Die Katze hinter dem Wolkenglas - Susanne Stübe - E-Book

Die Katze hinter dem Wolkenglas E-Book

Susanne Stübe

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Beschreibung

Ivo und Stella könnten kaum unterschiedlicher sein. Zumindest auf den ersten Blick. Die eine ist Großstadt gewöhnt, die andere lebt in einer Kleinstadt, in der Ivo nun zur Schule gehen soll, nachdem sie Berlin fluchtartig verlassen hat. Aber - sie verweigert alles, was außerhalb des Hauses ihrer Tante Olivia stattfindet. Auf kuriose Weise bahnt sich ein Kennenlernen der beiden Mädchen an, nachdem Stella auf ihre sehr eigene Weise nicht nachlässt, Ivo endlich näherzukommen. Das aber wird zu einer Achterbahn, die sich beide so nicht vorgestellt haben. In tiefen Abgründen muss Ivo leiden und Stella scheinbar hilflos dabei zusehen. Aber das scheinbar unabwendbare Ende nimmt eine unerwartete Wendung ...

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Seitenzahl: 147

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Für alle, die anders sind

Die Katze hinter dem Wolkenglas

Ivo und Stella

eine Freundschaft mit Hindernissen

Stella fährt jeden Tag mit dem Fahrrad denselben Weg zur Schule. Durch die Siedlung, dann runter zum Fluss, die kleine Straße entlang. Jeden Morgen sieht sie die Weiden an den Ufern, das kleine Schloss oben auf dem Berg und den Fluss in einem anderen Licht. Die langsam dahinfahrenden Schiffe sind manchmal noch verborgen in dichten Nebelschleiern. Im Sommer spitzen die ersten Sonnenstrahlen über den Bergkamm. Und in ganz besonderen Wetterphasen, da schweben noch die letzten Flussgeister über dem Wasser. Tausende kleine Nebelfelder, die sich aus dem Wasser erheben. Das erinnert Stella an manches geliebte Märchen, in denen von Nixen und Meerjungfrauen erzählt wird.

Wenn Stella die Flussstraße verlässt, muss sie in einen anderen Stadtteil fahren, bevor sie ihre Schule erreicht. Beim Fahren schaut sie mal links, mal rechts zu den Häusern, Balkonen und Vorgärten und wundert sich, was sie da alles entdeckt. Auch schon frühmorgens.

Den alten Mann zum Beispiel, der immer mit kariertem Hemd, in kurzen Hosen und mit Kniestrümpfen bekleidet bei jedem Wetter, stets zur gleichen Zeit, zum Supermarkt geht. An der Leine zieht ihn ein Yorkshire-Terrier mit zwei kleinen Zöpfen und rosa Haarbändern hinter sich her. Im Supermarkt kauft er genau ein Brötchen. Die Tüte ist klein und bescheiden. Dann die Zwillinge, zwei Jungs, zehn oder elf Jahre alt, schätzt Stella. Die laufen brav an Mamas Hand links und rechts, jeder hat einen Schulranzen auf, und so werden sie zur Schule gebracht. Ob sie das freiwillig mit sich machen lassen?, fragt sich Stella zu diesem Begleitdienst.

Oder der immer vornehm gekleidete Arzt, der jeden Morgen in seinen superteuren SUV steigt, um ins Krankenhaus zu fahren, drei Straßen weiter. Dem würde nie im Traum einfallen, ihren Gruß zu erwidern, obwohl sie ihn schon ein ganzes Schuljahr lang freundlich grüßt, da sie seine Tochter kennt und bei ihnen mehrmals zu Besuch gewesen war.

Ach ja, dann ist da noch die Bildzeitung in einem großen Aufsteller vor der Bäckerei. Die gibt Stella jeden Tag den Skandal in Rot und Weiß vor, über den sie sich aufregen soll. Heute ist wieder der unfähige Kanzler dran, der es nicht schafft, die kleinen Leute mitzunehmen. Stella überlegt, wer denn alles mit klein gemeint sein könnte, und wohin er die kleinen Leute mitnehmen soll. Gehört sie auch zu den kleinen Leuten?

