde er sich vergewissern, dass sie wirklich da ist.

Sie bringt kein Wort heraus, lächelt nur. Dann fällt er ihr um den Hals.

„Ich habe dich so vermisst“, flüstert er. „Jeden einzelnen Tag.“

Wenig später sitzen sie im Café. Draußen tanzen die Schneeflocken, drinnen ist es warm und duftet nach Vanille und Kaffee. Sie reden ununterbrochen, holen auf, was in den letzten Monaten unausgesprochen blieb. Doch eine Frage brennt ihr unter den Nägeln:

„Georg … du sagst, du hast mir geschrieben. Aber ich habe nichts bekommen. Nur zwei Briefe. Mehr nicht.“

Er sieht sie ernst an. „Ich schwöre dir, ich habe dir so oft geschrieben, von meiner Arbeit erzählt, von meiner Familie, von meinen Gedanken. Wo sind all diese Briefe hin?“

Karoline senkt den Blick. Sie spürt, dass die Wahrheit irgendwo zwischen den Wänden ihres Zuhauses liegt – zwischen Kontrolle, Schweigen und unausgesprochener Ablehnung.

„Ich finde es heraus“, sagt sie leise.

Nach dem Café spazieren sie durch den verschneiten Ort, ihre Schritte knirschen im Schnee, sie lachen, stolpern fast. Als sie sich verabschieden, hält Georg ihre Hand ein bisschen länger als nötig.

„Bis morgen?“, fragt er.

„Ja. Auf jeden Fall.“

Die nächsten Tage sind ein Flirren aus Vertrautheit und vorsichtiger Annäherung. Karoline verbringt die Vormittage mit der Familie, geht mit ihrer Schwester rodeln, spielt Karten mit der Oma, die immer wieder missbilligend die Stirn runzelt, wenn sie Georg erwähnt.

Doch am Nachmittag gehört sie ihm.

Sie treffen sich, gehen Hand in Hand durch den Wald, reden über Zukunft und Träume. Karoline genießt seine Nähe, seine Wärme – aber sie setzt klare Grenzen.

Kleine Küsse, Umarmungen, zarte Berührungen – mehr nicht. Sie fühlt sich ihm nah, aber auch noch nicht bereit für das, was Georg vielleicht erhofft. Und er respektiert das. Meistens.

An einem Abend besucht sie sogar seine Eltern – ein kleines Wohnzimmer, viel Holz, der Duft nach Suppe und Kamin. Seine Mutter reicht ihr Tee, sein Vater nickt freundlich. Es fühlt sich gut an. Sicher.

Doch zu Hause erwarten sie skeptische Blicke und kalte Worte. Die Großmutter schnaubt: „Was willst du dauernd mit dem Burschen? Es ist Weihnachten! Denk lieber an deine Familie!“

Karoline sagt nichts. In sich spürt sie zum ersten Mal so etwas wie Widerstand. Es ist ihr Leben. Ihre Gefühle.

Die Ferien vergehen wie im Flug. Am letzten Tag stehen sie noch einmal an der kleinen Brücke am Waldrand. Georg zieht sie zu sich, schaut sie lange an.

„Ich will dich nicht verlieren, Karoline.“

„Ich dich auch nicht“, sagt sie.

Er streicht ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Dann gib uns nicht auf.“

„Niemals.“

Sie küsst ihn. Und in diesem Moment scheint der Schnee leiser zu fallen, als würde auch der Winter sie nicht stören wollen.

Am nächsten Morgen reist Karoline und ihre Familie ab – mit einem Herzen voller Sehnsucht und einer Ahnung, dass der Frühling weit entfernt ist.

Eine bittere Zeit

Die Rückfahrt aus dem verschneiten Paradies ist still. Karoline sitzt am Fenster im Zug, die Stirn an die kalte Scheibe gelehnt, und beobachtet, wie die winterliche Landschaft langsam in graue Städte übergeht. Ihre Gedanken sind bei Georg – bei seinem Blick, als sie sich verabschiedet haben. Bei dem letzten Kuss, der sich wie ein Versprechen angefühlt hat. Sie hält den Brief, den er ihr noch heimlich in die Jackentasche geschoben hat, fest umklammert.

„Vergiss mich nicht, ich hab Dich lieb.“

Die Worte brennen sich tief in ihr Herz.

Zu Hause in Dortmund ist alles wie vorher – und doch ist nichts mehr wie es war. Ihre Mutter schweigt, die Großmutter schnauft nur und sagt kein Wort. Karoline spürt es in jeder Geste: Man hat ihr diese Zeit mit Georg im Urlaub nicht gegönnt.

Am nächsten Tag geht sie wieder zur Schule. Ihr Blick ist leer, ihre Gedanken weit weg. Auf den Hausaufgaben steht „ungenügend“, die Lehrer schütteln den Kopf, aber Karoline spürt davon kaum etwas. Nur in den Pausen, wenn sie kurz an der Fensterbank sitzt, greift sie heimlich in ihre Tasche, tastet nach dem Brief – als wäre er ein Talisman gegen die Kälte da draußen.

Sie wartet auf Post von Georg. Jeden Tag.

Doch kein Brief kommt an. Was ist da los?

Der Verdacht, der in ihr keimt, wird von Tag zu Tag stärker. Werden ihre Briefe abgefangen? Jemand muss ihre Post lesen. Oder schlimmer – sie verschwinden lassen.

An einem Donnerstag hält sie es nicht mehr aus. Sie ruft Georg heimlich an, mit Münzen in der Tasche und zitternden Fingern in der Telefonzelle an der Ecke.

„Karoline!“, sagt er sofort, seine Stimme erleichtert und überrascht.

„Warum schreibst Du mir nicht?“, fragt sie – obwohl sie die Antwort kennt, aber sie muss sie hören.

„Ich habe Dir geschrieben“, sagt er. „Zwei lange Briefe. Und davor schon mal. Was ist da los bei Dir?“

Es sticht in ihr. „Ich habe sie nie bekommen.“

Stille.

„Du musst herausfinden, was passiert. Irgendjemand will nicht, dass wir miteinander reden.“

Karoline schluckt. „Ich glaube, ich weiß sogar, wer.“

Am Abend stellt sie ihre Familie zur Rede.

Mit aller Kraft.

„Habt ihr meine Briefe versteckt? Von Georg? Habt ihr sie weggeworfen?“

„Unsinn“, zischt die Großmutter. „Was bildest Du Dir ein?“

„Ich habe nichts gesehen“, murmelt die Schwester und verlässt den Raum.

Die Mutter sagt – wie so oft – gar nichts.

Karoline steht mitten im Wohnzimmer, um sie herum eine Mauer aus Schweigen.

In ihr wächst ein Gefühl, das sie bis dahin kaum kannte:

Trotz.

Wenn die Welt ihr etwas verbieten will – wenn ihre Familie ihr Glück unterdrückt – dann wird sie gehen.

In der Nacht schreibt sie einen letzten, besonders ehrlichen Brief an Georg. Erzählt von der Enge, der Kontrolle, der Einsamkeit. Davon, wie schwer es ist, zwischen Pflicht und Gefühl zu leben. Und dass sie jetzt sechzehn ist, – also kein Kind mehr.

Ich gebe uns nicht auf, niemals“, schreibt sie am Ende. „Aber ich halte es hier nicht mehr lange aus.“

Der Entschluss reift still in ihr.

Wie ein Keim, der unter der Schneedecke auf den Frühling wartet.

Nur, dass Karoline nicht warten wird.

Auf und davon

14. Februar 1969

Valentinstag. Ein Tag für Liebende.

Karoline schnappt sich die Schultasche ohne ein Wort. Niemand denkt an das, was dieser Tag für sie bedeutet.

