Die Kinder der Elefantenhüter - Peter Hoeg - E-Book

Die Kinder der Elefantenhüter E-Book

Peter Hoeg

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Beschreibung

Auf den ersten Blick sind die Finos aus Dänemark eine ganz normale Familie: Der Vater ist Pastor, die Mutter spielt Orgel, Peters großer Bruder studiert Astronomie. Doch an einem Karfreitag sind plötzlich die Eltern verschwunden, die schon einmal durch zweifelhafte Wundertaten mit der Justiz in Konflikt geraten waren. Um Vater und Mutter vor weiteren Torheiten zu bewahren, beginnen Peter und seine Schwester Tilte eine großangelegte Suchaktion. Inmitten falscher Heiliger und fanatischer Sinnsucher finden sie ihre eigene Tür zur Freiheit und zum Glück. Peter Hoegs spannender und temporeicher Roman ist ein Abenteuer voller filmreifer Szenen, aktueller Anspielungen und verrückter Einfälle. Der Autor von "Fräulein Smillas Gespür für Schnee" zeigt erneut seine mitreißende Fabulierkunst.

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Peter Høeg

Die Kinder

der Elefantenhüter

Roman

Aus dem Dänischen

von Peter Urban-Halle

Carl Hanser Verlag

Die dänische Originalausgabe erscheint 2010

unter dem Titel Elefantpassernes børn

bei Rosinante in Kopenhagen.

eBook ISBN 978-3-446-23613-4

© Peter Høeg & Rosinante/Rosinante&Co, Copenhagen 2010

Published by agreement with the Gyldendal Group Agency

Alle Rechte der deutschen Ausgabe

© Carl Hanser Verlag München 2010

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Unser gesamtes lieferbares Programm

und viele andere Informationen finden Sie unter:

www.hanser-literaturverlage.de

Für Awiti, Adoyo, Ajuang, Apiyo, Akinyi und Karsten.

Für Stine und Daniel.

Willst du der Freund eines Elefantenhüters sein?

Dann vergewissere dich, ob du Platz für den Elefanten hast.

Altes indisches Sprichwort

Finø

Ich habe eine Tür aus dem Gefängnis gefunden, die sich zur Freiheit öffnet, ich schreibe dies, um dir die Tür zu zeigen.

Nun wirst du vielleicht sagen, wie viel Freiheit glaubt man eigentlich verlangen zu können, wenn man wie ich auf Finø geboren wurde, das Dänemarks Gran Canaria genannt wird, überdies in einem Pfarrhaus mit zwölf Zimmern und einem Garten, groß wie ein Park. Und umgeben von Vater und Mutter und großer Schwester und großem Bruder und Großeltern und Urgroßmutter und einem Hund, die allesamt von einem Reklamefoto für ein Produkt herunterlächeln könnten, das teuer, aber gut ist, gut für die ganze Familie.

Und obwohl es natürlich nicht so viel zu sehen gibt, wenn ich in den Spiegel gucke, weil ich nämlich der Zweitkleinste in der Klasse bin, der siebten in der Städtischen Schule in Finø, gibt’s doch einen ganzen Haufen älterer und auch schwererer Spieler, die mich im Stadion wie einen Surfer im Wind an sich vorüberschweben sehen und hinterher merken, wie ihnen die Haare zu Berge stehen, wenn ich die gnadenlose rechte Klebe abfeuere.

Also worüber beklagt der sich eigentlich, wirst du vielleicht sagen, was glaubt der denn, wie es anderen Burschen mit vierzehn geht? Darauf gibt es zwei Antworten.

Die erste ist: Du hast recht, ich sollte mich nicht beklagen. Aber als Vater und Mutter plötzlich weg waren und alles richtig schwierig und unerklärlich wurde, entdeckte ich, dass ich etwas vergessen hatte. Ich hatte, als alles noch hell war, vergessen herauszufinden, was eigentlich von Dauer ist, worauf man sich wirklich verlassen kann, wenn es anfängt, dunkel zu werden.

Die zweite Antwort ist bitter: Schau dich doch mal um – wie viele Menschen sind eigentlich richtig froh? Auch wenn man einen Vater mit Maserati hat und eine Mutter mit echtem Mink, was eine Weile bei uns auf dem Pfarrhof der Fall war, ist das wirklich ein Grund, hurra zu schreien? Oder ist die Frage, was einen Menschen frei machen kann, nicht doch erlaubt?