Aber lange denkt sie nicht darüber nach, denn ihr Blick wird auf ein großes Fenster gelenkt. Auf der anderen Straßenseite, durch einen kleinen Vorgarten von der Straße getrennt, sitzt in einem großen Panoramafenster eines netten, kleinen Hauses, eine grau getigerte Katze innen auf dem Sims. Das wäre ja nicht besonders erwähnenswert, aber was die macht, interessiert Stella dann doch. Deswegen bleibt sie mit dem Rad auf der rechten Fahrbahnseite stehen und sieht ihr zu.

Die Katze scheint irgendetwas zu verfolgen, denn immer wieder springt sie auf, steht manchmal sogar auf ihren Hinterbeinen und tappt mit ihren Vorderpfoten abwechselnd an die Scheibe, als würde sie – ja genau – als würde sie etwas fangen wollen. Stella geht über die Straße näher heran, bleibt am Zaun des Hauses stehen und betrachtet die Katze. Die lässt sich nicht ablenken. Nur ganz kurz streift Stella ihr Blick, ohne weiter auf sie zu achten. Sie jagt etwas – Stella geht wieder zwei Schritte zurück, und dann sieht sie es. Die Tigerkatze fängt ziehende Wolken, die sie hinter der Fensterscheibe beobachtet. Und nun erst schaut Stella selbst zum Himmel hoch, und tatsächlich bewegen sich unendlich viele kleine Wolkenformationen mit dem Wind – von Westen nach Osten. Wie lebendige Karawanen und ab und zu einzelne, kleine Wolkentiere. Das ist ja cool, denkt Stella. Eine Katze, die Wolken fängt!

Eigentlich könnte sie der Wolken fangenden Katze noch ewig zusehen, aber – oh je – ein Blick auf die Uhr zeigt fünf Minuten vor acht. Jetzt aber schnell in die Pedale treten, sonst kommt sie schon am ersten Schultag zu spät.

Stella hat mit dem neuen Schuljahr in die siebte Klasse der Karl-Weiner-Schule gewechselt. Es wird spannend werden, denn mit den zwei Freundinnen, die ebenfalls in ihre neue Klasse kommen, haben sich ja noch viele andere, zum Teil unbekannte, Schülerinnen für diese Schule entschieden.

Eilig hastet Stella die Treppen hinauf, sucht ihren Klassenraum und hetzt in letzter Sekunde zur Tür hinein, bevor die von der Klassenleitung geschlossen wird. Mit einem suchenden Blick taxiert Stella die Sitzordnung – und geht zu dem Schultisch, der noch frei ist. Naja, Linda hat sich mit Ulla zusammengesetzt. Selber schuld, denkt Stella, wenn ich wieder mal auf den letzten Drücker komme. Der Stuhl neben ihr bleibt leer.

Dann beginnen die üblichen, nervigen Kennenlernspiele. Stella verdreht die Augen und macht Linda ein Zeichen für ein Treffen in der Pause. Linda nickt.

Eine Ivo Winter müsste neben ihr sitzen, so jedenfalls sieht es die Namensliste von Frau Hartwig vor. Während sie der Lehrerin zuhört, wirkt der erste Eindruck nicht alarmierend. Noch scheint die Klassenleitung okay zu sein. Aber der erste Tag sagt eigentlich gar nichts, weiß Stella aus Erfahrung.

„Kennst du diese Ivo?“, fragt Stella in der Pause Linda, die gerade irgendetwas in ihr Handy tippt.

„Nö, keine Ahnung, wer das ist. Angeblich ist sie aus Berlin hierhergezogen. Sagt zumindest meine Mama.“ „Hm, vielleicht kommt sie ja gar nicht.“

Stella ist nicht begeistert von der Vorstellung, womöglich das erste Schulhalbjahr allein am Tisch zu sitzen. Andererseits wäre das besser, als den Platz mit jemandem teilen zu müssen, der doof ist.