Aber Karoline hat seit Tagen einen Plan. Und heute wird sie ihn umsetzen.

„Ich geh zu Ines, wir lernen zusammen“, sagt sie beiläufig.

„Sei pünktlich zurück“, kommt es ohne Blickkontakt von der Mutter.

Doch Karoline wird heute nicht zurückkehren. Nicht ins Haus, nicht in dieses Leben, das nicht ihres ist. Für Kar
oline fühlt sich der Morgen an, wie jeder andere. Ihre Mutter steht in der Küche, die Großmutter nörgelt, die Schwester schnappt sich die Schultasche und geht.

Sie hat ihr Taschengeld wochenlang gespart, in der Schulkantine das Mittagessen ausgelassen, um genug Geld für das Bahnticket zusammenzukratzen. In ihrer kleinen Tasche: ein Pullover, ein Buch, ein Brief von Georg, den sie wie einen Schatz hütet.

Am Dortmunder Hauptbahnhof zögert sie einen Moment. Dann zieht sie das Ticket hervor: Dortmund – Plattling. Von dort weiter mit dem Bummelzug nach Regen zu ihm.

Es ist für sie zu diesem Zeitpunkt eine ihrer zweitlängsten Reisen ihres Lebens.

Der Zug rollt durch das Land. Felder, Dörfer, Städte fliegen vorbei. Karoline starrt aus dem Fenster, sieht aber nichts. In ihrem Kopf laufen Szenen ab, wie in einem Film: Georg, wie er sie umarmt. Wie er sagt: „Ich will dich nicht verlieren.“

Am Nachmittag kommt sie in Regen an. Der Himmel ist grau, Schneematsch auf dem Bahnsteig. Ihre Finger zittern, als sie das Münztelefon an der Wand ansteuert. Sie wählt die Nummer von Georgs Elternhaus.

„Hallo?“, meldet sich eine Stimme – tief, männlich. Sein Vater?

„Hier ist Karoline … Ich bin am Bahnhof in Regen. Ist Georg da?“

Ein Moment Stille. Dann Georgs Stimme, plötzlich da, warm, verwundert – fast ungläubig.

„Karoline? Was hast du gemacht, warum bist du hier? Warum?“

„Ich musste dich sehen“, sagt sie schlicht. „Bitte hol mich ab.“

Zehn Minuten später fährt ein Wagen vor. Georg steigt aus, gefolgt von seinem Vater. Als er sie sieht, bleibt er einen Moment stehen – als müsste er prüfen, ob sie wirklich da ist. Dann eilt er zu ihr, nimmt sie wortlos in die Arme. Sein Vater wirkt weniger begeistert.

„Steig ein“, sagt er knapp. „Wir reden zu Hause.“

Das Wohnzimmer ist klein, gemütlich, aber angespannt. Seine Mutter sitzt auf dem Sofa, die Brüder lugen neugierig um die Ecke. Georg hält Karolines Hand. Niemand lächelt.

„Was hast du dir dabei gedacht?“, fragt seine Mutter leise, aber eindringlich.

„Ich konnte nicht mehr zu Hause bleiben“, sagt Karoline. „Ich wollte nur Georg wiedersehen.“

„Du bist minderjährig, Karoline. Wir bekommen Ärger. Das Jugendamt wird Fragen stellen.“

"Dann ruft meine Mutter an“, sagt sie trotzig. „Ich bleibe nur ein paar Tage.“

Widerwillig ruft Georgs Mutter in Dortmund an. Karolines Mutter reagiert gefasst, fast teilnahmslos. „Schicken Sie sie zurück“, sagt sie am Ende. „So schnell wie möglich.“

Am Abend sitzen Georg und Karoline noch lange zusammen. Sie erzählt ihm von den verschwundenen Briefen, vom Schweigen zu Hause, vom Gefühl, eingesperrt zu sein.

Er nimmt ihre Hand. „Du bist verrückt“, sagt er leise. „Aber ich liebe dich dafür.“ Die nächsten zwei Tage vergehen wie im Traum. Spaziergänge im Schnee. Lachen. Küsse. Nähe.

Am dritten Tag – Sonntag – machen sie einen langen Spaziergang. Sie gehen Hand in Hand durch den kalten Wald, lachen, reden über „später“. Als sie an einem alten Heuschober vorbeikommen, hält Georg an.

„Komm, lass uns da hineingehen. Nur kurz.“

„Warum?“, fragt Karoline. Ihr Herz klopft.

„Ich will dir nah sein“, sagt er leise. „Bitte.“

Sie zögert. Dann folgt sie ihm.

Im Schutz des alten Holzes, zwischen Heuballen und Kälte, nimmt er sie in den Arm, küsst sie. Zärtlich. Langsam. Ihre Hände suchen Halt, ihre Gedanken taumeln. Und irgendwann hört sie auf, zu denken.

Sie lässt los. Und verliert – in einem Moment voller Herzklopfen, Unsicherheit und Hitze – etwas, das sie nie wieder zurückbekommen wird: ihre Unschuld.

Später, auf dem Rückweg, ist sie still. Nicht unglücklich. Nicht ängstlich. Nur … anders.

War es schön für dich?“, fragt Georg vorsichtig.

Karoline nickt. „Es war … besonders. Ich hab dich lieb.“

„Ich dich auch“, sagt er. „Für immer.“

Doch tief in ihr, ganz leise, flüstert eine Stimme: War ich bereit? Oder war ich nur bereit für die Liebe – nicht für das, was sie manchmal mit sich bringt?

Sie weiß nicht, dass der Abschied näher ist, als sie denkt, und dass sie, sobald sie den Zug steigt, lange Zeit allein sein wird.

Sechs Monate allein

Der Zug fährt in den Dortmunder Hauptbahnhof ein. Die Türen öffnen sich mit einem Zischen, und Karoline steigt aus – erschöpft, zerrissen, leer. Es ist früher Morgen. Ihr Herz fühlt sich an, als hätte es jemand fest in der Faust zusammengedrückt.

Am Bahnsteig steht ihre Mutter. Allein. Kein Lächeln, kein Vorwurf, kein Willkommen.

Nur ein knapper Blick und ein leises: „Komm.“

Zu Hause empfängt sie keine Umarmung, kein Verständnis. Stattdessen steht die Großmutter wie ein Schatten in der Küche und fährt sie mit schneidendem Ton an:

„Was glaubst du eigentlich, wer du bist? Du bringst nur Schande über unsere Familie. Für einen Burschen abgehauen – du bist sechzehn! Schäm dich!“

Karoline sagt nichts. Nicht aus Feigheit. Sondern, weil Worte in diesem Haus nichts bewirken.

Nur einen Satz spricht sie aus – leise, aber fest:

„Ich werde nicht mehr hier wohnen.“

Stille.

Dann: „Was redest du da?“

„Das Jugendamt hat es schon geregelt. Ich ziehe heute Nachmittag in ein Mädchenwohnheim. Ich packe jetzt meine Sachen.“

Die Mutter ist blass. Ihre Schwester steht im Flur, starrt sie an, und ist erschrocken. Die Großmutter sagt nichts mehr. Sie dreht sich um und geht.

Am Nachmittag steigt Karoline mit einem kleinen Koffer in ein Taxi. Ihre Mutter winkt nicht. Kein Kuss, kein Halt.

Nichts.

Das Mädchenwohnheim liegt in der Kleestraße, ein zweistöckiger, nüchterner Bau mit hellen Fenstern. Eine freundliche Sozialarbeiterin empfängt sie, zeigt ihr das Zimmer – ein Bett, ein Schrank, ein Schreibtisch. Ordnung. Ruhe. Zum ersten Mal seit Wochen: keine Verachtung.

