Die Juden in Lemberg während des Zweiten Weltkriegs und im Holocaust 1939-1944 - Eliyahu Yones - E-Book

Die Juden in Lemberg während des Zweiten Weltkriegs und im Holocaust 1939-1944 E-Book

Eliyahu Yones

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Beschreibung

Die deutschen Besatzer und ihre einheimischen Helfer ermordeten zwischen 1941 und 1944 in Ostgalizien mehr als eine halbe Million Juden. Lemberg, die größte Stadt dieser multiethnischen und geschichtsreichen Region, veränderte in Folge der Shoah vollkommen ihr Gesicht – ebenso wie Buczacz, Tarnopil und viele andere Orte, in denen Juden mit Ukrainern und Polen zusammengelebt hatten. Nur wenige Juden haben die dreijährige deutsche Besatzungszeit überlebt, darunter auch Eliyahu Yones, der Autor dieser Monographie, der sich erst nach Jahrzehnten dazu entschloss, sich mit der Verfolgung und Vernichtung der Lemberger und ostgalizischen Juden wissenschaftlich auseinanderzusetzen sowie mit ihrem Leben unter der sowjetischen Besatzung. Yones wertete eine nahezu unüberschaubare Anzahl von Quellen und Publikationen in deutscher, englischer, hebräischer, jiddischer, polnischer, ukrainischer und russischer Sprache aus. Es gibt bislang kaum Veröffentlichungen, in denen man ein vergleichbares Maß an Informationen über das vielfältige kulturelle Leben der galizischen Juden, über die zionistischen Bewegungen in der sowjetischen Besatzungszeit oder über die Organisationen jüdischer Jugend in Ostgalizien findet. Ebenso geben seine Analysen der Arbeitslager, des Lebens in den Ghettos und auch der Deportationen in das Vernichtungslager Belzec bislang ungekannte, durch ihren Detailreichtum erschütternde Einblicke in das Leben und Leiden der ostgalizischen Juden. Yones’ Buch verbindet erlebte mit erforschter Geschichte und leistet so einen Beitrag zur integrierten Geschichtsschreibung, die sowohl die Dokumente der Täter als auch der Opfer ernst nimmt, kritisch auswertet und zusammenführt.

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Seitenzahl: 618

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ibidem-Verlag, Stuttgart

 

Inhaltverzsichnis

Vorwort

Prolog

Quellen

Einleitung: Juden in Lemberg bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs

Die Ära Österreich-Ungarns

Von Weltkrieg zu Weltkrieg

Politische und gesellschaftliche Aktivitäten

Zionistische Parteien in Ostgalizien

Teil I: Die sowjetische Herrschaft September 1939–Juni 1941

Kapitel 1: Lemberg unter sowjetischer Herrschaft

1. Der Beginn des Zweiten Weltkriegs und die Teilung Polens – die Rote Armee marschiert in Lemberg ein

2. Die Reaktion der Bevölkerung auf die Ankunft der Sowjets

3. Die Einstellung der Sowjets gegenüber den Volksgruppen

4. Flüchtlinge

Kapitel 2: Die Juden unter sowjetischer Herrschaft

1. Veränderungen in Verwaltung und Wirtschaft und ihre Auswirkungen auf die Juden von Lemberg

2. Veränderungen im Erziehungssystem

3. Literatur, Presse, Theater und kulturelles Leben

4. Jüdische Jugendbewegungen und ihr Kampf ums Überleben

Teil II Die deutsche Besatzung Juni 1941–Juli 1943

Kapitel 3: Der erste Monat

1. Die Deutschen marschieren in Lemberg ein

2. Die „Gefängnisaktion“ (30. Juni – 3. Juli)

3. „Spontane“ Aktionen

4. Entführungen

5. Eingliederung in das Generalgouvernement

6. Die deutsche Politik gegenüber den ethnischen Gruppen in Ostgalizien

Kapitel 4: Die jüdische „Autonomie“ in Lemberg und ihre Führer

1. Der Lemberger Judenrat

2. Struktur, Befugnisse und Aktivitäten des Judenrats

3. Die jüdische Polizei im Lemberger Ghetto

4. Gegenseitige Hilfe

Kapitel 5: Im Ghetto

1. Die Bevölkerung des Ghettos

2. Die Entwicklung der Ghettogrenzen

3. Der alltägliche Kampf ums Überleben: die Ghettowirtschaft

4. Die Einrichtung von Fabriken und Werkstätten

5. Wirtschaftlicher Nutzen versus Ideologie der „Endlösung“

Kapitel 6: Zwei Jahre fortwährender „Aktionen“

1. Die Zerstörung der Synagogen in Lemberg

2. Die „Aktion unter der Eisenbahnbrücke“ – die erste geplante „Aktion“ der Zivilverwaltung

3. Die „Aktion“ gegen die „Asozialen“ im März 1942

4. Juni 1942 – Die „Blitzaktion“ und weitere „Aktionen“

5. August 1942 – die „große Aktion“

6. Öffentliche Hinrichtungen durch Erhängen

7. Die „Aktion“ im November 1942

8. Die „Aktion“ im Dezember 1942

9. 1943 – das Jahr der Liquidierung

10. Zur Zahl der menschlichen Verluste

Teil III Jenseits des Ghettozauns

Kapitel 7: In den Zwangsarbeitslagern

1. Die Einrichtung der Lager in Ostgalizien

2. Das Lager in der Janowska-Straße

3. Die „Todesbrigade“, die Auflösung der Lager und das Verwischen von Spuren

Kapitel 8: Im Untergrund und in den Wäldern

1. Verstecke außerhalb des Ghettos

2. Widerstand im Ghetto

3. Das Leben in den Wäldern

4. Beziehungen zu anderen Untergrundorganisationen

Kapitel 9: Die „Gerechten unter den Völkern“

Nachwort

Glossar

Anhang 1

Zwangsarbeitslager in Ostgalizien

Lemberg

Anhang 2

Jüdische Widerstandsgruppen in Ostgalizien

Bibliografie

Archive

Prozesse

Dokumentensammlungen

Gedenkbücher

Erinnerungen und Tagebücher

Studien

Impressum

Vorwort

Eliyahu Yones ist deutschen Leserinnen und Lesern, die an der Literatur zum Holocaust interessiert sind, kein Unbekannter. 1999 sind im Fischer Taschenbuch Verlag seine Erinnerungen an die Judenverfolgung, die Zeit im Zwangsarbeitslager und später bei den Partisanen unter dem Titel „Die Straße nach Lemberg“ erschienen. In diesen bereits 1960 auf Hebräisch publizierten Aufzeichnungen hat der 1915 in Vilnius geborene Yones neben dem eigenen auch das Schicksal der Juden während der Shoah in Ostgalizien geschildert, wo er seit der Zeit der sowjetischen Besatzung (1939-1941) lebte. Yones war unter den wenigen, denen es gelang, den Holocaust in diesem von Polen, Ukrainern und Juden bewohnten Teil Europas zu überleben. Nach dem Krieg und seiner Emigration nach Israel arbeitete er viele Jahre als Rundfunkredakteur in Jerusalem. Im fortgeschrittenen Alter entschied er sich, an der Hebräischen Universität Geschichtswissenschaft zu studieren und anschließend bei Israel Gutman zu promovieren. Die vorliegende Monografie ist die überarbeitete deutsche Übersetzung seiner Dissertation. Wissenschaftlich beraten haben ihn auch Dalia Ofer, Israel Kolatt, Yehuda Bauer, Yitzhak Arad und Dina Porat. Die Dissertation ist 1999 auf Russisch und Polnisch, 2001 auf Hebräisch und 2004 auf Englisch erschienen. Zusammen mit der Übersetzerin Heike Zaun-Goshen hat er auch an einer deutschen Ausgabe gearbeitet, deren Erscheinen jedoch nicht mehr erlebt. Im Januar 2011 ist er im Alter von 96 Jahren gestorben.

Eliyahu Yones gehörte nicht zu der Gruppe von Historikern, die wie Filip Friedmann, Rachel Auerbach, Josef Kermisz, Szymon Datner oder Joseph Wulf bereits von 1944 an den Holocaust dokumentierten und wissenschaftlich erschlossen. Nach dem Krieg hat er zwar vorübergehend in den Lagern für displaced persons in Berlin unterrichtet und die Lagerzeitung „Undser Leben“ mit aufgebaut, aber zunächst nicht über den Judenmord geforscht.1 Im Gegenteil, vieles weist darauf hin, dass er, nachdem er 1950 nach Israel emigriert war, erst einmal die Schrecken des Krieges vergessen und sich mit seiner jüngsten Vergangenheit nicht befassen wollte. Das änderte sich jedoch 1954, als Rachel Auerbach ihm vorschlug, seine Verfolgungsgeschichte für das Archiv der Gedenkstätte Yad Vashem, das Zeugenaussagen von Überlebenden sammelt, niederzuschreiben. Das Erinnern an die Shoah fiel ihm nicht leicht. „Die Erinnerungen an jene Tage überfielen mich in den Nächten wie Angstträume“, schrieb er dazu im Vorwort seines Buches.2 In den folgenden Jahrzehnten beanspruchte die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit sein Leben maßgeblich. Yones war Zeuge des größten Pogroms in der Westukraine, der Anfang Juli 1941 in Lemberg verübt wurde, sowie verschiedener Mordaktionen im Ghetto und in ostgalizischen Arbeitslagern geworden. Er trat in Kriegsverbrecherprozessen, darunter im Verfahren gegen Theodor Oberländer, als Zeuge auf und berichtete in israelischen Schulen über das Leben und Sterben der Juden während der Shoah in Ostgalizien. Die Auseinandersetzung mit dem Holocaust führte schließlich dazu, dass er sich nach der Pensionierung entschied, seine von ex­­tremer Gewalt geprägte Geschichte auch wissenschaftlich zu untersuchen.

