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Im Sturzflug über die Grenze von Leben und Tod Er hat das Haar eines Raben und die Augen eines Uhus: Munk. Und in seinen Träumen sieht er die Toten. Eines Tages wird Munk auf die Burg des tyrannischen Greifen von Amser verschleppt. Während seine furchtlose Schwester Enna sich auf die Suche nach ihm macht, entdeckt Munk tief im Burgberg ein grauenvolles Geheimnis... »Du, Munk, wirst bald ein ganz besonderer Falkner sein«: Was die undurchsichtige Greifenkriegerin Magwit dem Vogeljungen aus Nyth verspricht, führt ihn auf eine gefahrvolle Reise zu sich selbst und über die Grenze, die die Lebenden von den Toten trennt. Munk findet sich in der Kathedrale des Kegelberges wieder, wo der tyrannische Greif von Amser ihn zu grausamen Beutezügen ins Schattenreich des Todes schickt. Doch wie seine Schwester Enna, die ihm auf der Spur ist, erfährt Munk, dass es noch andere Menschen gibt, die das uralte Erbe der Vögel in sich tragen. Und dass der Greifenherrscher, wenn ihn niemand aufhält, nicht nur die Lebenden bedroht, sondern auch all jene, die längst gestorben sind. Doch gegen die Herrschaft des Greifen regt sich Widerstand.
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Seitenzahl: 434
Veröffentlichungsjahr: 2025
Wieland Freund
Die Kathedrale der Vögel
Klett-Cotta
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Hobbit Presse
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Cover: Birgit Gitschier, Augsburg
unter Verwendung einer Illustration von © Melanie Korte, Hamburg
Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde
Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
ISBN 978-3-608-96629-9
E-Book ISBN 978-3-608-12479-8
Enna auf Nyth
Niemandes Schwester
I
II
III
IV
Kibbe
I
II
III
IV
Vögel, die mit Vögeln jagen
I
II
III
IV
V
Die Hühner und der Habicht
I
II
III
IV
Im dünnen Turm
I
II
III
IV
Der Orden des Ach
I
II
III
IV
V
Der Bote
I
II
III
IV
Enna in Amser
I
II
III
IV
Zwei Lichter und ein drittes
I
II
III
IV
V
Die Kathedrale der Vögel
Verzeichnis der Lebenden und Toten
Der alte Smud starb im Morgengrauen, so friedlich, wie er sein Leben gelebt hatte. Über der Klippe ging gerade die Sonne auf, und Enna blieb so lange an seinem Bett sitzen, bis der erste Sonnenstrahl seinen Weg über das saftig grüne Gras bis in das Fenster von Smuds Hütte fand.
Enna hörte die Möwen schreien und unterhalb der Klippe das heranrollende Meer, und als sie an Smuds Bett trat und dem Toten ein letztes Mal über die eingefallenen Wagen strich, hörte sie, wie hinter ihr die Tür aufging. Mette kam herein. Den längsten Teil der Nacht hatten sie gemeinsam an Smuds Bett gewacht.
»Es ist vorbei, ja?«, fragte Mette.
Enna nickte. Jetzt war viel zu tun. Am besten lief Mette gleich zu den Nachbarn hinüber. Jemand sollte das Grab ausheben, und Enna und Mette mussten den Toten waschen. Es gab kaum Holz auf Nyth, also würden sie ihn in ein Laken nähen. Die paar Schafe, die Smud besessen hatte, würden sie unter den Nachbarn verteilen, und irgendwann würde sich vielleicht auch jemand finden, der die Hütte übernähme. Hede und This hatten einen großen, schlaksigen Sohn, der bald so weit wäre. Vielleicht fand er jenseits des Sunds eine Frau, die Nyth mochte, obwohl die Insel nicht mehr als ein grasbewachsener Felsen war, Heimat für weniger als dreißig Menschen, zehn Dutzend Schafe und die Vögel, von denen nicht einmal Munk wusste, wie viele es waren.
Nach Munk würde sie auch sehen müssen, dachte Enna. Aber ganz sicher wusste er es schon. Munk wusste immer, wenn es zu Ende ging. Mette und allen anderen war Munk unheimlich deshalb. Deshalb und wegen der Vögel.
Enna schlug die Decke zurück, unter der der alte Smud gestorben war. »Holst du mir Wasser?«, bat sie Mette.
Später lief Enna über einen der Schafpfade auf den Vogelfelsen zu. Der Wind war kühl, aber die Sonne schien warm und das Meer ringsum blitzte so blank und blau wie der Himmel.
Meist ahnte Enna, wo ihr Bruder steckte. Munk war unergründlich, aber seine Gewohnheiten waren es nicht. Vielleicht hatte er sogar die Nacht auf dem Vogelfelsen verbracht, im kalten Licht der Sterne, während unter ihm im steilen Fels die Lummen, Tölpel und Möwen schliefen.
Oft lag er bäuchlings am Rand der Klippe und sah in die schwindelerregende Tiefe hinab, bis hinunter zum schmalen, glattgewaschenen Strand, über den die Wellen schäumten. Manchmal landete dann eine vorwitzige Möwe auf seinem Kopf, und er ließ sie gewähren, als wäre er kein siebzehnjähriger Junge, sondern ein uralter, vom Wasser geformter Fels.
Enna strich sich durchs Haar und wischte sich die feuchten Hände an den Hüften ab. Dort saß Munk im Gras, die dünnen Arme auf den Knien, und sah reglos aufs offene Meer hinaus, gleich neben ihm die jungen Käuze, die in einer Höhle unterhalb der Grasnarbe geboren waren und seither so taten, als wäre Munk einer von ihnen. Sie würden verschwinden, sobald Enna näher kam, und dann würden sie sie misstrauisch aus dem Halbdunkel ihres Baus mustern, aus Augen, die so groß und rund und gelblich waren wie die sonderbaren Augen Munks.
»Munk?«
Die Käuze brachten sich in Sicherheit. Der Wind wühlte in Munks rabenschwarzem, fedrigem Haar. Er wendete den Kopf und sah zu ihr auf. Er war blass und in seinen Augen sah sie den Schrecken. Munk hatte den alten Smud gerngehabt. Er war ihm oft zur Hand gegangen.
Enna hockte sich neben ihn und zusammen sahen sie hinaus aufs grenzenlose Meer. »Es war sehr friedlich, weißt du«, sagte sie nach einer Weile.
Munk nickte bloß. Er machte selten viele Worte.
»Hast du ihn gesehen?«, fragte Enna. »Heute Nacht?«
Er nickte wieder. »Kurz bevor die Sonne aufging«, sagte er. »In den schwarzen Felsen.«
Munk träumte, seit er ein kleiner Junge war, von diesen Felsen.
»Und?«, fragte Enna.
»Er sah gut aus.« Munks Blicke folgten einem Tölpel. Für einen Augenblick stand der Vogel beinahe reglos im Wind. Dann verschluckte ihn die Klippe. »Nicht so wie zuletzt, weißt du?«
»Ja.« Enna schlang die Arme um die Knie. Jetzt saß sie da wie Munk. »So ist er mir auch vorgekommen, als es zu Ende ging.«
Sie hatte so oft versucht, sich die schwarzen Felsen vorzustellen, von denen Munk träumte. Die Felsen und den flachen Strand, der sich von den Felsen bis zur Wasserlinie erstreckte. Über die Jahre hatte sie Munk alle möglichen Einzelheiten seiner Traumwelt abgepresst, von den bizarren Formen der Felsen bis hin zu den flachen Tümpeln, in denen das warme Wasser stand. Und doch hatte nur er, nicht sie ihre toten Eltern dort gesehen. Es war sein erster Felsentraum gewesen.
Damals war Munk noch schreiend aufgewacht. Mittlerweile träumte er ruhig und still von den Toten. Heute jedoch war etwas anders. Es kam Enna vor, als verberge er etwas vor ihr.