Die ersten Schultage ziehen dahin, mal mehr, mal weniger interessant – und für so wenig Ertrag, denkt Stella, fährt sie jeden Tag, die lange Strecke. Aber immerhin führt sie an dem kleinen Haus vorbei, in dessen großem Fenster oft die Tigerkatze sitzt. Manchmal sind die Jalousien halb heruntergelassen, und manchmal ist ein bunter Vorhang zur Mitte gezogen. Tatsächlich findet Stella schon bald, dass dieses ominöse Panoramafenster einer Bühne gleicht, mal mit, mal ohne Katze.

Der Stuhl neben Stella bleibt weiterhin leer. Sie hat sich daran gewöhnt, die gesamte Tischplatte für ihre Ausbreitung zu nutzen. Meistens sieht es darauf aus, wie auf ihrem Schreibtisch zuhause. Ein grellbuntes Durcheinander von Stiften, Heften und Büchern. Dazwischen Kaugummipackungen, ein Comicheft, ihre Brotdose und eine Wasserflasche. Und ein paar Karotten, an denen sie heimlich knabbert, wenn es ihr langweilig ist.

Eines Tages, nach der Schule, fährt Stella gerade am Panoramafenster vorbei, da fällt ihr auf, dass es dort heute ganz anders aussieht. Auf der gesamten Fenstersimslänge sitzen Teddybären aller Art und Größe.

Dazwischen sind sternige Lichterketten gespannt. Eine über die Teddyköpfe hinweg, und eine windet sich um die Figuren wie eine dünne, beleuchtete Riesenschlange. Um manche Teddyhälse ist sie so geschlungen, dass es aussieht, als würde sie die Teddys erwürgen. Von oben herab hängen grüne und gelbe Seidentücher.

Stella bremst also scharf ab und schaut sich die Fensterdekoration von Nahem an.

„Was ist das denn für ein irres Stillleben?“, grummelt sie vor sich hin, während sie jeden Teddy eingehend betrachtet. Die Gesichter zeigen eine Bandbreite von fröhlich bis total traurig. Ungefähr drei Meter ist der Fenstersims lang. Also Teddys ohne Ende und keine Lücke dazwischen. Dicht gedrängt sitzen sie da, als würden sie sich gegenseitig wärmen. Stella braucht nicht viel Phantasie, um alle lebendig werden zu lassen. Die Seidentücher sind der Bühnenvorhang, die Lichter die Scheinwerfer, und die Teddys sind die Schauspieler. Was für ein Stück spielen die? Weshalb sind sie so angeordnet? Stella geht noch einmal ganz nah an die Fensterscheibe ran und versucht im Dunkel des Raums etwas zu erkennen. Angestrengt schaut sie hinein – aber sie kann sonst nichts sehen. Sie reißt sich von dem seltsamen Bühnenbild los und fährt nach Hause.

In den nächsten Tagen scheint sich im Fenster etwas ganz Neues zu entwickeln. Die Teddyparade war wohl nur der Anfang gewesen. Es ist jetzt so – morgens fährt Stella am völlig dunklen, fast schwarzen Fenster vorbei. Ab und zu sitzt die Katze im Fenster und meditiert vor sich hin, oder sie jagt erneut ihren Wolkentieren nach.

Mittags gibt es täglich skurrile Dinge zu entdecken.

Am Dienstag sind über das gesamte Fenster hinweg kreuz und quer bunte Schnüre gespannt. In manchen Schnurkreuzen klemmen entweder Blumen oder einzelne Figuren, als hätten sie sich in dem Schnurdurcheinander verfangen. Der Mittwoch ist mit phantastischen Farben gestaltet. Unzählige Stoffe sind auf dem Sims drapiert und hängen zudem auch von der Decke herab. Das wirkt wie ein orientalischer Bazar im Marokko-Reisebuch meiner Mutter, erinnert sich Stella.