Für das vorliegende Buch hat Yones eine immense Anzahl von Quellen und Publikationen in deutscher, englischer, hebräischer, jiddischer, polnischer, ukrainischer und russischer Sprache ausgewertet. Sein großes Verdienst ist es, Dokumente und Literatur in die Forschung eingeführt zu haben, die aufgrund der Sprachbarrieren nur wenigen Historikern bekannt sind. Viele der Zeitzeugen, die auf den folgenden Seiten zu Wort kommen, hat er selbst interviewt; er hat mit Überlebenden korrespondiert und ihre Angaben mit anderen Quellen oder der Forschungsliteratur abgeglichen und nicht zuletzt auch die umfangreichen Sammlungen von Erinnerungsberichten im Archiv von Yad Vashem und in der Hebräischen Universität ausgewertet. Auf einfühlsame Weise schildert er das jüdische Leben sowohl unter der sowjetischen als auch unter der deutschen Besatzung. Es gibt bislang kaum Veröffentlichungen, in denen man ein vergleichbares Maß an Informationen über das vielfältige kulturelle Leben der galizischen Juden, über die zionistischen Bewegungen in der sowjetischen Besatzungszeit oder über die Organisationen jüdischer Jugend in Ostgalizien findet. In der Forschung ist vielfach dargelegt, wie konsequent und erbarmungslos die Judenverfolgung gerade in Ostgalizien vonstatten ging. Doch das ganze Universum der Zwangsarbeitslager, das Leben im Ghetto und die Bedeutung, die die Hinrichtungsstätte in den Dünen bzw. Sandhügeln (Poln.: Piaski) im Leben der Lemberger Juden eingenommen hat, sind selten so eindrücklich geschildert worden. Dadurch leistet Yones einen Beitrag zu der von Saul Friedländer skizzierten „integrierten Geschichtsschreibung“ des Holocaust, also einer Historiografie, die sowohl die Dokumente der Täter als auch der Opfer ernst nimmt, kritisch auswertet und zusammenführt, um ein möglichst vollständiges Bild der Verfolgung zu gewinnen.

Eliyahu Yones war nicht nur Historiker, sondern auch Augenzeuge des Geschehens, das er erforscht hat. Dies wird bei aller wissenschaftlich gebotenen Zurückhaltung auch in seinem Buch deutlich. Dem Historiker Yones waren die Möglichkeiten und Grenzen seiner Forschung durchaus bewusst. Dass ihm die Schilderung der jüdischen Welt, die der Holocaust in Ostgalizien ausgelöscht hat, wichtiger war als die Rekonstruktion der Entscheidungsprozesse und Motive der Täter, ist unverkennbar. Eine stringent, analytische Meistererzählung wird man in der vorliegenden Arbeit vergebens suchen. Zudem sind, da die Fertigstellung des Manuskripts bald zwei Jahrzehnte zurückliegt, manche seiner Erkenntnisse inzwischen von der Forschung ausdifferenziert worden oder gar überholt. Dies gilt u.a. für die Darstellung der „Gerechten unter den Völkern“. Da ihm jedoch gerade dieses Kapitel besonders am Herzen lag – immerhin hat er selbst viele Jahre in der Abteilung in Yad Vashem mitgearbeitet, die die Geschichte der nichtjüdischen Helfer und Retter erforscht – ist es unverändert auch in diesem Buch enthalten.

Die Herausgeber haben sich entschieden, nur einige offensichtliche Fehler zu korrigieren und in wenigen Fällen auf besondere Aspekte oder abweichende Angaben in später erschienenen Publikationen hinzuweisen, ansonsten aber wenig in den Text einzugreifen, um Yones’ Rekonstruktion und Interpretation der selbst erlebten Vergangenheit nicht zu verfälschen.

Die Schreibweise der Namen wurde an die in der deutschen Sprache gängigen angepasst. Bei den Ortsnamen haben sich die Herausgeber für die deutsche Version entschieden. Wenn solche nicht existieren, wurden die Namen der Orte laut der damaligen Nomenklatur geschrieben.

Die Publikation des Buches wäre ohne die Hilfe mehrerer Personen, bei denen sich die Herausgeber bedanken möchten, nicht möglich gewesen. Angelika Königseder hat das Manuskript lektoriert, sprachliche Unebenheiten geglättet und Ungenauigkeiten präzisiert. Adina Stern und Riki Bodenheimer haben die Schreibweise der hebräischen Titel überprüft. Ingo Loose und Thomas Schmid haben das Manuskript durchgesehen und kommentiert. Antony Polonsky und John-Paul Himka haben Gutachten für die Claims Conference erstellt, die zusammen mit dem Zukunftsfonds Österreich die Herausgabe des Buches finanziell unterstützt hat. Eliezer Yones und dem Internationalen Institut für Holocaust-Forschung Yad Vashem ist für die Publikationserlaubnis zu danken.

Berlin im Februar 2018

Susanne Heim, Grzegorz Rossoliński-Liebe

 

1 Joseph Fink, Director AJDC Berlin, an Central Committee for Liberated Jews in Berlin, 29.12.1948, in: YIVO, Leo W. Schwarz Papers, fol. 528.

2 Eliyahu Yones, Die Straße nach Lemberg: Zwangsarbeit und Widerstand in Ostgalizien 1941–1944, Frankfurt am Main 1999, S. 9.

Prolog

Ich wurde in Wilna geboren und nicht in Lemberg, der Stadt, deren Schicksal während der nationalsozialistischen Herrschaft in diesem Buch beschrieben wird. Es war mein Unglück, dass mich die Umstände zwangen, nach Lemberg umzuziehen und während der Kriegsjahre dort zu leben. Als mir vorgeschlagen wurde, eine historische Studie über die Juden in Lemberg während des Krieges zu verfassen, befiel mich zunächst große Unsicherheit. Ich zweifelte, ob ich die erforderliche seelische Kraft aufbringen würde, diese Tage abermals zu durchleben, meinen eigenen Spuren zu folgen und das traurige, brutale Schicksal der Juden in dieser Stadt, von denen nicht alle vor dem Krieg dort zuhause waren, zu erforschen. Doch ich empfand es als meine Pflicht, die Geschichte derjenigen, die ums Leben gekommen und verstummt sind, vor dem Vergessen zu bewahren. Möge dieses Buch ihnen ein Denkmal setzen.

Lemberg, die Hauptstadt Ostgaliziens und heute Teil der Ukrainischen Republik, war eine Vielvölkerstadt, in der zahlreiche Minderheiten vertreten waren. Polen, Ukrainer, Juden und Angehörige anderer Volksgruppen lebten hier seit vielen Generationen zusammen. Seit ihrer Gründung im 13. Jahrhundert machte diese Stadt unter dem Einfluss der unterschiedlichen Kulturen der sie prägenden Völker zahlreiche Verwandlungen durch.

Lemberg war ein ständiger Zankapfel zwischen Polen und Ukrai­nern. Beide betrachteten die Stadt als Teil ihres Nationalstaats und erhoben Anspruch auf sie. Da Lemberg für lange Zeit zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehörte, hatte es den Geist der deutsch-wienerischen Kultur in sich aufgesogen; als die Stadt an Polen zurückfiel, gewann der polnische Charakter die Oberhand. Zu allen Zeiten wollten auch die Ukrainer der Stadt ihren Stempel aufdrücken.

Die Juden betrachteten Lemberg ebenfalls als „ihre“ Stadt, als Zentrum des religiösen und chassidischen Lebens, der jüdischen Aufklärung, des Zionismus und des Sozialismus. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen war die jüdische Gemeinde Lembergs die drittgrößte in Polen, die zahlenmäßig nur von den Gemeinden in Warschau und Łódź übertroffen wurde; vor dem Zweiten Weltkrieg lebten dort knapp 100.000 Juden. Nach der Unterzeichnung des Ribbentrop-Molotow-Pakts im August 1939 strömten aus den Gebieten, die unter deutsche Kontrolle fallen sollten, Massen an jüdischen Flüchtlingen in die Stadt. Ihre Zahl wird auf 130.000 geschätzt. Folglich wuchs die jüdische Bevölkerung um mehr als das Doppelte an und machte nun mehr als ein Drittel der Gesamtbevölkerung der Stadt aus.

Im Holocaust unterschied sich das Schicksal der Juden in Lemberg von dem anderer jüdischer Gemeinden, die von den Nationalsozialisten ausgelöscht wurden. Diese Einzigartigkeit wurzelt in den unterschiedlichen historischen, politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen die Juden von Lemberg und in Ostgalizien seit vielen Generationen lebten.

Im Verlauf meiner Recherchen habe ich versucht, die historischen Ereignisse zu rekonstruieren und die Geschichte mit dem Augenmerk auf die wichtigsten Protagonisten zu schildern. Zudem habe ich mich bemüht, die politischen, sozialen, ideologischen und psychologischen Implikationen des damaligen Geschehens zu untersuchen und die Beziehungen zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen zu beschreiben.

Meine Arbeit beginnt mit einem kurzen historischen Überblick; es folgt ein detaillierter Bericht über die Geschichte der Juden in Lemberg in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Diese Periode von fünf Jahren wird in die sowjetische Herrschaft vom 17. September 1939 bis zum 30. Juni 1941 (Kapitel 1 und 2) und in die deutsche Herrschaft vom 30. Juni 1941 bis zum 27. Juli 1944 (Kapitel 3 bis 6) gegliedert.

Der nationalsozialistischen Besatzung wird dabei mehr Platz eingeräumt. Geschildert werden der Charakter des deutschen Regimes und dessen Folgen für die Juden in Lemberg, die Einstellung der Deutschen gegenüber den jüdischen Institutionen sowie die Reaktion der Juden auf die Politik und die administrativen Maßnahmen in Lemberg.

Seit Generationen hatten die Juden inmitten der anderen Volksgruppen in Lemberg gelebt, vor allem in enger Nachbarschaft mit den Ukrainern und Polen. Zwischen diesen drei Gruppen veränderten sich die Beziehungen im Laufe der Jahre mehrfach. Besondere Aufmerksamkeit verdienen sie während der sowjetischen Herrschaft, da sich daraus schicksalhafte Folgen für die Zeit der deutschen Besatzung ergaben.

Im Zentrum des Buches stehen einerseits die Kollaboration der Polen und Ukrainer mit den Deutschen und andererseits die Initiative, Planung und Durchführung der „Endlösung der Judenfrage“ durch die Deutschen. Untersucht werden zudem sowohl die Motive der Kollaborateure als auch diejenigen der Retter von Juden, der „Gerechten unter den Völkern“.

Zudem wird das schwierige Thema des Judenrats erörtert, den die Nationalsozialisten einsetzten, sowie die Unterstützung, die die Mitglieder des Rates – willentlich oder unwillentlich – den Verfolgern ihrer Brüder leisteten. Dies ist ein dunkles Kapitel bei jeder Untersuchung zum Holocaust, aber in Lemberg war es aufgrund der den Juden von den Deutschen in kurzer Zeit auferlegten Maßnahmen und wegen des Charakters der Leute, die sich an diesen Aktionen beteiligten, noch finsterer. Die jüdische Polizei im Lemberger Ghetto zeichnete sich durch besondere Niedertracht aus. Dabei urteile ich nicht über einzelne an diesen Ereignissen beteiligte Personen, sondern nur über die Maßnahmen und Aktionen; zudem sollen – soweit möglich – die dahinterstehenden Motive untersucht werden.

