Die Katastrophe verhindern - Karl Heinz Roth - E-Book

Die Katastrophe verhindern E-Book

Karl Heinz Roth

3,7

Beschreibung

Europa heute: Massenerwerbslosigkeit, prekäre Arbeitsverhältnisse, soziale Enteignung und der Abbau demokratischer Rechte prägen besonders die Länder der europäischen Peripherie. Die Europäische Union und die Euro-Zone drohen bereits an diesen Ungleichgewichten auseinanderzubrechen. Karl Heinz Roth und Zissis Papadimitriou zeigen die Ursachen dieser fatalen Entwicklung auf und weisen nach, dass vor allem die exportgetriebene Niedriglohnpolitik der deutschen Hegemonialmacht und ihrer kerneuropäischen Verbündeten den Niedergang Europas zu verantworten hat. Doch die Autoren schlagen eine Alternative vor: entscheidende Reformen auf allen Ebenen des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Lebens hin zu einem egalitären Europa. Eine Analyse der europäischen Krise und Auswege zu einer lebbaren Alternative

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Europa heute: Massenerwerbslosigkeit, prekäre Arbeitsverhältnisse, soziale Enteignung und der Abbau demokratischer Rechte prägen besonders die Länder der europäischen Peripherie. Die Europäische Union und die Euro-Zone drohen bereits an diesen Ungleichgewichten auseinanderzubrechen.

Karl Heinz Roth und Zissis Papadimitriou zeigen die Ursachen dieser fatalen Entwicklung auf und weisen nach, dass vor allem die exportgetriebene Niedriglohnpolitik der deutschen Hegemonialmacht und ihrer kerneuropäischen Verbündeten den Niedergang Europas zu verantworten hat.

Doch die Autoren schlagen eine Alternative vor: entscheidende Reformen auf allen Ebenen des gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Lebens hin zu einem egalitären Europa.

 

DR. DR. KARL HEINZ ROTH, geb. 1942. Studium der Medizin und Geschichtswissenschaft. Mitbegründer der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts und der Zeitschrift 1999 im Jahr 1986. Lebt seit 1998 in Bremen. Zahlreiche Buch- und Zeitschriftenveröffentlichungen zur Sozial-, Wirtschafts-, Medizin- und Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts. Zuletzt erschien von ihm, zusammen mit Jan-Peter Abraham, Reemtsma auf der Krim. Tabakproduktion und Zwangsarbeit unter der deutschen Besatzungsherrschaft 1941–1944 (2011).

 

PROF. DR. ZISSIS PAPADIMITRIOU, Studium der Elektrotechnik und der Soziologie in Berlin und Hamburg. 1974–1985 Mitarbeit am Frankfurter Institut für Sozialforschung im Bereich Technologie-Forschung sowie Lehrauftrag für Industriesoziologie an der Universität Frankfurt. 1985–2006 Professor für Soziologie und Politische Wissenschaften an der Aristoteles-Universität Thessaloniki, Gastdozenturen in Sendai, Japan, in Athen und Thrazien.

KARL HEINZ ROTHZISSIS PAPADIMITRIOU

DIE KATASTROPHEVERHINDERN

MANIFESTFÜR EIN EGALITÄRES

EUROPA

 

Edition Nautilus Verlag Lutz Schulenburg

Schützenstraße 49 a · D - 22761 Hamburg

www.edition-nautilus.de

Alle Rechte vorbehalten · © Edition Nautilus 2013

Originalveröffentlichung · Erstausgabe Juli 2013

Umschlaggestaltung: Maja Bechert, Hamburg

www.majabechert.de

Porträtfoto Karl Heinz Roth: © Theo Bruns

Porträtfoto Zissis Papadimitriou: © privat

Druck und Bindung:

Beltz Bad Langensalza

1. Auflage

Print ISBN 978-3-89401785-9

E-Book EPUB ISBN 978-3-86438-146-1

E-Book PDF ISBN 978-3-86438-147-8

 

Inhalt

Vorwort

Die aktuelle Lage

Was ist geschehen?

Die globalen Umbrüche seit den 1970er Jahren

Von der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft zur Europäischen (Währungs-)Union

Die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und der Übergang zur Austeritätspolitik

Das Diktat der neomerkantilistischen Kernzone und die Unterwerfung der Peripherie unter die Austeritätsprogramme

Europa als Epizentrum der globalen Stagnation

Wie konnte es geschehen?