»War da noch was, Munk?«, fragte sie. »Hast du in deinem Traum noch etwas anderes gesehen?«
Er schüttelte den Kopf, schnell und ungewohnt heftig. Dann streckte er die Hand nach einer neugierigen Möwe aus und strich ihr mit der Fingerspitze sanft über das weiche Brustgefieder. Die Möwe ließ es wie selbstverständlich geschehen.
An der Küste nannten sie Munk den Vogeljungen – Delwir, der Händler, der alle paar Wochen aus Porth übersetzte und Geschichten mitnahm und brachte, hatte ihn oft in einer Wolke aus Möwen gesehen oder unten am Wasser mit einem Strandläufer im Schoß. Wenn der Händler das nächste Mal kam, würde Enna ihm sagen, dass auf Nyth jetzt eine Hütte leer stand. Delwir würde es weitererzählen.
»Wir begraben ihn am Mittag«, sagte sie zu Munk. Er trauerte um Smud. Bestimmt war er deshalb noch verschlossener als sonst.
Als die Sonne an ihrem höchsten Punkt im Süden stand, versammelte sich ganz Nyth auf dem Friedhof mit Blick auf den Sund. Der Wind war aufgefrischt und blies vom offenen Meer, er griff nach Ennas Haar und den Kleidern der Beerdigungsgäste, und das Laken, in das sie den Toten eingenäht hatten, flatterte, als würde sich der alte Smud noch regen.
Wie es auf Nyth Brauch war, hatten sie den Toten auf die Tür seiner Hütte gelegt. Vier der Männer trugen ihn zur frisch ausgehobenen Grube. Enna und Mette gingen gleich hinter den Trägern, und Mette trug einen runden Stein, auf den sie Smud geschrieben hatte.
Auch Ennas und Munks Eltern hatten damals einen solchen Stein bekommen. Munk hatte ihn am Strand ausgegraben und Enna hatte ihre Namen draufgeschrieben. Manchmal, wenn es sehr viel geregnet hatte, kam sie mit Pinsel und Pechfarbe her, um die Buchstaben auszubessern. Dann erzählte sie den Eltern flüsternd, dass ihr Kuckuckskind gedieh, dass er den halben Sommer eine verunglückte Lumme gesund gepflegt hatte und fleißig mit den Schafen half, auch wenn das mit den Schafen gar nicht stimmte, weil Munk meist seiner eigenen Wege ging.
Enna sah sich um, ob er endlich zum Trauerzug aufgeschlossen hatte, aber Munk hing noch immer ein Stück zurück. Er war mal wieder zu spät am Vogelfelsen aufgebrochen. Ständig vergaß er die Zeit.
An Stricken ließen die Männer Smuds Überreste ins Grab hinab. Niemand sprach, aber es weinte auch keiner: Smud hatte ein langes Leben gehabt. Er war ein Teil der Insel gewesen und würde es bleiben. Gras zu Gras. Fels zu Fels. Der Wind strich über alle und alles.
Schließlich trat Mette vor und setzte den Stein. Dann nahm sie eine Handvoll Erde und streute sie ins Grab. Es gab keinen Priester auf Nyth und der aus Porth kam nie herüber. Wer wollte und konnte, murmelte selber ein Gebet. Mette bewegte stumm die Lippen.
Enna warf die zweite Handvoll Erde. Dann trat einer nach dem anderen ans Grab, bis nur noch Munk fehlte. Er bückte sich nach dem Aushub und wog die Erde in der Hand. Dann streckte er den Arm aus und ließ die Brocken in die Grube regnen. Nur sah er gar nicht in das Grab hinab. Stattdessen wanderte sein Blick über die Insel, bis er plötzlich an Enna hing.
Enna erschrak. So hatte Munk sie noch nie angesehen. Es war ein abgrundtiefer Blick. »Amen«, sagte sie schnell, damit der Moment vorüberging.
Warum war er so verdammt anders als sonst? Am liebsten hätte sie ihn in ihre kleine Hütte gezerrt und zur Rede gestellt. Manchmal machte sie seine Rätselhaftigkeit wütend.
»Schaut mal! Schaut doch!« Hede hatte laut gerufen. Sie zeigte aufs Meer.
Alle Augen gingen zum Sund. Da kam ein einmastiges Boot mit gesprenkeltem Segel. Unwillkürlich zog Enna Munk zu sich herüber. »Wer ist das? Kann jemand was erkennen?«
Smuds Grab stand noch offen, doch die Beerdigung war vorbei. Ganz Nyth hastete über den Friedhof, zur Klippe über dem Sund. Hede hatte ihre Röcke gerafft und lief allen voran. Munk schien zu zögern, aber Enna nahm ihn an der Hand.
Ein Boot. Ein Boot mit einem Segel. Kein Boot aus Nyth und der Händler ließ sich herüberrudern. Delwir konnte es nicht sein.
Bald standen sie alle an der Klippe, so wie eben an Smuds Grab. Das Boot kam zügig näher, das gesprenkelte Segel bauschte sich. Enna erkannte die ersten Gestalten.
»Das sind Greifenkrieger!«, rief Hede.
Munk, dachte Enna, hatte noch nie einen Greifenkrieger gesehen. Sie drückte seine Hand. Es war nicht bloß Aufregung und Sorge. Plötzlich hatte sie Angst. Noch nie waren Greifenkrieger nach Nyth gekommen. Sie kamen ja kaum jemals bis Porth. Hier im äußersten Westen war der Greif kaum mehr als eine Legende. Niemand auf Nyth hatte ihn, seine Burg oder die Stadt, über der sie thronte, je gesehen. Die Burg konnte ebenso gut ein Märchenschloss sein und der Greif ein Märchenkönig.
Und doch war da dieses Boot. Jetzt erkannte auch Enna die gefiederten Helme und die langen Federmäntel. Sie zählte die Männer und kam auf fünf. Einer im Bug, drei in der Mitte und einer an der Pinne.
Gleich unterhalb der in die Klippe geschlagenen Treppe lief das Boot auf den Strand. Von dort ging es über abenteuerliche Stufen geradewegs zu ihnen herauf.
»Was wollen sie von uns?«, fragte Hede.
Aber wer sollte darauf eine Antwort wissen?
Prüfend schaute Enna auf Munk. Er war noch blasser geworden, und plötzlich hatte sie den Drang, ihn zu verstecken. Vielleicht könnte er zu den Käuzen kriechen. Er war doch ihr sonderbarer Freund.
Als hätte Munk ihre Gedanken gelesen, entwand er ihr seine Hand.
Unten am Strand waren die Greifenkrieger aus ihrem Boot gestiegen. Zwei zogen es durch die Gischt auf den Sand. Ihre Armbrüste hatten sie sich auf den Rücken geschnallt. Gleich darauf wurde die Gruppe von der Klippe verschluckt. Die Felsentreppe war von hier oben nicht einzusehen.
»Hast du von ihnen geträumt?«, flüsterte Enna. Die anderen sollten es nicht hören.
Munk schüttelte den Kopf. Er hatte ein Geheimnis. Er hatte sonst nie Geheimnisse vor ihr.
»Es wird alles gut«, sagte jetzt Mette, halbwegs ruhig und so laut, dass alles es hörten. »Wir haben uns nichts zuschulden kommen lassen. Hört ihr? Es wird uns nichts geschehen.« Sie sah in lauter besorgte Gesichter.
Unwillkürlich wichen alle zurück. Niemand wollte an der Klippe stehen, wenn die Greifenkrieger das Plateau erreichten. Viele – zu viele, fand Enna – sahen jetzt auf Munk. Nichts auf Nyth war besonders. Nichts außer dem Vogeljungen. Nichts außer dem Kuckuckskind.
Die Greifenkrieger hatten das Plateau erreicht: vier große Männer und ein kleiner, der eine Maske trug. Vier große Männer und ein kleiner, aber Munk starrte nur den Habicht unter seiner Haube an. So wenig wie einen Greifenkrieger hatte er je einen Falkner mit Handschuh und einen Vogel mit Haube gesehen. Von ein paar lichtbraunen Sprenkeln abgesehen war das Gefieder des Habichts ganz weiß.