Wahrscheinlich wirst du jetzt einwenden, dass, soweit das Auge reicht, die Welt voller Leute ist, die einem erzählen wollen, wie man sich verhalten soll, und ich sei jetzt also der Tausendste. Na ja, einerseits stimmt das natürlich, andererseits ist es doch ein bisschen anders.

Wenn du meinen Vater in der Kirche von Finø hättest predigen hören, bevor er verschwand, hättest du ihn sagen hören, Jesus sei der Weg, und ich versichere dir, mein Vater kann das so schön und natürlich sagen, als spräche er von dem Fußweg zum Meer hinunter und als wären wir alle gleich da.

Wenn du dem Gottesdienst auf einem Hocker neben der Orgel beigewohnt hättest, die meine Mutter spielte, und wärst dann noch einen Augenblick sitzen geblieben, hätte sie dir erzählt, die Musik sei die Zukunft, und ich sag dir, sie spielt und sagt es so überzeugend, dass du auf der Stelle die ersten Klavierstunden gebucht hättest und schon auf den Beinen wärst, um nachzugucken, ob du nicht für den Inhalt deines Sparschweins einen Flügel kaufen könntest.

Wärst du nach dem Gottesdienst zu uns zum Kirchkaffee gekommen, und zwar an einem Tag, an dem mein Lieblingsonkel Jonas zu Besuch war, ein Mann, der in der Äußeren Mongolei auf Bärenjagd geht und in seinem Entree einen ausgestopften Bären stehen hat und der irgendwann Gewerkschaftsvorsitzender wurde, dann hätte er dir einen Monolog nicht unter zwanzig Minuten gehalten und dir verklickert, das geilste Erfolgserlebnis sei, wenn man physisches Selbstvertrauen hat und sein Leben der Organisierung der Arbeiterklasse widmet, und das sagt er nicht nur, um meinen Vater aufzuziehen, nein, er meint es auch vollkommen ernst.

Meine Klassenkameraden hingegen würden dir erklären, das richtige Leben fange nach der neunten Klasse an, weil dann nämlich die meisten Kinder auf Finø zu Hause ausziehen und auf das Internat oder die Technische Schule in Grenå wechseln.

Und schließlich, um mal ganz woanders hinzugehen, wenn du die Insassen vom Store Bjerg fragtest, dem Therapiezentrum westlich der Stadt Finø, die alle schon vor ihrem sechzehnten Lebensjahr drogenabhängig wurden, wenn du die ganz ehrlich und unter vier Augen fragtest, dann, auch wenn sie total clean und zutiefst dankbar für den Entzug sind und ein neues Leben anfangen wollen, würden sie dir sagen, nichts gehe über die lange, sanfte Euphorie nach einer Opiumpfeife oder den Flash nach einem Heroinschuss.

Und ich sage dir: Meiner Meinung nach haben diese Menschen alle recht, auch die Insassen vom Store Bjerg.

Das habe ich von meiner großen Schwester Tilte gelernt. Sie hat nämlich das Talent, dass sie allen recht geben kann und gleichzeitig ganz und gar davon überzeugt ist, dass sie als Einzige innerhalb eines sehr großen Umkreises weiß, wovon sie redet.

Alle diese Menschen zeigen auf eine Tür, die Tür zu ihrem Lieblingszimmer, in dem sich Jesus oder Schuberts Lieder oder die staatliche Prüfung nach der neunten Klasse befinden oder ein ausgestopfter Bär oder feste Arbeit oder ein aufmunternder Klaps auf den Hintern, und selbstredend sind viele dieser Zimmer wirklich phantastisch.

Aber solange du dich in einem Zimmer befindest, bist du drinnen, und solange du drinnen bist, bist du gefangen.

Die Tür, die ich dir zeigen möchte, ist anders. Sie führt nicht in einen neuen Raum. Sie führt dich aus dem Gebäude heraus.

Ich habe diese Tür nicht gefunden, mir fehlt das nötige Selbstvertrauen, meine Schwester Tilte hat sie gefunden.