Europa: Imperialistische Supermacht unter deutscher Hegemonie

Die Ostexpansion

Der Krieg gegen Jugoslawien

Das Schengener Grenzregime

Zwischenbilanz

Die Rolle der Linken bei der kapitalistischen Restrukturierung Europas

Die Metamorphose der Sozialdemokratie (I)

Das Scheitern des Eurokommunismus

Der Aufstieg der grünen Parteien

Die Metamorphose der Sozialdemokratie (II)

Der Verfall der repräsentativen Demokratie

Der soziale Widerstand – Umrisse einer Alternative

Das neue Multiversum der Unterklassen

Der soziale Widerstand seit Krisenbeginn

Das Fehlen einer glaubwürdigen Alternative

Von den »entscheidenden Reformen« zu neuen Ufern: Vorüberlegungen

Umrisse eines Aktionsprogramms

1. Arbeitsbedingungen, Arbeitszeiten und Arbeitsentgelte

2. Wiederherstellung der sozialen Sicherheit und Würde

3. Rückverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von oben nach unten

4. Verhinderung der Kapitalflucht und Vergesellschaftung der Investitionen

5. Wiederaneignung der öffentlichen Güter

6. Gleichheit der Geschlechter

7. Liquidierung des Schengener Grenzregimes

8. Kehrtwende in der Umweltpolitik

9. Überwindung der binneneuropäischen Ungleichgewichte und der Euro-Krise

Und was wird aus dem Euro?

Von der Europäischen Union zur Föderativen Republik Europa

Aufbruch zu neuen Ufern

Assoziation Egalitäres Europa

Das europäische Vermächtnis des antifaschistischen Widerstands

Vorwort

Es ist Zeit zum Handeln: Fünf Jahre Krise sind genug. Die arbeitenden Klassen und Schichten sind die Hauptleidtragenden. Sie haben die Krise am wenigsten zu verantworten. Und doch werden die Krisenlasten ausschließlich auf sie abgewälzt. Sie beginnen, sich gegen diese Zumutung zu wehren und nach Alternativen zu suchen. Die Voraussetzungen für einen breiteren sozialen Widerstand sind somit günstig. Sie sind es auch deshalb, weil die herrschenden Eliten Europas zerstritten sind: Eine Fraktion setzt nach wie vor auf krisenverschärfende Sparprogramme, eine andere will den europäischen Integrationsprozess aufkündigen.

An diesen Rahmenbedingungen orientiert sich unsere Flugschrift. Im ersten Teil untersuchen wir, was geschehen ist und wie es dazu kommen konnte. Im zweiten Schwerpunkt diskutieren wir alternative Handlungsmöglichkeiten und entwickeln daraus ein Aktionsprogramm, das den alltäglichen sozialen Widerstand vor Ort mit der Perspektive eines föderativen und egalitären Europa verbindet.

Wir haben versucht, auch die ökonomischen Zusammenhänge verständlich darzustellen. Trotzdem mögen einige Begriffe übrig geblieben sein, die vielleicht nicht allen Leserinnen und Lesern vertraut sind. Andere LeserInnen werden wiederum nach dem Quellen- und Literaturmaterial fragen, das wir benutzt haben. Deshalb haben wir den vorliegenden Text durch ein Glossar und eine ausgewählte Literaturliste ergänzt. Beides kann auf der Webseite www.egalitarian-europe.com abgerufen werden.