Der Mann mit der Maske hob die Stimme. Es war die Stimme einer Frau. »Der Greif grüßt seine Untertanen. Gibt es hier einen, der für alle spricht?« Die Frau sah in die Runde. Die Maske bedeckte Augen und Stirn und lief über der Nase in einen angedeuteten Schnabel aus. Die Frau konnte nicht viel älter als Enna sein und doch schien sie das Befehlen gewohnt.
»Niemand?« Ihr Blick streifte Enna, ein schmales Lächeln lang lag er auf Munk. »Dann sprichst du«, sagte die Frau mit der Maske und zeigte auf Mette, die unter ihren Sommersprossen alle Farbe verlor.
Mette nickte, ihre Lippen ein Strich.
»Sind das alle? Mehr gibt es nicht von euch?«
Enna hatte sich vor Munk gestellt. Seit letztem Jahr überragte er sie. Er war lange ein kleiner Junge gewesen und dann plötzlich groß und dünn.
»Mehr nicht«, sagte Mette leise. »Das sind alle.«
»Wir haben von einem Jungen gehört, der mit den Vögeln spricht«, sagte die Frau mit der Maske. »Er soll jetzt vortreten.«
»Hier spricht niemand mit den Vögeln«, sagte Enna, bevor Mette auch nur den Mund aufmachen konnte.
»So?« Die Frau mit der Maske sah sie spöttisch an. »Wer sagt das?«
Enna hielt ihrem Blick stand. Sie schirmte Munk ab so gut es ging. Leider ging es nicht besonders.
»Wie heißt du?«, fragte die Frau mit der Maske.
Enna hatte noch nie in ihrem Leben eine Feindin gehabt. Jetzt hatte sie eine und wusste es. »Enna«, zischte sie.
»Wie? Du musst lauter sprechen.«
»Enna.« Sie wollte mit fester Stimme sprechen, aber das gelang ihr nicht.
»Enna also. Ich will dir die Lüge nicht verübeln, Enna auf Nyth. Aber man sieht ihm den Vogel doch an. Wer ist er? Dein Bruder?« Mit dem vorgestreckten Kinn wies sie auf Munk.
Enna biss sich auf die Lippe.
»Wie herzergreifend.« Die Frau mit der Maske trat näher, bis sie unmittelbar vor Enna stand. Enna sah ihren funkelnden Blick. Sie sah die teure Spange, die ihren Umhang hielt. Der Umhang war aus schillernd schwarzen Federn.
»Geschwisterliebe.« Die Frau lachte und sah an Enna vorbei. Sie musterte Munk.
Enna hörte ihren Bruder atmen.
»Dann freu dich für ihn, Enna auf Nyth. Es ist nämlich ein großer Tag für deinen kleinen Bruder. Der Greif nimmt ihn in seine Dienste. Es ist …« Ihr Blick schweifte über die Insel, über das störrische Gras, den Friedhof und die Hütten im Hintergrund. »… sein letzter Tag auf diesem Stein.«
»Er geht nirgendwohin«, sagte Enna. »Er ist hier zuhause. Und ich brauche ihn.«
»Du brauchst ihn?« Die Frau mit der Maske lachte wieder. »Wofür? Für deine stinkenden Schafe? Ich habe ihm was Besseres zu bieten, glaub mir.« Ihr Gesicht kam plötzlich ganz nah. »Du hast Glück, Enna auf Nyth. Ich mag Mut. Wäre es anders … wer weiß, was ich dann mit dir anstellen würde? Und jetzt mach Platz! Tritt zur Seite!«
Enna blieb stehen. Sie hasste die Frau mit der Maske. Bisher hatte sie nur den Tod gehasst.
»Lass gut sein, Enna.« Munk schob sich an ihr vorbei.
Einen Moment lang wurde der weiße Habicht auf dem Arm des Falkners unruhig. Er trippelte auf dem ledernen Handschuh und stellte erregt die Schwingen auf.
»Schau.« Die Frau mit der Maske hatte es auch bemerkt. »Er muss dich nicht mal sehen. Er kann dich spüren. Sag mir deinen Namen, Vogeljunge.«
»Ich heiße Munk.«
Es kam Enna vor, als hätte er ein Geheimnis preisgegeben.
»Willkommen im Dienst des Greifen, Munk. Er hat eine wunderbare Aufgabe für dich.«
»Was für eine Aufgabe?«, fragte Munk.
Er nahm all seinen Mut zusammen, Enna konnte es hören. Munk sprach nicht gern. Er sprach schon gar nicht gern mit Fremden.
»Das wirst du sehen, wenn die Zeit gekommen ist. Und du diesen elenden Stein und deine widerspenstige Schwester schon vergessen hast.«
»Nein! Er geht nicht mit! Das dürft ihr nicht!« Enna schob sich zwischen die beiden.
Der Habicht versuchte aufzuflattern. Der Falkner zog an den Schnüren und riss ihn zurück. Keiner der Greifenkrieger hatte auch nur eine Miene verzogen. Sie standen da wie eine Wand. An den Gürteln trugen sie Köcher voller Pfeile. Pfeile wie diese bohrten sich in Knochen, als wären Knochen nur aus Holz.
»Wir dürfen alles, Enna auf Nyth«, sagte die Frau mit der Maske. »Wer sollte uns hindern? Du etwa?«
»Aber warum er?« Munk war doch noch ein Junge. Er war bloß ein Junge, der die Vögel liebte. Vögel, auf die sonst kein Mensch etwas gab.
»Du würdest es doch nicht verstehen«, sagte die Frau mit der Maske und schob Enna grob zur Seite.
Als Enna strauchelte, griff Munk nach ihrem Arm. Sie sah in seine großen, runden, beinahe gelben Augen.
»Lass es geschehen, Enna«, flüsterte er.
»Aber wieso? Munk, sie werden … du wirst … Willst du denn mitgehen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Dann bleib.«
»Ich habe nicht nur Smud gesehen heute Nacht, Enna.«
Sie hatte es gewusst! Deshalb war er den ganzen Tag so verändert gewesen.
»Was hast du gesehen?«, flüsterte sie.
»Uns. Wir waren auch in den schwarzen Felsen, Enna. Du und ich. Bei den Toten.«
»Das hat nichts zu bedeuten«, flüsterte sie, obwohl sie es eigentlich besser wusste. Sie überspielte bloß den Schreck.
»Versprich mir, dass du auf dich Acht gibst, ja?« Munk sprach mit großer Dringlichkeit. »Bleib auf Nyth. Wie soll der Traum in Erfüllung gehen, wenn wir nicht zusammen sind?« Er sah zu den Kriegern mit dem Habicht hinüber. »Die kommen gerade recht, verstehst du? Es ist gut, dass sie mich fortbringen. Es ist viel besser so.«
»Aber …«
»Seid ihr fertig mit Abschiednehmen?« Die Frau mit der Maske griff nach Munks Arm. Sie zog ihn von Enna weg und schob ihn zu einem der Greifenkrieger. Plötzlich war Mette da und legte Enna den Arm um die Schulter. Es war kein Trost – sie kam, um Enna festzuhalten.
Die Krieger hatten Munk bis an die Klippe geführt. Er warf einen letzten Blick zurück. Und dann sah Enna ihn Stufe für Stufe über die Felsentreppe verschwinden, seinen schwarzen, fedrigen Schopf zuletzt.
Die Frau mit der Maske verharrte einen Moment am Rand der Klippe, der Wind wühlte in ihrem schwarzen Federkleid. »Lebewohl, Enna auf Nyth«, sagte sie. »Und falls du eine bist, die betet, dann bete, dass du mich nie wiedersiehst.«
Munk saß im Boot und Nyth wurde kleiner, bis er die Insel schließlich in Gänze sah, einen ins Meer gewürfelten Findling mit einem Dach aus Gras. Am Vogelfelsen weißes Gestöber. Die Möwen, Lummen und Tölpel blieben, wo sie zuhause waren.