Ich war dabei, als es passierte, vor zwei Jahren, kurz bevor Vater und Mutter zum ersten Mal verschwanden. Ich war zwölf und Tilte vierzehn. Obwohl ich mich daran erinnere, als wäre es gestern gewesen, war mir damals natürlich nicht bewusst, dass sie die Tür entdeckt hatte.

Wir hatten unsere Urgroßmutter zu Besuch, sie kochte gerade Buttermilchsuppe.

Wenn Urgroßmutter Buttermilchsuppe macht, steht sie auf zwei Hockern übereinander, um an den Topf zu reichen und die Suppe rühren zu können, denn sie kam klein zur Welt, und später sind ihre Rückenwirbel sechsmal zusammengesackt. Dadurch ist sie so bucklig geworden, dass die Leute, die das oben erwähnte Reklamefoto schießen würden, aufpassen müssten, von wo aus sie das Bild machen, weil der Buckel nämlich so groß ist wie ein Schirmständer.

Dafür sind viele, denen Urgroßmutter begegnet ist, der Meinung, Jesus könne bei seiner Wiederkunft auf Erden durchaus als dreiundneunzigjährige Dame erscheinen, denn Urgroßmutter ist der Inbegriff dessen, was man allliebend nennt. Das bedeutet, ihre Freundlichkeit ist so groß, dass sie Platz für alle hat, sogar für Typen wie Kaj Molester oder den ministeriellen Abgesandten auf Finø, Alexander Bister Finkeblod, der die Dorfschule leitet. Um den zu lieben, muss man schon seine Mutter sein, aber vielleicht reicht nicht mal das. Einmal habe ich nämlich gesehen, wie er seine Mutter von der Fähre abgeholt hat, und da sah sie ungelogen aus, als ob sie der Schlag träfe.

Gleichzeitig soll man sich in unserer Urgroßmutter bitte nicht irren. Man wird nicht dreiundneunzig und überlebt mehrere der eigenen Kinder und sechs Sinterungsbrüche der Rückenwirbel und den Zweiten Weltkrieg und kann sich an das Ende des Ersten erinnern, ohne dass einen etwas Außergewöhnliches auf Trab hielte. Ich möchte mal so sagen: Wenn Urgroßmutter ein Auto wäre, dann stand die Karosserie, solange man denken kann, schon immer kurz vor dem Zusammenbruch. Aber der Motor! Der brummt, als wäre er in der Minute aus der Fabrik gekommen.

Was die Sprache anbelangt, ist sie allerdings recht sparsam, sie verteilt ihre Worte wie Bonbons, als hätte sie nicht mehr viel davon übrig, und das hat man vielleicht auch nicht, wenn man dreiundneunzig ist.

Das heißt, wenn sie plötzlich, ohne den Kopf zu drehen, verlauten lässt: »Ich möchte gerne etwas sagen«, sind wir mucksmäuschenstill.

Wir – das sind meine Eltern, mein großer Bruder Hans, Tilte und ich und unser Hund Basker III, ein Foxterrier: Basker nach dem Roman über den Hund von Baskerville, und III, weil er zu Tiltes Lebzeiten der dritte dieser Rasse war, den wir besaßen, und sie hat verlangt, dass jeder neue Hund nach dem Tod des alten denselben Namen tragen solle, nur mit einer höheren Nummer. Immer wenn Tilte Leuten, die noch nicht das große Vergnügen hatten, uns kennenzulernen, den Namen des Hundes verrät, nennt sie auch die Nummer. Dann geht ein kleiner Ruck durch die Leute, vielleicht weil sie an die vor Basker gestorbenen Hunde denken, und ich glaube, genau deswegen hat sich Tilte den Namen ausgesucht. Sie ist nämlich immer am Tod interessiert gewesen, mehr als Kinder sonst.

Jetzt, wo Urgroßmutter etwas sagen will und sich in den Rollstuhl setzt, stützt sich Tilte auf den Küchentisch und hebt die Beine hoch, so dass Urgroßmutter unter sie fahren kann. Tilte will immer auf Urgroßmutters Schoß sitzen, wenn diese etwas zu sagen hat, aber Urgroßmutter ist mit der Zeit schwächer geworden und Tilte schwerer. Jetzt arrangieren sie sich so, dass Tilte sich abstützt und Urgroßmutter unter sie rollt, sie ist zu dieser Zeit schon kleiner als Tilte.