Bremen/Thessaloniki, im Mai 2013

Die aktuelle Lage

In Europa geht die Verelendung um. Die herrschenden Gewalten haben begonnen, die arbeitenden Klassen in den Ruin zu treiben. Sie sind die Akteure eines Systems, das durch die Prinzipien der Profitmaximierung und der Konkurrenz geprägt ist. Dieses System ist instabil und nur so lange überlebensfähig, als es sich schubweise ausdehnt und den Reichtum der Wenigen durch die fortschreitende Enteignung, Ausbeutung und Verarmung der Vielen vermehrt. Droht diese Dynamik zum Stillstand zu kommen, weil die Profitraten fallen, so setzen die herrschenden Klassen alle Hebel in Bewegung, um die Ausbeutungsverhältnisse zu restrukturieren und den Raubbau an den natürlichen Ressourcen zu beschleunigen. Ihre wichtigsten Strategien sind dabei die Vergrößerung und Verstetigung der wirtschaftlichen Reservearmee, die Verdichtung der Arbeitsprozesse, die Senkung der Löhne, die Privatisierung der öffentlichen Güter und der Sozialfonds sowie die Etablierung eines harten Schuldenregimes. Das Ergebnis sind vielschichtige Prozesse der Prekarisierung und Massenverarmung. Die subalternen Klassen werden ihrer elementaren Existenzrechte beraubt und müssen unter dem Druck einer konstant hohen Erwerbslosigkeit sozial ungesicherte, niedrig entlohnte und zeitlich befristete Arbeitsverhältnisse hinnehmen. Gleichzeitig verlieren sie die Kontrolle über ihre Reproduktionsbedingungen: Als überschuldete Zwangssparer sind sie der Willkür der Banken, Versicherungskonzerne und Regulationsbehörden ausgeliefert.

Seit der Großen Rezession von 2007 bis 2009 haben diese Pauperisierungsprozesse in Europa eine neue Qualität erreicht. Die Zahl der Erwerbslosen ist ständig gestiegen, zuletzt auf 26,2 Millionen Menschen (10,8 %) in der Gesamt-EU (EU-27) und auf 19 Millionen Menschen (12,0 %) in der Euro-Zone. Von diesen Erwerbslosen sind 23,6 % bzw. 24,2 % Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren. Dabei variiert die geografische Verteilung stark. In einigen Peripherieländern liegt die Erwerbslosenquote deutlich über dem Durchschnitt, so etwa in Griechenland (27 %), Spanien (26,2 %), Portugal (17,6 %) und Irland (14,7 %). Ihnen stehen die Länder der Kernzone – Deutschland, die Beneluxstaaten und Österreich – gegenüber, in denen sich die schon seit drei Jahrzehnten andauernde strukturelle Erwerbslosigkeit kaum verändert hat. Noch dramatischer sind die Unterschiede bei den jugendlichen Erwerbslosen. In den Peripherieländern werden inzwischen Quoten von 58 % (Griechenland), 55,5 % (Spanien), 38,7 % (Italien), 38,6 % (Portugal), 30,9 % (Irland) und 28,1 % (Polen) dokumentiert; ihnen stehen die deutlich niedrigeren Ziffern der Kernländer Niederlande, Österreich und Deutschland mit 10,3 %, 9,9 % bzw. 7,9 % gegenüber.

Hinter diesen Daten sind katastrophale individuelle und familiäre Schicksale verborgen. Noch immer bestimmt das Arbeitsverhältnis über die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, so instabil und schlecht bezahlt es auch sein mag. Deshalb löst der länger anhaltende Jobverlust weitreichende Kettenreaktionen aus, die durch den befristeten Bezug von Arbeitslosenunterstützung nur hinausgeschoben werden. Nach der Beendigung dieser zeitlich befristeten Bezugsrechte beginnt der soziale Absturz, denn nun folgt die Ausgrenzung aus weiteren sozialen Sicherungsnetzen. Die Krankenversicherung erlischt und die Anwartschaft auf die Altersrente schrumpft zur Perspektive der Altersarmut. Da zudem die Löhne schon lange vor Krisenbeginn gesunken und die Sozialleistungen gestutzt worden waren, hatten viele Haushalte versucht, ihre Schieflage durch den kreditfinanzierten Kauf von Eigenheimen und Wohnungen zu stabilisieren und diese zur Absicherung ihrer Existenzrisiken zu verpfänden. Als die Krise dann ihr überschuldetes Wohneigentum entwertete, brach die Konstruktion der kreditfinanzierten Einkommensstabilisierung zusammen. In Ostmitteleuropa, Großbritannien und in den Peripherieländern der Euro-Zone sind mittlerweile über eine Million Zwangsversteigerungsverfahren anhängig; über die Hälfte davon ist inzwischen vollstreckt. Allein in Spanien stehen 400 000, in Ungarn 120 000 und in Irland 85 000 Erwerbslosenhaushalte vor dem Nichts. Sie müssen sich in Armutsquartiere, Trabantenstädte und Ghettos zurückziehen, in denen die Infrastruktur weitgehend verrottet ist.

