Die Katze, die das Glück findet - Elke Seidel - E-Book

Die Katze, die das Glück findet E-Book

Elke Seidel

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Beschreibung

Der zwölfte Roman aus der Feder von Fritzi Kullerkopf ist eine autofiktionale und locker geschriebene Rückblende auf die Ereignisse des letzten Jahres. Ihre zahlreichen neuen Storys sind atmosphärisch dicht und souverän ausbalanciert zwischen feinem Galgenhumor, Aberwitz und Abgrund. Sie sind aber auch voller Lebensphilosophien und Alltagsrealitäten, immer gespickt mit eindrucksvollen Details der zuvor erlebten (meist wahren) Szenen. Bei dem vorliegenden Band handelt es sich um ein Feuerwerk funkelnder Erzählideen, der Gefühl, Geist und heitere Gelassenheit vereint. Es ist ein perfekter Mix aus Pleiten, Pech und Pannen und der daraus entstandenen Situationskomik. Fritzi berichtet von Freundinnen und Freunden, von Romanzen, Dramen, Ausflügen und Urlauben. In ihren Geschichten verbindet sie virtuos, sinnlich und detailverliebt unterschiedliche Genres. Mit guter Laune und Herzensbildung erzählt sie von ihren Erlebnissen, vom Bewahren und Verschwinden, von Abschied und Neubeginn, vom Verliebtsein und von ihrer Suche nach einer neuen großen Liebe. Wie die meisten von Fritzis wunderbar unaufgeregten und aufschlussreichen Büchern entstand auch dieser Band nach Reisen, die sie mit ihrer Sozialgefährtin und Ghostwriterin Elke unternahm. Die Heldin der Fritzi Kullerkopf-Erfolgsserie urlaubte im vergangenen Jahr in den Böhmischen Kaiserbädern und auf der Insel Mallorca. Nachdem man ihre Erlebnisse und Abenteuer gelesen hat, möchte man sogleich selbst in ein Reisebüro gehen, seinen eigenen Urlaub buchen und sofort dorthin aufbrechen. Dank der Freude am Fabulieren und der Fülle der von der Autorin liebevoll gezeichneten Illustrationen wird dieses Buch Tierfreunden zahlreiche wunderbar entspannte Lesestunden bescheren, ohne dabei trivial oder langweilig zu werden. Fritzi beleuchtet die für sie komplexen Themen sprachlich klischeebefreit und argumentativ so schlüssig, vielschichtig und nachvollziehbar, dass man ihr neues Buch gelesen haben muss. Fritzi und Elke hoffen, dass ihr zwölftes Buch ihren Leserinnen und Lesern genau das gibt, was sie derzeitig brauchen. Freuen Sie sich auf einen abwechslungs- und facettenreichen Lese-Spaß!

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Seitenzahl: 603

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Für Marlies, Edith, Helga und Judit

Inhaltsverzeichnis

T

eil I

Die Katze, die berichtet, was im vergangenen Jahr alles passiert ist

Zum Anfang ein paar Gedanken

Fritzi überlegt, warum sowohl ihre Dosine als auch sie

Singles

sind

Die Fahrt ins Fechenheimer Tierheim

Fritzi hat die Qual der Wahl

Das verpasste Treffen mit Findus von Herrstein

In Idar-Oberstein trifft Fritzi einen Kater namens Mogadischu

Es gibt immer mehr Gestörte

Betrüger, Erpresser und angebliche Erblasser vermehren sich

Fritzi, Anja und Elke besuchen eine Ausstellung in der Schirn

Das Wasser in Fritzis Näpfchen ist abgestanden

Teil II

Die Katze, die mit ihrer Sherpa in die Böhmischen Kaiserbäder fährt

Elke plant ein Wochenende in der Tschechischen Republik

Statt in die Tschechei möchte Fritzi lieber nach Indien reisen

Vor der Abfahrt nach Böhmen

Endlich geht es los

Fast hätten zwei mitreisende Oldies den Bus verpasst

Elke erinnert sich an einen Amerikaner mit Namen Norman

Auf dem Weg nach Falkenau

Der neue Guide heißt Emilie

Eine Mitreisende namens Margarethe

Auf dem Weg nach Marienbad

Cheb, die Stadt, die früher einmal Eger hieß

Auf der Weiterfahrt nach Franzensbad

Fritzis nächtliche Erlebnisse mit ihrer tschechischen Verwandtschaft

Das nächste Tagesziel heißt Elbogen

Die Sage über die unglückliche Liebe einer Eger-Flussnixe

Weihnachtskugeln, geschliffenes Bleikristall und bemaltes Porzellan

Wie Karlsbad zu seinem Namen kam

Im schönsten Kurort von Böhmen

Der legendäre Hirschsprung

Fritzis dritte Nacht in Falkenau

Fritzis Erinnerungen an den Kurort Altwasser

Die Fledermäuse von Bad Königswart

Im Kloster Teplá, am warmen Fluss

Fritzi und Elke fahren wieder nach Hause

Elkes vergeblicher Versuch bei

Burger King

etwas zu bestellen

Teil III

Die Katze, die mitteilt, was ihrer Dosine zugestoßen ist

Elkes Sturz vor der Struwwelpeter-Apotheke

Fritzi und Elke fahren ins Unfallkrankenhaus

Von Elkes Knie werden MRT-Aufnahmen gemacht

Einen Termin beim Orthopäden zu erhalten ist extrem schwierig

Zum ersten Mal in ihrem Leben ist Elke Privatpatientin

Fritzi entdeckt im Garten zwei Waschbären

Cassandro lädt Fritzi nach Kanada ein

Elkes erneuter Versuch einen Termin beim Facharzt zu bekommen

Fritzi checkt Elkes virtuelles Postkästchen

Nicky aus Seligenstadt möchte mit Fritzi befreundet sein

Was im Winter sonst noch passiert

Fritzi studiert ihr Horoskop für das kommende Jahr

Wie Fritzi und ihre Dosine die Feiertage verbringen

Was unterdessen geschieht

Siegfried, einer von Elkes ehemaligen Arbeitskollegen

Elke macht neue postoperative Erfahrungen

Auch Fritzi ist plötzlich leidend

Fritzi begleitet Elke zu ihrem Reha-Turnen

Teil IV

Die Katze, die mit ihrem Lieblingsmenschen nach Mallorca fliegt

Nicht nur Elke schmiedet Pläne für den nächsten Urlaub

Elkes vergeblicher Versuch, sich einen Sitzplatz zu reservieren

In der Nacht vor dem Abflug

Fritzis Erinnerungen an den Hinflug

Nach der Ankunft am Flughafen Son Sant Joan

Es ist schwierig, im Regen den richtigen Transfer-Bus zu finden

Im Valentin Park Club-Hotel in Paguera

Wie Fritzi den Rest ihres ersten Urlaubstags verbringt

Fritzis Frühstück im Hotel-Restaurant

Die Bekanntgabe von Neuigkeiten des Reiseveranstalters

Auf dem Weg nach Palma

Mit dem Bus am Ballermann vorbei

Auf der Promenade von S’Arenal

Maria aus München erteilt Urlaubsempfehlungen

Auf der Rückfahrt nach Palma

In der berühmten Kathedrale La Seu

Fritzi und Elke machen einen Umweg via Santa Ponça

Zurück im Hotel

Mit Miquel und Toni zur Inselhauptstadt

Auf dem Weg zum Schloss Bellver

Stadtrundgang per Pedes

In der Feinschmecker-Markthalle Mercat de l’Olivar

Auf der Rückfahrt zum Hotel

Fritzi macht einen Rundgang durch den Ort

Mit Pelayo und Juan zum Bauernmarkt in Sineu

Auf dem Weg zum Treffpunkt der Winde, dem Mirador es colomer

Elke gerät in Alcúdia in einen Kaufrausch

Fritzi sieht hinter einer Fensterscheibe einen Rotschopf

Mit Tomeu und Jaime auf großer Inselrundfahrt

In einer Ölmühle bei Calmari

Im Kloster Santuari de Santa Maria de Lluc

Der Weg zum berühmten Wildbach Torrent de Pareis ist gesperrt

Eine Bootsfahrt, die ist lustig

Mit der antiken Trambahn von Port de Sóller nach Sóller

Mit dem Roten Blitz zurück nach Palma

Bei einem Gewitter verlässt niemand freiwillig sein Heim

Mit Bruno und Angel zu dem schmucken Küstenort Sant Elm

Im Jetset-Hafen von Port d’Andratx

In einer Eisdiele in der Avinguda de l’Almirall Riera Alemany

Was anschließend noch geschah

Der schöne Adolpho wartet bereits

Mit Maria Angeles und Jesus zu einer Perlenmanufaktur in Manacor

Auf dem Weg zu dem mittelalterlichen Monasterio de Artà

Das nächste Ziel ist die Burg von Capdepera

Eine Weinprobe in Binissalem

Fritzi trifft Esmeralda und ihre Töchter

Mit Carlos und Juan zum Kloster Santuari Sant Salvador

Ein kurzer Stopp in Porto Colom

Mit Judit auf Schnäppchenjagd in Porto Cristo

In der Cuevas del Drach

Fritzi verbringt die Nacht mit Fidelio, Picasso und Taio

Mit Jesus und Juan nach Fornalutx

Die Straße nach Deià wird neu geteert

Auf dem Weg nach Valldemosa

Eine Schnucke, die eine Windel trägt

Das Fest der Tränen

Der letzte Urlaubstag auf Mallorca

Ein Heimflug mit Hindernissen

Nach der Ankunft am Gepäckausgabeband 6 in Halle B

Teil V

Die Katze, die erzählt, was sich sonst noch ereignet hat

Elkes neue Erlebnisse beim Zahnarzt

Fritzi und Elke fahren zum Discounter

Im Penny trifft Elke einen möglichen

Herrn Wunderbar

Wie ein kompetenter Wissenstransfer stattfinden könnte

Elke plant einen Besuch in Bad Soden

Neue Geschichten vom Flughafen

Warum Kätzinnen und Kater für Menschen so wichtig sind

Fritzi und Elke diskutieren über Prägung, Erziehung und Eifersucht

Nach langer Zeit taucht Waldschrat wieder aus der Versenkung auf

Tom Jupiter schickt Urlaubsgrüße von der Ostsee

Fritzi und Elke treffen Volker zum gemeinsamen Frühstück

Fritzi möchte ihre Freundin Aida besuchen

Auf dem Weg von Dribbdebach nach Hibbdebach

Fritzi trifft ihre Groß-Cousine

Dschindscher

Fritzi und Ginger laufen über den Holbeinsteg

Auf dem Weg zu dem Nizza-Gartenpark

Fritzi verliebt sich in den Kater Klaus Elvis

Vorwort

Hallo, da bin ich wieder! Ich hoffe, du erinnerst dich noch an mich. Mein Name ist Fritzi Kullerkopf. Ich bin deine Freundin, die mit dem dichten roten Fell, den Pausbacken und dem unbändigen Freiheitsdrang.