Oberhalb der in den Stein geschlagenen Treppe glaubte Munk zwei immer winziger werdende Gestalten zu erkennen. Er hielt sie für Enna und Mette, und in seine Wehmut mischte sich Erleichterung. Seit er am frühen Morgen aus seinem Traum geschreckt war, hatte er an kaum etwas anderes denken können: Enna war in Gefahr, und er war es, der sie in Gefahr brachte. Er hatte sie nie zuvor im Traum gesehen. In der letzten Nacht aber war sie in den schwarzen Felsen gewesen, wo er sonst allein die Toten traf.
Die Bilder bedrängten ihn noch immer, selbst jetzt, zwischen den einschüchternden Greifenkriegern in diesem Boot, auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft: Enna kletterte durch die Felsen auf ihn zu, und er hatte sie hergelockt. Das wusste er sicher, auch wenn er, kaum dass er aufgewacht war, nicht mehr gewusst hatte, wie und warum. Allein das brennende Gefühl von Schuld hatte sich vom Traum in den Tag gerettet. Er war damit aufgewacht und hatte es bis zum Vogelfelsen getragen, der ihm sonst Linderung verschaffte, aber diesmal nicht.
Als Enna dort aufgetaucht war, hatte er einen einzigen Gedanken gehabt: dem Traum zuvorzukommen, indem er ging. Er musste Nyth verlassen, ohne zu sagen, wohin. Denn anders als der alte Smud war Enna noch lebendig. Noch konnte er verhindern, dass sie den Weg der Toten ging. Er würde ihr Leben retten, indem er aus ihm verschwand.
Kaum dass Enna wieder aufgebrochen war, um sich um Smuds Beerdigung zu kümmern, hatte er beschlossen, ein Boot zu stehlen. Und dann waren die Greifenkrieger über den Sund gekommen und ihm wie die Engel der Vorsehung erschienen. Böse Engel vielleicht, aber doch Engel. Er musste weg und sie brachten ihn fort. Der Himmel hatte diese gefiederten Soldaten geschickt.
Munk betrachtete sie verstohlen: vier große Männer, die kaum je eine Miene verzogen – in ihren sonderbaren Rüstungen sahen sie majestätisch und fremdartig aus. Manche der Federn, mit denen sie sich schmückten, erkannte Munk. Der Kinnriemen des einen war mit den schillernd blauen Flügelfedern eines Hähers besetzt, der Umhang eines anderen aus grauen Reiherfedern gefertigt.
Die Frau mit der Maske trug Schwarz. Wenn das Licht im richtigen Winkel auf ihren Umhang fiel, schimmerte er wie das dunkle Kleid einer Elster. Als sie seinen Blick bemerkte, warf sie ihm ein aufmunterndes Lächeln zu. Der Dolch an ihrem Gürtel hatte eine gekrümmte Klinge und sah aus wie ein Schnabel.
Den Habicht konnte Munk nur aus dem Augenwinkel sehen. Er schien ganz ruhig auf der Faust des Falkners zu sitzen und doch hatte Munk das Gefühl, als stürmte es in ihm. Noch nie hatte er einen Vogel unheimlich gefunden. Der knochenbleiche Habicht war der erste.
Das Boot hatte die Mündung des Trydan erreicht. Auf den glattgewaschenen Felsen, die die Flussmündung säumten, sonnten sich die Kormorane. Porth lag ein Stück flussaufwärts. Munk war gelegentlich mit Enna dort gewesen, aber meist hatte er nur Augen für die Schwalben gehabt, die über das Hafenbecken schwirrten.
Die Schwalben flogen immer noch, die Fischer und Händler aber stellten ihre Arbeit ein, kaum dass das Boot in den Hafen lief. Ringsum wichen die Menschen zurück. Munk spürte ihre Blicke, mal mitleidig, meist misstrauisch. Als man ihn über den Kai führte, an den Häusern an der Wasserfront vorbei, hätte er ein Bettler sein können, den man beim Stehlen erwischt hatte, oder ein eingefangenes wildes Tier. Munk senkte den Kopf, weil er sich schämte.
Nicht weit von seinen Füßen pickte eine Handvoll ungestümer Spatzen ein paar verlorene Haferkörner auf. Die Spur der Haferkörner führte zu den Pferden. Ein nervöser Knecht hielt sie bereit. Es war Gede, einer von Delwirs Knechten, Munk hatte ihn manchmal auf Nyth gesehen. Gede hatte den Händler zur Insel gerudert und am Strand die Waren ausgepackt. Jetzt tat er so, als würde er Munk nicht kennen.
In Gedes Rücken entdeckte Munk einen Wagen. Auf seiner offenen Ladefläche stand ein eiserner Käfig. Munk starrte ihn an, bis die Frau mit der Maske zurückkehrte. Offenbar hatte sie halt in einem der Häuser am Hafen gemacht.
»Das ist dein Vogelbauer, ganz recht«, sagte sie zu Munk. »Damit du uns nicht fortfliegst.«
Munk hatte noch kein einziges Mal an Flucht gedacht. Er kletterte widerstandslos auf den Wagen und sie folgte ihm.
»Es gibt Besseres als die Freiheit, glaub mir«, sagte sie, als sie die knirschende Käfigtür schloss und den Schlüssel in einer kleinen Tasche ihrer Weste versenkte, gleich oberhalb des schnabelförmigen Dolchs. »Für die meisten bedeutet Freiheit doch nur die Freiheit zu sterben.«
Munks Hände schlossen sich um die rostigen Gitterstäbe. Er war nicht auf der Suche nach etwas Besserem. Er hatte sich in sein Schicksal ergeben. Er musste nur weit weg von Enna. Alles andere war ihm gleichgültig in diesem Moment.
»Hast du manchmal seltsame Träume, Munk?«, fragte die Frau mit der Maske.
Munk schüttelte den Kopf. Er hatte dieser Frau nichts zu sagen. Sie brachte ihn fort. Mehr wollte er nicht.
»Nein?« Sie schien ihm nicht zu glauben. »Und möchtest du nicht wissen, wohin die Reise geht? Na, komm schon, sei nicht so verstockt wie deine Schwester.«
Jetzt schwieg Munk erst recht. Was wusste diese Frau von Enna?
»Wenn du bei ihr geblieben wärst, wärst du auf diesem Stein gestorben, Junge. Morgen oder als alter Mann. Und am Ende hätte das nicht mal einen Unterschied gemacht.« In den Aussparungen der Maske funkelte ihr Blick. »Ich habe dir mehr zu bieten. Glaub mir.«
Munk hob den Kopf und sah an ihr vorbei. Die Krieger bereiteten den Aufbruch vor. Er zählte drei Reitpferde und das Gespann, das den Wagen ziehen würde.
In Wahrheit war es ihm nicht egal, wohin es ging, aber die Frau mit der Maske würde er nicht nach ihrem Ziel fragen. Der Greif nahm ihn in Dienst, hatte sie auf Nyth gesagt. Er hatte keine Ahnung, was das bedeuten konnte. Sollte er ein Greifenkrieger werden? War es das?
Der Falkner kletterte auf den Kutschbock. Munk würde den Habicht beobachten können auf der Fahrt.
»Ein Terzel«, sagte die Frau mit der Maske. »Sie sind kleiner als die Weibchen. Gefällt er dir?«
»Warum trägt er diese Lederhaube?« Eigentlich hatte Munk doch schweigen wollen. Er ärgerte sich über seine Frage. Sie war ihm einfach so rausgerutscht.
»Er braucht nur Augen, wenn er jagt.« Sie lächelte. »Wärst du auch gern ein Falkner?«
Munk stellte sich vor, wie es wäre, wenn der Habicht auf seinem Arm sitzen würde. Wie fühlte sich so ein Handschuh an? Und wozu dienten die um die Füße des Habichts geschlungenen Riemen?
»Das nennt man ein Geschüh«, sagte die Frau mit der Maske, als würde sie seine Gedanken lesen. »Manche Vögel tragen auch Glocken, aber unsere nicht. Du wirst ihn fliegen sehen, Munk. Dann wirst du erkennen, was für eine Gewalt ihm die Gefangenschaft verleiht. Er ist ein Meister im Töten.«
Munk hatte Raubvögel töten sehen. Er konnte nicht behaupten, dass er es mochte.