Der Verlust der Häuser und Wohnungen ist aber nur eine von vielen Folgeerscheinungen der Massenerwerbslosigkeit. Die aus ihren Eigenheimen vertriebenen Familien können oft nicht mehr für ihre Heizkosten aufkommen und ihre Mieten, Stromrechnungen und Telefongebühren nicht mehr bezahlen. Auch die älteren Familienangehörigen und Verwandten sind außerstande, helfend einzuspringen, weil ihre Rentenbezüge laufend gekürzt werden. Krankheiten werden zu einem kaum mehr kalkulierbaren Risiko und erzwingen die Preisgabe der letzten Ersparnisse. Hunderttausende sind inzwischen obdachlos und auf Notunterkünfte, unentgeltlich tätige Gesundheitszentren und die Essensrationen von Armentafeln angewiesen.

Besonders dramatisch ist die Situation der erwerbslosen Jugendlichen. Schon in den Jahren zuvor war ihnen durch die Deregulierung der Arbeitsbeziehungen der Zugang zu einigermaßen fair bezahlten und verlässlichen Arbeitsplätzen verwehrt worden. Nun verloren sie auch ihre niedrig entgoltenen und befristeten Jobs – allein in Spanien wurden seit Krisenbeginn zwei Millionen prekäre Jugendliche auf die Straße gesetzt. Für sie und alle anderen erwerbslosen Jugendlichen in Europa prägt dieses Schicksal mehr als eine biografische Episode, es wird ihr Leben jahrzehntelang überschatten. Europaweit ist eine verlorene Generation im Entstehen begriffen, der die elementaren Voraussetzungen für den Beginn eines selbstbestimmten Lebens entzogen sind. In Griechenland sind mittlerweile 80 % aller Jugendlichen in ihre elterlichen Haushalte zurückgekehrt. Hunderttausende frisch ausgebildete Fachkräfte und Hochschulabsolventen aus Ostmittel- und Südeuropa sind inzwischen in die Länder der europäischen Kernzone, aber auch nach Nordamerika, in die arabischen Golfstaaten und in die früheren afrikanischen Kolonialgebiete ausgewandert. Hinzu kommt eine verstärkte Binnenwanderung aus den Armutsquartieren der städtischen Agglomerationen in die ländlichen Regionen.

Das sind nur einige herausragende Aspekte der um sich greifenden Verelendung und sozialen Destabilisierung, die nicht nur die Unterklassen, sondern zunehmend auch die unteren Segmente der Mittelschichten erfasst haben. Wer heute Europa bereist, bemerkt die Wegmarken der Armut und der Hoffnungslosigkeit. Sie sind in den Peripherieländern stärker ausgeprägt als in der Kernzone. Die neue Massenarmut hat inzwischen ein Drittel der Gesellschaften Ostmittel- und Südeuropas sowie der Peripherieländer der Euro-Zone im Griff und verkürzt ihre Lebenserwartung. Sie geht aber auch quer durch die EU-Mitgliedsländer. Auch in der Kernzone sind durchschnittlich 20 % aller Menschen verarmt. Ihre Zahl ist in Deutschland mit 16,1 Millionen Menschen (19,9 % der Gesamtbevölkerung) sogar absolut am höchsten.

Auch die soziale Demoralisierung folgt diesem Verteilungsmuster: In den Peripherieländern ist die Zahl der Selbsttötungen dramatisch gestiegen, und in den Armutsquartieren greifen Prostitution, Kleinkriminalität, innerfamiliäre Männergewalt und Drogenabhängigkeit um sich. Europaweit nutzen neofaschistische Organisationen die sozialökonomische Selbstzerstörung der repräsentativen Demokratie zum demagogischen Stimmenfang und zu Gewaltakten gegen Flüchtlinge und soziale Minderheiten. Sie spielen das alte Spiel des Faschismus: Sie greifen die soziale Frage auf und leiten sie in die Kanäle einer hypernationalistischen Ethnopolitik weiter.

Was ist geschehen?