Der Donnerstag bringt einen botanischen Garten. Pflanzen aller Art in Gläsern, Töpfen und Vasen stehen nebeneinander. Und Hängepflanzen begrünen von oben das Fenster. Ein Dschungel in Kleinformat.

Am letzten Schultag dieser Woche ist Stella total gespannt, was dieses Mal zu sehen sein wird. Sie fährt auf ihrem Rad in die Kurve, zum Haus und bleibt wie gewohnt auf ihrem Beobachtungsplatz stehen. Im Fenster ist – nichts. Nur ein dunkles Nichts. Nach ihrer ersten Enttäuschung macht sich Stella Gedanken, was passiert sein könnte. Zweifellos ist hier jemand sehr Kreatives am Werk, auch wenn heute keine Schaufensterdeko zu sehen ist. Stella zögert, überlegt, wägt ab. Soll sie einfach an der Tür klingeln? Oder so lange durchs Fenster schauen, bis sie vielleicht etwas erkennen kann? Sie schiebt ihre Entscheidung auf. Vielleicht kann sie in Erfahrung bringen, wer in diesem Haus wohnt.

Ihren zwei Freundinnen Ulla und Linda erzählt sie nichts von den Fensterverwandlungen. Die würden sicher nicht verstehen, warum Stella davon so begeistert ist. Und sie hat auch keine Lust, sich deren Schwachsinn über unzurechnungsfähige Menschen anzuhören. Ungeduldig wartet sie auf den nächsten Montag.

Aber das große Fenster ist mit der Jalousie unmissverständlich verschlossen, als sie morgens vorbeifährt. Im Schulsekretariat, bei Frau Mayer, hat sie eine Idee.

„Guten Morgen Frau Mayer. Ich bin in der 7c.“

„Ja, weiß ich. Und?“

„Also, ähm, Sie sind doch von hier, oder?“

„Soviel ich weiß ja. Und – weiter?“

„Sie kennen doch sicher fast alle Leute, die hier in diesem Ortsteil wohnen?“

„Kann sein. Wofür willst du das wissen?“

„Naja, in der Ringstraße, da gibt es ein kleines Haus mit einem riesigen Panoramafenster zur Straße hin. Wissen Sie, wer da wohnt?“

„Ja, weiß ich. Eine verrückte Restfamilie aus Berlin.“ „Hm – haben die vielleicht eine Tochter, die bei mir in der Klasse sein müsste?“

„Du willst es aber genau wissen. Meinetwegen, ist ja kein Geheimnis. Also ja, die Tochter heißt Ivo und müsste schon längst hier in der Schule auftauchen. Angeblich ist sie krank. Wenn die aber so weitermacht und immer fehlt, dann wird wohl irgendwann das Jugendamt und die Polizei vor der Tür stehen. Schulpflicht und so.“

Frau Mayer wendet sich wieder ihrem Computerbildschirm zu. Sprechstunde beendet. Ihr geblümter Seidenschal wird vom Ventilator, der hinter ihr steht, für einige Sekunden wunderbar aufgebauscht, und für diesen Moment würde sie prima in das dekorierte Panoramafenster mit den schönen Stoffen passen, findet Stella und baut die schalumwehte Frau Mayer in die Fensterdekoration mit ein …

Ob das Ivos Fenster ist, das mit täglichen Verwandlungsaktionen gestaltet wird?

Nach der Schule spürt Stella eine gewisse Nervosität. Wie wird das Fenster aussehen? Traut sie sich, Kontakt aufzunehmen? Sie grübelt noch, als sie an Ivos Haus ankommt. Wow! Unzählige, neue Figuren, mal in Playmobilgröße, mal in Puppengröße stehen auf dem Sims. Alles wirkt wie auf einem riesigen, langgestreckten Marktplatz. Zwischen den Figuren liegen Kugeln, Perlen, Seidenbänder. Manche der Puppen schauen einander an, manche sind voneinander abgewandt und wollen nichts mit der anderen zu tun haben. Lange bleibt Stella in den Fenstersimsrummel vertieft. Wieder ist ihr zumute, als würden alle gleichzeitig reden, sich im nächsten Moment bewegen und damit ein Theaterstück beginnen. Da entdeckt sie ganz rechts eine nicht so kleine Puppenfigur, die dort isoliert steht. Lila Borstenhaarschnitt, wie ein Punk geschminkt, schwarzlila Klamotten. Dieser Puppenpunk schaut Stella direkt in die Augen. Echt jetzt. Fehlt nur noch, dass sie ihr zuzwinkert und was sagt …