»Mein Name ist Magwit«, sagte die Frau mit der Maske. »Und du, Munk, wirst bald ein ganz besonderer Falkner sein.«
Es war später Nachmittag. Sie hatten die Sonne im Rücken, die Reise ging nach Osten. Verglichen mit der Weite des Landes war der Karrenweg, dem sie folgten, bloß ein Rinnsal aus Staub.
Munk hatte sich auf den Boden des Käfigs gehockt und an das Gitter gelehnt. Er spürte das Meer nicht mehr, es gab auch keine Felsen. Die Gräser standen hier höher und waren von einem lichteren Grün. Munk entdeckte einen Brachvogel mit seinem überlangen Schnabel und hörte den rasselnden Ruf einer Ammer.
Bald säumten Sträucher den Wegesrand und ein einsamer Weißdorn streckte seine Äste aus. Magere Birken standen in Grüppchen beisammen, dann wurde es hügeliger und plötzlich erhob sich auf einer Kuppe der Wald.
Mächtige Laubbäume verschatteten jetzt den Weg. Die Luft war kühler und frischer, und ringsum raschelte es in den Blättern. Überall sangen unsichtbare Vögel. Alle paar Meter trommelte ein Specht.
Munk war in seinem Käfig aufgestanden, seine Blicke wanderten die herrlichen Bäume hinauf, über Äste und Zweige bis in die Wipfel, in denen das goldene Licht der Abendsonne stand.
Die Vögel warnten jetzt lauthals vor dem Habicht. Sie konnten nicht wissen, dass er an Schnüren hing und sie unter seiner Haube nicht einmal sehen konnte. Munk spürte, wie unruhig der Terzel jetzt war.
Etwas schien in der Luft zu liegen. Munk sah die Frau mit der Maske ein Zeichen geben. Der Zug verlangsamte sich. Magwit ließ ihre Rappstute zurückfallen, bis sie genau neben dem Wagen ritt. Der Krieger dahinter hielt die Zügel nur noch mit der Linken. Seine rechte Hand lag unterhalb seiner Schulter, jederzeit bereit, nach der Armbrust auf seinem Rücken zu greifen. Unter seinem Helm bemühte er sich, stur geradeaus zu sehen, heimlich jedoch spähte er in den plötzlich flüsternden Wald.
Munk hatte dort allein die Vögel bemerkt. Hatten sie vor mehr als dem bleichen Habicht gewarnt? Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie laut die Wagenräder knirschten. Er hörte sogar das leise knarzende Sattelzeug.
Magwits behandschuhte Hand lag auf dem Griff ihres Dolchs. Sie zügelte die Stute und der ganze Zug kam zum Stehen. Der Terzel auf der Faust des Falkners bebte.
»Zeig dich«, rief Magwit in den Wald. »Zeig dich oder wir kommen dich holen.«
Neben dem Wagen raschelte es im Unterholz. Der Greifenkrieger in Magwits Rücken griff mit der Rechten nach der Armbrust und mit der Linken nach einem Pfeil. Es war eine einzige fließende Bewegung. Er legte den Pfeil in die hölzerne Rinne und spannte die Sehne.
Die Armbrust wies auf einen Mann, der plötzlich auf der staubigen Straße stand. Er trug eine verdreckte Kutte und hatte wirres, tiefschwarzes Haar. Beschwichtigend hob er die schmutzigen Hände. Vermutlich hatte er schon lange kein Dach über dem Kopf mehr gehabt.
»Verschon mich, Schwester«, sagte er. »Fürchtet mich nicht, Brüder.« Sein Blick wanderte von Krieger zu Krieger. Es lag ein ungewohnter Ton in seiner Stimme. Er sprach deutlich und klar, doch offensichtlich nicht in der Sprache, mit der er aufgewachsen war.
Magwits Hand wanderte vom Griff des Dolchs zum Sattelknauf. Sie stützte sich darauf und musterte die seltsame Gestalt, vom halbverfilzten Haar über den schütteren Bart bis zu den Lappen und Sandalen an den Füßen. Der Mann war sicher bitterarm.
»Was lauerst du uns auf?«, fragte sie.
»Lauern? Denk nicht so von mir, Schwester. Ich habe euch kommen gehört und wollte um eine milde Gabe bitten. Aber als ich euch sah, bekam ich es mit der Angst. Greifenkrieger so weit im Westen? Darauf war ich nicht gefasst. Verzeih, Schwester. Ich sollte das Gute in euch allen sehen. Seht es mir nach, Brüder.« Mittlerweile war er von den Kriegern umringt. Dennoch fiel sein Blick auf Munk im Käfig und verharrte dort. Munk versuchte vergeblich, diesen Blick zu lesen. Er verstand nur eines: Dieser Mann tat furchtsam, aber er hatte keine Angst.
»Ein Bettelmönch also, ja?«, sagte Magwit. »Und unterwegs wohin?«
»Meist sagen die Vögel es mir, Schwester«, sagte der Mann in der Kutte. Sein Blick lag immer noch auf Munk. Dann wanderte er widerwillig wieder zu Magwit hinüber.
»Und unterwegs woher?«
»Wohin im Herbst die Drossel zieht«, sagte der Bettelmönch leichthin.
Munk hätte gern gewusst, wo das war. Jeden Herbst zogen die Vögel über Nyth hinweg in ihre Winterquartiere. Jahr für Jahr hatte er ihnen voller Sehnsucht nachgesehen.
»Das ist ein weiter Weg«, sagte Magwit.
»Und doch ein kleiner Vogel«, sagte der Mönch mit einem Lächeln.
»Und warum hast du den weiten Weg auf dich genommen?«, fragte Magwit. Es war schwer zu sagen, ob der Mönch sie ärgerte oder amüsierte. Die Armbrust war noch immer auf ihn gerichtet.
»Ich fürchte, du lachst über mich, Schwester, wenn ich es dir verrate.«
»Möglich.« Magwit gab dem Krieger in ihrem Rücken ein Zeichen. Er ließ die Waffe sinken. »Versuch’s«, sagte Magwit zum Bettelmönch.
Er antwortete, ohne zu zögern. »Ich will das Fliegen lernen, Schwester.«
»Und ich dachte, fliegen könnten nur die Vögel. Liege ich falsch? Bruder?« Sie lachte ihn scheinbar unschuldig an.
»Das kommt darauf an, was man unter Fliegen versteht. Nimm diesen Jungen da zum Beispiel.« Der Mönch wies auf Munk. »Ihr habt ihn in einen Käfig gesperrt. Damit er euch nicht davonfliegt?«
»Ketwet, du verstehst was davon.« Magwit wandte sich an den Falkner. Jetzt hatte er einen Namen für Munk. Ob auch der Habicht einen Namen hatte?
»Hat der Junge Flügel, Ketwet? Habe ich sie übersehen?«, fragte Magwit.
Der Falkner schüttelte den Kopf. »Nein, Herrin. Nur ziemlich dünne Arme.«
Die Greifenkrieger lachten. Es war das erste Mal.
»Da hast du’s.« Magwit hatte sich wieder dem Mönch zugewandt. »Er fliegt nicht. So wenig wie du.«
»Verzeih, Schwester, die Frage ist, was Fliegen heißt.«
»Fliegen heißt, sich in die Luft zu schwingen, ohne zu fallen«, sagte Magwit. »Du kannst es meinetwegen auch anders ausdrücken. Aber im Grunde weiß es jedes Kind. Man braucht Flügel dazu, Bruder. Wie die Vögel.« Sie wies auf den bleichen Habicht.