Das Lemberger Ghetto war nicht der einzige Ort, an dem Juden und Flüchtlinge, die sich in Lemberg zusammengefunden hatten, die letzten Tage ihres Lebens verbrachten. Neben dem Ghetto – dessen Einrichtung in Kapitel 5 beschrieben wird – errichteten die Deutschen ein Netz von Zwangsarbeitslagern in Lemberg und Umgebung, in denen sie zahlreiche Juden zu körperlicher Schwerstarbeit zwangen. Ein eigener Abschnitt (Kapitel 7) beschreibt das Leben in den Zwangsarbeitslagern und den Tagesablauf der Insassen.

Wie andernorts waren auch in Lemberg jüdische Widerstandsgruppen aktiv. Leider sind die Quellen dazu recht dürftig, und die meisten wurden bereits eingehend untersucht. Ich hoffe, das vorliegende Werk wird weiteren Forschern Anlass geben, sich mit diesem Thema zu befassen. Ebenfalls spärlich sind die Quellen über Juden, die mit den sowjetischen Partisanen in den Wäldern Ostgaliziens kämpften und dort bei polnischen und ukrainischen Partisanen Unterschlupf – und oftmals den Tod – fanden. Kapitel 8 widmet sich diesem Thema, das jedoch noch weiterer Forschungen bedarf. Das letzte Kapitel erzählt die Geschichte der „Gerechten unter den Völkern“: Nichtjuden, die unter Gefährdung des eigenen Lebens und ihrer Familien Juden in Ostgalizien retteten. Unter den 16.500 Nichtjuden, die von der Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ (bis 1998) ausgezeichnet wurden, finden sich mehr als 70 christliche – polnische oder ukrainische – Familien aus Ostgalizien.

 

Quellen

Bis heute sind mehrere grundlegende Studien über die Geschichte der Lemberger Juden bis zum Zweiten Weltkrieg erschienen. Die wichtigsten haben J. Karo, Meir Balaban, A.I. Barur und N.M. Gelber verfasst; sie thematisieren das Mittelalter und die Neuzeit bis zum Zweiten Weltkrieg.

Informationen über die Forschungsarbeiten, Bücher und Aufsätze, die in verschiedenen Sprachen über die Juden in Polen, Galizien und Lemberg erschienen sind und dieser Studie zugrunde liegen, findet der Leser in den Fußnoten und der Bibliografie der Dissertation des Verfassers, auf der das vorliegende Buch basiert.

Für die Zeit des Zweiten Weltkriegs in Lemberg ist ein 1945 verfasster historischer Überblick von Filip Friedman erwähnenswert.1 Allerdings hatte Friedman keinen Zugang zu den Primärquellen und -dokumenten, die uns heute zur Verfügung stehen. Seine Arbeit befasst sich mit den Jahren der deutschen Besatzung und berührt die vorhergehende Periode der sowjetischen Herrschaft und deren Folgen für den Holocaust nicht. 1980 erschien ein historischer Überblick über die Juden von Lemberg in der von Yad Vashem publizierten Reihe Pinkas ha-Kehillot (Enzyklopädie der jüdischen Gemeinden). Obwohl sich darin Hinweise auf die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Lemberg von ihren Anfängen bis zur Befreiung der Stadt nach dem Holocaust finden, fallen die Artikel zu den einzelnen Gemeinden, dem Charakter einer Enzyklopädie entsprechend, knapp aus. Die Besonderheit meines Buches hingegen liegt – so hoffe ich – darin, dass es sich ausschließlich mit Lemberg und den Lemberger Juden während der Zeit des Holocaust befasst und versucht, die Gründe für das besondere Schicksal der Lemberger Juden im Vergleich zu anderen jüdischen Gemeinden in Polen, wo die große und fruchtbare Gemeinschaft des osteuropäischen Judentums so brutal ausgelöscht wurde, zu analysieren.

Die verschiedenen Dokumentensammlungen waren dabei ebenso hilfreich wie die standesamtlichen Unterlagen der Gemeinde und die Gedenkbücher der Gemeinden Ostgaliziens; sie sind im Anhang aufgelistet.

Für die vorliegende Studie wurden eine enorme Zahl von Primärquellen – viele davon erstmalig – ausgewertet sowie jüdische und nichtjüdische Quellen in verschiedenen Sprachen benutzt.

Die Zeugenaussagen und Tagebücher der Holocaust-Überlebenden im östlichen Galizien waren eine zentrale Quelle. In den 1950er-Jahren wurden in Israel und andernorts enorme Anstrengungen zur Sammlung der Zeugenaussagen von Überlebenden unternommen. Niederschriften von Interviews und Manuskripte von Tagebüchern Überlebender und Ermordeter sind in den folgenden Archiven in Israel und in der ganzen Welt überliefert: Yad Vashem, Yitzhak Katznelson Ghetto Fighters’ House im Kibbutz Lochamei HaGhettaot, Moreshet Archive in Giv’at Chaviva, Oral Documentation Division im Institute of Contemporary Jewry an der Hebrew University of Jerusalem, Central Archives for the History of the Jewish People in Jerusalem, Central Zionist Archive in Jerusalem, Massuah Archive im Kibbuz Tel Yitzchak, National and University Library in Jerusalem, Fighters’ and Partisans’ Museum in Metsudat Ze’ev in Tel Aviv, YIVO Institute for Jewish Studies in New York, Bund Archives in New York, Jüdisches Historisches Institut in Warschau und (bis zur Auflösung der Einrichtungen der Überlebenden in Deutschland) die Jüdische Historische Kommission in München, deren Unterlagen sich heute in Yad Vashem befinden.

Obwohl die meisten Zeugenaussagen in den unmittelbaren Nachkriegsjahren aufgenommen wurden, als die Ereignisse noch sehr präsent waren, sind die Aussagen von Menschen der Natur nach von ihren Emotionen geprägt. Retrospektive Zeugenaussagen sind häufig nur detailbezogen, möglicherweise auch tendenziös. Folg­lich müssen sie mit möglichst vielen anderen Aussagen sowie mit Dokumenten und Studien – jüdischen, deutschen, polnischen, ukrainischen etc. – abgeglichen werden. Um zu einer präzisen Beschreibung der Vorgänge zu gelangen, muss der Forscher sich bemühen, die persönliche Erzählung zu durchdringen und offenzulegen, was sich dahinter verbirgt.

Tagebücher und Memoiren müssen ebenfalls gründlich geprüft werden, da sie häufig umgeschrieben und unter Umständen zudem für die Veröffentlichung redaktionell bearbeitet wurden. Da davon auszugehen ist, dass sie Fehler beinhalten oder Informationen außen vor bleiben – beabsichtigt oder nicht –, erfordert ihre Benutzung intensive Recherchen und eine sorgfältige Prüfung. Aus diesem und aus anderen Gründen ziehe ich Zeugenaussagen in Manuskriptform den bereits publizierten vor; außerdem gilt es zu beachten, wie viel Zeit zwischen den dort beschriebenen Ereignissen und der Abfassung der schriftlichen Quelle vergangen ist. Im Anhang ist eine Liste der verwendeten und in Archiven zugänglichen Zeugenaussagen und Tagebücher abgedruckt.

Zeitgenössische Zeitungen aus Lemberg und Krakau, der Hauptstadt des Generalgouvernements – dem von den Deutschen besetzten zentralen Teil Polens –, stellten eine weitere wichtige Quelle dar, um Informationen mit dem umfangreichen Archivmaterial abzugleichen sowie Daten und weitere Details zu verifizieren.

In den letzten Jahren knüpften Forschungsinstitute in Israel Beziehungen zu ähnlichen Institutionen in der ehemaligen Sowjetunion, und da die dortigen Archive für Wissenschaftler aus dem Ausland nun zugänglich sind, konnten wir auf umfangreiches Material aus Russland und der Ukraine zurückgreifen, darunter auch aus Lemberg selbst. Nennenswert sind das Zentrale Staatsarchiv der Oktoberrevolution, das Zentralarchiv des Distrikts Lemberg, das Historische Zentralarchiv der sowjetischen Ukraine in Lemberg, das Staatsarchiv des Innenministeriums der sowjetischen Ukraine, das Archiv der Oberstaatsanwaltschaft der Sowjetunion des Distrikts Lemberg und das Archiv des Zentralkomitees zur Untersuchung der von den Nationalsozialisten begangenen Kriegsverbrechen in Moskau und Lemberg. Der Großteil dieses wertvollen historischen Materials, das in Kopie in Yad Vashem liegt, wurde für diese Arbeit erstmals ausgewertet – darunter Bekanntmachungen, Befehle und die Korrespondenz verschiedener Behörden.

Diese Studie stützt sich zudem auf die veröffentlichten Protokolle von Komitees, die die Verbrechen der Nationalsozialisten und ihrer Komplizen untersuchten und die von den Regierungen der Sowjetunion und Polens unmittelbar nach der Befreiung eingesetzt wurden, sowie auf Protokolle der Nachkriegsprozesse gegen NS-Verbrecher und ihre Helfer, die in Lemberg und Ostgalizien während der deutschen Besatzung ihr Unwesen trieben.

Mehrere Dokumentensammlungen im Archiv von Yad Vashem in Jerusalem sowie im YIVO Institute in New York müssen genannt werden: (1) die Sammlung Michael Silverberg, die Kopien aus dem General Sikorski Archiv in London enthält; (2) die Sammlung von Hirsch Wasser, dem Sekretär des Untergrundarchivs Oneg Shabbat von Emanuel Ringelblum, der unter der deutschen Besatzung und im Warschauer Ghetto agierte; (3) der Bestand der Berlin-Sammlung im YIVO Institute. Viele dieser Unterlagen sind im Archiv von Yad Vashem entweder im Original oder als Kopie zugänglich.

Die beispiellose Häufung der deutschen, als „Aktionen“ bezeichneten Mordkampagnen machte die Erforschung der Geschichte Lembergs während des Zweiten Weltkriegs besonders kompliziert. Es war schwierig, die Zeugenaussagen zu prüfen und die Berichte durch einen Abgleich mit jüdischen, deutschen, polnischen, ukrainischen, russischen und anderen Dokumenten sowie Zeugenaussagen zu ergänzen. Meine Arbeit ähnelte dem Konstruieren eines Mosaiks, in das ich zahllose Steinchen einsetzen musste, um ein deutlich erkennbares Bild zu erhalten. Dabei musste ich entscheiden, wer unter den Zeugen glaubwürdiger war. Das in dem vorliegenden Buch entstehende Bild kann kein vollständiges und einheitliches sein; vieles fehlt noch. Mögen andere Forscher in meine Fußstapfen treten und meine Versäumnisse beheben!