„Hier gelten klare Regeln“, sagt die Frau. „Kein Alkohol, keine Drogen, Ausgang bis 22 Uhr. Und du hältst dein Zimmer in Ordnung.“

Karoline nickt. „Das kriege ich hin.“

Als sie ihre wenigen Sachen auspackt, überkommt sie eine Welle aus Schuld, Angst und Einsamkeit. Sie setzt sich ans Fenster und sieht in die graue Februarluft.

Wo ist Georg jetzt?

Denkt er an sie?

Oder hat sie mit ihrer überstürzten Reise alles zerstört?

Am Abend geht sie zur nächsten Telefonzelle. Das Herz schlägt ihr bis zum Hals, als sie seine Nummer wählt. Beim dritten Klingeln hebt er ab.

„Georg?“

„Karoline … Gott sei Dank. Wie geht es dir?“

„Nicht gut“, flüstert sie. „Ich bin zurück in Dortmund und bin jetzt in einem Mädchenwohnheim. Ich hab so viel kaputt gemacht.“

Seine Stimme ist weich. Aber auch ernst.

„Du hast meine Eltern in Schwierigkeiten gebracht. Aber … ich hab dich immer noch sehr lieb. Nur … du musst jetzt zur Ruhe kommen. Mach deine Schule fertig. Schreib mir. Ruf mich an. Aber keine überstürzten Aktionen mehr, okay?“

Tränen steigen in Karoline auf.

„Okay. Ich verspreche es.“

Die nächsten Wochen sind grau. Sie geht zur Schule, lebt sich im Heim ein. Sie lernt, selbständig zu sein, sich um ihre Wäsche zu kümmern, ihr Zimmer aufzuräumen, Verantwortung zu tragen.

Sie wächst an ihren Aufgaben.

Nicht freiwillig, aber entschlossen.

Sie schreiben sich regelmäßig. Manchmal ruft er an. Doch als der Frühling kommt, verändert sich etwas. Die Briefe werden seltener. Die Telefonate kürzer. Karoline spürt es – wie Wasser, das langsam durch die Finger rinnt.

Dann – im Juli – ruft sie bei Georgs Eltern an.

„Er ist nicht mehr hier“, sagt sein Vater kühl. „Er lebt jetzt in München. Hat dort einen Job bei einem Automobilkonzern. Mehr gibt es nicht zu sagen.“

„Könnte ich … seine Adresse bekommen?“, fragt sie zaghaft.

Ein Seufzen. Dann gibt er ihr die Adresse – mit dem Zusatz:

„Aber keine Dummheiten. Du bist kein kleines Mädchen mehr.“

Noch am selben Abend schreibt sie Georg. Ein langer Brief, voller Hoffnung. Drei Tage später kommt die Antwort.

Liebste Karoline,

danke für deinen Brief. Ich habe mich in München gut eingelebt. Die Arbeit ist anstrengend, aber ich verdiene hier sehr viel Geld. Ich wohne in einem Arbeiterwohnheim in der Stadtmitte. Alles ist neu – und fremd.

Ich denke oft an dich. Noch immer. Ob wir uns bald wiedersehen können, weiß ich nicht. Aber vielleicht, wenn ich meinen Führerschein mache, kann ich dich in Dortmund besuchen. Ich würde dich gern wieder in den Arm nehmen.

Hier ist meine Telefonnummer – abends erreichst du mich meistens.

Dein Georg

Als Karoline den Brief liest, laufen ihr Tränen über das Gesicht.

Er hat sie nicht vergessen.

Vielleicht … ist noch nicht alles verloren.

Sie geht zur Telefonzelle, ruft ihn an. Als sie seine Stimme hört, ist es wie ein Sonnenstrahl nach einem langen Regen.

„Ich hab dich lieb“, flüstert sie.

„Ich dich auch.“

Doch irgendwas sagt ihr: Die nächste Prüfung kommt.

Und sie wird größer sein als alle zuvor.

Und die Sehnsucht war doch stärker

Die Wochen vergehen. Karoline lebt sich im Mädchenwohnheim ein, geht zur Schule, schreibt Bewerbungen. Sie wirkt ruhig, gefasst – aber in ihr tobt ein Sturm, den niemand sieht.

Georg.

Er ist in München, arbeitet hart, lebt in einem Arbeiterwohnheim. Sie telefonieren gelegentlich. Seine Stimme ist warm, aber auch gehetzt. Immer öfter endet das Gespräch mit „Ich muss los“, und Karoline bleibt allein, mit dem Hörer in der Hand und dem Dröhnen in ihrem Herzen.

Sie beginnt eine Ausbildung in einer Anwaltskanzlei in Dortmund – eine Stelle, die ihr gefällt. Doch jeder Tag, den sie in der Aktenablage oder im Wartezimmer verbringt, ist ein Tag ohne ihn.

Und dann kommt dieser Abend Ende September.

Karoline sitzt in ihrem kleinen Büro, umgeben von Aktenordnern, Karteikarten und Gesetzestexten. Auf dem Nachttisch liegt der Brief, den sie von Georg zuletzt vor zwei Tagen erhalten hat. Er ist gefaltet, schon ein wenig abgegriffen – sie liest ihn immer und immer wieder.

Seine Worte: „Ich vermisse dich. Ich würde dich so gern wiedersehen. Wenn du hier wärst, würde ich dich nie mehr loslassen.“

Sie schließt die Augen.

Und weiß plötzlich: Ich fahre zu ihm.

Zwei Tage später – ein Freitagmorgen.

Karoline verlässt das Heim mit ihrer Tasche. Sie hat nur das Nötigste eingepackt. Kleidung, etwas Geld, seine Telefonnummer. Sie hat niemandem etwas gesagt. Nicht der Heimleitung, nicht ihren Kolleginnen. Es ist ein Abschied auf Zeit – so redet sie es sich ein. Aber in Wahrheit weiß sie: Es ist ein riesiges Risiko.

Sie fährt mit dem Bus zur Autobahnauffahrt. Dort stellt sie sich an den Rand, hebt den Daumen. Der Himmel ist grau, ihre Jacke zu dünn – doch sie zittert nicht vor Kälte. Nur vor Hoffnung.

Der erste Fahrer nimmt sie mit bis Köln. Ein junger Mann, freundlich, redselig. Er bringt sie zu einer Raststätte, wo viele andere Tramper auf Mitfahrgelegenheiten warten. Dort lernt sie Theresa kennen – zwei Jahre älter, offen, selbstbewusst.

„Du auch unterwegs nach München?“, fragt sie.

Karoline nickt. „Ich muss jemanden wiedersehen.“

Theresa lächelt. „Dann viel Glück.“

Ein grauer Opel Kadett hält. Theresa winkt, steigt ein. „Bis bald!“, ruft sie noch. Karoline bleibt zurück – allein, aber entschlossen.

Nach kurzer Zeit hält ein nächster Wagen. Ein Mann im Anzug, etwa Mitte 40, fragt: „Wohin soll’s gehen?“

„Nach München“, sagt Karoline.

„Steig ein.“

Die ersten Kilometer sind ruhig. Er spricht wenig, beobachtet sie mehr, als er fährt. Karoline wird unruhig. Als der Wagen plötzlich von der Autobahn abfährt und auf eine schmale, bewaldete Landstraße zusteuert, beginnt ihr Herz zu rasen.

„Wo fahren wir hin?“, fragt sie.

„Abkürzung“, murmelt der Mann.

Dann legt er plötzlich die Hand auf ihr Knie.

„Lass mich los!“, ruft Karoline, versucht, sich wegzudrehen.

„Was glaubst du denn, warum ich dich mitnehme?“, zischt er.

Sie denkt nicht nach. Sie handelt.

Reißt die Beifahrertür während der Fahrt auf, springt mit ihrer Tasche hinaus. Sie rollt über den Randstreifen, spürt Schmerz in Schulter und Knie, aber sie ist frei.