In meinen bisher verfassten Büchern schrieb ich über mein eigenes Leben und das meines Lieblingsmenschen, sowie über meinen verstorbenen Mann und meinen ex-Verlobten. Außerdem berichtete ich über einen Teil der zahlreichen Personen, die mir seit meiner Kindheit begegnet sind und die ich liebgewonnen habe. Allerdings sind mir einige von ihnen – ohne mein eigenes Zutun – abhandengekommen. Zu meinem großen Bedauern verschwanden sie ohne ein Wort des Abschieds, jedenfalls in diesem Leben. Vermutlich halten sie sich inzwischen in einer fremden Galaxy auf. Es würde mich freuen, wenn ich irgendwann einmal die Gelegenheit hätte, sie wiederzusehen.

Wie Elke neulich so richtig sagte: „Es gibt mindestens einen triftigen Grund dafür, dass es Personen aus meiner Vergangenheit nicht in meine Gegenwart geschafft haben. Und für die ist auch in meiner Zukunft kein Platz.“

Schon seit meinem ersten Fritzi-Roman berichte ich autofiktional und zwar genau so, wie mir die Begebenheiten in Erinnerung geblieben sind. Dabei handelt es sich weder um (m)eine klassische Autobiografie noch um die Lebensbeschreibungen der Personen, die mir begegnet sind. Es sind eher Auszüge aus meinen Tagebüchern, gespickt mit Erlebnisberichten, die ich im Nachhinein gelegentlich noch ein wenig ausschmückte.

*

Als ich vor einigen Jahren meinen Erstling bei Facebook vorstellte, wurden sowohl das Buch als auch ich von zahlreichen Seiten mit Lob und Beifall überschüttet. Mit freundlichen Worten schrieb man, der Roman wäre ein ideenreiches Bravourstück und ein Lesevergnügen mit hochaktuellen Einsichten. Meine Geschichten würden eine Leichtigkeit und Eleganz versprühen, die man bei anderen Autorinnen meines Alters vergeblich suchen würde.

Allerdings hagelte es auch vereinzelt schmerzende Kritik. Eine mir unbekannte Person warf vermutlich nur einen Blick auf die Rückseite des Buchcovers, doch sie postete eine Rezension über den Inhalt, die weit jenseits des Erträglichen lag und die ich als Versuch meiner persönlichen Vernichtung deutete.

Schon aus Trotz schrieb ich unbeirrt weiter. Das hier vorliegende Buch ist mein 12ter und voraussichtlich letzter Fritzi-Band. Aber das nehme ich mir immer fest vor, wenn ich endlich mit einem neuen Buch fertig bin. Sollte mir kurz danach erneut etwas Aufregendes, Irres oder Erzählenswertes passieren, beginne ich wieder mit der Tipperei. So entsteht dann das erste Kapitel eines neuen Bands.

Wie bereits bei meinem ersten Roman habe ich auch jetzt noch immer keinen festen Plan. Beim Schreiben folge ich keiner Leitlinie, sondern verlasse mich auf meine Intuition und mein Bauchgefühl. Mit anderen Worten, ich tippe einfach drauflos über alles was mir assoziativ gerade so einfällt, was mir zuvor aufgefallen ist oder über das, was möglicherweise demnächst einmal passieren wird. Wenn mir ein Kapitel recht gut gelungen ist habe ich eine Dopaminausschüttung, wo immer die auch herkommen mag. Dann fühle ich mich stundenlang glücklich und könnte die ganze Welt umarmen.

Meiner Fantasie kann man keinen Lockdown auferlegen. Obwohl meine reale Welt eingeschränkt wurde, indem mich meine Dosine daheim in Frankfurt nicht mehr allein vor die Tür lässt, dehnte sich meine Fantasiewelt aus.

Auch jetzt schreibe ich ohne daran zu denken, wer meine Zeilen vielleicht später einmal lesen wird. Ich bin eine Suchende, die regelrecht süchtig nach neuen Storys ist. Gleichzeitig bin ich auch eine Erzählende, die dazu bereit ist, gelegentlich einmal nicht zu gefallen oder gar zu scheitern. Trotzdem mache ich weiter, denn mein Bestreben ist nicht aufzugeben.

*

Meine kluge Mama sagte früher immer zu uns Kindern: „Hinzufallen ist keine Schande. Aber wenn man sich nichts gebrochen oder verstaucht hat, muss man sich aufrappeln und rasch wieder aufstehen, sich das verrutschte Krönchen zwischen den Ohren an den richtigen Platz schieben und freundlich nach vorn gucken!“

Die Worte meiner Mama habe ich verinnerlicht, aber ich halte mich auch an die weisen Worte von Dragoslav Stepanović, der einst die wahren Worte sagte: Was auch passieren mag, Lebbe geht weider.

Von einem angepeilten Ziel abzuweichen oder auf halber Strecke aufzugeben und zu kapitulieren, ist für mich gleichbedeutend damit zu verlieren. Auch etwas zu verschweigen ist (für mich) kein wichtiges Erzählprinzip. Eher berichte ich etwas doppelt und dreifach, als es (aus welchen Gründen auch immer) ganz wegzulassen. Meine Leserinnen und Leser sollen wissen, dass ich sowohl durchschau- als auch berechenbar bin.

In aller Bescheidenheit gesagt, ich kommentiere mehr oder minder klug, feinsinnig, witzig und warmherzig Probleme aus allen Bereichen des Lebens. Ich schreibe mit Wertschätzung, Einfühlungsvermögen und einer großen Portion Humor und möchte denen, die meine Bücher lesen, das Gefühl geben, dass sie mich schon lange persönlich kennen, auch wenn wir uns bisher noch nicht begegnet sind. Was noch nicht ist, kann in der nahen Zukunft noch werden! Ich bin dazu bereit!

Da ich in der Vergangenheit fast jährlich ein neues Buch veröffentlichte, ließ ich den Kreis meiner Fans auch nicht allein. In meinen Storys gebe ich mehr von mir, meinen Verwandten und meinem Lieblingsmenschen preis als eine jugendliche Influencerin, die es (noch) nicht besser weiß.

Ich bin ein weiblicher sogenannter Discovery Writer, eine Pionierin unter den Schreiberlingen meiner Generation. Das ist Neudeutsch und bedeutet, dass ich selbst nur den jeweiligen Anfang von jeder meiner taufrischen Geschichten kenne. Ich denke mir zuvor nicht akribisch einen komplizierten Plot aus und gestalte ihn beim anschließenden Tippen. Einesteils bin ich schnelldenkend, lasse mich andererseits aber auch gern treiben, wie ein steuerloses Boot in der Mitte eines Flusses.

Man kann aber auch sagen, indem ich den Beginn des Schreibens einer neuen Story verschiebe, prokrastiniere ich. Das ist etwas ganz anderes als Faulheit, denn in der bin ich passiv. Eine Prokrastination ist ein aktiver Zustand, in dem ich bewusst etwas auf einen späteren Termin verschiebe. Sobald mir dann der Anfang einer neuen Geschichte einfällt, schreibe ich sie spontan auf und zwar intuitiv und engagiert, aber mit spürbarer Lebensfreude, Kreativität, Flexibilität, Effizienz und Authentizität. Deshalb kommen in dem hier vorliegenden Buch auch Nähe und Ferne, Lust und Verlust, Begehren und Begierde nicht zu kurz. Jede Person weiß aus ihrem eigenen Leben, wie trügerisch die Wirklichkeit sein kann und wie real die Erinnerung, wenn man sie mit etwas Fantasie aufhübscht.

Als ich noch jung war, war ich einesteils ziemlich selbstsicher, aber anderenteils auch ausgesprochen ängstlich und unsicher. Ich hatte jede Menge Illusionen, Vorstellungen und Überzeugungen, aber von den wenigsten Dingen eine fundierte Ahnung. Dies hielt mich aber nicht davon ab, mein Glück als Autorin zu versuchen. Schreiben ist nicht etwas was ich so nebenbei erledige, sondern eine zeitverschlingende Beschäftigung, die man auch getrost als Arbeit bezeichnen kann. Die von mir angestrebte und erhoffte Gelassenheit rückte von Jahr zu Jahr und von Buch zu Buch in weitere Ferne.

Um meine Geschichten schreiben zu können muss ich allein im Zimmer sein und über einen funktionierenden Äppel mit einem Word-Programm verfügen. Mit dem in unserem PC bereits installierten Pages-Programm komme ich nicht zurecht, obwohl es kostenlos ist. An mir kann das nicht liegen! Bestimmt nicht.

Um mich herum sollte es mucksmäuschenstill sein, denn Geräusche lenken meine Aufmerksamkeit ab. Zuvor muss ich gut geschlafen und ausreichend gefrühstückt haben. Außerdem brauche ich gute Nerven, Zuversicht, Geduld und schlechtes Wetter. Nebel, Regen, Glatteis oder geräuschlos fallender Schnee sind optimal, denn dann verspüre ich nicht den unbändigen Wunsch unsere Wohnung zu verlassen, um nach draußen zu gehen und dort stundenlang zu verweilen.

Wie schon gesagt, bereits bevor ich mit der Tipperei anfange, sperre ich meine Augen und Ohren auf. Auch jetzt noch bemühe ich mich redlich, mir besondere Momente mit außergewöhnlichen Personen zu merken und sich die daraus ergebenen (manchmal irrwitzigen) Begebenheiten. Wieder daheim tippe ich sie dann in unserem Äppel zu einer neuen Story.