Stella ist wie gefesselt von diesem intensiven Blick und kann sich gar nicht abwenden. Plötzlich kommt aus der Dunkelheit des Raums eine Hand zum Fenstersims, umschließt rasch die Figur und zieht sie weg, zurück in die Nacht. Fast gleichzeitig rollt die Jalousie herunter, und Stella steht vor einer grauen Wand. Wie ein kurzer Schock fühlte sich das an, dieses Rrruums! der Jalousie und vorher die Geisterhand ohne Körper, die aus der dunklen Zimmertiefe auftauchte. Es dauert einen Moment, bis Stella sich vom Schreck erholt. Was sie dennoch komisch findet, ist, dass sie nicht eingeschüchtert ist, sondern vielmehr so etwas Ähnliches wie eine Mischung aus Trotz und Ärger wahrnimmt. Diese Gefühlsverwirrung lenkt sie jetzt doch zur Haustür. Dort sucht sie vergeblich ein Namensschild und einen Klingelknopf. Das hätte sie sich ja denken können, geht es Stella durch den Kopf. Bei so einer kreativen Fensterbühne hat man doch keine poblige Haustürklingel. Noch nicht mal eine Glocke mit Klöppel. Kurz entschlossen, ohne weiter nachzudenken, geht Stella um das Haus herum, vorbei an wilden Rosensträuchern, einigen Obstbäumen und gelangt zur Rückseite des Hauses. Hier wirkt alles seltsam verlassen. Korbstühle stehen auf der Wiese herum, eine alte Hollywoodschaukel ruht unter einem Apfelbaum, ein Holztisch ist übersät mit Büchern und Heften, und eine große Metallschale zum Feuermachen liegt auf Ziegelsteinen, platziert in der Mitte des Gartens. Tja – nun hat es Stella bis hierhergeschafft, aber eigentlich ist sie keinen Zentimeter weitergekommen. Resigniert und müde lässt sie sich auf der alten Hollywoodschaukel nieder, rollt sich in das orangefarbene Polster und braucht keine zwei Minuten, bis sie einschläft.

„Hallo, hallo!“ Jemand berührt Stella sacht an der Schulter. Davon wacht sie auf und blinzelt verwundert in die Richtung der Stimme. Sie braucht einen Moment, bis sie klarkriegt, wo sie sich befindet.

„Oh je, ich bin wohl eingeschlafen. Entschuldigung“, stammelt Stella leise.

„Wer bist du denn? Warum liegst du hier in unserer Hollywoodschaukel?“

Diese Jemand schaut Stella freundlich an. Sie trägt ein blaues, weites Kleid, eine lange, mintgrüne Holzperlenkette und ihr graublondes, lockiges Haar wird von einem breiten, roten Haarband gehalten. Das zumindest kann Stella auf den ersten Blick erkennen. Sie setzt sich nun auf, und so hat diese Frau Platz, sich neben Stella zu setzen.

„Ich bin übrigens Olivia Peters. Und ich wohne hier.“ „Ich bin Stella Loring.“

Verlegen schaut Stella in den Garten, als könnte sie von den Wiesenblumen einen Rat erhalten, wie sie mit ihren Fragen nach Ivo anfangen könnte, ohne einfach nur neugierig zu wirken. Olivia sieht Stella prüfend an.