Das sind niederschmetternde Befunde für einen Kontinent, der in den offiziellen Sprachregelungen noch immer als reich gilt und dem am weitesten entwickelten Zentrum des Weltsystems zugerechnet wird. Wodurch wurde diese Wende ausgelöst? Welche Faktoren und Ereignisse haben der Wiederkehr der Massenverelendung in Europa die Tür geöffnet? Die Ursachen sind vielschichtig. Sie sind teilweise das Ergebnis weltweiter sozialökonomischer Entwicklungen, teilweise aber auch auf spezifische innereuropäische Konstellationen zurückzuführen. Ihre Ursprünge reichen bis in die 1970er Jahre zurück.

Die globalen Umbrüche seit den 1970er Jahren

Zu Beginn der 1970er Jahre kam es zu wirtschafts-, finanz- und geldpolitischen Umbrüchen, die vor allem von der US-amerikanischen Hegemonialmacht ausgelöst wurden und sich weltweit auswirkten. In den Jahren 1971 bis 1973 annullierte die Nixon-Administration unter dem binnen- und kriegswirtschaftlichen Inflationsdruck des Vietnamkriegs die Goldbindung des US-Dollars. Die offizielle Weltreservewährung des Bretton-Woods-Systems wandelte sich zur inoffiziellen und ungedeckten Leitwährung, und die beim Internationalen Währungsfonds festgeschriebenen Wechselkursrelationen wurden überwiegend freigegeben. Von nun an bestimmten die Akteure der Devisenmärkte die frei schwankenden Kurse der Währungen. Weltweit entstanden neue Offshore-Märkte des US-Dollars, und davon ausgehend kamen Liberalisierungsprozesse in Gang, die die gesamten Kapitalmärkte für Aktien, Anleihen, Rohstoffe, Immobilien und industrielle Direktinvestitionen erfassten. Als die Schockwellen des Zusammenbruchs des Bretton-Woods-Systems im Herbst 1973 durch den Ölpreisschock des Yom-Kippur-Kriegs überlagert wurden, kam es zur Weltwirtschaftskrise, die zwei Jahre später in eine globale Stagnation überging. Diese Stagnation war durch niedrige Wachstumsraten, stürmische Preissteigerungen und hohe Arbeitslosigkeit geprägt und wurde 1983 durch eine wenig stabile weltwirtschaftliche Erholung abgelöst.

Unter diesen währungspolitischen Rahmenbedingungen begann eine neue Ära. Die liberalisierten Kapitalmärkte, ein mehrjähriger Zyklus von Arbeiterkämpfen mit erheblichen Reallohnsteigerungen und der zunehmende Druck der gefallenen Profitraten zwangen die Chefetagen der multinationalen Unternehmen zu einer strategischen Neuorientierung, die ihnen durch die Akteure der anlagesuchenden Kapitalmärkte wesentlich erleichtert wurde. Genauso bedeutsam waren einige neue technologische Instrumente, die den Unternehmensleitungen seit Beginn der 1970er Jahre durch den Mikrochip und die darauf basierenden Computersysteme zur Verfügung gestellt wurden. Unter diesen günstigen Kapitalmarkt- und Innovationsbedingungen gingen sie dazu über, die hochkonzentrierten Produktionskomplexe der strategisch wichtigen Industriezweige zu dezentralisieren. Sie rissen die dort massierten Arbeiterbelegschaften auseinander, unterwarfen sie den erneuerten Fertigungsverfahren und schwächten ihre kollektive Verhandlungsmacht.