* * *

Zuletzt noch eine Bemerkung zu diesem Buch:

Die Arbeit basiert auf einer umfangreichen Studie, die der Verfasser an der Hebrew University in Jerusalem als Dissertation vorlegte. Um den an der Geschichte Lembergs während des Krieges interessierten Leser nicht zu überfordern, habe ich die Dissertation gekürzt sowie zahlreiche Fußnoten und Hinweise gestrichen, die für eine akademische Studie erforderlich sind, die Lektüre eines Buches hingegen beschwerlich machen. Diejenigen Leser, die an der ausführlicheren Version interessiert sind, mögen Einsicht in die Dissertation nehmen.

* * *

Es ist mir eine angenehme Pflicht, mich vor allem bei meinem Lehrer und Mentor, Prof. Israel Gutman, zu bedanken, der mich dazu inspirierte, das Schicksal der Juden in Lemberg zu erforschen, mich ermutigte und auf dem Weg begleitete – einem Weg, der mehrere Jahre in Anspruch nahm. Auch danke ich den Lehrenden am Institute of Contemporary Jewry an der Hebrew University in Jerusalem, und hier vor allem den Professoren Dalia Ofer, Israel Kolatt und Yehuda Bauer, die mich zu jedem Zeitpunkt unterstützten. Darüber hinaus bedanke ich mich bei den Mitarbeitern des Instituts und vor allem bei Dr. Yitzhak Arad und Prof. Dina Porat von der Tel Aviv University, die dem akademischen Rat angehörten, der diese Arbeit als Dissertation akzeptierte.

Zudem danke ich den Mitarbeitern des Archivs und der Bibliothek in Yad Vashem, und vor allem den Bibliothekarinnen Clara Gibi, Hadassah Modlinger und Yehudit Kleinman; des Weiteren Dr. Yehoshua Buchler und den Mitarbeitern des Moreshet Archives in Giv’at Chaviva; dem Bibliothekar des Massuah Institute in Tel Yitzhak, Nethanel (Sanjo) Avi-Yona; dem Direktor des YIVO Institute for Jewish Research in New York sowie Sam Urich und den Archivaren; den Direktoren des Bund Archives in New York, Prof. Baruch Nadel und Leon Greenbaum; den Bibliothekaren des Central Archives for the History of the Jewish People und des Central Zionist Archives in Jerusalem; den Mitarbeitern der National and University Library sowie der Gershom Sholem Library in Givat Ram in Jerusalem und den Bibliothekaren der Humanities and Social Sciences Library der Hebrew University of Jerusalem, Mount Scopus.

Rafael Julius hat sich kompetent und mit viel Engagement um die redaktionelle Bearbeitung meines hebräischen Manuskripts bemüht, bevor es beim International Center for Holocaust Studies zur Publikation eingereicht wurde. Shifra Kolatt hat sich um die Drucklegung verdient gemacht. Beiden gebührt mein aufrichtiger Dank.

Ein Stipendium des Institute of Contemporary Jewry der Hebrew University in Jerusalem sowie der Yitzhak Sandman Prize of the Organization of Disabled Veterans of the War against the Nazis stellten die Finanzierung der Forschung sicher.

Gewidmet ist das Buch Simah Yones, seligen Angedenkens, der Mutter meines Sohnes.

Eliyahu Yones

 

1 Filip Friedman, Die Vernichtung der Lemberger Juden, in: Frank Beer/Wolfgang Benz/Barbara Distel (Hrsg.), Nach dem Untergang. Die ersten Zeugnisse der Shoah in Polen 1944-1947, Dachau/Berlin 2014, S. 27-63.

Einleitung: Juden in Lemberg bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs

Lemberg1 wurde Mitte des 13. Jahrhunderts durch den König von Halicz (worauf die Bezeichnung der Provinz Galizien zurückgeht) und Wolhynien gegründet; er benannte die Stadt nach seinem Sohn Lew. Sie liegt an der Schnittstelle zweier bedeutender Handelsrouten des Mittelalters: Die eine führte vom Kaspischen zum Schwarzen Meer und nach Osteuropa, die andere verlief von Byzanz nach Norden zur Ostsee. Aufgrund der geografischen Lage wurde Lemberg zu einem wichtigen Handels- und Handwerkszentrum und erregte zudem die Aufmerksamkeit von Invasoren und Eroberern. Die Stadt war häufig Schauplatz militärischer Auseinandersetzungen, und durchziehende fremde Armeen plünderten, mordeten und brannten mitunter ganze Stadtviertel nieder. Mehr als einmal wurde Lemberg völlig dem Erdboden gleichgemacht. Zudem wurde die Stadt wiederholt von todbringenden Naturkatastrophen und Seuchen heimgesucht.

Lemberg zog aufgrund seiner Lage Menschen verschiedener Ethnien an. Vor allem Polen, Ukrainer („Ruthenen“) und Juden ließen sich hier nieder. In geringerer Zahl kamen auch Deutsche, Armenier, Tataren, Tschechen und sogenannte Zigeuner. Über die Generationen hinweg entwickelten diese Volksgruppen, und vor allem die drei größten unter ihnen, komplexe Beziehungen, die von Spannungen, Rivalitäten und mitunter von gewaltsamen Zusammenstößen geprägt waren.

Bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts gehörten Lemberg und seine Umgebung zum Fürstentum von Reißen (das auch als Halicz-Lwow oder „Rotruthenien“ bekannt ist). Bis 1772 waren Lemberg und das Umland dann Teil des Königreichs Polen. Eine Wirtschaftskrise im westlichen und nördlichen Polen in der Mitte des 16. Jahrhunderts löste eine Abwanderung der Bevölkerung aus: Im frühen 17. Jahrhundert zogen Bauern, polnische Adelige und Juden nach Osten in die dünn besiedelte Wildnis Russlands. In dieser Zeit entstanden dort die riesigen Landgüter der polnischen Gutsherren.

Die Zuwanderung und Ansiedlung im südlichen Russland und in Ostgalizien spielten in der Geschichte des polnischen Judentums eine bedeutende Rolle. Im späten 18. Jahrhundert wurde Polen unter den Großmächten Österreich, Deutschland und Russland aufgeteilt. Das gesamte Gebiet um Lemberg wurde einschließlich der Stadt selbst dem österreichischen Herrschaftsgebiet einverleibt und hieß nun Ostgalizien.

Als Ende 1918 ein unabhängiger polnischer Staat ins Leben gerufen wurde, geriet die Region wieder unter polnische Kontrolle. Bis zur Besetzung Polens im September 1939 stand Lemberg im Mittelpunkt der Streitigkeiten zwischen Ukrainern und Polen. Was sich hier während des Zweiten Weltkriegs zutrug, wird in diesem Buch detailliert beschrieben.

* * *

Die ersten Hinweise auf jüdisches Leben in Lemberg stammen aus dem 14. Jahrhundert.2 Am Ende des Jahrhunderts existierten in Lemberg zwei jüdische Gemeinden und eine Gemeinde der Karaiten. Die größere der jüdischen Gemeinden war außerhalb des Stadtgebiets in einem Vorort namens Krakau angesiedelt. Diese Gemeinde wurde erstmals im Jahr 1352 erwähnt; ihre Mitglieder galten im Vergleich mit jenen der „jüngeren“ Gemeinde (zu der der erste Hinweis aus dem Jahr 1387 stammt), die innerhalb der Stadtmauern in der Judenstraße3 lebten, als sozial schwächer. Jede Gemeinde unterhielt ihre eigenen religiösen und sozialen Einrichtungen; lediglich den Friedhof, der erstmals 1411 erwähnt wurde, nutzten sie gemeinsam; dort begruben auch die Karaiten ihre Toten. Bis ins späte 16. Jahrhundert spielten die Juden eine wichtige Rolle im Wirtschaftsleben, insbesondere im Handel zwischen dem westlichen und dem östlichen Europa. Die politischen Unruhen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten, die Polen im 17. und 18. Jahrhundert belasteten, griffen auch auf Galizien über. Die Lemberger Juden traf es dabei besonders hart.

Die Juden fristeten ihr Dasein mit Hausieren, Kleinhandel, Handwerk und mit religiösen Dienstleistungen (als Rabbiner, Schächter und Lehrer, die von der Gemeinde unterstützt wurden). Die meisten von ihnen lebten in großer Armut; nur wenigen gelang es, eine wirtschaftlich gesicherte Stellung zu erreichen.

Manche Juden gliederten sich in das Feudalsystem ein und erwarben vom polnischen Adel auf der Grundlage des Pachtrechts (arende) Ländereien. Sie verwalteten die Landgüter oder pachteten von den polnischen Adeligen Konzessionen zur Eintreibung von Steuern oder Zöllen aus Schenken und Herbergen, Getreidemühlen, Fischteichen, Schmelzöfen für Pottasche und sogar aus ganzen Dörfern und Städten. Der Adel oder die Inhaber von Ansprüchen auf Grundbesitz beauftragten bevorzugt Juden mit der Verwaltung ihres Besitzes und der Maximierung ihrer Einkünfte. Dabei zögerten die Herren nicht, ihre jüdischen Pächter unter Druck zu setzen, sie zu bestrafen und dazu zu zwingen, ihrerseits die Bauern brutal zu unterdrücken und zu erpressen. Die Gutsherren waren dafür bekannt, ihre Moszke zu nötigen und zu erniedrigen, wann immer es „ihren“ Juden nicht gelang, ihre Forderungen zu erfüllen.

Um den überaus harten Bedingungen des Pachtverhältnisses gerecht zu werden, waren die jüdischen Pächter (damals arender genannt) manches Mal gezwungen, auf Tricks zurückzugreifen, um die Steuern für ihre Herren einzutreiben, etwa indem sie Eigentum in Besitz nahmen, das wegen eines Zahlungsversäumnisses verpfändet worden war, wie zum Beispiel ein Stück Land eines Bauern oder eines Händlers oder die Schlüssel zu einer Kirche. Es überrascht nicht, dass dieses Vorgehen die Juden bei den Bauern und den Bürgern in Misskredit brachte. Die wechselseitigen Beziehungen unterlagen ständigen Spannungen, da, vom Standpunkt der Bauern und Bürger aus betrachtet, der jüdische Steuereintreiber der unmittelbare Ausbeuter war. Häufig kam es zu Zusammenstößen, die für die ukrainischen und ostgalizischen Juden schwerwiegende Folgen hatten.