»Mein Vater und meine Mutter«, sagt Urgroßmutter, »eure Ururgroßeltern, waren nicht mehr ganz so jung, als sie geheiratet haben, sie waren Ende dreißig. Trotzdem bekamen sie sieben Kinder. Als eben das siebte geboren war, sind der Bruder meiner Mutter und seine Frau gestorben, mein Onkel und meine Tante, sie wurden beide von derselben Seuche angesteckt, der Spanischen Grippe, und starben fast zur gleichen Zeit. Sie haben zwölf Kinder hinterlassen. Mein Vater fuhr nach Nordhavn zur Beerdigung. Danach haben sich alle getroffen, die Familie musste ja die zwölf Kinder unter sich aufteilen, so machte man das damals vor neunzig Jahren, es war eine Frage des Überlebens. Die Fahrt im Pferdewagen von Finø bis Nordhavn dauerte zwei Stunden, mein Vater war erst am Abend wieder zu Hause. Er ist in die Küche gekommen, wo meine Mutter am Herd stand, und hat dann gesagt:

›Ich hab sie alle genommen.‹

Meine Mutter blickte freudig auf und sagte dann:

›Danke für das Vertrauen, Anders.‹«

Als Urgroßmutter ihre Geschichte beendet hatte, wurde es still in der Küche. Ich weiß nicht mehr, wie lange die Stille anhielt, weil nämlich die Zeit stillstand, es gab zu viel zu verstehen, um denken zu können, man hatte gleichsam aufgegeben. Man musste verstehen, was in Urgroßmutters Vater vorging, als er die zwölf Kinder bei der Beerdigung sah und es nicht übers Herz brachte, sie voneinander zu trennen. Und vor allem musste man seine Frau verstehen, als er nach Hause kam und sagte: »Ich hab sie alle genommen.« Da wird nicht eine Sekunde gezaudert, nichts da mit Nervenzusammenbruch und Gejammer, dass das jetzt nicht mehr nur die eigenen sieben Kinder sind, was ja schon schlimm genug sein könnte, wenn man nur an uns drei im Pfarrhof denkt, und wir haben ja sogar zwei Toiletten plus eine Gästetoilette, nein, jetzt sind’s mit einem Mal neunzehn Kinder.

Irgendwann, als es wer weiß wie lange still gewesen war, jedenfalls lange, sagte Tilte:

»So will ich auch sein!«

Wir dachten alle, wir verstünden, was sie meinte, und irgendwie verstanden wir es auch. Wir dachten, sie wollte wie der Vater oder wie die Mutter sein oder wie sie alle beide und, falls nötig, neunzehn Kinder willkommen heißen können.

Und richtig, das meinte sie auch. Aber sie meinte auch noch etwas anderes.

Bevor sie das sagte, während dieser langen Stille, hatte Tilte die Tür entdeckt. Oder war sich sehr sicher geworden, dass es sie gab.

Ehe ich anfange, möchte ich dich etwas fragen. Ich möchte dich fragen, ob du dich an Momente deines Lebens erinnerst, in denen du glücklich gewesen bist. Nicht nur froh. Nicht nur zufrieden. Sondern so glücklich, dass alles vollständig total hundertprozentig perfekt war.

Wenn du dich nicht an einen einzigen solchen Moment erinnern kannst, ist das nicht so gut, aber dann ist es natürlich umso wichtiger, dass ich dich jetzt mit dieser Geschichte hier erreiche. Wenn du dich wenigstens an einen oder besser noch ein paar Momente erinnerst, bitte ich dich, an sie zu denken. Das ist wichtig. Denn in solchen Momenten geht die Tür auf.

Ich erzähle dir ein paar von meinen. Nichts Besonderes. Ich nenne sie nur, damit du es leichter hast, sie in deinem eigenen Leben ausfindig zu machen.

Ein solcher Moment war, als ich zum ersten Mal für die Finø AllStars nominiert wurde, die im Juli gegen die Sommerfrischler antreten. Das Aufgebot wurde vom Trainer der ersten Mannschaft vorgelesen, wir nennen ihn Fakir, weil er kahl ist und dünn wie ein Pfeifenreiniger und weil er das ganze Jahr hindurch eine Laune hat, als wäre er eben erst aufgestanden und hätte die Nacht auf Glasscherben verbracht.