Der Wagen rast davon.

Kein Auto hält. Minuten vergehen. Sie zittert – nicht nur vor Kälte, sondern vor dem, was hätte passieren können.

Dann: Ein Wagen hält auf der gegenüberliegenden Seite. Eine junge Frau steigt aus.

„Geht es dir gut? Was ist passiert?“

Karoline zögert. Dann platzt es aus ihr heraus. „Ich bin getrampt. Und … er wurde unverschämt. Ich musste raus …“

Die Frau – sie heißt Judith – hilft ihr ins Auto. Bietet ihr Wasser an. Karoline weint. Endlich.

„Ich bringe dich nach München“, sagt Judith. „Aber du musst mir versprechen, aufzupassen.“

Zwei Stunden später erreichen sie München. Judith bringt sie zur Jugendherberge in Nymphenburg, gibt ihr Telefonnummer und Adresse – für alle Fälle.

Karoline bedankt sich, umarmt sie – ein Mensch zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

In der Herberge angekommen, ruft Karoline an. Ihre Hände zittern, als sie Georgs Nummer wählt.

„Hallo?“, meldet er sich.

„Georg … ich bin in München. Ich bin in der Jugendherberge. Kannst du kommen?“

Stille. Dann: „Was hast du getan? Bist du allein?“

„Ja. Ich musste dich sehen.“

„Ich komme“, sagt er.

Eine Stunde später steht sie vor dem Eingang. Und da ist er.

Georg.

Der Moment, in dem sie sich sehen, ist wie ein Innehalten der Welt. Keine Worte, nur Umarmung, Atmen, Erkennen.

Sie sind wieder da – füreinander.

Trotz allem.

Wer sich in die Gefahr begibt

Der Morgen danach ist kühl, doch klar. Karoline erwacht im schmalen Bett der Jugendherberge, das Licht fällt durch die dünnen Vorhänge. Neben ihr: Leere. Georg war bis spät in die Nacht bei ihr gewesen, hatte sie in den Armen gehalten, sie beruhigt, ihr versichert, dass alles gut werde.

Doch jetzt ist sie wieder allein.

Sie steht auf, duscht, zieht sich an, dann macht sie sich auf den Weg zu ihm. Seine Adresse hat sie noch vom letzten Brief.

Als sie vor dem Arbeiterwohnheim steht, klopft ihr das Herz bis zum Hals. Ein grauer Klotz, kahle Fenster, graue Gesichter. Niemand scheint zu lächeln hier.

Ein Mann in Arbeitskleidung öffnet. „Wen suchst du?“

„Georg Fuchs.“

Er wird gerufen.

Wenige Minuten später steht er vor ihr – müde, unrasiert, überrascht.

„Karoline? Was machst du hier? Du solltest in der Herberge bleiben. Was, wenn dich jemand sieht?“

Sie tritt näher. „Ich wollte nur mit dir frühstücken.“

Er schaut sich um. Dann seufzt. „Okay. Aber schnell.“

Sie sitzen im nahegelegenen Café. Der Kellner bringt Kakao und Semmeln. Doch Karoline spürt es: Etwas hat sich verändert.

Georg wirkt fahrig, nervös, distanziert. Er sieht sie kaum an.

„Ist etwas passiert?“, fragt sie vorsichtig.

„Nein, es ist nur … du kannst nicht einfach auftauchen. Ich hab einen Job, ich hab Verantwortung. Das hier … war nicht abgesprochen.“

„Ich musste dich sehen. Ich hab alles riskiert.“

„Eben“, sagt er leise. „Vielleicht zu viel.“

Sie schweigen. Der Kakao wird kalt.

Dann steht Georg auf. „Ich muss zurück zur Arbeit. Ich meld mich heute Abend, ja?“

„Kommst du wieder zur Herberge?“, fragt sie.

„Ich schaue, ob ich es schaffe.“

Er küsst sie auf die Stirn.

Ein Kuss, der sich mehr nach Abschied als nach Versprechen anfühlt.

Doch er kommt nicht.

Auch nicht am nächsten Abend.

Und auch nicht am Tag danach.

Drei Tage vergehen. Dann entscheidet Karoline, dass sie nicht länger warten kann. Sie ruft ihn an. Keine Antwort. Sie fährt zum Wohnheim. Ein anderer Bewohner öffnet – Georg sei auf Montage, sagt er. Vielleicht eine Woche weg, vielleicht zwei.

Karoline steht im Regen.

Ohne Unterkunft.

Ohne Plan.

Ohne ihn.

Sie geht zurück zur Herberge, bucht eine weitere Nacht. In der Tasche: nur noch wenig Geld. Zu wenig für länger. Zu wenig für alles.

Am nächsten Morgen trifft sie eine Entscheidung.

Sie wird nach Hause fahren.

Zurück nach Dortmund.

Zurück in ihr Leben – auch wenn es zerbrochen scheint.

Doch es kommt anders, in München wird sie kontrolliert und es stellt sich heraus, dass sie vermisst wird. Die Polizei bringt sie zu einem Mädchenwohnheim. Der Sozialarbeiter dort kümmert sich um sie und zahlt ihr das Ticket für Dortmund per Bahn. Sie hat genug Zeit zum Überlegen und während der Fahrt laufen ihr die Tränen über die Wangen. Die anderen Zugreisenden schauen sie an, aber es interessiert sie nicht. Es ist ihr alles egal. Am Dortmunder Hauptbahnhof angekommen, wird sie von einer Sozialarbeiterin des Jugendamtes Dortmund abgeholt. Zusammen fahren sie zum Mädchenwohnheim in der Kleestraße.

Der Empfang ist frostig.

„Du bist ohne Genehmigung abgereist“, sagt die Heimleiterin. „Das gibt Konsequenzen.“

„Ich weiß“, sagt Karoline leise. „Aber ich musste weg.“

Sie ist Isoliert.

Und doch ist da ein Teil in ihr, der stärker ist als je zuvor.

Sie hat es getan. Sie war mutig. Sie hat nicht nur gewartet – sie ist gegangen.

Ob Georg sich je wieder melden wird?

Ob er sie vergessen hat?

Sie weiß es nicht.

Aber eines weiß sie jetzt:

Sie ist mehr als seine Freundin.

Sie ist sie selbst.

Und sie wird ihren eigenen Weg gehen.

Ein letzter Versuch

Der erste Schnee fällt leise auf Dortmund. Die Dächer sind gepudert, die Straßen stiller als sonst. Weihnachten steht vor der Tür – und Karoline fühlt sich leerer denn je.

Es ist der dritte Advent, als sie sich hinsetzt, tief durchatmet und zum Stift greift. Vor ihr liegt ein frischer Bogen Briefpapier.

Ihr letzter Versuch.

Sie beginnt zu schreiben.

Lieber Georg,

ich weiß nicht, ob du noch an mich denkst. Ob du dich erinnerst an unsere Spaziergänge durch den verschneiten Winterwald, an den Tag, als ich in deinen Armen meine Unschuld verlor in dem alten Heuschober. An das Versprechen, das nie ausgesprochen wurde, aber zwischen uns hing wie der Atem in der kalten Luft, wir bleiben zusammen für immer und ewig.

Ja, ich weiß, wir sind sehr jung, und es kann noch so viel passieren in unserem Leben, aber du hast dich in mein Herz eingebrannt.

Ich will dir sagen, dass ich dich nicht verurteile. Dass ich verstehe, wenn du Abstand brauchst. Will ehrlich sein zu dir: Ich kann dich nicht vergessen. Ich habe jeden Tag gehofft, dass ein Brief kommt. Dass du anrufst. Dass irgendetwas von dir zu mir durchdringt.