Zu den ersten Opfern des Bauernaufstands gegen den polnischen Adel im 17. Jahrhundert zählten Juden. Der aufgestaute Hass der Bauern auf die polnische Aristokratie und deren arender entlud sich in Plünderungen und Morden, deren Opfer die sofort und leicht greifbaren Vertreter der Aristokratie waren, die Juden. In den Jahren 1594 bis 1596 verübten rebellierende Bauern unter der Führung von Seweryn Naliwajko Massaker an den Juden, 1637 taten es ihnen die Kosaken unter ihrem Anführer Pawlo Pawluk gleich. 1648 und 1649 wurden im Verlauf des Aufstands der Ukrainer gegen die Polen unter Bohdan Chmelnyzkyj (den die Juden als Chmiel ha-Rascha, Chmiel den Bösartigen, bezeichneten) ganze jüdische Gemeinden in der Ukraine und in Galizien vernichtet und ihre Mitglieder durch Feuer und Schwert getötet.

Diese Ereignisse fanden großen Widerhall in Nathan Nota Hanovers zeitgenössischem Buch Yiven Metsula– der „griechische Abgrund“. Darin erklärt der Autor den Hintergrund der Pogrome: „Das griechische Volk4 wurde ärmer und ärmer [...] und wurde zu Sklaven der Polen und Juden. […] Dies war der Ursprung der schrecklichen Dekrete.“

In seinem Bericht beschreibt Hanover, was den Bewohnern von Lemberg widerfuhr:

„Chmiel, dessen Name ausgelöscht werden möge, schickte seine gesamte Streitmacht zur Belagerung der heiligen Gemeinde von Lemberg, einer großen Stadt vor dem Herrn, in der Gelehrte und Schriftsteller lebten. Die Feinde drangen bis zur großen Zitadelle vor und töteten Tausende von Griechen [Ukrainern] und Kadarim [Tataren], bis die Polen gezwungen waren, die Zitadelle wegen Wassermangels zu verlassen. Die Polen machten sich von der großen Zitadelle aus in andere Teile der Stadt auf, und die ortsansässigen Bewohner brannten alle Bauten um die Mauer herum nieder, um zu verhindern, dass der Feind sich in der Nähe der Stadt verbarg. Dennoch eroberten die Feinde die Zitadelle und belagerten die Stadt von allen Seiten. […] Seuchen und Hungersnöte brachen aus [wie in der Prophezeiung in Deut. 32,25] ‚Straßher rafft Schwert, stubenher Entsetzen, so Jüngling so Mädchen, Säugling samt greisem Mann‘ und etwa 10.000 Menschen5in Lemberg fielen ihnen zum Opfer.“

Hanover erwähnt die aktive Rolle der Juden bei der Verteidigung der Stadt. Sie waren mit Schusswaffen, Schaufeln und Sensen ausgestattet. Er berichtet außerdem, dass die Einwohner von Lemberg, vertreten durch einen Juden, mit Chmelnyzkyj über ein Ende der Belagerung verhandelten. Im Ergebnis wurde die 23 Tage dauernde Belagerung zur Freude der Bevölkerung gegen die Zahlung von „200.000 Złoty in Silber und Gold“ aufgehoben. Hanover deutet die Ereignisse so:

„Hätte Gott nicht Mitleid mit den Tausenden und Abertausenden Angehörigen seines jüdischen Volkes gehabt, die alle herausragende Gelehrte waren und leidenschaftlich Buße taten, bis ihr Flehen den Himmel erreichte und Gott veranlasste, das Gesindel zu Kompromissen zu bewegen – wäre dies nicht gewesen und wären sie für eine weitere Woche belagert worden, so wäre die gesamte Stadtbevölkerung verhungert und verdurstet.“6

Die sich in Polen ausbreitende Anarchie und die Verarmung der jüdischen Gemeinden untergruben auch das Ansehen der Führung und Einrichtungen der Kehilla (jüdische Gemeinde) im ganzen Land. Die Auswirkungen waren in den Gebieten der Westukraine mit ihrem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil nicht weniger schwerwiegend. Das Schwinden der Hoffnungen auf den Messias ließ in Verbindung mit materieller und spiritueller Not die chassidische Bewegung entstehen. An dieser Stelle können die Prinzipien des Chassidismus, die Gründe für seine Verbreitung und die Auseinandersetzung mit seinen Gegnern, den Mitnaggedim, nicht diskutiert werden. Für unsere Zwecke genügt die Tatsache, dass der Chassidismus in Ostgalizien tief verwurzelt war.7

Die erste chassidische Synagoge in Lemberg wurde 1838 gegründet. In der Stadt selbst ließ sich kein chassidischer Zaddik nieder, aber sie wurde von zahlreichen Zaddikim besucht. Aryeh Judah Leib – der „Mochiach [der ‚Tadler‘] von Kolonnoye“, ein Schüler des Ba’al Schem Tov, der später zum Maggid von Mezericz und zu einem der frühesten und bedeutendsten Verbreiter des Chassidismus wurde – gewann unter den Juden Galiziens und in Lemberg verstärkt Anhänger. Doch standen die Rabbiner von Lemberg dem Chassidismus ablehnend gegenüber und verboten den dortigen Juden, die sephardischen Elemente, die die Chassidim adaptiert hatten, in ihren liturgischen Ritus zu integrieren. Als die Chassidim im 19. Jahrhundert ihren Einfluss in Galizien stark ausdehnten, blieb auch Lemberg von den heftigen Disputen zwischen den Chassidim und ihren verschiedenen Gegnern sowie zwischen diesen beiden Gruppen und den Vertretern der Haskalah, der Aufklärung, nicht verschont.

Die Ära Österreich-Ungarns

Nach den drei Teilungen Polens wurde Galizien im späten 18. Jahrhundert in die österreich-ungarische Monarchie eingegliedert; Lemberg wurde Hauptstadt der Region. Unter der Regierung Österreich-Ungarns profitierten die Bewohner von den nun geltenden Gesetzen und Rechten sowie von der Verfassung, die liberaler war als die des unabhängigen polnischen Staates. Die Juden in Lemberg wurden Teil des politischen Lebens und partizipierten an der in Lemberg sowie in anderen Städten und Dörfern der Region eingerichteten Selbstverwaltung. 1867 erhielten die Juden gleiche Rechte, waren von nun an befugt, öffentliche Ämter zu bekleiden, und ihre Kinder durften staatliche Schulen besuchen. Viele galizische Juden erwarben eine moderne Bildung – beeinflusst von der deutschen Kultur –, studierten in der Hauptstadt Wien und schafften den sozialen Aufstieg.8

Im Unterschied zu Polen und Ukrainern wurden die Juden nicht als eigene Nationalität anerkannt. Die Regierung in Wien hoffte, sie als „germanisierendes“ und ausgleichendes Element im Konflikt zwischen der ukrainischen Mehrheit und der polnischen Minderheit einsetzen zu können. Im Gegensatz dazu wollten die Polen die Juden Ostgaliziens als Verbündete gegen die österreichischen Herrscher und vor allem gegen die Ukrainer gewinnen.9

Während der österreichisch-ungarischen Herrschaft waren die Beziehungen zwischen den Ethnien Galiziens relativ gut. Die Juden unterhielten nachbarschaftliche, ja sogar freundschaftliche Kontakte zu den Ukrainern und Polen, mit denen sie auf Märkten und Messen einen engen Umgang pflegten. Jüdische Folklore und Volkslieder – vor allem chassidische – bezeugen dies.10

* * *

Die uns zur Verfügung stehenden statistischen Daten zeigen, dass die jüdische Bevölkerung in Galizien und Lemberg im 19. Jahrhundert und bis zum Ersten Weltkrieg stark anstieg:

Die Bevölkerung Galiziens im 19. Jahrhundert:11

Jahr

Jüdische Bevölkerung

Prozent der Gesamtbevölkerung

1817

200.277

5,6

1857

448.973

9,6

1869

575.918

10,6

1880

686.596

11,5

1890

772.213

11,6

1900

811.371

11,1

1910

872.972

10,9

Die Bevölkerung von Lemberg, 1550–1939:12

Jahr

Gesamtbevölkerung

Jüdische Bevölkerung

Prozent

Nach Pinkas ha-Kehillot

Nach der Encyclopaedia Hebraica

1550

(?)

Etwa 1000

352

1557

(?)

Etwa 2400

1765

(?)

6142

1772

(?)

6642

1796

(?)

12.486

1800

(?)

13.412

18.302

1810

(?)

14.979

1820

(?)

17.931

1826

(?)

19.217

1869

(?)

26.694

1880

109.746

30.961

28,2

1890

127.943

36.130

28,2

1900

159.877

44.258

27,7

1910

206,113

57.387

27,8

1921

219.388

76.854

35,0

1931

(?)

99.595

31,9

1939

(?)

(?)

109.500

 

Die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung von Lemberg:

Jahr

Polen (Prozentsatz der Gesamtbevölkerung)

Juden

(Prozentsatz der Gesamtbevölkerung)

Ukrainer

(Prozentsatz der Gesamtbevölkerung)

Andere

(Prozentsatz der Gesamtbevölkerung)

1880

53,4

28,2

15,9

2,5

1890

52,6

28,2

17,1

2,1

1900

51,7

27,7

18,3

2,3

1910

51,2

27,8

19,1

1,9

Im Jahre 1785 war Galizien die Heimat von mehr als 75 % der Juden Österreichs gewesen; 1910 lebten hier noch immer mehr als 66 %.

* * *

In der Ära Österreich-Ungarns verschmolzen die beiden jüdischen Gemeinden in Lemberg. Seit den 1840er-Jahren standen ihnen zwei Maskilim („Aufgeklärte“, im eigentlichen Sinne auch „Gebildete“) vor: Immanuel Blumenfeld und Emil Byk. Die Rabbiner der Gemeinde waren Moses Babad, Joseph Saul Nathanson, Jakob Meschulam, Zwi Hirsch Orenstein, Isaak Aaron Ettinger, Isaak Judah Schmelkes und Aryeh Leib Braude. Dr. S.A. Schwabacher, Dr. Y.B. Lewinstein und Dr. Esekiel Karo hielten Predigten im Heichal (der Hauptsynagoge). 1909 wurde der Letztgenannte zum Rabbiner der Kehilla ernannt, die zu dieser Zeit Rabbi Isaak Schmelkes leitete.