In aller Bescheidenheit muss ich inzwischen zugeben, dass ein bisschen Talent, eine Prise Humor und etwas Wortwitz beim Schreiben eines Buches nicht schädlich sein können.

Frankfurt, im Sommer 2025

Teil I

Die Katze, die berichtet, was im vergangenen Jahr alles passiert ist

Zum Anfang ein paar Gedanken

Neulich las mir meine Dosine aus der Bestsellerliste der Illustrierten Stern eine Buchbesprechung vor, die mich sprachlos machte:

„Statt sich mit der fehlenden Tiefe dieses infantilen Machwerks zu beschäftigen, besorgen Sie sich lieber eine Packung Glückskekse oder einen Abreißkalender“, schrieb der Kritiker, der die bissige Rezension verfasst hatte. „Der geistige Input dürfte ungefähr gleich sein.“

Eigentlich konnte ich da nur froh und dankbar sein, dass ein solch scharfzüngiger Mensch erst gar nicht nach einem meiner Bücher gegriffen hat, um es nach dem Überfliegen des Klappentextes mit vernichtenden Worten in der Luft zu zerreißen.

Um mich zu trösten oder mich aufzubauen lautete der Kommentar meiner Perle dazu: „Fritzi, vielleicht ist die verbale Kreuzigung eines neuen Buches, durch ein an allem und jedem herumnörgelnden Lästermaul, günstiger für die in der Zukunft zu erwartenden Verkaufszahlen, als von dem hiesigen Kritiker total ignoriert zu werden.“

Über ihre Worte dachte ich eine Weile nach. Dann kam ich zu dem Schluss, dass ich keinen Verriss meiner Bücher benötige, der mein Selbstbewusstsein zerstört, nur um dadurch die Umsatzzahlen in die Höhe zu treiben.

Was soll ich mit Geld anfangen? Mehr als ein kleines Schnitzel kann ich nicht auf einmal essen und nachts in mehreren Betten zu schlafen, das gelingt mir auch nicht.

*

In der Vergangenheit versuchte ich stundenlang – ach was sage ich – tagelang mich selbst zu analysieren, aber was früher einmal passiert ist oder was mir seinerzeit irgendwann angetan wurde, ist inzwischen passé und unwiederbringlich vorbei. Im Nachhinein lässt sich daran nichts mehr ändern.

Allerdings habe ich auch recht negative Erinnerungen an andere Personen, die ich für eine Weile sehr sympathisch und überaus liebenswert fand, bis mir klar wurde, dass sie meine Gutmütigkeit schamlos ausnutzten, um sich zu bereichern. Eigentlich müsste ich mit denen (bildlich gesehen) noch eine Rechnung offenstehen haben. Aber nach reiflichen Überlegungen kam ich zu dem Schluss, dass ich sie wie eine Buchhalterin in (m)einer Bilanz als Verlust ausbuchen sollte, damit unter dem Strich beide Seiten wieder ausgeglichen sind.

‚Soll sich doch Karma um die raffgierigen Betrüger:innen kümmern und zurückschlagen!‘, beschloss ich. „Irgendwann werden sie eh an ihrer Missgunst und Habgier ersticken!“

Statt ständig in meiner eigenen Vergangenheit herum zu kramen, schaue ich lieber nach vorn. Es macht keinen Sinn, dass ich mich heute noch damit beschäftige, was in meiner Kindheit alles schiefgelaufen ist. Fakt ist, dass mich meine ersten Menschen versehentlich im Garten unter den Blättern einer Pfingstrose zurückließen, als sie mit Kind und Kegel in einen Nachbarort umzogen. Später stellte sich dann heraus, dass sie es nicht mit Absicht getan hatten, sondern mich in der Aufregung schlicht und einfach vergaßen.

Eigentlich wäre es nicht verwunderlich, wenn sich meine frühkindliche traumatisierende Erfahrung des Verlassenwerdens in Gefühlen wie Ängstlichkeit, Unsicherheit und Unzulänglichkeit äußern würden. Aber genau das Gegenteil trat ein, denn damals wurde ich über Nacht erwachsen und startete am nächsten Morgen durch. Seinerzeit war ich noch viel zu jung, um mich in Form einer Selbstanalyse mit meiner Vergangenheit zu beschäftigen. Automatisch und ohne lange nachzudenken begann ich mein Leben selbst zu regeln, indem ich nach vorn blickte, um es eigenständig zu gestalten.

*

Natürlich hätte ich auch in der Komfortzone unseres ehemaligen Gartens auf die Rückkehr meiner ersten Menschen warten können, an dem Platz, an dem ich mich bisher immer wohlgefühlt hatte. Bis dato kannte ich gar keine andere Umgebung. In der nächtlichen Wartezeit hätte ich mich auch (bildlich gesehen) in meinem Elend baden oder in Selbstmitleid suhlen können. Aber wenn der Stillstand lange genug gedauert hätte, wäre ich vermutlich verhungert. Vorab konnte ich nicht ahnen, dass meine ehemaligen Menschen am nächsten Abend zurückkommen und nach mir suchen würden.

Stattdessen war mein erster Gedanke: ‚Von wem erhalte ich etwas zu essen?‘ Mein zweiter lautete: ‚Wo ist meine Mama?‘ Auf beide Fragen wusste ich keine Antwort. Nur deshalb traute ich mich durch den kleinen Spalt unter dem Gartenzaun hindurch zu kriechen, neue Dinge zu wagen und sie auszuprobieren.

Auch jetzt, einige Jahre später, kann ich das Erlebte nicht als eine Art Therapie bezeichnen, denn bei mir war es der reine Selbsterhaltungstrieb. Ausschließlich aus diesem Grund wurde ich praktisch gezwungen, mich viel zu früh aus der emotionalen Abhängigkeit und dem Dunstkreis meiner Mutter zu lösen. Instinktiv übernahm ich die Verantwortung für mein junges Leben und erlangte nach und nach meine Eigenständigkeit.

*

Allerdings muss ich zugeben, dass ich, seit ich erwachsen bin, gelegentlich in passive Grübel-Schleifen mit Dauerreflexionen hineinrutsche und es eine geraume Weile dauert, bis ich wieder aus dem Stadium des down seins herausfinde. Wenn ich dann nicht mehr im Bett oder auf dem Sofa liegen kann, weil mir alle Knochen wehtun, sage ich mir: „Fritzi Kullerkopf, Stillhalten und Nichtstun hilft dir nicht! Wach endlich auf und komm in die Gänge! Lass deine Passivität im Bett zurück und unternimm etwas!“

Mit diesen Worten stoße ich die Decke weg, unter die ich mich zuvor geflüchtet hatte.

Dann laufe ich auf den Balkon und überlege, in welche neuen Aktivitäten ich mich hineinschmeißen soll.

*

Alleinsein ist doof. Sofern es nicht regnet knüpfe ich gern neue Kontakte und wiederbelebe alte Beziehungen, aber dazu muss ich gezwungenermaßen Elkes und meine Wohnung verlassen. Meine Dosine nennt diese verbotenen Aktivitäten auf dem heimischen Kiez strunzen gehen. Wenn das Wetter schlecht ist, widme ich mich einem meiner anderen Hobbys. Dann erzähle ich wahre Geschichten oder denke mir welche aus, die ich in unserem antiken Äppel-PC eintippe, damit ich sie nicht vergesse. Wenn mir die Story anschließend einigermaßen gelungen scheint, habe ich das Gefühl, auf dem richtigen Weg zu sein, um den Schlüssel zum Glück zu finden. Inzwischen habe ich eingesehen, dass ich nur herausfinden kann, was gut für mich ist, wenn ich es selbst ausprobiere.

Schon etwas länger lautet mein Lebensmotto: Take action! Tue es selbst, denn nur dann weißt du mit Sicherheit, dass es auch wirklich erledigt wird!

Richtig blöd ist dann nur, wenn ich allein in der Wohnung bin, sozusagen als Gefangene, weil meine Dosine beim Weggehen das Schloss unserer Wohnungstüre von außen mit einem Schlüssel abgeschlossen hat und ihn anschließend in ihrer Tasche mitnahm.

*

Neulich erwiderte meine Sozialpartnerin einem mir nicht bekannten Anrufer am Telefon auf seine Frage mit der euphemistischen Formulierung, sie sei eine außergewöhnliche Durchschnittsfrau, kein Single, sondern eine Solistin.

In meinen Ohren klingt Singulär irgendwie großspurig, so wie einzigartig. Das sind wir Frauen eh alle, ob bemannt oder unbemannt.

Vermutlich meinte sie auch nur, sie hätte zwar Ecken und Kanten, wäre aber doch irgendwie normal. Als ich das hörte, klang es in meinen Ohren komisch und irritierte mich auch, denn außergewöhnlich passt irgendwie nicht zusammen mit Durchschnittsfrau. Meiner Meinung nach ist es ein Oxymoron, etwas Paradoxes, weil es sich gegenseitig ausschließt.

„So ein Quatsch“, mischte ich mich ein. „Eine Solo-Frau ist ein Single.“

„Fritzi, hör auf zu quaken! Du siehst doch, dass ich telefoniere.“ Mit diesen Worten schob sie mich vom Sofa herunter.

Mich umblickend erwiderte ich: „Hier sehe ich weder Kröten noch Frösche!“

Fritzi überlegt, warum sowohl ihre Dosine als auch sie Singles sind

Ich weiß nicht genau woran es liegen mag, aber ähnlich wie meine Sozialpartnerin geriet auch ich bei der Wahl meiner Gefährten mehrmals an den Falschen.

„Blöderweise sind die netten Männer alle homosexuell“, sagte Elke neulich zu mir, nachdem sie sich mit ihrem ehemaligen Arbeitskollegen Antonio zum Essen getroffen hatte. Später am Abend saß sie neben mir auf dem Sofa. „Es ist schon komisch“, meinte sie. „Bei den zahlreichen schwulen Kollegen, die ich kenne, ist daheim der einzige Heterosexuelle ihr Kater. Und der ist kastriert.“

Darüber konnte ich nicht lachen. Sie wahrscheinlich auch nicht.

*

Alte Fregatten gehen überall vor Anker, hatte ich irgendwo einmal gehört. Aber in diesen Tagen hört man viel.