Ich wollte nicht stören. Ich wollte nur bei dir sein. Damals in München – das war nur Sehnsucht und ein Hilferuf an dich.

Jetzt bin ich wieder hier. Strenger denn je unter Kontrolle. Ich darf nicht mal mehr frei schreiben – dieser Brief geht über die Heimleitung. Aber ich schreibe ihn trotzdem.

Weil du mir so viel bedeutest und du immer ein Teil meines Lebens sein wirst.

Und weil ich wissen muss, ob es für uns noch eine Zukunft gibt.

Wenn nicht – dann sag es. Ich halte es aus.

Aber bitte: Sag es mir und schweig nicht länger.

Deine

Karoline

Zwei Tage später gibt sie den Brief ab. Die Heimleiterin schaut ihn durch, nickt.

„In Ordnung. Ich schicke ihn ab.“

Und dann beginnt das Warten.

Eine Woche vergeht. Keine Antwort.

Dann zwei.

Dann ist Weihnachten. Karoline verbringt den Heiligabend mit den anderen Mädchen im Heim. Es gibt Punsch, Lieder, eine kleine Bescherung. Und dennoch spürt sie unter der Oberfläche nur eine große, kalte Leere.

Kein Brief. Kein Anruf. Kein Georg.

An Silvester steht sie am Fenster ihres Zimmers. Die anderen feiern unten. Sie sieht hinaus in die Dunkelheit, wo die ersten Raketen in den Himmel steigen. Bunte Funken, kurze Hoffnung.

Dann nimmt sie einen Zettel, schreibt:

"Ich werde dich immer in meinem Herzen tragen. Auch wenn du längst nicht mehr da bist."

Sie faltet das Papier, steckt es in eine kleine Holzschatulle, die sie unter dem Bett aufbewahrt.

An einem Donnerstag im Januar 1970 liegt ein Umschlag in ihrem Fach im Büro des Heims.

Georgs Handschrift.

Sie zögert. Atmet tief ein. Öffnet ihn.

Liebe Karoline,

dein Brief hat mich erreicht. Ich habe lange überlegt, ob ich antworten soll. Nicht, weil ich dich vergessen habe – sondern weil ich nicht weiß, ob ich dir noch guttue.

Du bist stärker, als du selbst glaubst. Du hast Dinge getan, für die ich zu feige war. Du hast gekämpft. Ich … bin geblieben, wo ich war.

Ich werde dich nie vergessen. Aber ich weiß nicht, ob wir noch zueinanderpassen. Unsere Wege … haben sich verändert.

Es tut mir leid. Für alles, was ich dir nicht gesagt habe. Für das, dass ich nie genug an unsere Liebe geglaubt habe oder vielleicht doch?

Ich wünsche dir ein gutes Leben, du verdienst es. Mehr, als ich dir je geben konnte, vielleicht hat auch die Entfernung eine Rolle gespielt.

Georg

Als Karoline den Brief liest, laufen ihr die Tränen über das Gesicht. Nicht, weil sie verlassen wurde.

Sondern, weil sie endlich Klarheit hat.

Und mit dieser Klarheit beginnt etwas Neues:

Freiheit.

Der neue Weg

Der Januar ist grau, nass und kalt. Karoline geht zur Arbeit, schweigend, mit gesenktem Blick. Der Abschiedsbrief von Georg liegt nicht mehr unter ihrem Kopfkissen. Sie hat ihn sorgfältig gefaltet und in die Schatulle zu ihrem letzten Zettel gelegt – zwischen Vergangenem und Verstandenem.

Es tut weh. Aber es lähmt sie nicht mehr.

Denn etwas in ihr hat sich verändert:

Sie lebt nicht mehr in der Erinnerung.

Sie lebt jetzt.

Im Mädchenheim ist alles wie immer – geregelte Abläufe, feste Essenszeiten, die ewige Kontrolle. Doch Karoline fällt es leichter, damit umzugehen. Sie kennt jetzt ihre Grenzen – und auch ihre Kräfte.

In der Kanzlei wird sie immer selbstsicherer. Ihre Chefin, Frau Mertens, bemerkt die Veränderung zuerst.

„Sie wirken… Konzentrierter, Fräulein Werner“, sagt sie an einem Dienstagmorgen. „Nicht mehr so abwesend.“

Karoline lächelt. Zum ersten Mal seit langem kommt es von innen.

„Danke. Ich glaube, ich weiß jetzt, was ich will.“

In den nächsten Wochen stürzt sie sich in die Arbeit. Akten sortieren, Mandantengespräche vorbereiten, Schreiben verfassen. Es macht ihr Spaß – nicht nur, weil sie beschäftigt ist, sondern weil sie merkt: Sie kann etwas.

Sie ist keine Verliebte mehr, die wartet.

Sie ist eine junge Frau, die handelt.

Im Heim merkt man die Veränderung. Die Heimleiterin lobt ihre Pünktlichkeit. Die Erzieherinnen bemerken ihre Ruhe. Selbst die anderen Mädchen, anfangs skeptisch, suchen plötzlich Rat bei ihr.

„Wie bist du so stark geworden?“, fragt eine von ihnen.

Karoline überlegt. Dann sagt sie leise:

„Ich hab gelernt, dass man nicht immer alles behalten muss, was man liebt. Manchmal reicht es, dass es da war.“

Im Frühling darf sie das erste Mal wieder übers Wochenende nach Hause. Nur zögerlich sagt sie zu. Nun ist sie schon siebzehn Jahre und mittlerweile sehr selbstbewusst geworden.

Als sie das Elternhaus betritt, ist es, als würde sie in eine alte, zu enge Jacke schlüpfen. Die Möbel, das Schweigen, der Geruch – alles ist vertraut. Und doch fremd.

Die Mutter umarmt sie kurz, sagt: „Du siehst erwachsener aus.“

„Ich bin es auch.“

Die Großmutter meckert wegen ihrer neuen Kleidung. Die Schwester sagt kaum etwas. Aber Karoline lächelt. Es berührt sie nicht mehr wie früher.

Am Sonntagabend, als sie wieder im Heim ankommt, zieht sie die Tür zu ihrem Zimmer zu, stellt die Tasche ab – und weiß:

Das hier ist jetzt ihr Zuhause.

Nicht, weil es perfekt ist.

Sondern, weil sie selbst es gewählt hat.

Eines Abends sitzt sie am Fenster. Draußen singen die Vögel, der Frühling kündigt sich an. In der Hand hält sie ein Notizbuch.

Sie beginnt zu schreiben.

Nicht an Georg. Nicht an irgendjemanden.

An sich.

"Liebe Karoline,

du hast geweint, gezweifelt, geliebt, verloren –

und doch bist du noch hier.

Du bist nicht gescheitert.

Du hast gelebt.

Und du wirst weitergehen.

Nicht mit gesenktem Kopf.

Sondern mit offenem Blick.

Weil du weißt, was du wert bist."

Und genau in diesem Moment wird ihr klar:

Ihre Geschichte hat gerade erst begonnen. Aber sie will Dortmund verlassen, deswegen sucht ihre Betreuerin ein Mädchenwohnheim weit weg vom Ruhrgebiet, und noch weiter weg von Bayern.

Ein neuer Anfang fern von zuhause

Es war ein frischer Morgen, als Karoline in den Zug nach Oldenburg stieg. Die Sonne kämpfte sich schüchtern durch die Wolken, während die Landschaft draußen an ihr vorbeizog. Felder, Wälder, fremde Dörfer – jedes Stück Entfernung zu Dortmund war ein Stück Befreiung.

Und zugleich ein Abschied.

Sie saß allein im Abteil, eine kleine Reisetasche neben sich, das Herz voll widersprüchlicher Gefühle. Hinter ihr lag eine schwierige Zeit – Heim, Kontrolle, Enttäuschungen, zerbrochene Träume.