Als Mitteleuropa den „Völkerfrühling“, die bürgerlichen Revolutionen von 1848/49, erlebte, gliederten sich die Juden von Lemberg im Großen und Ganzen in die politischen und kulturellen Aktivitäten der übrigen Bevölkerung ein und erhielten, wie schon erwähnt, 1867 die gleichen Rechte zugestanden.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts gewann die chassidische Bewegung an Dynamik und breitete sich in den Shtetln Galiziens und in Lemberg aus. Die Chassidim richteten vor allem in den Shtetln Höfe für Zaddikim ein; die bekanntesten unter ihnen waren das Haus Belz, gegründet von R. Schalom Rokeach, das Haus Zanz, gegründet von R. Chaim Halberstadt, sowie Sadigora und Chortkow. Zunächst wetteiferten diese Höfe miteinander um Einfluss unter den Einwohnern der Shtetl. Die Ausbreitung der Haskalah zwang sie jedoch, diese Bemühungen einzuschränken und eine gemeinsame Front der Chassidim und Mitnaggedim gegen die Maskilim zu bilden, obwohl ihre internen Zwiste damit nicht beendet waren.13

Die Maskilim wehrten sich und kritisierten die Ignoranz der Chassidim und der Mitnaggedim sowie deren Anhänger auf jede mögliche Art. Einer der vehementesten anti-chassidischen Polemiker war I.L. Mieses (geboren 1798 in Lemberg), der in seinem Buch Kin’at ha-Emet (Wien 1828) gegen den Glauben an Geister, Dämonen und Hexenzauber wetterte, den das Volk mit der Ausbreitung des Chassidismus angenommen hatte.

Die Haskalah in Lemberg und Galizien wurde von der mitteleuropäischen Aufklärung inspiriert.14 Die österreichischen Machthaber unterstützten die Verbreitung der Aufklärung unter den Juden. Wir werden hier nicht näher auf ihre Motive eingehen, aber gegen Ende des 18. Jahrhunderts beabsichtigten sie zweifelsohne, die Produktivität der Juden zu steigern und sie durch den Erlass diverser Verordnungen und Gesetze in „nützliche Bürger“ zu verwandeln. Im Rahmen dieser Maßnahmen sandten die Wiener Behörden Naftali Herz Homberg (1749–1841) nach Lemberg und setzten ihn dort als Leiter des Erziehungssystems in Galizien ein, um dieses im Geiste der europäischen Kultur zu reformieren und handwerkliche Ausbildungen sowie die deutsche Sprache einzuführen. Die Lemberger Rabbiner, die um die Zukunft der traditionellen jüdischen Erziehung besorgt waren, fürchteten die Ergebnisse der drastischen Reformen, die Homberg durchzuführen versuchte, und widersetzten sich ihm vehement; im Jahre 1801 musste Homberg Lemberg verlassen.

Einer der frühesten Verbreiter der Haskalah in Galizien war Pinchas Elijahu Horowitz (geboren 1765 in Lemberg). In seinem Buch Sefer ha-Berit („Das Buch des Bundes“) wandte er sich gegen den Aberglauben, dem die jüdischen Massen anhingen. Er verurteilte die herkömmlichen Erziehungsmethoden in Polen, „nach denen Kindern kein Handwerk gelehrt wird und jeder Vater von seinem Sohn erwartet, Rabbiner oder rabbinischer Richter zu werden. Wer das nicht schafft, muss Kinder unterrichten, und da die Lehrer den Kindern zahlenmäßig überlegen sind, [können sie] ihren Lebensunterhalt nicht verdienen, und in ihren Heimen fehlt es an Brot und Kleidung.“15

Die intellektuelle Haskalah um ihrer selbst willen genügte den Maskilim Galiziens nicht. Sie trachteten danach, die Einrichtungen der jüdischen Gemeinde und ihre Schulen zu überprüfen und die Produktivität zu steigern. Sie engagierten sich für die Verbreitung der Haskalah in weiten Kreisen der Öffentlichkeit, lehrten die hebräische Sprache, studierten und erforschten die jüdische Geschichte und Literatur und unterrichteten Naturwissenschaften.

Im 19. Jahrhundert waren Galizien und seine Hauptstadt Lemberg Zentren lebhafter literarischer Aktivität in vielen Bereichen; dort erschienen unter anderem die philosophischen Schriften von Nachman Krochmal, die anti-chassidischen Polemiken und satirischen Essays von Joseph Perl und Isaak Erter, die Studien von Rabbi S. L. Hacohen, die Arbeiten von S. J. Rappaport und Salomon Buber in der „Wissenschaft des Judentums“ sowie die Gesellschaftsromane von Reuben Asher Broides und David Isaiah Silberbusch. Diese Autoren waren die Vorgänger moderner hebräischer Literaten wie S. I. Agnon, U. Z. Grünberg und vieler anderer.

Lemberg war ein bedeutendes Zentrum des hebräischsprachigen Drucks; dort wurden Zeitungen, Broschüren und Abhandlungen publiziert. Die von Dr. A. Bleicher herausgegebene jiddische Zeitung Di Idishe Post erschien erstmals 1848 in Lemberg. Als politisch konservative Zeitung bekämpfte sie den revolutionären Zeitgeist in jüdischen Kreisen und positionierte sich gegen Leopold Zunz, der die galizischen Juden drängte, „im Geiste der Revolution für die Freiheit zu kämpfen“. Das erste hebräischsprachige Magazin, Ha-Ro’e ve-ha-Mevaker, das J. Bodek und A. Mohr herausgaben, wurde von 1837 bis 1939 in Lemberg publiziert; es galt als Stimme jüdischer religiöser Reformbestrebungen.

Kurzzeitig (1824) kam in Lemberg die Zeitung Ha-Zefira heraus; Chefredakteur war Meir Halevi Letteris. Zwei weitere hebräische Zeitungen erschienen in Lemberg: Zir Ne’eman, gefolgt von ‘Olat Schabbat; die Herausgeber waren Joseph Perl aus Tarnopol und Jakob Samuel Bick. Seit 1867 veröffentlichte eine Gruppe pro-österreichischer Maskilim eine Wochenzeitung mit dem Titel Israelit, die in deutscher Sprache, aber mit hebräischen Schriftzeichen erschien.

Joseph Kohen-Zedek aus Lemberg publizierte die religiöse Monatsschrift Meged Yerachim und nachfolgend die Vierteljahresschrift Otzar Chochma mit den Schwerpunktthemen Geschichte, Bibel, Torah und Politik (1859–1865) sowie das Literaturjournal Ha-Nescher (1860–1870) – alle auf Hebräisch. Weitere Wochenzeitungen erschienen auf Hebräisch und Jiddisch.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war das jüdische Lemberg bekannt für die dort erscheinenden Publikationen der jüdisch-nationalen Maskilimzirkel, die stark von der Zeitung Ha-Shachar von Peretz Smolenskin beeinflusst waren. Beispiele dafür sind Ha-Mevasser, eine von A. Minkes (1860–1876) herausgegebene hebräische Wochenzeitung, die sich mit Literatur und der Wissenschaft des Judentums beschäftigte, und zahlreiche andere hebräische und jiddische Zeitungen. Die erste zionistische Zeitung in Lemberg hieß Przyszłość („Die Zukunft“) und erschien seit 1892 auf Polnisch. In den 1890er-Jahren liegen auch die Anfänge der sozialistischen jüdischen Presse in Lemberg. Das von Berl Loker herausgegebene Journal der Po’alei Zion, Der Idischer Arbeter,wurde zwischen 1904 und 1915 in Lemberg publiziert.

Die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Lemberg erscheinenden jüdischen Zeitschriften spiegelten das ganze Spektrum der jüdischen öffentlichen Meinung wider: Neben den Publikationen der Maskilim erschienen Schriften der Orthodoxen und Literaturjournale sowie humoristische und satirische Sammlungen, außerdem von den chassidischen Höfen veröffentlichte Traktate, die streng am Glauben festhielten und die Assimilierung und die Aufklärung bekämpften.16

Die Zeit der Haskalah in Galizien prägte auch die späteren Gründerväter der jüdischen Zeitgeschichtsschreibung: Siegfried Bernfeld, Salomon Buber, Moses Schorr, Meir Balaban, Matthias Mieses, J. Schell, Filip Friedman, Raphael Mahler, Josef Kermisz, J. Schiffer und andere. Galizien brachte bedeutende jüdische Schriftsteller hervor, die auf Polnisch schrieben, sowie große Künstler und Gelehrte, von denen einer, Professor A. Bick, 1915 Rektor der Universität Lemberg wurde.

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts organisierten sich die galizischen Juden politisch. Die Charedim fanden sich in der Vereinigung Machsikei Hadas („Bewahrer des Glaubens“) zusammen, der Rabbi Simon Schreiber (Sohn des Chatam Sofer) und der Belzer Rebbe vorstanden. In den Parlamentswahlen im Jahr 1879 schlossen sich die Orthodoxen den Polen an, während die assimilierten Juden, die sich in der Organisation Schomer Israel zusammengetan hatten, sich mit den Ruthenen gegen die Polen verbündeten und vier jüdische Abgeordnete in das Parlament entsandten.

Im späten 19. Jahrhundert stärkte das Habsburger Reich die Autonomie der Polen vor Ort, wodurch in Galizien ein Prozess der Polonisierung in Gang gesetzt wurde. Die assimilierte jüdische Intelligenz in Lemberg, die sich zunächst mit Österreich und dessen deutscher Kultur verbunden gefühlt hatte, wandte sich nun stärker der polnischen Kultur und Sprache zu.17

Von Weltkrieg zu Weltkrieg

Der Erste Weltkrieg stürzte Lemberg und Ostgalizien in eine schwere Krise, die von den Juden als „Khurban [Zerstörung] Galiziens“18bezeichnet wurde. Die Region wechselte wiederholt die Machthaber und diente Österreichern und Russen, Polen und Ukrainern als Schlachtfeld. In den ersten Kriegsmonaten vertrieben Einheiten der russischen Armee die Österreicher aus Ostgalizien. Dies hatte verheerende Konsequenzen für die Juden, vor allem wegen der Pogrome, die die Kosacken in allen von ihnen besetzten Gebieten anzettelten. Infolge der Misshandlungen, Morde, Plünderungen, Vergewaltigungen und Brandstiftungen durch die Kosacken wurden zahlreiche Juden ins russische Landesinnere vertrieben, und schätzungsweise 400.000 Juden flohen aus den Städten und Shtetln der Region nach Österreich, in die Tschecho­slo­wakei und nach Ungarn.19

Als die Österreicher 1915 Teile Galiziens von den Russen zurückeroberten, erlebte die zerstörte Region eine tiefe wirtschaftliche Depression, die alle Einwohner betraf und die Not der Juden verschärfte. Viele Familien wurden obdachlos, litten unter Hunger und Kälte. Neben den Pogromen forderten auch Epidemien weitere Opfer, und viele Waisen durchstreiften Dörfer und Städte und bettelten. Wie während der vorangegangenen Pogrome kamen Juden aus anderen Gegenden ihren Glau­bens­brüdern zuhilfe. Verschiedene Rettungskomitees sammelten Gelder und versuchten, die Not der galizischen Juden zu lindern. Die Juden Russlands und das American Jewish Joint Distribution Committee spielten bei diesen Bemühungen eine besondere Rolle.