»Und wenn man keine hat, bedeutet es vielleicht etwas anderes«, sagte der Mönch. »Schau: Eine Rose ist eine Rose, aber die Liebe ist sie auch. Und ein Fluss ist ein Fluss, aber ist er nicht ebenso die Zeit? Verstehst du jetzt, dass Fliegen vielleicht noch etwas anderes heißt? Reicht dir das als Erklärung?«
»Ich glaube, du reichst mir«, sagte Magwit. »Bist du lebensmüde oder weißt du nicht, mit wem du sprichst?«
»Ich habe keine Ahnung, Schwester. Ich sagte doch: Ich komme von weit her.«
»Und doch wusstest du von den Greifenkriegern. So ganz ahnungslos bist du offenbar nicht.«
»Von denen hört man überall. Die Menschen warnen vor ihnen wie die kleinen Vögel vor Falke und Habicht. Die Spatzen pfeifen es von den Dächern.«
»Dann hättest du besser auf die Spatzen gehört«, sagte Magwit. »Denn jetzt hat der Habicht dich entdeckt. Ist es nicht so, Ketwet?«
Der Falkner hatte die Haube des Habichts gelöst. Zum ersten Mal sah Munk die kirschroten Augen des Terzels.
»Du willst Bruder Habicht auf mich hetzen, Schwester?«
»Ich will dir zeigen, was Fliegen heißt. Geh deiner Wege, Mönch. Und grüß die Spatzen, wenn du Dächer siehst. Erzähl ihnen von Magwit, der die Vögel gehorchen. Und die niemandes Schwester ist.«
Der Mönch wich zurück. »Der Habicht hegt keinen Groll gegen mich, Schwester Magwit. Er ist ein Geschöpf der Welt wie ich.«
»Da täuschst du dich, heiliger Mann. Er ist der Groll. Denn er ist mein Geschöpf. An deiner Stelle würde ich laufen. Oder musst du das Laufen auch erst lernen?« Magwit nickte dem Falkner zu.
Der Habicht sprang von Ketwets Faust. Ein einziger Flügelschlag und er hatte den Mönch erreicht. Seine Fänge fuhren auf ihn nieder – Munk hatte Adler auf diese Weise fischen sehen. Es war ein harter, scharfer Schlag, zu schnell für den Mönch, um auch nur die Arme hochzureißen. Das Blut floss ihm gleich ins Gesicht.
Der Habicht flog in seinem Rücken eine Volte. Tief über der Straße kehrte er zurück – weniger Pfeil als Spitze, nicht mehr als ein harter Schnabel und ein scharfer Blick.
Der Mönch starrte auf seine blutverschmierten Hände, als ihn der nächste Hieb in den Nacken traf – so fest, dass er vor Magwit zu Boden ging. Der Habicht schoss über Munks Käfig hinweg, hoch hinauf und sogleich wieder steil herab, scheinbar bereit, im Staub der Straße zu zerschellen.
Diesmal brachte sich der Mönch in Sicherheit. Mit einem Satz rettete er sich ins Unterholz. Er war erstaunlich behände.
Der Habicht drehte im Seitflug ab, schwirrte wie eine Sichel an Magwit vorbei, wendete über dem unruhig gewordenen Gespann und flog den dritten Angriff in den Wald.
Der Mönch kämpfte sich durchs Unterholz. Der Habicht legte die Flügel an und schoss zwischen den Bäumen hindurch.
Munk konnte nicht sehen, ob er noch einmal traf, aber er hörte Ketwet rufen. Der Falkner befahl den Vogel zurück, und der Habicht kam von oben. Nur einen Augenblick später kröpfte er auf Ketwets Faust. Der Falkner belohnte ihn mit etwas Fleisch aus einer kleinen Tasche, die von seinem Gürtel hing.
Der Mönch war im Zwielicht des Walds verschwunden.
Der Spuk war vorbei.
»Hat es dir gefallen, Munk?« Magwit sah zu ihm herüber. »Ist er nicht wunderschön?« Mit dem Kinn wies sie auf den Habicht, der wieder seine Haube trug. Kaum, dass er auf der Faust gelandet war, hatte Ketwet das Geschüh befestigt.
Munk fand den Habicht wunderschön. Er fand ihn wunderschön und schrecklich. Er löste die Hände von den Gitterstäben. Verkrampft, wie sie waren, sahen sie aus wie Krallen.
Die Reise war lang und beschwerlich. Magwit führte sie durch menschenleere Weiten, Wälder zunächst, die unsichtbaren Tieren gehörten, und dann durch stilles, sandiges Heideland. Munk sah einen Bussard über den sanft geschwungenen Hügeln kreisen, ein Storch stakste eine Senke hinab. Munk hörte einen Neuntöter zwitschern, aber sosehr er sich in seinem Käfig auch mühte, er entdeckte ihn nicht.
Setzte die Dunkelheit ein, machten sie Rast, und Munk durfte mit den Kriegern am Feuer sitzen und den einsamen Rufen der Eulen lauschen. Über Nacht wurde er dann wieder in seinen Käfig gesperrt und wachte oft steif und zerschlagen in dem schon wieder dahinrumpelnden Wagen auf – einverstanden mit der großen Entfernung, die jetzt zwischen ihm und Enna lag, und ohne Erwartung an den beginnenden Tag.
Wie der bleiche Habicht war er gefangen. Anders als den Habicht würde ihn die Gefangenschaft nicht zornig machen. Enna wurde wütend, wenn ihr Unrecht widerfuhr. Munk hatte sich angewöhnt, es zu ertragen.
Einmal, zu Beginn der Reise, glaubte er auf einer halbverdeckten Lichtung ein Köhlerdorf auszumachen. Ein andermal blitzte das Wasser eines Flusslaufs auf, und bald darauf entdeckte er die Rohrdächer einiger ans Ufer geschmiegter Fischerkaten. Magwit aber ließ die Pferde weiter flussaufwärts saufen; sie mied jede menschliche Siedlung, so als wäre Munk eine geheime Fracht oder als wäre ihr der sonderbare Bettelmönch fürs Erste Begegnung genug gewesen.
In seinem Käfig dachte Munk häufig an ihn und seinen seltsamen Wunsch zu fliegen. Am Rand der Klippen von Nyth hatte er sich oft genug selber Flügel gewünscht. Kannte auch der Mönch diesen unbändigen Wunsch zu springen und herauszufinden, ob der Wind einen gegen alle Wahrscheinlichkeit tragen würde?
Nicht mal, als der Habicht ihn angriff, hatte der Mönch Angst gehabt.
Bruder hatte er den unheimlichen Vogel genannt.
Bruder Habicht.
Munk fiel es wieder ein, als er den Habicht töten sah. Ketwet hatte den Terzel in den weiten Himmel über der Heide geschickt, wo er eine Taube schlug und eine zweite beim Aufprall fast in Stücke riss. Danach hockte er über der halbzerfetzten, blutigen Beute, stellte die Flügel aus und verbarg die tote Taube eifersüchtig unter diesem Zelt aus Federn.
»Er mantelt«, hatte Magwit Munk am Wegesrand erklärt. »Ketwet wird ihn atzen, dann gibt er die Beute frei. Es ist ein Geschäft, verstehst du?«, sagte sie. »Sie tauschen.«
Atzung hieß das getrocknete Fleisch in Ketwets Tasche. Es war Köder und Lohn und, dachte Munk, für den Habicht ein schlechtes Geschäft.
Die toten Tauben hatten so lange von Ketwets Gürtel gebaumelt, bis der Falkner sie am Abend rupfte und über dem lodernden Feuer briet. Munk hatte das trockene, dunkle Fleisch nur gegessen, weil Magwit es unbedingt wollte.
»Du bist selbst ein Räuber, Munk«, hatte sie gesagt. »Wehr dich nicht dagegen. Sei es mit jeder Faser.«
Magwit selbst allerdings hatte kaum von den Tauben gekostet. Sie verpflegte sich aus einer Tasche, die sonst verborgen unter ihrem Federumhang hing. Spätabends entfernte sie sich dafür vom Feuer, bis sie mit der Dunkelheit verschmolz, und jedes Mal kehrte sie nach einer Weile mit einem versonnenen Lächeln zurück. Einmal nur hatte Munk an einem solchen Abend ihre schwarze Silhouette im Nachtblau über der Heide gesehen und für einen Augenblick hatte in ihrer Hand etwas hellweiß geleuchtet – so als hätte sie nicht in ihre verborgene Tasche gegriffen, sondern einen Stern vom Himmel geklaubt.