Bislang war noch nie jemand nominiert worden, der jünger war als fünfzehn, es traf mich völlig unvorbereitet, als er die Liste vorlas und meinen Namen nannte.

Einen winzigen Augenblick lang war schwer zu sagen, wo man sich befand, stand man außerhalb seines Körpers, oder war man in ihm oder beides auf einmal?

Ein anderer solcher Moment war, als Conny fragte, ob wir miteinander gehen wollten. Sie fragte nicht selber, sie schickte eine ihrer Hofdamen, Sonja. Ich war auf dem Heimweg von der Schule, Sonja holte mich ein, »ich soll dich von Conny fragen, ob ihr miteinander gehen wollt«.

Eine Sekunde lang denkt man, jemand hat den Stöpsel gezogen, schwebt man oder steht man auf der Erde, keine Ahnung. Und das Gefühl des Schwebens ist keine Einbildung, die ganze Welt, die man spüren und wahrnehmen kann, ist völlig verändert.

Es gibt noch eine Situation mit Conny, die weit zurückliegt, wir waren ungefähr sechs Jahre alt und im Kindergarten. Im ganzen Ort Finø gab es nur dreihundert Kinder und nur eine Schule und einen Kindergarten, das heißt, wir sind alle zusammen auf eine Schule und in einen Kindergarten gegangen.

Die Brauerei Finø hatte dem Kindergarten so ein paar riesige Bierfässer aus Holz gespendet, die hatten sie hingelegt und aufgebockt und einen Boden eingebaut. Dann kamen kleine Türen und Fenster hinein, und die Fässer konnten als Spielhäuser benutzt werden. In einer dieser Tonnen habe ich Conny gefragt, ob sie sich vor mir ausziehen wolle.

Sicher wirst du mich jetzt fragen, wo ich eigentlich den Mut hernahm, ich, der ich zu schüchtern wirkte, nach dem Weg zum Bäcker zu fragen, und ich muss ja tatsächlich auch sagen, es war wirklich einer der raren Momente in meinem Leben, in denen ich mich über mich selbst gewundert habe.

Aber wenn du Conny mal sehen solltest, wirst du verstehen, dass es Frauen gibt, die aus einem Mann das Außergewöhnliche herauskitzeln können, auch wenn sie erst sechs Jahre alt sind.

Sie entgegnete nichts. Sie fing einfach an, sich gemächlich auszuziehen. Als sie nackt war, hob sie die Arme und drehte sich ganz langsam vor meinen Augen. Ich sah den hellen Flaum auf ihrer Haut, das Fass um uns herum war rund wie ein Schiff oder eine Kirche und roch nach dem Bier, das seit hundert Jahren die Dauben durchtränkt hatte. Und ich begriff, dass das, was da zwischen Conny und mir geschah, mit dem Rest der Welt zu tun hatte.

Der letzte Augenblick ist der stillste. Ich bin klein, vielleicht drei Jahre alt, denn wir haben eben Basker II bekommen, der ins Bett der Eltern gekrabbelt ist, wo ich auch geschlafen habe. Von dort lasse ich mich auf den Boden gleiten, stoße die Terrassentüren auf und gehe in den Garten. Es muss früher Herbst gewesen sein, die Sonne steht tief, und das Gras ist eisekalt und brennt unter den Fußsohlen. Zwischen den Bäumen sind große Spinnweben gespannt, an den Fäden hängen Tautropfen wie eine Million klitzekleiner Diamanten, die sich alle gegenseitig spiegeln. Es ist sehr früh, und der Morgen ist so frisch und neu und unmöglich zu wiederholen, als hätte es vor diesem nie einen anderen gegeben und als brauchte auch nie ein weiterer zu kommen, denn dieser hier währt ewig.

In solch einem Augenblick ist die Welt vollkommen. Es gibt nichts mehr zu tun und niemanden, der es tun könnte, weil es keine Menschen mehr gibt, nicht einmal mich, die Freude füllt alles aus. Es dauert sehr kurz, dann ist es vorbei.

Ich weiß, derlei Augenblicke gibt es auch in deinem Leben. Nicht die gleichen, aber ähnliche.