Selbst nach dem Waffenstillstand in Europa kam Galizien nicht zur Ruhe. Der alte Streit zwischen Ukrainern und Polen loderte wieder auf. Die Polen beabsichtigten, Lemberg und seine Um­ge­bung in die Zweite Polnische Republik einzugliedern, wohingegen die Ukrainer, die für ihre eigene Unabhängigkeit kämpften, dies verhindern wollten und die Region als „Westukraine“ be­zeich­neten.

Während dieses polnisch-ukrainischen Konflikts brach unter der jüdischen Führung in Lemberg Zwietracht aus. Einige vertraten die Meinung, dass sich die Juden auf die Seite der Ukrainer stellen sollten. Andere waren davon überzeugt, dass die Juden als Angehörige des Bürgertums sich der polnischen und nicht der ukrainischen Kultur verpflichtet fühlen sollten. Nach zahlreichen Diskussionen wurde beschlossen, dass sich die jüdische Bevöl­kerung nicht in den Konflikt einmischen und für keine Seite Partei ergreifen solle. Die Juden gründeten eine Miliz zum Selbstschutz, die sich aus Veteranen der österreichischen Armee und pro-zionis­ti­schen Befehlshabern zusammensetzte. Als die Ukrainer und die Polen die Waffen gegeneinander erhoben, verhielten sich die Kom­man­deure der jüdischen Miliz strikt neutral.

Am 1. November 1918 wurde die Westukrainische Volksrepublik (Zachidno-Ukrajinska Narodna Republika)gegründet, und die Polen zogen sich zurück. Nach Gefechten marschierten reguläre polnische Truppen in Lemberg ein, vertrieben die Bataillone der Ukrainer und übten Vergeltung an den Juden, die sich geweigert hatten, sich offen und eindeutig auf die Seite der Polen zu schlagen. Polen drangen in das jüdische Viertel ein und plünderten und mordeten sechs Wochen lang – unterstützt von der Hetze einiger Kirchenführer. Allein zwischen dem 21. und 24. November 1918 wurden in Lemberg 72 Juden ermordet und Hunderte verletzt.20

Zunächst standen die Ukrainer sowohl in der West- als auch in der Ostukraine den Juden wohlwollend gegenüber, da diese sich nicht mit den Polen verbündet hatten. Die Regierung der Ukraini­schen Volksrepublik in Kiew (Ukrajinska Narodna Respublika) erklärte – auf Ukrainisch, Polnisch und Jiddisch –, dass sie die Juden auf dem Gebiet der Republik als eine nationale Gruppe mit gleichen Rechten anerkannte. Als sich das Regime jedoch stabi­li­sierte, veränderte sich die Einstellung gegenüber den Juden schnell. Die jüdische Miliz wurde aufgelöst, und Übergriffe auf Juden und deren Eigentum nahmen in der Zentral- und Ostukraine zu. Unter den Tätern befand sich auch die Truppe von Symon Petljura.21

Die Republik „Westukraine“ hatte in Ostgalizien nicht lange Bestand. Unter dem Druck der polnischen Armee stürzte das westukrainische Regime, und seine Vertreter flüchteten Hals über Kopf. Am 25. Mai 1919 besetzten die Polen Ostgalizien und annek­tierten es.

Nach dem Ersten Weltkrieg verhandelten die am Versailler Friedensvertrag beteiligten Parteien über die zukünftigen Grenzen des unabhängigen Polen.22Bei der Diskussion über den Verlauf der südwestlichen Grenze beschlossen die Delegationsleiter, Polen das Mandat über Ostgalizien bis zum Fluss San (die Stadt Przemyśl nicht eingeschlossen) zu übertragen (12. September 1919). Man fürchtete jedoch die Wut der ukrainischen Bevölkerung und for­der­te Polen deshalb auf, der betreffenden Region Autonomie zuzu­sichern. Als die Polen 1920 die Rote Armee in der als das „Wunder an der Weichsel“ bezeichneten Schlacht vernichtend schlugen, breitete sich unter den Leitern der Delegationen auf der Frie­dens­kon­ferenz die Überzeugung aus, Polen könne als Puf­fer­zone gegen das Vordringen der Roten Armee nach Westen dienen.

Sowohl die Polen als auch die Ukrainer widersetzten sich diesem Abkommen. Die Polen betrachteten die Entscheidung als eine Missachtung ihres Rechts, Galizien an ihr souveränes Staatsgebiet anzuschließen. Die Ukrainer werteten sie als Negierung ihres Rechts auf einen unabhängigen Staat „Westukraine“, einschließlich Ostgalizien. Die Exilregierung der Ukrainer in Wien unter der Lei­tung von Dr. Jewhen Petruschewytsch initiierte einen po­li­ti­schen Kampf auf internationaler Ebene. Der politische und rechtliche Status Ostgaliziens und Lembergs blieb unklar. Erst am 15. März 1923 wurde die Region endgültig Polen zugesprochen. Die Polen versprachen jedoch, in drei polnischen Distrikten – Lemberg, Tarnopol und Stanisławów – eine nicht klar definierte ukrainische Selbstregierung einzuführen und in Lemberg eine ukrainische Universität zu gründen. Die Vertreter der Großmächte gaben sich mit dieser Entscheidung des polnischen Sejm zufrieden. In der Praxis hielt sich jedoch keine der Regierungen Polens zwischen den beiden Weltkriegen an diese Vereinbarung.

Die Ukrainer reagierten auf den Verlust der Westukrainischen Republik auf die Art der (italienischen) irredenta und gründeten eine Untergrundbewegung, die sich in der gesamten Zwischen­kriegs­zeit gegen die polnische Herrschaft auflehnte und sich dabei auch terroristischer Methoden zur Durchsetzung ihrer Gebiets­ansprüche bediente.23Gleichzeitig strebten die Ukrainer der Region die wirt­schaftliche Unabhängigkeit an. Sie hatten damit zum großen Teil Erfolg. Geschäfte im Besitz von Ukrainern säumten die Straßen. Ukrainer boykottierten von Polen betriebene Läden, trieben nur mit ihren Landsleuten oder mit Juden Handel und richteten ihre eigenen Genossenschaften und Garküchen ein. Die polnischen Behörden intensivierten ihre Bemühungen zur Polonisierung der von Ukrainern bewohnten Gebiete, um ihre Autorität in der Region durchzusetzen, in der zwei Drittel der Einwohner keine Polen waren. Die polnischen Behörden verweigerten den Ukrainern sowohl das Recht, an der Universität Lemberg in ihrer eigenen Sprache zu lehren und die eigene Kultur zu pflegen, als auch die bereits zugesagte Gründung einer ukrainischen Universität. Sie erschwerten den Ukrainern die Zulassung zur Universität Lemberg und verringerten die Anzahl der ukrainischen Mitglieder der akademischen Fakultät im Vergleich zur Zeit unter der österreichisch-ungarischen Herrschaft. Junge Ukrainer, die im Ausland studierten, hatten Probleme, nach ihrer Rückkehr nach Lemberg Arbeit zu finden. Auf Anordnung des polnischen Innenministeriums mussten sich Ukrainer als „Ruthenen“ deklarieren und wurden in offiziellen Dokumenten als solche bezeichnet.24

Die Juden als eine zahlenmäßig starke Minderheit in Polen zwischen den beiden Kriegen litten ebenfalls unter der Politik des unabhängigen Polen und den Übergriffen der Behörden auf nationale Minderheiten. Als das polnische Regime sich konsolidiert hatte, wurde eine wachsende Zahl von Juden aus Regierungs- und kommunalen Einrichtungen, aus Lehrämtern und dem öffentlichen Dienst entlassen. Viele Juden verloren ihre Geschäftslizenzen, und sie wurden zunehmend aus Positionen in der Wirtschaft verdrängt. Die Stätten höherer Bildung wurden zu Brutstätten antisemitischer Aktivitäten.

Nach dem Tod von Marschall Józef Piłsudski im Jahre 1935 nahm der Antisemitismus auch innerhalb der Regierungspartei zu. Juden wurden aus Regierungsämtern und staatlich kontrollierten Unternehmen entlassen. Positionen im öffentlichen Dienst, bei der Eisenbahn, der Post, im Forstwesen und in anderen Branchen blieben ihnen verschlossen. Der Wirtschaftsboykott gegen jüdische Händler und Ladenbesitzer wurde verschärft. Der Zugang von Juden zur Universität und zum Polytechnikum in Lemberg und in anderen polnischen Städten wurde durch einen numerus clausus eingeschränkt. Wer zum Studium zugelassen wurde, musste auf für Juden reservierten Plätzen sitzen – auf „Ghettobänken“. Wenn sich jüdische Studenten über diese Einschränkungen beschwerten, organisierten polnische Studenten der Nationaldemokratischen Partei bewaffnete Banden, um die Juden aus den Universitäten zu vertreiben. Am 4. November 1938 griffen Bandenmitglieder jüdische Studenten in der Pharmazeutischen Fakultät der Uni­ver­si­tät Lemberg mit Messern an und verletzten zwei von ihnen tödlich. Einige Monate später wurde am Polytechnikum ein weiterer jüdischer Student ermordet.25

Die ukrainische Bevölkerung hatte ihren tiefsitzenden Hass auf die Juden ebenfalls nicht aufgegeben. In der nicht enden wollenden Auseinandersetzung zwischen der ukrainischen Minderheit und der polnischen Mehrheit betrachteten sich die Ukrainer frustriert als Opfer von Diskriminierungen, und beide Seiten beschuldigten die Juden, jeweils für die andere Seite Partei zu ergreifen.