Tagelang folgten sie unter sengender Sonne ein und demselben sich dahinwindenden Weg, dann wurde das Wetter eines Nachmittags schlechter. Im Westen zog Regen auf, ein ruppiger Wind scheuchte dunkle Wolken über die Heide, und bald ballten sie sich bleigrau über ihnen.
Die Wegkreuzung – die erste seit langem – erreichten sie in einem seltsamen Zwielicht. Ein breiter, von Huf- und Karrenspuren zerfurchter Weg führte nach Norden, und zu Munks Überraschung schlugen sie ihn ein.
Magwit drängte jetzt zur Eile. Die Pferde fielen in Trab und der Wagen holperte über die von der Hitze festgebackenen Furchen. Munk war in seinem rüttelnden Käfig aufgestanden und hielt sich an den Gitterstäben fest. Donner grollte in der Ferne und tief im Westen sah Munk den Regen in langen, verwaschenen Bahnen niedergehen. Außer dem nervösen Habicht war weit und breit kein Vogel mehr zu entdecken. Das Licht wirkte auf einmal schwefelig.
Dann fielen die ersten Tropfen, und bald trommelten sie auf Munks Haut. Der Wagen fuhr wie durch eine Wasserwand und Magwit, an der Spitze des Zugs, war bloß noch ein gischtvernebelter Geist.
Der Weg, eben noch Sand, wurde zu einem Flussbett aus Schlamm. Der Wagen schlingerte und sie verloren an Fahrt. Die Pferde, dunkel vor Nässe und schlammbespritzt, mühten sich um eine Kurve, und auf einmal tat sich, nur schemenhaft hinter dem Regenschleier, ein Bauwerk vor ihnen auf. Munk erkannte eine langgestreckte, vom Regen schwarze Palisadenwand, in ihrer Mitte ein von zwei hölzernen Wachtürmen eingerahmtes Tor.
Magwit zügelte ihre Stute. Durch den prasselnden Regen rief sie laut zu einem der Türme hinauf. »Öffnet verdammt nochmal das Tor! Seht ihr denn nicht, wer hier gekommen ist?«
Munk konnte nur wenig sehen, aber die Greifenkrieger auf den Türmen sah er doch. Einen hörte er auch rufen und dann öffnete sich das Tor tatsächlich. Der Wagen rumpelte genau in dem Moment hindurch, als es zum ersten Mal blitzte.
Für einen Augenblick lag die Szenerie drinnen in einem grellen, zitternden Schein: kreuz und quer abgestellte Karren und Handwagen, aus prallen Säcken oder aufgebockten Bohlen errichtete Verkaufsstände und dazwischen, Schutz suchend, nassgeregnete Menschen, die gekommen waren, um ihre Feldfrüchte zu verkaufen.
Das Gewitter brach über einen Markt herein, abgehalten in einer Garnison der Greifenkrieger, denn Greifen hatten den Turm besetzt und Greifen öffneten auch das Tor. Jenseits des Markts schienen weitere Gebäude zu liegen, doch bevor Munks Blick sie richtig erfassen konnte, war der Blitz erloschen und die Szenerie fiel ins Dunkel des Wolkenbruchs zurück.
Der Wagen bahnte sich rücksichtslos seinen Weg durch die Menge. Menschen sprangen zur Seite, andere drängten sich an die Kutsche, um in den seltsamen Käfig zu sehen. Manch einer starrte mit nassglänzendem Gesicht zu Munk herauf, als wäre er die Attraktion eines Jahrmarkts oder ein Verurteilter auf dem Weg zum Schafott. Der ein oder andere streckte sogar die Hand nach ihm aus und einmal im Gewühl bekam ihn auch jemand zu fassen. Munk wollte den fremden Arm wegschlagen, stattdessen wurde ihm etwas zugesteckt. Es war glatt und rund und Munk wusste nur zu genau, was sich so anfühlte: In seiner Hand hielt er plötzlich ein Ei.
Er wich zurück, bis er rücklings an die Gitterstäbe stieß, und sah es nass auf seinem Handteller liegen. Erst dann hob er den Kopf, um nachzusehen, wer ihm das Ei gegeben hatte. Doch neben dem Wagen lief niemand mehr. Sie hatten den kleinen Markt hinter sich gelassen und rumpelten schon durch das nächste Tor.
Magwit schwang sich gerade aus dem Sattel. Munk ließ das Ei in seine Hosentasche gleiten. Es blitzte wieder und dann donnerte es, als würde der Himmel bersten.
Munk wurde aus dem Käfig gezerrt und zu Magwit gebracht. Sie sprach mit einem hochgewachsenen Krieger in einem Mantel aus Bussardfedern. Bis Magwit eingetroffen war, hatte er hier offenbar das Sagen gehabt. Jetzt empfing er ihre Befehle.
Was die beiden sprachen, ging im prasselnden Regen unter. Ohnehin war das Gespräch kurz. Eilfertige Greifen übernahmen die Pferde und dann übernahmen sie auch Munk. Zwischen zwei Krieger geklemmt, stolperte er ein paar vom Regen dunkle Stufen hinauf. Eine Tür ging auf und dämpfte, kaum dass sie sich hinter ihm geschlossen hatte, das wütende Prasseln des Wolkenbruchs.
Munk fand sich in einer Blockhütte wieder. Auf einmal war es still genug, dass er die hohl klingenden Schritte auf dem Bretterboden hörte. Er hörte auch einen Schlüsselbund und dann das vertraute Quietschen einer Gittertür.
Widerstandslos trat Munk in sein neues Gefängnis. Im Halbdunkel der Hütte war er bald darauf allein. Über ihm trommelte der Regen aufs Dach. Tropfend stand er hinter der Gitterwand, die die Hütte in zwei Teile teilte. Auf seiner Seite gab es bloß eine Pritsche, auf der anderen neben der Tür ein Fenster, dahinter zuckte ein greller Blitz. Diesmal kam der Donner später. Das Gewitter zog weiter. Munk blieb zurück.
Er rieb sich das Wasser aus dem Haar, das ohnehin nie richtig nass wurde, und genoss für einen Augenblick, dass er im Trockenen war. Dann zog er sich das kalt auf der Haut klebende Hemd über den Kopf und begann, es auszuwringen. Es war angenehmer, es nicht zu tragen.
Während der Regen draußen nachließ, sah er sich um. Das Fenster seiner Zelle war mit Brettern vernagelt, auf der Pritsche lag eine grobe Pferdedecke, die er sich um die nackten Schultern legte. Bevor er sich auf die Pritsche hockte, holte er vorsichtig das Ei hervor.
Es war ein gewöhnliches, hellbraunes Hühnerei und für einen Moment brachte es die Erinnerung an Nyth zurück – an die kleinen, fast kugelrunden Eier, aus denen im Frühsommer die Käuze geschlüpft waren, und an die kräftig gesprenkelten der Möwen, die etwa so groß wie dieses waren. Sollte er es trinken? Hatte es ihm eine mitleidige Seele als Verpflegung zugesteckt?
Munk strich mit dem Finger über das makellose Rund. Er drehte das Ei in den Fingern, weil sich das gut anfühlte, und entdeckte erst jetzt, dass da doch ein Sprenkel auf der Schale war.
Nein, das war kein Sprenkel. Es war eine Zeichnung, kaum größer als sein Fingernagel!
Munk sprang auf und lief ans Gitter, wo das Licht besser war. Das Ei lag auf seiner offenen Hand und er beugte sich dicht darüber. Jemand hatte mit äußerster Vorsicht ein Bild in die Schale geritzt, vielleicht mit einer Nadel, und dann etwas Dunkles in die feinen Rillen gerieben: Munk starrte das winzige Bild eines Vogels an, den er noch nie gesehen hatte.