Ich kann es nicht verstehen, dass meine Dosine und auch ich anscheinend als unvermittelbar gelten oder als nicht kompatibel, ähnlich der vielen Katzen, die man grundlos in Tierheime abgeschoben hat, weil sie ihren vorherigen Menschen lästig waren. Dort werden die meisten von ihnen ohne eine reelle Chance auf eine spätere Adoption verwahrt. Bei einigen von ihnen scheitert es daran, weil ihr Pelz die falsche Farbe hat, bei anderen, da sie angeblich grundlos beißen und kratzen, unkontrolliert pinkeln, weil sie taub sind oder ihnen ein Auge fehlt oder ein Bein.

Bei mir ist das Hindernis offensichtlich, denn seit geraumer Zeit darf ich nur gelegentlich (ohne Geschirr und Leine) in unseren hinter dem Haus liegenden eingezäunten Garten. Dort fühle ich mich aber ständig überwacht, denn Elke beobachtet jeden meiner Schritte. Auf meinen Kiez darf ich gar nicht mehr gehen, auch nicht nachts. Sie befürchtet nämlich, dass ich von einem der fast unhörbar herannahenden E-Autos oder einem heimtückischen E-Scooter erfasst und überrollt werde.

*

Das erklärt aber nicht das Dilemma, warum sie keine Partnerschaft eingeht. Schließlich wurde sie mit einem durchschnittlichen IQ ausgestattet, kann mit Messer und Gabel essen, hält unsere Wohnung und meine Klos sauber und sieht zudem recht ansprechend aus. Nett und kuschelig ist sie auch. Außerdem hat sie ihr Leben im Griff, stellt sich oft in unserer Hygieneabteilung (in dem kleinen Glashaus) unter die Brause, geht regelmäßig zur Arbeit, jedes Jahr zu diversen Vorsorgeuntersuchungen und einmal in der Woche zum Turnen. Genug Cash für die kommenden Jahre hat sie vermutlich auch gespart.

Als ich sie einmal darauf ansprach und sie fragte, warum sie sich nicht auf einer der Onlinedating-Plattformen unverbindlich nach einem geeigneten Partner umsieht, erwiderte sie: „Fritzi, vermutlich scheiterte ich bisher immer an kosmischer Inkompatibilität. Ein neues Enttäuschungsdrama erspare ich mir lieber.“ Bevor ich nachhaken und weitere Fragen stellen konnte, fuhr sie fort: „Wahrscheinlich sind alle Leute, die dort nicht erfolgreich waren und kein spätes kleines oder großes Glück fanden, inzwischen frustriert, enttäuscht und auch demoralisiert. Statt der von ihnen gesuchten Zuneigung, Sympathie und Anerkennung oder zumindest einem Quäntchen Verständnis, fanden sie ausschließlich Ablehnung, Hohn oder Spott.“

„Nein, das braucht wirklich niemand“, pflichtete ich ihr bei.

Die Fahrt ins Fechenheimer Tierheim

Als ich heute morgen wach wurde regnete es. Hinter meiner Stirn braute sich eine neue Attacke Hyäne mit Muräne zusammen. Das ist ein sich zu einem stechenden Schmerz mutierendes Kopf-Aua, das mir signalisiert, dass ich gerade auf dem besten Weg dabei bin malade zu werden. Als Erste-Hilfe-Maßnahme ist gut daran getan, wenn ich umgehend eine große Portion tierisches Eiweiß zu mir nehme. Außerdem bin ich vermutlich unterzuckert. Untersext bin ich zusätzlich auch. Möglicherweise fehlen mir nicht nur Proteine, sondern auch Mineralien, Spurenelemente und Vitamine. Vielleicht hat es aber auch mit meinen Hormonen zu tun. Entweder habe ich ein Pfund zu viel von ihnen oder ein paar Gramm zu wenig. Sowohl meiner Dosine als auch meiner Hausärztin (Frau Dr. Grobiana) fehlt diesbezüglich der genaue Durchblick.

Elke fühlt sich dafür zuständig, dass es mir gut geht. Sie will sich immer um alles kümmern. Dies tut sie oft, allerdings auch manchmal gegen meinen Willen.

Höchstwahrscheinlich bräuchte ich einfach nur gelegentlich einmal einem leidenschaftlichen jungen Kater zu begegnen, der mein Blut in Wallungen bringt, meine schnell entflammbaren körperlichen Begierden anfacht und sie anschließend mehrfach stillt. Ich finde, ein diesbezügliches Remedy (Heilmittel) hätte ich regelmäßig verdient.

Das darf ich meiner Sozialpartnerin aber nicht laut sagen, sonst steigt sie an einem ihrer nächsten freien Tage erneut mit mir in die Straßenbahn 11, um noch einmal in den Frankfurter Stadtteil Fechenheim zu fahren. Ziemlich weit entfernt von der dortigen Haltestelle, irgendwo im industriellen Nirgendwo, befindet sich das riesengroße städtische Tierheim. Das Hinweisschild in der Ferdinand-Porsche-Straße hätte es nicht gebraucht, denn schon von weitem hörte ich das durchdringend laute Bellen und Jaulen zahlreicher Wolfsnachfahren.

*

Bevor meine Dosine nach der Begrüßung an der Rezeption etwas sagen konnte, griff eine erschöpft aussehende Mitarbeiterin zu einem Formular und einem Stift. Rasch fragte sie: „Gibt es einen triftigen Grund, warum Sie Ihre Katze abgeben wollen?“

„Äh, wieso abgeben?“, stammelte Elke. „Ich möchte doch nur …“

„Haben Sie keine Zeit mehr für das Tier oder ist es Ihnen erst unlängst zugelaufen? Haben Sie das Tier geschenkt bekommen oder ist es jetzt alt und krank? Wurde die Katze bereits kastriert und ist sie geimpft? Sofern sie gechipt ist, wurde sie bei Tasso oder Findefix registriert? Fahren Sie demnächst in Urlaub und finden keine Betreuung für das Tier oder entwickelte urplötzlich eines ihrer Familienmitglieder eine spontane Katzenhaar-Allergie?“

„Nichts von alledem!“, erwiderte meine Sozialpartnerin. Sie sprach jetzt extra langsam und betont deutlich. „Fritzi und ich (sie deutete mit dem Zeigefinger zuerst auf mich und dann auf sich) möchten uns bei Ihnen nach einem passenden Lebenspartner umsehen.“

Als die Frau irritiert guckte und ungläubig ihren Kopf schüttelte, sagte Elke rasch: „Nicht für mich. Natürlich für Fritzi!“ Wieder zeigte sie auf mich. Dann drückte sie mit der Hand meinen Kopf zurück in meinen Transportbeutel, aber ich sah noch, wie sie mit der anderen Hand einen zusammengefalteten Schein in das auf der Theke stehende Sparschwein steckte. Dann kramte sie meinen Heimtierausweis aus der über ihrer Schulter hängenden Handtasche heraus, um zu zeigen, dass ich erst kürzlich gegen alle möglichen Krankheiten geimpft wurde und annähernd frei von bösen Viren und schädlichen Bakterien bin.

„Das ist aber einmal etwas erfreulich Anderes“, sagte die Frau jetzt überaus freundlich. Im selben Moment entspannten sich ihre Gesichtszüge. „Zuerst dachte ich schon, Sie würden uns einen weiteren Neuzugang bringen. Die Grenze unserer maximalen Aufnahmekapazität ist nämlich so gut wie erreicht.“

Dann rief sie einem jungen Mädchen zu, das sich bisher im Hintergrund aufgehalten hatte: „Gitti, würdest du bitte so nett sein und die Dame zum Katzenhaus bringen. Sag Olaf, ich hätte ihr erlaubt, dass sie sich nach einem Kater umsieht, auch wenn heute bei uns kein Tag der offenen Tür ist!“

Zu meiner Dosine sagte sie zum Abschied: „Bei unserer riesigen Auswahl an derzeit zu vermittelnden gesunden und schönen Katern bin ich felsenfest davon überzeugt, dass der richtige Partner für Ihr Kätzchen dabei sein wird!“

Beim Weggehen miaute ich aus meinem Transportsäckchen heraus: „Mir sollte er aber auch ein bisschen gefallen!“

Fritzi hat die Qual der Wahl

„Fritzi, welchen Kater magst du leiden?“, fragte mich mein Lieblingsmensch aufmunternd, als wir langsam an den Außenanlagen der vielen Katzen vorbei schlenderten.

„Nur Mut! Wenn dir einer von ihnen zusagt, frage ich nach, ob er verkäuflich ist und adoptiert werden kann. Dann überschlafen wir deine Wahl noch einmal eine Nacht und holen ihn morgen früh zusammen ab. Für unseren Neuzugang müssen wir dann nämlich einen Transportkäfig mitbringen.“

„Ist klar“, erwiderte ich.

An jeder der vergitterten Außenanlagen hingen kleine Schildchen mit Fotos und kurzen Informationen über die jeweiligen Bewohner. Manche der Bilder waren von der Sonne ziemlich verblichen. Das bedeutete wohl, dass die Insassen bereits seit längerer Zeit hier lebten und sie bisher niemand haben mochte.

Name: Bubi

Alter: 4 – 5 Jahre

Rasse: EKH

Einzugsdatum: 12. Jan.

Grund: Streuner

Als wir an dem extrem traurig guckenden Tigerkater vorbeikamen, fragte ich ihn einfach: „Hallo Bubi! Möchtest du von meiner Dosine adoptiert werden und in Zukunft bei uns wohnen? Zusammen mit mir natürlich! Ich bin die Chefin!“

„Ja, ich will!“, erwiderte er ohne groß nachzudenken. Plötzlich sah er auch nicht mehr allzu unglücklich aus.

Nachdem sich Elke bei einem der Tierpfleger erkundigt hatte, kam das dicke Ende.

Sie sagte: „Fritzi, leider können wir den schönen Kater nicht aufnehmen. Bubi passt nicht zu uns. Er ist ein ehemaliger Streuner, der nach regelmäßigem Freigang verlangt.“

„Den bekommt er doch hier bestimmt auch nicht.“

„Das ist vermutlich auch der Grund, warum Bubi im Tierheim recht unglücklich ist.“

Als ich dem Kater die negative Entscheidung überbringen und auch begründen wollte, erwiderte er resigniert: „Ich bin jederzeit umzugsbereit. Mein Köfferchen ist bereits gepackt. Aber meine Freiheit geht mir über alles. Die lasse ich mir nicht nehmen.