Worauf ich dich aufmerksam machen möchte, sind die Sekunden, bevor einem die Einzigartigkeit der Situation aufgeht und man zu denken anfängt.

Denn sobald die Gedanken kommen, ist man wieder im Käfig.

Das ist das Finstre an dem Gefängnis, um das es sich hier handelt. Es besteht nicht bloß aus Stein und Beton und schwedischen Gardinen.

Das wäre nämlich einfacher. Wären wir auf herkömmliche Art eingesperrt, würden wir schon noch eine Lösung finden, selbst so zurückhaltende Typen wie du und ich. Dann hätten wir aus Grenå oder Århus garantiert ein paar hundert Gramm dieses rosa Pulvers beschaffen können, das man für die Jetmotoren der Modellflugzeuge braucht, wenn der Große Drachen- und Segelflugtag auf Finø stattfindet. Und hätten todsicher ein rostfreies Rohr mit Gewinde an den Enden gefunden und zwei Schrauben für die Gewinde und hätten ein kleines Loch ins Rohr gebohrt und das Pulver eingefüllt und die Lunte einer Neujahrsrakete reingesteckt und damit eine anständige Öffnung in die Mauer gesprengt, und dann hätten sie uns nur noch hinterhersehen können.

Aber das würde nicht reichen. Denn das Gefängnis, um das es sich hier handelt, ist unser aller Leben und die Art, wie wir es führen. Dieses Gefängnis ist nicht nur aus Stein gemauert, es ist auch aus Worten und Gedanken gemacht. Und wir helfen mit, es ständig zu errichten und in Schuss zu halten, das ist das Schlimmste.

Wie damals, als mir Sonja Connys Frage stellte. Kaum war eine Sekunde vergangen, kaum hatte der Schock die Welt verändert, kam diese Welt schon wieder zurück. Und zwar indem man dachte: »Kann denn das wahr sein, meint sie mich, ist nicht ein anderer Peter gemeint? Und wieso ausgerechnet ich? Und wenn sie wirklich mich meint, bin ich überhaupt gut genug für sie? Und wie lange wird es dann dauern? Und selbst wenn es lange währt, was man ja glaubt und hofft, muss es doch irgendwann enden, oder etwa nicht?«

»Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage.«

Dieser Schluss hat mich nie befriedigt.

Vater las uns zur guten Nacht vor, Tilte, mir und Basker. Wenn die Geschichte mit dem Satz endete: »Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage«, empfand ich immer eine unerklärliche innere Unruhe.

Es war Tilte, die die richtigen Worte fand. Eines Tages, sie war höchstens sieben, ich fünf, sagte sie: »Was heißt das: ›das Ende ihrer Tage‹?«

»Wenn sie sterben«, sagte Vater.

Dann sagte Tilte:

»Bekamen sie einen würdigen Tod?«

Vater wurde ganz still. Dann sagte er:

»Darüber steht hier nichts.«

Dann sagte Tilte:

»Und danach?«

Ich weiß, wo Tilte die Sache mit dem würdigen Tod herhat. Von Bermuda Svartbag Jansson, die sowohl Hebamme als auch Leichenbestatterin ist, so ist das halt auf einer kleinen Insel, viele haben zwei oder drei Jobs auf einmal, Mutter ja auch, die Organistin und Kirchendienerin ist und zugleich Beraterin auf der Maschinenstation.

Tilte hatte sich oft mit Bermuda unterhalten und ihr auch geholfen, Leichname in Särge zu legen. Den Ausdruck hatte sie von ihr.

Aber das erklärt trotzdem nicht alles. Denn das muss man sich mal vorstellen: Eben hat man einem siebenjährigen Mädchen ein Märchen mit dem letzten Satz vorgelesen »Und sie lebten glücklich bis ans Ende ihrer Tage«, der ja den Sinn hat, dass es mit einem Happy End aufhört und die Kinder zur Schlafenszeit gut gelaunt sind und an die Familie denken und sicher sind, dass Vater und Mutter und sie selber und der Hund auch glücklich bis ans Ende ihrer Tage leben, das noch so weit weg ist, dass man ebenso gut »in alle Ewigkeit« sagen könnte. Und dann kommt da so ein Mädel von sieben Jahren und fragt, ob sie auch einen würdigen Tod bekommen hätten.