„Willst du zu Ivo?“

„Ja. Aber eigentlich weiß ich gar nicht so recht, warum. Ich kenne sie ja gar nicht. Meine Banknachbarin in der Schule fehlt seit einigen Wochen, und ich weiß jetzt, dass es eine Ivo sein muss, die angeblich hier wohnt. Das ist alles.“

„Ja, das stimmt. Ivo und ich, ihre Tante, wohnen hier. Und über meine Nichte kann ich dir nichts sagen. Weil sie nicht will, dass man Fremden etwas von ihr erzählt. Und sie selber will mit niemandem reden. Dieser Zustand wird sich so schnell nicht ändern, befürchte ich“, seufzt Olivia.

„Was für ein Zustand?“, fragt Stella.

„Na, dass sie jeden Kontakt vermeidet, nicht hinaus in die Stadt geht, nicht in die Schule. Sie geht praktisch nur noch ins Bad und in die Küche. Vor einiger Zeit hat sie beschlossen, der Welt den Rücken zuzukehren“, bedauert Olivia. Von so einem Zustand hat Stella noch nie gehört, und dementsprechend verwirrt starrt sie grübelnd vor sich hin.

„Warum macht sie das?“, flüstert Stella, als könnte Ivo mithören.

„Ich glaube, es wird Zeit, dass du gehst“, kürzt Olivia das Gespräch unvermittelt ab. Sie steht auf und nimmt Stella mit zur Gartentür.

„Vielleicht lässt du einfach nicht nach, Ivos Zimmerfenster zu besuchen. Wie ich sie kenne, kommen darüber Botschaften. Kann sein, dass du die zu verstehen lernst.“ Mit diesen Worten dreht sich Olivia Peters um und verschwindet im Haus. In Stellas Gedanken kreisen viele Fragezeichen. Ivo eine Schulverweigerin? Ivo, die Fenster wie eine Theaterkulisse gestaltet? Ivo, die mit niemandem redet und ihr Zimmer wie eine uneinnehmbare Festung bewohnt? Stella fragt sich, warum sie sich überhaupt von diesem Fenster so angezogen fühlt. Was will sie denn in diesem schwarzen Raum dahinter finden? Was sollen ihr denn diese Fenstergeschichten sagen? Zurzeit jedenfalls fühlt sich Stella keinesfalls in der Lage, auch nur irgendeine verschlüsselte Botschaft zu verstehen oder eine der Fensterszenen richtig zu interpretieren.

Einige Tage vergehen. Der Unterricht läuft nebenher. Linda und Ulla wundern sich, dass Stella so wenig Zeit übrighat und kaum mehr an der Eisdiele mit ihnen abhängt. Sie haben keine Ahnung, was mit der Freundin los ist. Seitdem sie allein in der Schulbank sitzt, hat sie sich verändert, das steht fest. Wenn sie Stella etwas fragen, bekommen sie nur ausweichende Antworten. Und so lassen sie sie jetzt in Ruhe. Die hat eben eine Krise. Das wird schon wieder.

Das Fensterkino geht indessen weiter, ebenso bleibt der Stuhl neben Stella leer. Manchmal ist Stella unruhig, weil sie befürchtet, dass eines Tages doch die Polizei vor Olivias Haus steht, und Ivo mit Gewalt zur Schule gebracht werden wird. Aber noch ist alles wie gewohnt. Wahrscheinlich wird sie von ihrer Ärztin doch weiter krankgeschrieben, sodass die vermutete Schulverweigerung eben keine ist, sondern eine Angina- oder Grippe-Abwesenheit.

Am Fenster hat ein neues Spiel begonnen. Zwar sind die Figuren alle noch da, verbunden mit Bändern, Perlenketten und Wollfäden, aber jeden Tag nimmt Ivo bestimmte Veränderungen vor, die einem geheimen Drehbuch folgen. Mal steht eine Königin zwischen lauter kleinen Playmobilfiguren. Dann gibt es einen Jäger, der von Tieren umringt ist oder eine Prinzessin inmitten lauter Feen. Aufmerksam sieht sich Stella die