Auch nicht von dir!“

„Dann pack deinen Koffer wieder aus!“, erwiderte ich leise. „Bei uns im Hasenpfad ist inzwischen arg viel Verkehr. Auch mich lässt meine Dosine nicht mehr unbeaufsichtigt vor die Tür, um meine Freunde auf dem Kiez zu treffen.“

Als er das hörte, drehte sich Bubi enttäuscht um. Mit schleppenden Schritten und hängendem Kopf ging er langsam durch das vergitterte Freigelände zu einem Katzentürchen auf der gegenüberliegenden Seite, durch das er im Gebäude verschwand.

*

Wir gingen weiter. „Hallo, Schönheit!“, miaute wenige Augenblicke später ein prächtiger Kater mit durchdringender Singstimme. Am Gatter seines Auslaufs stand Amadeus.

Offensichtlich hatte der aparte Braune thailändische Vorfahren, denn seine kornblumenblauen Augen strahlten in seinem Gesicht so hell, als würden zwei LED-Lämpchen hinter seinen Augäpfeln glühen.

„Prinzessin, bleib mal stehen und sieh zu mir herüber!“, rief er. Kaum hatte ich ihn ein wenig gemustert, miaute er mit vorwurfsvoller Stimme: „Wo warst du die ganze Zeit? Ich warte schon sooo lange auf dich! Jeden einzelnen Tag habe ich dich herbeigesehnt! Ich bin ein Gato (Kater) von den Kanaren und würde gut zu dir passen!“

Name: Amadeus

Alter: 3 – 4 Jahre

Rasse: Siammix

Einzugsdatum: 28. Juni

Grund: unerwünscht

„Elke, den nehmen wir! Der sagt mir zu“, rief ich spontan. „Amadeus ist exotischerotisch, nimmt kein Blatt vor den Mund und spricht aus, was er denkt. Er ist weit gereist, genau mein Typ und der ungestillte Traum meiner schlaflosen Nachmittage! Er gefällt mir! Wirklich!“

„Bist du dir da auch ganz sicher?“, fragte meine Dosine. Schmerzlich verzog sie ihren Mund. Gleichzeitig bohrte sie mit beiden Zeigefingern in ihren Gehörgängen herum. Mehrmals nickte ich. „Fritzi, du solltest bedenken, dass seine Stimme arg laut und mega-dominant ist. Durchdringend schrill wie eine Kreissäge klingt sie außerdem!

Bestimmt schallt sie vom Hasenpfad bis hinunter zum Südbahnhof.“

Richtig traurig wurde ich dann, als uns eine Tierpflegerin mit Namen Gisi die bisherige Lebensgeschichte des Katers erzählte: „Soviel ich weiß brachte ein junges Paar den Siamesen von der Insel La Gomera mit. Zusammen mit anderen Katzen lief er dort in dem kleinen Hafen hin und her und bettelte die Touristen um Essen an. Wieder daheim angekommen merkten die jungen Leute, dass ihr neues Haustier noch weitere Ansprüche an sie stellte, als nur ein Schüsselchen mit Futter und Wasser zum Trinken.

Kurzerhand verschenkten sie deshalb ihr Kanaren-Souvenir an Freunde. Bei denen blieb er aber auch nicht lange. Als ihnen das Schmusebedürfnis des Katers lästig wurde, reichten sie ihn wie einen Wanderpokal an andere Leute weiter. Einer seiner ehemaligen Besitzer brachte den Unerwünschten dann zu uns. Der verschmuste Amadeus ist schon ganz lange hier!“

„Elke, weißt du noch, kurz bevor die Corona-Seuche bei uns ausbrach, fuhren wir mit der Fähre von Teneriffa nach La Gomera“, miaute ich aufgeregt. „Ich erinnere mich noch gut an das Hafenstädtchen San Sebastián, den Schiffsanleger und die dortigen Katzen (Fritzi-Band IX). Aber Amadeus war nicht dabei. Da bin ich mir sicher. Sein zartes Stimmchen und sein schönes Aussehen wären mir bestimmt aufgefallen!“

„Das mag sein“, meinte Elke. „Möglicherweise wurde Amadeus erst ein Jahr später geboren.“

Gisi fuhr fort: „Es ist wirklich zu schade, aber leider ist der Kater unsauber. Sein Verhalten hat irgendwann einen Knacks abbekommen und wir wissen nicht, wie wir den beheben sollen. Wir vermittelten ihn bereits mehrfach an verständnisvolle Leute, aber nach wenigen Tagen wurde der Schöne immer wieder zurückgebracht. Für Amadeus suchen wir jetzt Leute, die einen eigenen Garten besitzen mit einem Außenzwinger, in dem er sich nach Wunsch und Laune aufhalten kann, denn er ist ein Freigeist. So wollen wir vermeiden, dass wir ihn nach seiner nächsten Vermittlung als chronischen Pisser erneut retourniert bekommen. Hier bei uns ist er sicher; bei uns darf er bleiben, auch wenn er jedes einzelne unserer Klos verweigert.“

„Der schöne Amadeus leidet bestimmt unter einer ausgeprägten Verlustangst, die mit extremer Sensibilität und psychosozialer Notlage gepaart ist“, verteidigte ich ihn.

Eine ähnliche Diagnose hatte ich unlängst in der Sendung Herrchen gesucht im TV gehört. „Dafür kann er nichts. Wir sollten ihm eine Chance bieten, um seine Nerven mit Antistress-Pheromonen aus Gamanderkraut, Baldrianwurzeln, Geißblatt und Katzenminze zu beruhigen, damit er bei uns daheim endlich zur Ruhe kommt. Das kriegen wir bestimmt hin. Wir schaffen das!“

„Bist du eine ehemalige Mitarbeiterin von Angela Merkel?“, fragte mich meine Dosine skeptisch. „Wie willst du das denn anstellen? Du weißt doch, dass wir keinen Zwinger im Garten besitzen. Hast du etwa vor, dem Kater täglich ein frisches Windelhöschen anzuziehen oder willst du bei ihm alle zwei Stunden seine nassen Pampers gegen trockene auswechseln?“

„Durch sein Markieren demonstriert Amadeus doch nur seine Unsicherheit. Bisher zeigte er deutlich, sowohl nonverbal als auch unmissverständlich, dass ihm in seinem jeweiligen neuen Zuhause alles gehört, egal ob er es dort hübsch oder hässlich fand.“

„Willst du dich etwa dem schönen Pisser unterordnen? Vermutlich hat er eine Zwangsstörung, die keiner von uns ändern kann. Fritzi, denk nach! Du hast doch ein feines Näschen. Willst du den sich täglich mehrfach erneuernden Ammoniak-Gestank seines Urins tolerieren?“ Meine Dosine sah mich durchdringend an.

„Ich weiß nicht, ob ich das möchte“, erwiderte ich zögernd und zog meine Nase kraus. „Demnächst in meinem Heim von einem eingewanderten Ausländer jeden meiner Gegenstände mit Pisse als sein alleiniges Eigentum markiert zu bekommen, das finde ich uncool und irgendwie auch antisozial.“

Nachdenklich fuhr meine Perle fort: „Wenn ich es positiv betrachte, spricht allerdings einiges dafür, dass wir Amadeus bei uns aufnehmen. Dann bräuchte ich nämlich in Zukunft keine zusätzlichen Tüten Hygienestreu von der Drogerie nach Hause zu schleppen, da es dein Partner in spe ja tunlichst vermeidet, eine der aufgestellten Getränkerückgabestellen (Klos) zu benutzen.“ Elke kratzte sich so lange am Hals, bis rote Striemen entstanden. Dann fuhr sie fort: „Allerdings spricht gegen seine Adoption, dass wir anschließend daheim für die Dauer von circa 15 Jahren nur mit weit geöffneten Fenstern schlafen könnten! Natürlich auch im Winter.“

Nach reiflicher Überlegung musste ich zugeben, dass mir die Argumente ausgegangen waren. Deshalb erwiderte ich: „Du hast mich überzeugt. Amadeus wird leider vorerst hierbleiben.“

*

Im nächsten Außenauslauf hatte man eine Familie reinrassiger Katzen untergebracht.

Name: Fedora und Fjodor (Eltern)

Rasse: Russisch Blau

Alter: 4 – 6 Jahre

Kinder: Jekaterina, Wladimir, Ivan

Alter: 10 Monate

Kitten: Tatjana, Galina, Dimitrij, Igor, Sergej

Alter: 5 Wochen

Einzugsdatum: 3. Februar

Grund: Anzeige der Nachbarn

„Da hat wohl jemand umständehalber seine Edelkatzen-Zucht aufgelöst und wollte die Tiere so schnell wie möglich loswerden“, vermutete Elke. „Oder das Veterinäramt hat sie einem angeblichen Züchter wegen grottenschlechter Haltung weggenommen und sie zu ihrem Schutz beschlagnahmt.“

„Als Lebensgefährte kommt ein Russe für mich nicht in Frage!“

Diese Möglichkeit wies ich auch körpersprachlich rigoros ab, indem ich meine beiden Arme aus dem Kängurusäckchen herausstreckte, die Finger spreizte und meine gebogenen Spikes so weit wie möglich ausfuhr. „Mit einem Russen kann ich nichts anfangen. Wie inzwischen bereits jedem Kitten bekannt ist, sind Russen alle stinkfaul.

Sie saufen den ganzen Tag und verprügeln nachts ihre Frauen.“

„Hoch lebe dein rassistisches Vorurteil gegen alle Kaukasier!“, kommentierte meine Sherpa die in Felidae-Kreisen allgemein bekannten Erfahrungswerte und nachweisbaren Tatsachen.

„Du sollst ja auch nicht mit einem Russen zusammenleben!“, erwiderte ich aufgebracht. „Du nicht!“

*

Im nächsten Zwinger befanden sich zwei junge Mütter mit ihren Würfen. Der Pelz der einen Kätzin war sehr kleidsam zweifarbig auf weiß gefärbt. Das erinnerte mich gleich an meine schöne Mutter.

Das Fell der anderen glänzte mausgrau. Dazu trug sie schneeweiße Handschuhe und kleidsame Stiefelchen.