Als Tilte es sagte, verstand ich, warum mich solche Schlüsse nie richtig beruhigt hatten. Ich hätte nie wie Tilte denken können, ich hätte es nie gewagt. Aber ich hatte es gleichsam gespürt. Dass sie vielleicht glücklich leben. Aber was, wenn sie an den Schluss kommen, ans Ende ihrer Tage?

Da ist es dann vielleicht doch nicht mehr so lustig.

Jetzt erzähle ich dir, was wir erlebten. In Wirklichkeit tue ich es nicht, um von uns zu erzählen. Sondern um mich selbst daran zu erinnern, wann die Tür offen stand, und es dir zu zeigen.

Ich kann dir nicht durch die Tür helfen, weil ich selber nicht richtig durch sie hinausgegangen bin. Aber wenn wir sie finden und davorstehen, oft genug, du und ich, dann weiß ich, dass wir eines Tages gemeinsam in die Freiheit hinausgehen werden.

Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit.

Das hatten Tilte und ich in einem Buch in der Bücherei gelesen, ich konnte den Satz immer gut leiden. Aber man sollte nicht über ihn nachdenken. Wer denkt, verrennt sich. Dann wird man sagen, das ergibt keinen Sinn, die Kindheit ist doch vorbei, und was vorbei ist, das ist, wie es ist, und es ist zu spät, es zu ändern.

Stattdessen muss man die Worte einfach in sich wirken lassen: Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit.

Ich glaube, das stimmt. Aber manchmal hat man ein Problem.

Aber Tilte sagt, es gibt keine Probleme, nur interessante Herausforderungen.

Ich würde also sagen, dass eine dieser interessanten Herausforderungen mit diesem »Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit« an einem Karfreitag anfing, auf dem Blågårds Plads, in Kopenhagen.

Wir halten auf dem Blågårds Plads in Kopenhagen, wir, das sind Basker, Tilte, ich und unser großer Bruder Hans, und wir halten in einer schwarz lackierten Kutsche mit vier Pferden. Das haben wir Hans zu verdanken. Falls wir der Meinung sein sollten, jemandem danken zu müssen.

Große Teile der dänischen Bevölkerung, zumindest die Touristen auf Finø, sind der Meinung, mein Bruder Hans gleiche einem dänischen Märchenprinzen. Ihre Meinung gründet auf der Tatsache, dass er eins fünfundneunzig groß ist, blonde Locken und blaue Augen hat und stark genug ist, ein Pferd vom Vierspänner abzuschirren, es auf den Tisch zu legen, auf den Rücken zu drehen und ihm den Bauch zu kitzeln.

Weil wir Hans aber kennen, Tilte, Basker und ich, wissen wir, dass er auch was von einem erwachsenen Baby hat.

Es stimmt schon, die Finø AllStars haben wahrscheinlich nie einen gefährlicheren General im strategischen Mittelfeld gehabt. Aber außerhalb des Spielfelds, wenn Hans keinen Ball mehr hat, dem er nachschauen kann, hängt stets sein Blick am Himmel, na, und solche Leute fallen halt gern über einen Hund oder stürzen gar in den Fluss.

Jetzt studiert er in Kopenhagen Astrophysik, was ja auch etwas mit Himmel und Sternen zu tun hat, und er hat einen Studentenjob als Droschkenkutscher gekriegt, und nun sind Tilte, Basker und ich zu Ostern auf Besuch gekommen, während in der Kirche in Finø ein Vertreter predigt. Vater und Mutter sind nämlich auf ihrer jährlichen Tour nach La Gomera, das unter den Kanarischen Inseln so eine Art Möchtegern-Finø ist.