Vor ihr: eine neue Stadt, neue Menschen, neue Chancen.

Oldenburg.

Der Name klang nach etwas Weichem, Vertrautem. Sie hatte sich diesen Ort nicht ausgesucht – und doch fühlte es sich wie ein Neubeginn an.

Als der Zug langsam in den Bahnhof einfuhr, atmete sie tief durch. Eine Sozialarbeiterin, Frau Degenhardt, holte sie ab – eine ruhige, freundliche Frau Mitte fünfzig, die Karoline mit einem festen Händedruck begrüßte.

„Willkommen in Oldenburg, Karoline. Ich hoffe, du fühlst dich bald wohl bei uns.“

Karoline nickte. „Danke, ich … ich bin gespannt.“

Die neue Unterkunft lag am Stadtrand – ein schlichtes, aber ordentliches Wohnheim für junge Auszubildende. Ihr Zimmer war klein, aber hell, mit einem Fenster zum Innenhof. Ein Schreibtisch, ein Schrank, ein Bett – mehr brauchte sie nicht.

Mehr wollte sie nicht.

Am ersten Abend saß sie lange am Fenster, beobachtete, wie die Straßenlaternen sich in den Pfützen spiegelten. Sie dachte an Dortmund, an das Heim, an das Schweigen ihrer Familie. Und sie dachte an Georg……

Sie hatte einen neuen Ausbildungsplatz in Oldenburg gefunden.

Die Ausbildung in der Kanzlei begann freundlich. Die Kollegen waren zurückhaltend, aber höflich. Karoline lernte schnell – nicht nur die Abläufe, sondern auch, wie man sich durchsetzt, wie man zuhört, wie man zwischen den Zeilen liest.

Sie war nicht mehr das verunsicherte Mädchen, das heimlich Briefe schrieb und sich versteckte.

Sie war jetzt eine junge Frau, die wusste, was sie hinter sich gelassen hatte – und dass sie das niemals vergessen, aber endlich hinter sich lassen konnte.

Abends ging sie oft spazieren – durch die Altstadt, am Hafen entlang, über Brücken, deren Namen sie noch nicht kannte. Sie beobachtete Menschen in Cafés, junge Paare, alte Männer mit Zeitungen, Kinder auf Fahrrädern. Und manchmal dachte sie dabei an Georg.

Aber nicht mit Schmerz.

Sondern mit Dankbarkeit.

Er hatte sie zu der gemacht, die sie jetzt war.

Nach einigen Wochen fühlte sie sich angekommen. Sie begann, mit den anderen Bewohnerinnen zu sprechen, lachte wieder, las Bücher, führte Gespräche mit Kollegen, blieb manchmal sogar länger in der Kanzlei, einfach weil sie es wollte – nicht, weil sie musste.

Und eines Abends, als sie in der Küche des Wohnheims stand und sich einen Tee machte, dachte sie darüber nach, wie es wäre einmal auszugehen mit einigen der Mädchen hier.

Karoline merkte: Sie war bereit, wieder jemanden in ihr Leben zu lassen.

Noch nicht ganz.

Aber bald.

Eine Begegnung mit Folgen

Es war ein gewöhnlicher Samstagmorgen im März, als Karoline sich entschloss, allein durch die Stadt zu spazieren. Oldenburg zeigte sich an diesem Tag freundlich – die Sonne kämpfte sich durch dichte Wolken, die ersten Knospen öffneten sich zaghaft in den Beeten entlang der Fußgängerzone. Sie mochte diese kleinen, stillen Stunden für sich, in denen niemand etwas von ihr erwartete.

Sie bog in eine schmale Seitenstraße ein, suchte ein ruhiges Café, um zu lesen – als sie fast mit jemandem zusammenstieß.

„Oh, Entschuldigung!“, sagte sie hastig.

„Kein Problem“, antwortete der Mann mit einem Lächeln. „Ich war wohl genauso unaufmerksam.“

Er war etwa Mitte zwanzig, schlank, dunkelblondes Haar, ruhige Augen. Kein Macho, kein Aufschneider – einfach … da. Er hielt ihr freundlich die Tür zum Café auf. Und als sie sich einen Platz am Fenster suchte, bemerkte sie, dass er ein paar Tische weiter saß. Allein.

Sie blätterte in ihrem Buch, konnte sich aber nicht konzentrieren.

Nach einer Weile kam er an ihren Tisch. „Darf ich fragen, was du da liest?“

Karoline blickte auf. „Ein Roman. Eigentlich langweilig. Aber besser als gar nichts.“

Er grinste. „Ich bin Günter.“

„Karoline.“

Sie reichten sich die Hände. Kein Funkenschlag, kein großes Drama.

Nur ein Moment, der sich richtig anfühlte.

Sie begannen zu reden. Erst vorsichtig, dann offener. Er erzählte, dass er in Oldenburg Soldat ist in einer der vielen Kasernen. Dass er seine Familie im Ruhrgebiet nur selten sehe, dass er aus Dortmund stamme und dass er gerne Kaffee trinke.

„Ich auch“, sagte Karoline und lächelte zum ersten Mal an diesem Tag wirklich.

Es blieb nicht bei diesem Gespräch. In den folgenden Wochen trafen sie sich immer wieder – auf einen Spaziergang, einen Kinobesuch, eine heiße Schokolade am Abend. Es war keine stürmische Romanze. Es war still, langsam, ehrlich.

Günter war anders als Georg. Er drängte sich nicht auf, stellte keine Erwartungen. Und vielleicht war es genau das, was Karoline nun brauchte. Jemand, der blieb – ohne etwas einzufordern.

Im Mädchenwohnheim wurde gemunkelt, natürlich. Eine der anderen bemerkte:

„Du lächelst in letzter Zeit öfter, Karoline.“

Sie tat es wirklich.

Nicht, weil Günter ihr das Herz geraubt hätte.

Sondern weil er es berührte, ohne es zu verletzen.

Eines Abends standen sie an der Hunte, sahen den Enten zu, wie sie durchs Wasser glitten. Günter sah sie an und fragte leise:

„Hast du Angst, dich wieder zu verlieben?“

Karoline schwieg. Dann nickte sie.

„Ich will nichts überstürzen“, sagte sie.

„Ich auch nicht“, antwortete er.

Und genau da begann etwas –

zart, offen, still.

Nicht wie ein Sturm.

Sondern wie der erste warme Wind nach einem langen Winter.

Ein leises Versprechen

Der Frühling war endgültig in Oldenburg angekommen. Die Bäume in der Straße vor dem Wohnheim blühten, und morgens weckten Vogelstimmen Karoline sanfter als jeder Wecker. Es war, als würde sich das Leben wieder dehnen, größer werden – genau wie ihr Mut.

Im Wohnheim hatte sie eine gute Freundin gefunden, Maria, die mit ihrem Baby dort wohnte. Sie war eine absolute, gute Freundin und half Karoline, wo sie konnte. Maria war gelernte Hauswirtschafterin und eine begnadete Köchin.

Günter war inzwischen ein fester Teil ihres Alltags geworden. Sie trafen sich regelmäßig, ohne großen Plan. Es gab keine Spielchen, keine Unsicherheit. Nur zwei junge Menschen, die sich Schritt für Schritt kennenlernten.

An einem Freitagabend gingen sie gemeinsam über den Wochenmarkt. Karoline trug ein leichtes Kleid, das sie sich vom ersten eigenen Gehalt gekauft hatte. Günter trug eine Dienstjacke mit aufgesticktem Namensschild – seine Dienstkleidung.

„Hast du morgen frei?“, fragte sie.