Obwohl ich an Kätzinnen nicht sonderlich interessiert war, sondern eher an Katern, blieben wir stehen.

Name: Alma (tricolor)

Rasse: EKH

Alter: ca. 7 Monate

Einzugsdatum: 7. Sep.

Grund: trächtig in Fallen gefangen

Name: Naomi (grau)

Rasse: EKH

Alter: 1 – 2 Jahre

Einzugsdatum: 8. Sep.

Als mich die junge Glückskatze entdeckte, stand sie sofort auf und kam zum Gatter gelaufen. Durch einen Spalt versuchte sie ihre Pfötchen zu mir nach draußen zu stecken.

„Liebes, was ist passiert, dass du jetzt hier im Heim wohnen musst? Bist du eine minderjährige Vollweise, die noch kein eigenes Personal gefunden hat? Oder ist es dir gelungen, aus einem Versuchslabor auszubrechen?“

Als sie das hörte begann mir die Schöne ihr Leid zu klagen: „Tantchen, mein Name ist Alma (Spanisch: Seele). Ich wurde letzten Vollmond hochschwanger in einer Falle gefangen, als ich extrem hungrig war und einen Happen essen wollte.“

„Was war zuvor passiert? Hattest du kein Zuhause und auch keinen Partner?“

„In unserer ersten gemeinsamen Nacht, der keine weiteren folgten, sagte der Vater meiner Kinder, er hieße Hubertus und wäre total in mich vernarrt. Er gab damit an, dass sein Personal Englischlehrer an einem Gymnasium wäre, der ihm daheim Privatunterricht erteilt. Seinen Lebensunterhalt würde er als freiberuflicher Final Event Manager (Bestatter) verdienen, log er. Die Geschäfte gingen so gut, dass er problemlos eine Frau ernähren könnte.“ Alma schluchzte jetzt: „Ich ging davon aus, dass ich ein wichtiger Teil unserer zukünftigen Partnerschaft sein würde. Aber fasch gedacht, denn sonst wäre ich jetzt nicht alleinstehend und hier im Heim eingesperrt.“ Sie stöhnte laut auf.

„Mein angeblicher Bräutigam schwor mir beim Barte der Großen Katzenfee, dass seine Liebe unendlich wäre und er mich auch dann noch auf Händen tragen würde, sollte sich eines fernen Tages die Erde andersherum drehen. Das waren seine letzten Worte, bevor sich das Lügenmaul aus dem Staub machte. Später stellte sich heraus, dass auch seine Berufsbezeichnung falsch war, denn Hubertus verdiente seinen Lebensunterhalt als Kammerjäger. Das habe ich nun von meiner Gutgläubigkeit und meinem Vertrauen!“

Sie zeigte mit dem Pfötchen auf einen kleinen Knäul zusammengedrängter Köpfe, Arme, Beine und winziger Schwänze. „Sechs kleine Rotznasen, jede Menge Probleme und zahllose Sorgen!“

‚Machen wir nicht alle unzählige Fehler, nicht nur wenn wir jung und unbedarft sind, sondern auch noch in den späteren Jahren?‘, dachte ich, als ich Almas Geschichte gehört hatte.

„Meine Liebe, vergiss so schnell wie möglich deinen untreuen Liebhaber! Rollende Steine kann man nicht aufhalten!“, versuchte ich sie zu trösten. „Du bist eine bildschöne dreifarbige Glückskatze, auch Calico genannt. Und clever bist du außerdem. Bestimmt wirst du demnächst einem Kater begegnen, der dich über alles mag, der es ernst mit dir meint und der dich nicht anschwindelt. Wenn du ihn getroffen hast, dann drückst du ihn an dich und hältst ihn mit beiden Armen gaaanz fest!“

„Danke für deinen Zuspruch, liebes Tantchen“, miaute Alma. „Wie soll ich dich eigentlich ansprechen?“

„Ich höre auf den Namen Fritzi“, erwiderte ich leichthin. „Aber obwohl ich nicht schwerhörig bin, lasse ich mich von meinem Personal gelegentlich auch öfters rufen, bevor ich mehr oder weniger zeitnah darauf reagiere.“

*

„Ich möchte mit meinen Kindern auch so rasch wie möglich aus diesem Heim ausziehen“, miaute Naomi jetzt. „Sobald sie abgestillt sind ziehen wir um!“

Dann quatschten wir noch ein Weilchen miteinander bis wir uns verabschiedeten.

Beim Weitergehen dachte ich bekümmert: ‚Wer (wie ich) von der heutigen Generation Z als Tante Fritzi tituliert wird, muss bereits uralt sein, wenn nicht gar antik.‘

*

„Vermutlich ist das hier eine Art Bullenknast“, sagte meine Dosine, als wir vor einem weiteren Gehege standen, in dem sich mehrere Kater aufhielten. Sie las mir die Namen und Daten der Insassen vor. Einer interessierte mich.

‚Das glaube ich nicht!‘, dachte ich empört. ‚Bereits seit dem Tag nach Weihnachten ist der schöne Kerl im Heim.‘

Name: Ignatz

Rasse: EKH

Alter: ca. 5 Jahre

Einzugsdatum: 27. Dez.

Grund: kratzt und beißt

„Ignatz, was hast du verbrochen, dass du im hiesigen Shelter abgegeben wurdest?“, fragte ich.

Ein gut genährter schwarzweißer Kater kam jetzt zum Gatter geschlendert und erwiderte: „Das weiß ich auch nicht so genau. Als ich noch bei Oma-Else in Koblenz wohnte, war alles palletti, denn ich war ihr Sonnenschein, ihr Baby und ihr kleiner Liebling. Als es Winter wurde musste sie ins Krankenhaus und ich kam zu ihrem Sohn und seiner Frau. Die mochten mich aber nicht besonders leiden. Ein paar Tage wohnte ich bei ihnen in der Garage, denn in die Wohnung durfte ich nicht hinein. Aus Gesprächsfetzen der Zweifüßer bekam ich mit, dass Oma-Else nicht wieder in ihre Wohnung zurückkehren wird, weil sie jetzt ein Pflegefall ist. Daraufhin gab ihre Schwiegertochter bei Ebay eine Annonce auf. Darin schrieb sie, dass ich, der sanfte und brave Kater Ignatz, für nur fünf Euro zeitnah abzugeben sei.“

„Waaas? Du wurdest über eine Kleinanzeige an wildfremde Leute regelrecht verschenkt?“

„Ja, so war es. Wenige Tage später wurde ich in einen Karton gesteckt. Fremde Leute nahmen mich im Auto von Neuwied mit nach Bad Homburg. Dort sollte mich an Heilig Abend der Weihnachtsmann als Geschenk dem Mädchen Alexa-Schantall bescheren.“

„Wie bitte? Du fungiertest als Weihnachtspräsent für ein unbekanntes Kind?“

„Es wird wohl so gewesen sein. Jedenfalls stellte sich Alexa-Schantall als ein schrill plärrendes und wild um sich schlagendes Mädchen heraus!“

„Was ist dann passiert?“

„Nicht viel. Als das Kind den mit Geschenkfolie verpackten Karton ausgewickelt hatte, in dem ich saß und mich ängstigte, fing es vor Enttäuschung oder aus Wut an laut zu weinen und mit den Füßen zu trampeln, denn vom Weihnachtsmann hatte es sich ein rosa Kaninchen zum Spielen gewünscht.“

„Wie bitte? Du solltest als Ersatz für ein pinkes Karnickel dienen?“ Ich konnte es nicht fassen. „Aber Kaninchen sind nicht rosa. Außerdem dürfen sie nur im Rudel gehalten werden. Das weiß doch jeder, der für fünf Cent Grips in der Birne hat!“

„Wie dem auch sei, als mich Alexa-Schantall kurz nach dem Abendessen in eine Zimmerecke trieb, sich bückte und nach mir griff, fauchte ich warnend. Aber statt mich loszulassen, zog sie mich an meinem Schwanz zu sich hin. Daraufhin wehrte ich ihre Hände mit meinen Pfoten ab. Dabei muss ich sie versehentlich mit meinen Krallen berührt haben, denn zwei der roten Striche auf ihrer Hand öffneten sich plötzlich und ein bisschen roter Saft lief aus. Das Kind schrie wie am Spieß, als hätte ich ihr einen

Finger abgekratzt. Statt das plärrende kleine Monster zu beruhigen brüllte die ganze Sippe laut durcheinander. Sie liefen hin und her und suchten nach einem Pflaster, als würde das Kind verbluten. Um mich kümmerte sich niemand, denn ich hatte mich unter dem Sofa versteckt. Nachdem die Kinderhand mit einem dicken Verband geschmückt wurde, denn ein spezielles Kinderpflaster hatte sich nicht gefunden, verbannte man mich auf den Balkon. Dort war es arg kalt, aber ich hatte meine Ruhe.“

„Gab es für dich dort ein wetterfestes Häuschen, ein Klo, etwas zu essen und zu trinken?“

„Ja, nein, ich weiß nicht. Ein Bettchen mit warmen Kissen gab es jedenfalls nicht.

Später bekam ich Trockenfutter hingestellt und eine Schüssel mit Wasser. Das war am nächsten Morgen zu Eis gefroren, taute aber gegen Mittag wieder auf. Wenn ich musste, pullerte ich in die Blumenerde der bereits verwelkten Geranien, die in großen Kästen auf dem dortigen Fußboden standen. Man ließ mich eine lange Zeit warten, in der ich ganz allein war und schrecklich fror. Manchmal beobachtete mich Alexa-Schantall durch die gläserne Balkontüre und streckte mir die Zunge heraus. Sie ließ mich aber nicht ins warme Zimmer hinein. Ich weinte viel und rief nach Oma-Else, die aber nicht kam.“

„Und was ist dann passiert?“ Ich konnte meine Ungeduld kaum verbergen und trippelte von einem Fuß auf den anderen.

„Weil das Tierheim über die Feiertage geschlossen war, brachte man mich erst am Tag nach Weihnachten hierher. Als Abgabegrund wurde angegeben, ich sei sozial unverträglich, hätte grundlos ein Kind angefallen, es gekratzt und blutig gebissen.“

„Ich kann es kaum glauben!“, erwiderte ich fassungslos.