Das war aber nur die eine Seite jenes Prozesses, der seit den 1970er Jahren den Übergang von der fordistischen Mammutfabrik zum postfordistischen Netzwerkunternehmen bestimmte. Die zunehmend dezentralisierten Großunternehmen der Triade-Region (USA, Japan und Europa) gingen gleichzeitig dazu über, die Grenzen ihres ökonomischen Gravitationszentrums zu überschreiten und in den Schwellen- und Entwicklungsländern neue Niederlassungen aufzubauen. Auch hierbei konnten sie sich auf die immer rascher liberalisierten Kapitalmärkte stützen, die die Schwellen- und Entwicklungsländer mit billigen Darlehen überfluteten und den Aufbau ihrer Infrastruktur sowie spezifischer neuer Wachstumszentren – der Sonderwirtschaftszonen – vorantrieben. Auf dieser Basis etablierten die multinationalen Unternehmen dann neue Netzwerke der internationalen Arbeitsteilung. Sie gingen dazu über, die nach wie vor arbeitsintensiven Fertigungs- und Dienstleistungssegmente in den globalen Süden auszulagern. Das Resultat waren transnational organisierte Wertschöpfungsketten, die es gestatteten, die industriellen Reservearmeen der weniger entwickelten Kontinente in die Prozesse der Mehrwertproduktion einzubeziehen. Die in den internationalen Handelsbeziehungen schon seit Jahrhunderten genutzten Wege des komparativen Kostenvorteils wurden auf den Produktionszyklus übertragen. Dabei wurden unterschiedliche Entwicklungsstufen der Produktionstechnologie entsprechend dem Qualifikations- und Lohnstandard der Belegschaften des jeweiligen Netzwerkstandorts eingesetzt. Die Folge dieser transkontinentalen Zerlegung der Gesamtarbeit in unterschiedlich produktive Komponenten war eine nachhaltige Steigerung ihrer Ausbeutungsrate. In diesem Zusammenhang spielten auch die technologischen Umwälzungen im Transportsektor eine wichtige Rolle: Die breite Durchsetzung des Container-Systems machte es möglich, die Transportketten kontinentübergreifend zu schließen und die Beförderungskosten derart zu senken, dass die weltweite Dislozierung von Investitions- und Anlagekapitalien rentabel wurde.

Indessen verlief dieser Umbruch keineswegs glatt. Es dauerte Jahre, bis sich die Akteure der weltweit »finanzialisierten« Kapitalbewegungen mit den Strategen der postfordistischen Umstrukturierung der Industrieproduktion abgestimmt hatten. Auch die Kompradoren-Eliten des globalen Südens mussten sich erst einmal an die veränderten Bedingungen der nachholenden Entwicklung anpassen. Sie übernahmen die Aufgabe, ihre Märkte zu öffnen, die industriellen Reservearmeen zu mobilisieren, die Entwicklung der Infrastruktur auf die den multinationalen Konzernen genehmen Standorte zu konzentrieren und ihre Finanzsektoren so zu erweitern, dass sie die wachsenden Kapitalzuflüsse verkrafteten und die öffentlichen Budgets auf einen noch nie dagewesenen Verschuldungskurs zu trimmen vermochten. Aber auch in den metropolitanen Zentren häuften sich die Schwierigkeiten. In vielen Ländern der Triade-Region widersetzten sich die Arbeiterinnen und Arbeiter mit oder ohne Unterstützung durch ihre Gewerkschaften den Umstrukturierungen und Standortverlagerungen. Letztlich konnte ihr Widerstand nur durch den harten Zugriff der politischen Klassen der Regulationssysteme gebrochen werden – insbesondere in Großbritannien, den Vereinigten Staaten und Italien. Erst nach einer mehrjährigen Stagnationsphase, die als »Ära der Stagflation« in die Geschichte einging, erwies sich der Kampf um den Wiederaufschwung der Profitraten als erfolgreich.

Aber auch nach dem Durchbruch von 1982/83 gab es zyklische Höhen und Tiefen. In den Schwellen- und Entwicklungsländern Lateinamerikas und Südostasiens entwickelte sich eine massive Schuldenkrise. Das neue Entwicklungsmodell drohte an der Zahlungsunfähigkeit mehrerer aufstrebender Nationalökonomien zu scheitern. Daraufhin lancierten der Internationale Währungsfonds und die Weltbank radikale Strukturanpassungsprogramme, wobei sie die Vergabe von Hilfskrediten von der Bereitschaft zur vorrangigen Sanierung der öffentlichen Haushalte abhängig machten. Dadurch schlugen sie zwei Fliegen mit einer Klappe: Zum einen bewahrten sie die internationalen Investoren vor Verlustabschreibungen, zum anderen zwangen sie die Leitungsstäbe der überschuldeten Regime zum Verzicht auf eigenständige Entwicklungsoptionen. Sie mussten ihre Präferenzen für eine importsubstituierende Entwicklung und den Aufbau starker öffentlicher Wirtschaftssektoren preisgeben und sich dem Diktat der multinationalen Konzerne und Finanzinstitutionen unterwerfen.