„Bis zum Nachmittag, ja. Willst du was unternehmen?“

Sie nickte. „Lass uns einfach hinausfahren. Nur wir zwei.“

Am nächsten Tag packten sie eine Decke, ein bisschen Obst, ein Buch – und radelten hinaus an einen kleinen See vor den Toren der Stadt. Es war still dort, nur das Rauschen der Bäume, das Plätschern des Wassers. Karoline lehnte sich an Günters Schulter, und sie spürte, wie ruhig ihr Herz schlug.

„Du musst mir nichts beweisen, weißt du das?“, sagte er plötzlich.

Sie sah ihn fragend an.

„Ich meine … ich weiß, dass du verletzt wurdest. Dass du Dinge erlebt hast, die dich geprägt haben. Aber ich bin nicht hier, um etwas zu fordern. Ich bin einfach nur da.“

Karoline blickte über das Wasser, dann zurück zu ihm.

„Weißt du, früher dachte ich, Liebe muss wehtun. Muss wild sein, voller Auf und Ab. Aber mit dir … ist es ruhig. Und ich dachte, das sei langweilig. Aber es ist eigentlich das Schönste.“

Günter lächelte.

Dann nahm er ihre Hand, ganz selbstverständlich. Kein großer Moment. Kein Kuss unter dramatischem Himmel. Nur eine Berührung. Ein leises Versprechen.

Am Abend verabschiedeten sie sich vor dem Wohnheim. Karoline blieb noch einen Moment stehen, als Günter gegangen war.

Sie schloss die Augen.

Und in diesem Moment wurde ihr klar:

Sie hatte gelernt, wieder zu vertrauen.

Nicht blind. Aber mit offenem Herzen.

In den nächsten Wochen wuchs das Vertrauen. Sie sprach mit Günter über Georg – ehrlich, ohne Bitterkeit. Er hörte zu, fragte nicht viel. Das genügte.

Und irgendwann – als der Sommer begann und die Stadt nach Blumen duftete – wusste Karoline:

Dieser Weg gehört ihr.

Und sie ist bereit, ihn zu gehen.

Keine Antwort und ein verhängnisvoller Abend

Es war ein schwüler Spätsommerabend, als Karoline das Gefühl nicht mehr loswurde, dass sich etwas verändert hatte. Obwohl ihre Ausbildung gut lief, obwohl Günter ihr weiterhin zur Seite stand – etwas ließ sie nicht los.

Georg.

Nicht, weil sie ihn zurückwollte.

Sondern, weil noch eine Frage unbeantwortet geblieben war.

Warum hatte er sich auf diese Art und Weise zurückgezogen, mit einem Brief?

Trotz allem nahm sie sich eines Abends ein Herz. Sie schrieb ihm erneut – nicht aus Sehnsucht, sondern aus dem Wunsch nach innerem Frieden.

Lieber Georg,

du musst mir nicht antworten, wenn du nicht willst. Aber ich brauche Klarheit, um wirklich abschließen zu können.

Ich danke dir für alles, was du mir gegeben hast – und für alles, was du mir nicht geben konntest. Ich war damals nicht bereit, es zu verstehen. Heute bin ich es.

Ich wünsche dir von Herzen Glück.

Aber wenn es noch etwas gibt, dass du mir sagen willst – schreib mir. Es wäre fair.

Karoline

Sie schickte den Brief ab. Wartete.

Zwei Tage.

Eine Woche.

Zwei Wochen.

Keine Antwort.

Karoline versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, aber Günter bemerkte, dass sie stiller geworden war. Als er sie darauf ansprach, sagte sie nur:

„Ich hatte gehofft, einen Kreis schließen zu können. Aber vielleicht bleibt manches offen.“

An einem Freitagabend schlug eine Kollegin vor, feiern zu gehen.

„Komm schon, Karoline, du warst ewig nicht mit uns weg. Ein bisschen tanzen, lachen, einfach eine gute Zeit haben – das brauchst du.“

Sie zögerte. Günter hatte Dienst, sie war allein. Und ja – vielleicht brauchte sie wirklich eine Pause vom Denken.

Die Diskothek war voll, die Musik laut, die Luft stickig. Karoline trank ein Glas Wein. Dann noch eins. Sie lachte, bewegte sich im Rhythmus, fühlte sich frei – für ein paar Stunden.

Ein junger Mann sprach sie an. Dunkle Haare, charmantes Lächeln, selbstsicher.

„Du hast schöne Augen“, sagte er.

Sie lächelte. „Danke.“

Sie wusste, dass sie mehr getrunken hatte, als sie sollte. Als er vorschlug, „noch woanders hin“ zu gehen, zögerte sie nur kurz. Sie war nicht dumm, nicht naiv. Aber sie war leer. Und das machte sie verletzlich.

Die Wohnung war klein, warm, aufgeräumt. Musik lief leise. Sie setzten sich auf das Sofa. Redeten. Lachten.

Dann legte er plötzlich den Arm um sie.

„Warte …“, sagte Karoline, doch seine Hand glitt weiter.

„Du willst das doch auch.“

„Nein.“

Doch da war schon dieser Druck.

Ein Ziehen an ihrer Kleidung.

Ein Griff, der sich nicht mehr lösen ließ.

Am nächsten Morgen wachte sie auf – angezogen, aber frierend. Der Mann schlief noch. Sie nahm ihre Sachen, schlich sich aus der Wohnung, trat auf die Straße, als wäre sie aus einem dunklen Tunnel gefallen.

Sie wusste nicht, ob man es Gewalt nennen sollte. Warum hatte sie das zugelassen? Sie, die schon so erwachsen sein wollte. Dieses Erlebnis reichte.

Zurück im Wohnheim duschte sie lange. Sehr lange.

Niemand bemerkte etwas.

Niemand fragte.

Auch Günter nicht, als sie sich wiedersah.

Sie sagte es ihm nicht. Noch nicht. Vielleicht nie.

Aber etwas in ihr war zerbrochen. Wieder einmal.

Nur diesmal hatte sie keine Tränen. Nur eine stille Wut.

Gegen ihn, diesen fremden Jungen.

Gegen sich.

Gegen die Stimme in ihrem Kopf, die sagte: Du hättest es wissen müssen.

Am Abend setzte sie sich ans Fenster, das Gesicht im Schatten.

Und zum ersten Mal schrieb sie nicht an Georg.

Nicht an Günter.

Sondern an sich.

„Du hast Grenzen. Und du darfst sie setzen.

Du darfst laut werden, wenn jemand sie übertritt.

Du darfst weinen. Aber du darfst auch wütend sein.

Und du darfst dich lieben –

auch dann, wenn du fällst.“

Entscheidungen und ein Baby- und dann ist da Georg

Frühjahr 1971

Zwei Schwangerschaftstests waren negativ aber irgendetwas stimmte nicht mit ihr, sie musste noch einmal zum Gynäkologen gehen. Diesmal wurde noch einmal Blut abgenommen und das Ergebnis ließ nicht lange auf sich warten - In ihrem Kopf: Stille. Kein Schrei, kein Jubel, kein Entsetzen – nur ein leeres, klares Bewusstsein: Ich bin schwanger.

Günter wusste es schon, bevor sie es ihm sagte. Er war wortkarg in den letzten Tagen, hatte gespürt, dass etwas in ihr vorging. Als sie es ihm bestätigte, nickte er nur.

„Dann heiraten wir wohl.“

Nicht Willst du mich heiraten, nicht Ich liebe dich.

Ein Satz wie ein Bescheid.

Günter war nett, aber er war nicht ihre große Liebe, und heiraten wollte sie eigentlich auch nicht, aber sie musste. Würde sie nicht heiraten, dürfte sie nicht mehr nach Hause fahren in das Ruhrgebiet, ledige Mutter, nein danke!