„Beim Barte der Großen Katzenfee, jedes meiner Worte ist wahr!“, beendete Ignatz seine bisherige Lebensgeschichte.

*

Im selben Freigehege wie Ignatz befanden sich auch Klausi, Viktor, Moritz, Alexander und Konstantin, die mich alle interessiert beobachteten.

„Hallo ihr Lieben!“, grüßte ich. „Wer von euch ist denn der Alex?“

Name: Alexander

Rasse: EKH

Alter: ca. 8 Monate

Einzugsdatum: 14. März

Fundort: A3, ausgesetzt

Wie in Zeitlupe drehte sich ein noch junger Graulino um. „Mein Rufname lautet nicht Alex, sondern Verpiss dich!“

„So einen komischen Namen habe ich noch nie gehört“, erwiderte ich erstaunt.

„Vermutlich gibt es den auch gar nicht! Vielleicht bringst du da etwas durcheinander.“

Es entstand eine kleine Pause, bis ich es noch einmal versuchte. „Als du auf die Welt kamst, gab dir deine Mama bestimmt einen Geburtsnamen. Weißt du ihn noch?“ Als er nicht antwortete fragte ich weiter: „Später erhieltst du vermutlich von deinen Dosenöffnern einen Rufnamen.“

„Meine Mutti nannte mich Cosimo und meinen Zwillingsbruder Leander“, miaute der kleine Graue daraufhin. „Keiner der Leute, bei denen wir später kurz waren, gab uns einen Rufnamen. Unlängst warfen sie zuerst meinen Bruder aus dem fahrenden Auto und riefen: ‚Hau ab!‘ Etwas später stießen sie mich mit den Worten hinterher: ‚Verpiss dich!‘ Ich erinnere mich nur noch daran, dass sie rasch weiterfuhren.

„Oh, nein!“, erwiderte ich entsetzt. „Das ist ja ganz furchtbar! Was ist anschließend passiert? Hast du deinen Bruder wiedergefunden? Hoffentlich war er unverletzt!“

„Nein, Leander war wie vom Erdboden verschluckt. Neben mir rasten unzählige Autos vorbei, während ich auf dem Seitenstreifen ganz lange zurücklief, um ihn zu suchen. Die ganze Zeit rief ich laut nach ihm, aber ich fand ihn nicht. Als irgendwann später ein Auto auf der Standspur anhielt und mich eine Frau mit sanfter Stimme lockte, ging ich zu ihr hin. Sie hob mich hoch, drückte mich fest an sich und presste dann ihren Mund auf meine Stirn.

„Gerettet!“, sagte sie. „Dem Himmel sei gedankt! Aber was soll ich jetzt mit dir halben Portion anstellen?“ Das wusste ich auch nicht. Jedenfalls stiegen wir beide rasch in ihr Auto. Ich setzte mich auf den freien Sitz neben sie. Auf meinen vier Buchstaben hockend blickte ich gespannt aus dem Seitenfenster, in der Hoffnung, Leander doch noch irgendwo zu entdecken.“

„Offensichtlich wurde dein Wunsch nicht von Erfolg gekrönt.“

„Nein, das wurde er nicht. Kurz danach fuhr die Frau von der Autobahn ab. Dann telefonierte sie mehrmals. Anschließend brachte sie mich hierher.“

„Cosimo-Alexander, hier im Heim bist du erst einmal sicher. Du bekommst regelmäßig gesundes Essen und Wasser zum Trinken. Einen Rufnamen hast du inzwischen auch. Bestimmt wirst du demnächst von eigenem Personal adoptiert werden. Bis dahin wünsche ich dir noch ganz viel Glück!“

„Das wünsche ich dir auch“, erwiderte der dünne Kater mit dem ehemaligen Rufnamen Verpiss dich.

*

Neben dem Außengehege der bereits erwachsenen Kater befand sich der Freisitz der kürzlich im Heim abgegebenen Kitten oder anderweitig eingefangenen Halbwüchsigen.

Zahlreiche Fotos der momentanen Insassen, beschriftet mit Namen und Daten, hingen an dem Drahtverschlag, der ihre Terrasse umgab. Anscheinend wohnten hier die Jugendlichen Willi, Wolli, Molli, Wolfi, Milli, Mimi, Mini, Maxi und Mopsi. Keiner von ihnen schien älter als ein halbes Jahr zu sein. Farblich und gewichtsmäßig unterschieden sie sich ein bisschen voneinander. Es gab nicht nur rote, schwarze, graue, getigerte, gestromte und gefleckte Kätzchen, sondern auch dreifarbige. Einige von ihnen trugen weiße Pfötchen, andere hatten weiße Flecken um ihre Münder, unter dem Kinn oder am Bauch.

Neugierig blieben wir einen Moment an ihrem Gehege stehen und sahen den Kleinen zu, wie sie spielerisch miteinander rauften und sich gegenseitig ein Bällchen abjagten.

Als uns einer der Lütten bemerkte, kam er sofort zu dem Gatter gelaufen und begann den Draht zu erklimmen.

„Du bist aber ein gaaanz besonders Süßer“, gurrte mein Lieblingsmensch und guckte den winzigen Graulino verliebt an. Zeitgleich begann sie selig von Ohr zu Ohr zu grinsen, als hätte sie gerade erfahren, dass er ein verzauberter Prinz ist und nur auf sie gewartet hat. Zärtlich kraulte sie den Kleinen mit ihren Fingerspitzen unter seinem winzigen Kinn, was er mit aufdringlich lautem Schnurren und gelegentlichen winzigen Quieksern quittierte.

Als ich das ungebührliche Verhalten meiner Dosine bemerkte, sank meine Laune umgehend unter den Gefrierpunkt. Zeitgleich schnürte sich meine Luftröhre zusammen.

Ich begann zu japsen: „Setzt bei dir jetzt etwa spontaner Milchfluss ein?“

Nein, ich war auf den kleinen Scheißer nicht eifersüchtig. Ich mochte ihn nur nicht leiden. Kein bisschen.

„Fritzi, schau doch mal genau hin, wie hübsch das kleine Katerchen ist!“, flötete Elke. „Er ist noch ein richtiges Baby. Findest du ihn nicht auch mega-niedlich?“

„Nein! Bestimmt nicht! Ich mag keine fremden Kitten“, erwiderte ich rasch. „Es gibt viel zu viele von ihnen. Wenn die sich alle in absehbarer Zukunft wie die Karnickel vermehren, gibt es bald nicht mehr genug Essen für uns.“

„Hallo Tantchen!“, rief der aufgeweckte Bengel und streckte seine Pfötchen durch das Gatter. Als ich nichts erwiderte, fuhr er fort: „Oder bist du meine neue Muddi?“

Erschrocken fauchte ich, aber er plapperte gleich weiter: „Ich bin der Wolfi. Und die dort drüben sind meine Geschwister!“ Er zeigte auf die Rasselbande.

Angewidert verzog ich meinen Mund. Um nichts Ungebührliches zu sagen presste ich meine Lippen zu einem Strich zusammen. Obwohl mir meine Dosine nicht zuzuhören schien, fuhr ich fort: „Der heutige Nachwuchs ist mir zu anstrengend! Vermutlich wird sich aus diesem so gar nicht niedlichen Fratz – mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit – innerhalb des kommenden Monats ein frecher, vorlauter Rüpel entwickeln!“

„Schatz, sag doch so etwas bitte nicht! Ich finde den Kleinen bezaubernd.“

„Jedenfalls kommt der Rotzbengel für mich als zukünftiger Partner nicht in Frage!“, miaute ich ablehnend. „Noch nicht einmal in die engere Wahl kommt er. Das brauchen wir auch nicht mehr länger zu diskutieren.“ Um das Thema Wolfi endgültig als ad absurdum (als unlogisch) zu beenden, fügte ich energisch hinzu: „Was denkst du denn von mir? Ich bin doch kein Ödipussi!“

„Ich glaube, der Konflikt heißt irgendwie anders“, erwiderte Elke zögernd. „Wie er in der Psychologie fachmännisch genannt wird, ist mir momentan nicht geläufig. Verfilmt wurde das damalige Reizthema seinerzeit in Die Reifeprüfung mit Dustin Hoffman und Anne Bancroft.“

Mit diesen Worten ging sie weiter. Da ich in meinem Känguru-Säckchen saß, den sie auf ihrem Rücken trug, musste ich mit. Nein, dem kleinen Wolfi winkte ich zum Abschied nicht mehr zu.

Im Nachbargehege waren mehrere erwachsene Kätzinnen untergebracht. Sie hießen Corinna, Babsi, Lexi, Emma, Lisa-Marie und Mina.

„Hallo meine lieben Cousinen!“, begrüßte ich sie freundlich. „Wer von euch ist denn auf dem Foto die Schöne mit den blauen Augen?“

„Das bin ich“, erwiderte eine weiße Katze, die ich bisher noch nicht wahrgenommen hatte, da sie zusammengerollt in einem der Körbchen lag, die nebeneinander oben auf einem Regal standen. Langsam erhob sie sich jetzt, gähnte ausgiebig, reckte alle Knochen, streckte genüsslich jeden einzelnen Muskel und dehnte jede Sehne.

Name: Mina

Rasse: Chinchilla

Alter: ca. 6 – 7 Jahre

Einzugsdatum: 24. Okt.

Fundort: Zeitungsanzeige

Anschließend betrat sie vorsichtig ein mit Kordeln umwickeltes Brett, das schräg nach unten an dem Regal befestigt war. Wie ein Modell auf dem Catwalk kam sie gemächlichen Schrittes und wiegenden Hüften auf Elke und mich zu. Dynamisch und temperamentvoll sah es nicht gerade aus.

„Wer hat mich gerufen?“, fragte sie verschlafen und blickte sich um. Dabei sah sie mich durch den Drahtzaun mit ihren großen saphirblauen Augen an. Mir schien es fast, als hätte sie sich heute früh mit einem Kajalstift einen Lidstrich um ihre Augen gezogen.