Mit der Fingerspitze darüberstreichend, prägte sich Munk die Linien ein: den langen, abwärts gebogenen Schnabel, den schmalen Kopf und den rückwärtigen Schopf, der aussah, als würde der Vogel ein Kopftuch tragen. Er fuhr über den dünnen Hals, den langgestreckten Körper und den angelegten Flügel. Er strich über die ziemlich kurzen Beine und die umso längeren Krallen. Wer schenkte ihm ein so schön verziertes Ei?
Munk versuchte sich zu erinnern, wie er in seinem Käfig über den verregneten Markt gefahren war. Viele Menschen waren an den Wagen getreten, aber an jemand Bestimmten erinnerte er sich nicht. Wer immer ihm das Ei gegeben hatte, war unbemerkt verschwunden.
Das Ei in der Hand, kehrte Munk auf die Pritsche zurück, streckte sich aus und starrte grübelnd an die Decke, bis es draußen finster wurde und er den Kampf gegen den Schlaf verlor.
Die Tür und ein Schwall Nachtluft holten ihn zurück. Am quietschenden Henkel einer Laterne baumelte ein Licht. Munk lag rücklings auf der Pritsche. Er hörte Magwits Stimme.
»Lass mich allein.« Offenbar blieb ein Krieger vor der Tür zurück.
Siedend heiß fiel Munk das Ei ein. Er tastete danach und fand es auf seiner Brust. Er barg es in beiden Händen. Jetzt lag er auf der Pritsche wie zum Nachtgebet. Er kniff die Augen zu und tat, als würde er noch schlafen.
Magwits Schritte erreichten das Gitter. Sie stellte die Laterne ab. »Komm schon, Junge. Du bist wach.«
Hatte sie das Ei bemerkt? Munk öffnete die Augen und drehte den Kopf. Magwit stand im unruhigen Licht der Laterne. Sie hatte die Maske abgesetzt. Tagelang hatte Munk sie für eine junge Frau gehalten, aber war sie das? Er konnte es beim besten Willen nicht sagen. Einerseits schien sie nur ein paar Jahre älter als Enna zu sein, andererseits war da nichts Junges in ihrem Blick. Aber das mochte auch am Halbdunkel liegen. Da lagen so viele Schatten auf ihrem Gesicht.
Er hockte sich auf die Pritsche und verbarg das Ei hinter den angezogenen Knien.
»Hast du Hunger, Munk?«, fragte Magwit.
Er schüttelte den Kopf. Es war ihm jedes Mal unangenehm, wenn sich ihre Aufmerksamkeit auf ihn richtete, aber noch nie war es ihm unangenehmer gewesen als jetzt.
Es war das Ei, dachte er. Es war das Ei, das er vor ihr verbarg, ohne einen rechten Grund dafür zu haben. Es lag in seinem Schoß, als wäre der ein Nest.
Magwit lehnte sich ans Gitter und sah ihn unverwandt an. Ihr Blick lag eine Ewigkeit auf ihm, und er wusste nicht, wohin mit seinem.
»Na also«, sagte Magwit endlich. »Da ist er ja, der Räuber in dir.«
Munk verstand nicht. Er war doch nur ihrem Blick ausgewichen. Er zog die Knie noch fester an den Oberkörper.
Lächelnd strich sich Magwit das Haar aus dem Gesicht. Sie ließ ihn keinen Moment aus den Augen. »Du mantelst, Munk«, sagte sie. »Glaubst du ehrlich, ich merke das nicht?«
Munk schluckte.
»Du mantelst wie der Habicht über der Taube. Das ist gut, Munk, sehr gut, wirklich. Doch was immer du da verbirgst, du musst es mir geben.«
»Ich … ich verstehe nicht.« Natürlich, er verhaspelte sich. Die Scham stieg ihm brennend heiß ins Gesicht. Er war kein guter Lügner. Auch Enna hatte immer gewusst, wenn er log. Der alte Smud hatte ihm geraten, es einfach zu lassen.
»Und ob du verstehst.« Magwit rasselte mit einem Schlüsselbund. Die Zellentür ging auf. Sie kam mit der Laterne näher, bis sie unmittelbar vor ihm stand. Dann streckte sie ihm ihre schwarz behandschuhte Hand entgegen.
»Na los, mein kleiner Habicht. Her mit deiner Taube.« Sie lächelte immer noch, aber sie lächelte gefährlich.
Munk legte die Stirn auf die Knie und glaubte zu spüren, wie Magwits Wille an ihm riss. Das Ei lag in der Höhle seines Körpers. Er wollte es unbedingt behalten. Dabei wusste er nicht mal, warum.
»Wer mit einem Vogel jagen will«, sagte Magwit, »muss ihn erst abtragen. Du wirst das alles noch erfahren, aber es läuft darauf hinaus, den Willen des Vogels zu brechen. Er muss lernen, dass der Wille des Falkners stärker ist, Munk. Der Vogel muss es in jedem Augenblick seines Lebens wissen. Also gib es mir jetzt, was immer es ist. Sonst stehe ich hier, bis der Morgen graut und du darum flehst, dass ich dich schlafen lasse.«
Munk hob den Kopf. Der Griff um seine Knie lockerte sich. »Ich habe nichts Böses getan«, sagte er heiser.
»Nicht?« Magwit lächelte wieder. »Gut und Böse hast du auf deiner Insel gelassen, Junge. Gut und Böse kümmern mich nicht, und alles, was deine erbärmliche Schwester dazu zu sagen hatte, kannst du getrost vergessen. Das sind nur Geschichten, die sich die Schwachen erzählen, damit ihre Schwäche Sinn ergibt. Aber du wirst stark werden, Munk, sehr stark. Nur eben nicht stärker als ich.« Ihre schwarze Hand kam noch ein Stück näher.
Munk dachte an den Vogel, der in die Schale geritzt war. Das Bild war so klein – vielleicht würde Magwit es gar nicht bemerken. Vielleicht würde sie ihm das Ei sogar zurückgeben, denn was sollte sie damit? Es war doch nur ein Ei, ein gewöhnliches, braunes Hühnerei.
Er ließ seine Knie los und klaubte das Ei aus seinem Nest. Es kostete ihn einige Überwindung, aber dann hielt er es Magwit hin. Sie nahm es zwischen die behandschuhten Finger, und er schämte sich schon wieder. Er hatte das Ei preisgegeben. Er fühlte sich wie ein Verräter und schon wieder hatte er keine Ahnung, warum.
»Wo hast du das her?« Magwits Lächeln war verschwunden.
»Ich weiß es nicht.« Das war die reine Wahrheit, so seltsam es auch klang.
»Erzähl keinen Unsinn, Munk. Ich werde sonst wütend.« Magwit sah ihn nicht einmal an. Sie schaute allein auf das Ei. Noch hatte sie die Zeichnung nicht bemerkt.
»Darf ich es wiederhaben?«
Jetzt sah sie ihn doch an. Ihr Blick war stechend. »Ich habe dich gefragt, wo du es herhast.«
»Jemand hat es mir zugesteckt. Auf dem Markt. Gleich hinter dem Tor …«
»Jemand?«
Er nickte.
»Wer, Munk?«
»Ich habe ihn nicht gesehen. Da waren viele Leute. Und es war dunkel. Es hat geregnet …«
»Lüg mich nicht an!«
»Ich lüge nicht!«
Offenbar bestand er die Prüfung. Das Ei lag auf ihrer offenen Hand und sie stieß es mit dem Zeigefinger an, bis es sich wie eine Kugel drehte.
Der gezeichnete Vogel … Munk wurde schlecht, denn auf einmal kniete Magwit am Gitter neben der Laterne und hielt das Ei ins Licht, und für einen Moment sah es so aus, als stünde ihr Gesicht in Flammen. Nur einen Augenblick später schloss sie die Faust und Munk hörte die Schale brechen. Eiweiß und Dotter quollen zwischen Magwits Fingern hervor. Dann klatschten die traurigen Reste des Eis auf die Bohlen.