Karoline sagte ja. Nicht, weil ihr Herz es wollte. Sondern weil sie spürte, dass sie sonst ganz allein wäre. Und weil es irgendwann leichter war, zu funktionieren als zu fühlen.

Günter war ruhig, vielleicht sogar nervös. Aber von Liebe war nichts zu spüren. Es war eine Entscheidung, keine Leidenschaft.

Im Sommer kam ein Brief. Abgestempelt in München. Die Handschrift erkannte sie sofort.

Georg.

Er schrieb, dass er oft an sie gedacht habe, obwohl er sich ja zurückgezogen hatte, dass er gehört habe, sie sei verheiratet. Dass er nicht verstehe, warum sie nicht gewartet habe – und dass es auch sein Fehler war, dass sie beide nicht mehr gekämpft hätten. Ich habe mich auf eine unschöne Art von dir verabschiedet, das tut mir jetzt sehr leid!

Ich habe dich nie vergessen. Nie. Vielleicht habe ich zu lange geschwiegen. Vielleicht habe ich dich verloren, bevor ich den Mut fand, dich zurückzuholen. Aber ich musste es dir sagen. Ich liebe dich noch immer.

Karoline saß lange, mit dem Brief in der Hand.

Dann weinte sie.

Nicht um ihn.

Nicht um Günter.

Sondern um sich selbst.

Im Herbst kam ihr Sohn zur Welt. Ein kräftiger, gesunder Junge mit dunklen Haaren und hellblauen Augen. Karoline hielt ihn im Arm und spürte zum ersten Mal seit Langem so etwas wie echte, tiefe, unaussprechliche Liebe.

Das war ihr Kind.

Ihr Sinn.

Ihr Neuanfang.

10 Tage später

Die Hochzeit war schlicht. Standesamt, ein kleines Mittagessen mit den Verwandten und Freunden. Karoline trug ein langes rotes Kleid, das sie selbst ausgesucht hatte. Kein Weiß – sie wollte kein Symbol für etwas, das nicht stimmte.

Günter war stolz – auf den Sohn. Nicht auf Karoline. Er trank in der Woche nach der Geburt öfter als sonst. Und wenn er sprach, klang es wie eine Rolle, die er spielte. Karoline merkte auch, dass ihr Mann unter Alkoholeinfluss sehr aggressiv werden konnte, das hat man ihm nicht angesehen.

Im Jahr1973 fuhren sie in den Bayerischen Wald in den Urlaub. Die ersten Tage unternahmen sie und Günter Wanderungen. Dann erfuhr Karoline, dass Georg im Arberhaus arbeitete, da er nach Regen zurückgekehrt war. Einige Tage später ging sie mit ihrem Kind zum Arberhaus hoch. Dort angekommen, setzte sie sich an einen Nebentisch. Nach kurzer Zeit erblickte sie Georg.

Lachend bediente er die Gäste, braungebrannt und so attraktiv wie immer. Als er sie erblickte, ließ er vor Schreck das Tablett mit dem schmutzigen Geschirr fallen. Schnell räumte er alles zusammen und kam an ihren Tisch.

„Oh mein Gott, was machst du hier?“, fragte er

„Ich mache hier Urlaub, nur deinetwegen“, antwortete Karoline, „ich bin in einer sehr unglücklichen Beziehung und wollte dich wenigstens noch einmal wiedersehen.“

„Trink etwas, in 30 Minuten habe ich Feierabend, dann können wir hier ein wenig spazieren gehen.“

Karoline verließ mit ihrem Kind einige Minuten früher das Restaurant und ging in Richtung Waldesrand, dort setzte sie sich auf eine Bank.

Nach zehn Minuten kam Georg nach, nahm sie in den Arm und küsste sie zärtlich, streichelte ihren Sohn.

Karoline weinte und Georg versuchte sie zu trösten, aber es gelang ihm nicht.

„Ach Mädi, was haben wir gemacht, du bist jetzt verheiratet, hast ein kleines Kind und ich werde in ein paar Wochen heiraten, ob es richtig ist, weiß ich noch nicht? Ich könnte jetzt ewig hier sitzen, aber es nutzt ja nichts, vielleicht finden wir uns bald wieder, ich hab dich lieb!"

Später trennten sie sich am Berg und waren beide waren tieftraurig.

Ein Jahr später wurde ihre Tochter geboren. Ein zartes, stilles Mädchen mit großen Augen. Karoline nannte sie Miriam – ein Name voller Weichheit, voller Hoffnung.

Doch die Ehe war längst kein Ort mehr der Sicherheit. Günter war oft abwesend, innerlich wie äußerlich. Wenn er trank, wurde er kalt, gereizt. Seine Liebe war kein Raum – sie war ein Schatten, der sich zwischen Karoline und ihr eigenes Ich schob.

Sie funktionierte. Wegen der Kinder. Wegen der Verantwortung. Nicht mehr wegen irgendeines Gefühls.

1975 – ein Umzug nach Bayern.

Weg von allem, was war. Ein Versuch, von vorn zu beginnen.

Das Haus war ruhig, ländlich gelegen. Die Kinder hatten Platz zum Spielen, Karoline fand eine Anstellung als Schreibkraft. Doch Günters Trunksucht wurde nicht besser. Er trank heimlich, log offen, mied Gespräche, ging fremd. Die Stille zwischen ihnen wurde lauter als jeder Streit.

Und dann – im Spätsommer 1975 – begegnete sie ihm wieder.

Georg.

In einer kleinen Stadt, in der sie ihn nie erwartet hätte. Sie war im Krankenhaus wegen einer Fehlgeburt und plötzlich war er in ihrem Zimmer. Eine gute Freundin von ihr, die auch Georg kannte, hatte es ihm wohl erzählt.

In einem Patientenzimmer, einfach so.

Sie blickte auf – und er stand vor ihr.

Kein Traum. Kein Echo.

Georg. In echt.

„Karoline?“, fragte er – leiser, tiefer, älter.

Sie nickte.

Das Herz pochte.

„Was machst du denn hier?“, fragte sie erstaunt.

"Ich habe von Luise erfahren, dass du hier bist, deswegen besuche ich dich heute.“

„Du gehst ein großes Risiko ein, stell dir mal vor, mein Mann kommt jetzt hierher.“

„Ich gehe gleich wieder, ich hoffe, wir sehen uns bald wieder. Ich liebe dich noch immer, mehr als je zuvor.“

Georg küsste sie und dann war er weg.

Jahre der Entscheidung

Einige Monate später begegneten sie sich wieder in einem Cafe in Regen, der kleinen Stadt im Bayerischen Wald. Er wirkte ein bisschen älter, mit Lachfalten um die Augen, ein kleines graues Büchlein in der Hand. Verlegen. Verwundert. Voller Fragezeichen im Blick.

„Georg …“, sagte sie leise.

Er setzte sich, ohne zu fragen. Es fühlte sich nicht falsch an.

Sie redeten eine Stunde lang. Über alles – und nichts. Über alte Zeiten, über seine Jahre in München, ihre Kinder, die Arbeit, die Umzüge. Über Günter sagte Karoline wenig. Über Liebe noch weniger. Auch Georg erzählte nichts von seiner Ehe, schien ihm wohl nicht wichtig zu sein.

„Ich hab oft an dich gedacht“, sagte Georg.

„Ich auch“, antwortete sie.

Mehr nicht.

Aber es reichte, um alles wieder aufwühlen zu lassen, was sie jahrelang in sich vergraben hatte.

Zu Hause war Günter nüchtern, aber launisch. Er fragte nicht, wo sie war. Ihre Tochter spielte mit Bauklötzen, ihr Sohn war im Kindergarten. Es war ein normales Abendbild – und doch fühlte sich alles anders an.