„Ich bin‘s, die Fritzi Kullerkopf!“, erwiderte ich rasch. „Entschuldige bitte, sollte ich dich beim Meditieren gestört haben. Eigentlich bin ich auf der Suche nach einem Lebensgefährten. Aber bisher habe ich noch nie eine Verwandte mit blauen Augen getroffen, es sei denn, dass sie eine Thailänderin war. Du weißt schon, eine Zugezogene aus dem fernen Siam.“

„Meine genaue Rassezugehörigkeit lautet Chinchilla-Perser“, erwiderte Mina müde.

„Das hat etwas mit der Farbe meines dichten Pelzes zu tun, denn jede einzelne Haarspitze ist ein wenig dunkler gefärbt. Allerdings ist meine Augenfarbe nicht perfekt.

Sie müsste mehr grün sein.“

„Aha“, antwortete ich beeindruckt, aber nicht überzeugt. „Die Perser, die ich bisher kennengelernt habe, waren alles entfernte Verwandte mit winzigen oder kaum vorhandenen Nasen, durch die sie kaum Luft bekamen und deshalb ständig röchelten.“

„Ich kann durch meine gut atmen“, sagte Mina. Bestätigend begann sie jetzt laut zu schnurren.

„Du hast auch eine wunderhübsche Nase, nicht zu lang und nicht zu kurz. Sie ist perfekt. An ihr gibt es nichts zum Aussetzen. An der Farbe deiner Augen auch nicht.

Aber sag einmal, wie kommt es, dass du hier im Heim bist? Hast du keine eigenen Zweifüßer, mit denen du dir ein Domizil teilst und die dich bedienen?“

„Nein, ich hatte noch nie eigenes Personal, nur einen Mann, der mir täglich etwas zum Essen und Trinken hingestellt hat. Manchmal brachte er einen Kater mit, der mich dann mehrmals bestieg, ob ich es wollte oder auch nicht. Einen oder zwei Monde später bekam ich dann Kitten, die ich alle sehr geliebt habe. Aber kaum waren sie halbwegs entwöhnt und kurz davor abgestillt zu werden, nahm sie mir der Mann weg. Jedes Mal.

Wenn ich vor Verzweiflung um den Verlust meiner Kinder laut geweint habe und anschließend aus Verlangen und Sehnsucht nach ihnen trauerte, brachte er wieder den Kater vorbei und alles begann erneut von vorn. Immer wieder.“

‚Was für ein furchtbares Leben!‘, dachte ich empathisch. ‚Karma, bist du blind?‘

Obwohl Rechnen nicht gerade zu meinen Kernkompetenzen gehört, versuchte ich es jetzt. Mit Hilfe meiner Finger klappte es irgendwie. Ich kam zu einem erschreckenden Ergebnis. Wenn Mina in den vergangenen 5 Jahren zweimal jährlich jeweils 4 bis 6 Kitten geboren hatte, musste sie inzwischen 50-fache Mutter sein. Möglicherweise waren es aber auch noch etliche Geburten mehr gewesen und sie hatte noch weitere Kitten entbunden.

„Mina, meine schöne Cousine!“, sagte ich mit zitternder Stimme. „Wie kommt es, dass du hier im Heim gelandet bist?“

„Ich wurde freigekauft“, erwiderte sie fast tonlos.

Na ja, frei sah für mich irgendwie anders aus.

„Der Mann hatte mich in der Zeitung als Zuchtkatze angeboten, weil er angeblich nicht mehr züchten wollte. Auf einem Parkplatz wurde ich meinem neuen Besitzer ausgehändigt. Ich erinnere mich noch an das Wort umständehalber, das mehrmals gefallen ist. Wie es kam, dass ich hierher zu den anderen Katzen gebracht wurde, weiß ich nicht. Mir scheint alles schon unendlich lange her zu sein. Ich bin sooo müde.“

„Mina, meine Liebe! Ich wünsche dir von Herzen, dass du bald adoptiert wirst und dein eigenes Personal bekommst, das dich mit nach Hause nimmt, dich gern hat und dich nach Strich und Faden verwöhnt!“

„Danke. Das wäre schön. Das wünsche ich mir auch.“

Nach diesen Worten drehte sie sich um und kletterte über das Brett zurück auf das Regal. Ich wartete noch so lange, bis sie sich eines der Bettchen ausgesucht hatte. Darin drehte sie sich jetzt dreimal im Kreis, genau wie es seinerzeit unsere Vorfahren in der Steppe getan hatten, bevor sie sich hinlegten. Von dort, wo ich in Elkes Rucksack saß, konnte ich sie jetzt nicht mehr sehen.

*

„Fritzi, möchtest du dich noch länger mit anderen Kätzinnen und Katern unterhalten?“

„Nee, für heute habe ich genug Tragisches und Deprimierendes erfahren“, erwiderte ich. „Mir reicht es. Lass uns heimfahren.“

Kurz danach verließen wir das Tierheim.

*

Auf dem Weg zu der weit entfernten Haltestelle auf der Hanauer Landstraße dachte ich: ‚Vielleicht hätten wir noch den Farbratten, Goldhamstern und Tanzmäusen einen Höflichkeitsbesuch abstatten sollen. Möglicherweise wäre auch ein späterer Aufenthalt im Domizil der Wachteln, Nymphensittichen, Zebrafinken, Rosenköpfchen, Kanarienvögeln und Wellensittichen erbaulich gewesen. Ganz sicher hätte er uns erheitert und auch auf andere Gedanken gebracht.‘

Das verpasste Treffen mit Findus von Herrstein

An einem sonnigen Tag im Mai fuhren Elke und ich nach Idar-Oberstein. Bei einem der dortigen Schmuckhändler wollte meine Dosine für ihre nächtlichen Kettenbasteleien kleine Zwischenteile und Verschlüsse aus Sterlingsilber erwerben. Bis zum Ausbruch der Corona-Seuche kaufte sie diese – entweder im Frühjahr auf der Konsumgütermesse Ambiente oder im Spätsommer auf der Tendence – am Stand des indischen Importeurs.

Obwohl inzwischen kaum noch jemand von Corona spricht und meine Dosine wieder mehrfach beide Messen besuchte, scheinen zahlreiche Großhändler die Frankfurt Fair zu meiden. Das hat wohl auch etwas mit den teuren Standgebühren zu tun.

Zuerst nahmen wir eine U-Bahn vom Südbahnhof zur Hauptwache. Dort stiegen um in eine S8, mit der wir über den Frankfurter Flughafen nach Mainz fuhren. Wenige Minuten nach unserer Ankunft in Rheinland-Pfalz wechselten wir in einen Regionalzug mit dem Fahrtziel Saarbrücken im Saarland.

‚In dieser Bummelbahn ist es bestimmt nicht erlaubt, während der Fahrt Blumen zu pflücken‘, dachte ich, als der Zug förmlich an jeder Milchkanne anhielt. Kaum nahm er anschließend ein wenig Fahrt auf, bremste er auch schon wieder ab. So zockelten wir von Örtchen zu Örtchen.

*

Gerade in dem Moment, als wir einen der vielen kleinen Bahnhöfe wieder verließen, fiel mein Blick auf den Namen Herrstein. Wie Schuppen fiel es mir von den Augen, dass im hiesigen Ort höchstwahrscheinlich mein Facebook-Freund Findus von

Herrstein wohnt. Mit dem graugetigerten Schönen bin ich seit Jahren befreundet, hatte allerdings bisher noch nicht die Ehre und das Vergnügen, ihn persönlich zu treffen.

‚Es ist doch zu blöd, dass mir meine Dosine zuvor nicht gesagt hat, dass unser Zug auch in Herrstein anhält‘, dachte ich verärgert. ‚Sonst wäre ich dort für ein Stündchen ausgestiegen und hätte Findus in seinem antiken Schloss meine Aufwartung gemacht.‘

So blieb mir nichts anderes übrig als aus dem Zugfenster nach dem schönen Prinzen Ausschau zu halten. Es war aber vergeblich.

In Idar-Oberstein trifft Fritzi einen Kater namens Mogadischu

Nachdem wir gefühlte Stunden später an unserem Fahrtziel angekommen waren, verließen wir den weit außerhalb des Stadtkerns gelegenen Bahnhof. Meine Dosine war erst wenige Schritte gegangen, da entdeckte ich, unmittelbar hinter der Brücke über den Iderbach, in einem Vorgarten einen entfernten Verwandten. Unterhalb des Hauses lag er in einem bepflanzten Steingarten zwischen den Blumen und sonnte sich.

„Elke, in dem Garten dort drüben sehe ich gerade einen Groß-Cousin von mir. Lass mich bitte mal rasch aus meinem Beutel heraus, damit ich ihn begrüßen kann und ein soziales Schwätzchen mit ihm halte.“

Nachdem meine Sherpa die Straße überquert hatte, blieb sie stehen. Neugierig scannte sie mit ihren Augen den am Hang liegenden Garten, um herauszufinden, wem mein Interesse galt. „Du kannst schon langsam weitergehen“, miaute ich, bevor ich mich unter dem Jägerzaun durchquetschte. „Ich komme gleich nach. Versprochen!“

„Aber du weißt doch gar nicht wo ich hingehen möchte!“

„Natürlich weiß ich das. Du willst zu dem indischen Silberhändler in der Mainzer Straße 34.“

„Hast du etwa zugehört, als ich gestern dort angerufen habe?“ Als ich nicht antwortete, rief sie mir nach: „Fritzi, ich warte lieber hier auf dich! Das ist bedeutend sicherer.“

Wenige Augenblicke später trat ein Mann aus dem Haus. „Kann ich Ihnen behilflich sein?“, fragte er in seinem Heimatdialekt. „Suchen Sie jemanden?“ Langsam kam er den Gartenweg hinunter.

„Nein, danke. Meine Fritzi und ich bewundern gerade ihre prächtige Schnurrbacke.“

Mit der Hand zeigte sie zuerst auf mich und dann auf den Kater.

Der eingebildete Schöne zeigte aber kein Interesse daran, sich mit mir zu unterhalten.

Nachdem ich ihn überaus freundlich begrüßt hatte, flötete ich mit sanfter Stimme: „Ist es Schicksal oder Zufall, dass ich dich heute hier antreffe?“

Statt auf meine Frage verbindlich zu antworten entgegnete er unwillig: „Du hast mich geweckt! Was willst du von mir?“ Bevor ich antworten konnte fuhr er mürrisch fort: „Geh gefälligst weg! Du verdeckst die Sonne!“