Im Anschluss an die nationalsozialistische Machtübernahme und die polnische Annäherung an Deutschland eskalierten die anti­jü­dischen Ausschreitungen. Körperliche Angriffe und Sach­be­schä­digung wurden zur alltäglichen Routine. Die extreme Rechte rief zur Vertreibung der Juden aus Polen auf, und die Regierung betrieb eine Politik, die die Auswanderung der Juden forcieren sollte; sie suchte nach Ländern, die zur Aufnahme der Juden bereit waren. Die polnischen Behörden betrachteten die Juden – im Gegensatz zu an­deren Minderheiten – als ein überflüssiges und fremdes Ele­ment, das die polnische Wirtschaft belaste und kein Recht zum Auf­ent­halt im Lande habe; ihr Ziel war es, alle Juden zu vertreiben.26

* * *

Die Annexion Ostgaliziens durch Polen führte dazu, dass sich das galizische Judentum etwas anders entwickelte als die übrige jüdische Gemeinde Polens.27Wirtschaftlich gesehen war Galizien rückständig, die Industrie spärlich und die Arbeiterklasse von geringer Bedeutung. Die meisten Bewohner waren verarmte ukrainische und polnische Bauern; die Juden waren innerhalb der bürgerlichen Minderheit stark vertreten. Der städtische Charakter der jüdischen Bevölkerung Galiziens hatte sich nicht verändert. So waren laut dem Zensus von 1931 33 % der Einwohner Lembergs Juden, aber nur etwa 10 % der Gesamtbevölkerung Polens. In ganz Polen waren nur etwa 4 % der Juden in der Landwirtschaft tätig, aber mehr als die Hälfte von ihnen (54 %) lebte in Galizien, wo es tatsächlich eine kleine Gruppe jüdischer Landbesitzer gab.

Die meisten galizischen Juden verdienten ihren Lebens­un­ter­halt durch Handel, ein Wirtschaftszweig, in dem sie die Mehrheit der Beschäftigten stellten. Nach dem Zensus von 1931 waren 36,6 % der Händler in Polen Juden; in Lemberg umfasste ihr Anteil 68 % der Großhändler und 80 % der Einzelhändler. Im Verlauf dieses Jahrzehnts ging ihr Anteil am gesamten Handel auf 68 % zurück.28

Art des Unternehmens

Anzahl der Unternehmen

Beschäftigte

Juden

Nichtjuden

Bekleidung, Hutmacher

1366

4376

221

Baubranche

221

1085

648

Wäschereien, Färbereien, Friseure

181

381

221

Metallbranche

179

602

72

Holzindustrie und Holzprodukte

159

719

200

Nahrungsmittel

148

871

816

Maschinen und Werkzeuge

92

202

--

Leder, Bürsten

55

184

2

Grafik

39

275

90

Papier

38

485

86

Chemie

18

132

167

Textilien

16

103

20

Stein, Glas und Keramik

9

40

123

Gummi und Gummiprodukte

1

12

--

Insgesamt

2522

9469

2666

Die Tabelle zeigt, dass sich das jüdische Engagement in Industrie und Handwerk vor allem auf Wirtschaftszweige wie die Bau-, Bekleidungs- und Nahrungsmittelindustrie sowie Dienstleistungen konzentrierte. Zehn Jahre später hatte sich diese Situation nicht verändert, wie die folgenden Angaben über den Anteil der Juden an den einzelnen Branchen zeigen (in Prozent):

Branche

Lemberg (Stadt)

Lemberg (Landkreis)

Handel

40

43

Industrie und Handwerk

34

30

Öffentlicher Dienst, Erziehung und Kultur, Medizin, Wohlfahrt, Haushaltsdienste und andere Leistungen

22

15

Transport

4

3

Landwirtschaft

0

9

Obwohl die Wirtschaftskrise ganz Polen erfasste, ging es den jüdischen Ladenbesitzern und Handwerkern schlechter als der Durch­schnitts­bevölkerung. Die jüdische Einwohnerschaft lebte in ständiger Armut und Not. Im Jahr 1934 war – vor allem während der jüdischen Feiertage – mehr als die Hälfte der jüdischen Fami­lien in Lemberg auf öffentliche Unterstützung angewiesen. Kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkriegs sah sich eine wachsende Zahl jüdischer Kleinhändler gezwungen, öffentliche Anleihen auf­zu­neh­men. Dennoch wuchs die jüdische Bevölkerung Lembergs nach einem Rückgang in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts weiter an: von 26.694 Einwohnern im Jahre 1900 und 44.258 im Jahre 1921 auf 99.595 im Jahre 1931. Ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung der Stadt nahm ebenfalls zu, und zwar von 29 % zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf 35 % im Jahre 1921; 1931 ging er auf 31 % zurück. Im Landkreis Lemberg waren zu Beginn der 1920er-Jahre 11,6 % der Bevölkerung, am Ende des Jahrzehnts 8,6 % Juden. Zahlreiche Juden aus ländlichen Gegenden und den Shtetlnzogen in die großen Städte, wo sie entweder eine Be­schäf­ti­gung fanden, mit der sie ihren Lebensunterhalt verdienten, oder unter elenden Bedingungen lebten.29

Politische und gesellschaftliche Aktivitäten

Im Hinblick auf die Gesellschaftsordnung und das politische Regime war Galizien progressiver als die Gebiete „Kongresspolens“, die früher vom Russischen Reich annektiert gewesen waren. Seit der österreichisch-ungarischen Herrschaft waren die Bewohner Galiziens einschließlich der Juden daran gewöhnt, dass Wahlen stattfanden und sie sich autonom und ungehindert politisch engagieren konnten. Sie waren in der öffentlichen und parla­men­ta­ri­schen Auseinandersetzung versiert und pflegten eine lebhafte politische Kultur. Die politischen Strömungen der Juden in Galizien unterschieden sich von jenen in den zuvor von Russland be­herrsch­ten Gebieten Polens. Chassidim, Haskalah, Orthodoxie, Reform­juden­tum, assimilierte Juden, Zionismus und die Arbeiter­be­wegung – alle hatten in Galizien einen besonderen Charakter.

Neben den traditionell lebenden Juden, die rabbinische Gewänder, Hüte und Streimelach trugen, kleideten sich in Galizien viele Juden nach der Mode, besaßen akademische Titel und übten freie Berufe aus. In der Zwischenkriegszeit gab es zahlreiche jüdische Gymnasiallehrer, Rechtsanwälte, Ärzte, Universitäts­absolventen und Doktoren galizischer Herkunft. Viele von ihnen ließen sich in den verstreut liegenden jüdischen Gemeinden nieder und leisteten bedeutende Beiträge zum jüdischen Erziehungs­sys­tem und zu den jüdischen Kultur-, Gesundheits- und Sozial­ein­richtungen.

In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen war die jüdische Gemeinde in Lemberg – die drittgrößte in Polen – ein Zentrum vielfältiger politischer Aktivitäten. Ihre sozialen und politischen Verhältnisse waren in gewissem Maße von der österreichisch-ungarischen Herrschaft beeinflusst worden, hatten sich aber auch an die soziopolitischen Realitäten des jüdischen Lebens im unabhängigen Polen angepasst.

In den Zwischenkriegsjahren musste die Kommunistische Partei Polens im Untergrund operieren. Die polnische Regierung verfolgte ihre Mitglieder und inhaftierte viele von ihnen im Gefängnis und in dem 1934 von der polnischen Regierung errichteten Gefangenen­lager von Bereza Kartuska.30 Zahlreiche Juden waren in dieser Partei aktiv, und viele junge Juden schlossen sich ihrer illegalen Jugendbewegung an. Jüdische Kommunisten stammten aus allen Bevölkerungsschichten: Arbeiter, Handwerker und Intellektuelle. Im Jahre 1938 löste die Kommunistische Internationale (Komintern) die Kommunistische Partei Polens (Komunistyczna Partia Polski, KPP) auf, weil sie von der offiziellen Parteilinie abgewichen und es dem polnischen Geheimdienst gelungen war, ihre Reihen mit zahlreichen Informanten zu infiltieren. Dennoch entließ die polnische Regierung keine Parteimitglieder aus der Haft. Und auch die illegal weiterhin aktive Kommunistische Partei hatte kein Interesse an ihrer Entlassung. Die Führung der Kom­mu­nis­ti­schen Partei Polens beschloss, Kommunisten in die Reihen beste­hen­der Jugendbewegungen einzuschleusen, um aus ihrem Inneren heraus zu operieren. Im Falle der Sozialistischen Partei Polens (PPS) gelang dies in vergleichsweise großem Umfang. Junge jüdische Kommunisten schlossen sich den Jugendbewegungen des Bund, der Zukunft und sozialistisch-zionistischen Jugend­be­we­gun­gen wie dem Ha-Schomer Ha-Za’ir an. Im legalen Rahmen des Bun­ds fanden die Kommunisten ein geeignetes Umfeld für gewerk­schaftliches Engagement.

In den 1920er-Jahren spielte der Bund innerhalb der jüdischen Arbeiterbewegung die zentrale Rolle. Er bemühte sich intensiv um die Verbreitung der jiddischen Sprache. Auch wenn er in den Wahlen zum Sejm keine Mandate errang, war er doch bei den Kommunalwahlen eine bedeutende politische Kraft. 1939 stimmten etwa 40 % der jüdischen Wähler für mit dem Bund assoziierte Listen, und bei den Wahlen für die Einrichtungen der Kehilla und der jüdischen Ratsversammlungen konnte die Partei ihre Macht festigen.31

Die Juden Galiziens vertraten sowohl in „externen“ An­ge­le­genheiten, also in Bezug auf die Beziehungen zu Polen und Ukrainern, als auch bei Interna, die die Organisation der Gemeinde betrafen, ihre eigenen politischen Ansichten, die sich von denen des polnischen Judentums unterschieden.

Als Lemberg und Galizien in das unabhängige Polen ein­ge­gliedert wurden, wurden die Bemühungen, die Region zu polonisieren, verstärkt, und die Fragen des Status und der Rechte der Minderheiten erlangten größere Bedeutung. Im Vorfeld der Wahlen zum ersten Sejm 1922 verschoben die Behörden die Grenzen der Wahlkreise, sodass sich die Polen in jedem Distrikt eine Mehrheit sicherten und sich die Zahl der Minder­heiten­ver­treter im Sejm verringerte.

In Anbetracht dessen bot es sich für die Juden an, mit der ukrainischen Minderheit zu kooperieren. Aber obwohl die Be­din­gungen eine Zusammenarbeit nahelegten und es konkrete poli­ti­sche Absprachen gab, waren die tatsächlichen Ergebnisse ent­täu­schend. 1921 nahm die Idee, unter Einbeziehung aller jüdischen Parteien einen „Minderheitenblock“ zu bilden, Form an. Die trei­bende Kraft hinter diesen Bemühungen war der polnische Zionis­ten­führer Izaak Grünbaum,32 der mit den Führern der ukrainischen und der deutschen Minderheiten über ein gemeinsames Vorgehen verhandelte, um die Pläne der polnischen Regierung zur Be­schnei­dung der Minderheitenrechte zu vereiteln.