Ich weiß nicht, ob du den Blågårds Plads kennst. Ich persönlich bin zum ersten Mal hier, und anfangs wirkt der Platz ganz gewöhnlich. In der Sonne ist es warm und im Schatten kalt, es gibt ein paar Schneewehen und eine Kirche mit einer Menge Menschen davor, und als Pfarrerskind ist man immer froh, wenn der Laden voll ist. Auf einer Bank sitzen drei Männer im besten Alter, das sie dazu nutzen, um Starkbier zu trinken. Hinter unserer Kutsche befindet sich ein Gemüsegeschäft, davor steht der Gemüsehändler und starrt in eine Kiste mit Zitronen, denen er das Überwintern ermöglichte, indem er sie in die fünf täglichen Gebete Richtung Mekka einschloss, und vor uns geht eine alte Dame über die Straße mit einer Palette Katzennahrung auf ihrem Rollator. Das einzig Ungewöhnliche ist also die Frage, warum ein Tourist, der via Internet fünftausend Kronen im Voraus zu zahlen bereit war, um sich eineinviertel Stunden lang durch die Innenstadt kutschieren zu lassen, sich den Blågårds Plads als Start ausgesucht hat, und wo steckt er überhaupt, denn er ist schon zehn Minuten über die Zeit und weit und breit nicht zu sehen.

In diesem Augenblick klingelt Hans’ Mobiltelefon, es werden vier Sätze gewechselt. Danach ist unser Leben auf den Kopf gestellt.

»Hier ist Bodil«, sagt die Stimme am andern Ende. »Sind deine Geschwister bei dir?«

Bodil Fisker, genannt Bodil Nilpferd, obwohl sie klein und dünn ist, braucht sich nicht vorzustellen. Sie ist Gemeindedirektorin des Bezirks Grenå, zu dem die Inseln Finø, Anholt und Læsø gehören. Alle kennen sie. Hans braucht das Handy auch nicht auf laut zu stellen, damit wir mithören können, nicht weil sie schreit, sie spricht ganz normal, sondern weil ihre Stimme derart durchdringend ist, dass sie die entferntesten Ecken des Erdballs erreicht. Und es ist nicht nur ihre Stimme, es ist auch ihr Wesen, und die Sache mit dem Geist Gottes, der über den Wassern schwebt, könnte auch über Bodil Nilpferd geschrieben worden sein.

Was aber eben über all dem steht, ist nicht sie selbst, sondern Bodils Aufmerksamkeit. Eine Gemeindedirektorin ist keine Person, die man live erlebt, sie ist eine Person, die Leute unter sich hat, die wiederum Leute unter sich haben, denen wiederum Leute unterstellt sind, und diese untersten, die rufen einen an. Ich habe Bodil Nilpferd einmal gesehen, bei einer Gelegenheit, an die ich am liebsten gar nicht denken will, von der ich dir aber trotzdem bald erzählen muss. Dass sie höchstpersönlich anruft, zeigt nur, wie ernst die Lage ist.

»Tilte, Peter und Basker sind bei mir«, sagt Hans.

»Haben eure Eltern eine Adresse hinterlassen?«

»Nur Mutters Handynummer.«

»Wann seid ihr zurück?«

»Wir machen noch eine Fahrt, dann gebe ich den Wagen ab.«

»Ruf mich an, wenn ihr nach Hause kommt. Unter dieser Nummer.«

Dann legt sie auf.

In diesem Augenblick dreht Tilte den Kopf und sieht mir in die Augen. Und ich weiß warum. Sie will mich an etwas erinnern. Daran, dass sich genau jetzt eine Chance eröffnet.

Ich hab einen Augenblick gebraucht, ehe ich dir das erzählen konnte. Aber jetzt sage ich es freiheraus.

Tilte und ich haben entdeckt, dass die Tür nicht nur in den glücklichen Augenblicken offen steht. Auch in den schrecklichen. Wenn du erfährst, dass jemand gestorben ist oder Krebs hat oder verschwunden ist. Oder dass Kaj Molester Lander, in weiten Kreisen auf Finø bekannt als achte von Ägyptens sieben Plagen, heute früh um vier aufgestanden ist, um als erster an den Brutstätten der Möwen zu sein, wo wir im Mai Eier sammeln, was für die Möwen in Ordnung ist; Silber- und Heringsmöwen brüten nämlich erst ab drei Eiern, also rühren wir Nester mit drei Eiern nicht an. Das heißt, in dem Augenblick, in dem du entdeckst, dass Kaj die Nester ausgehoben hat, und die Welt um dich herum zusammenstürzen will, in dem Augenblick ist die Tür offen.

Und jetzt sage ich, was Tilte und ich herausgefunden haben: Man muss in sich hineinhorchen. Genau im Augenblick des Schocks nämlich spürt man ein ganz besonderes, außerordentliches Gefühl in sich und um sich herum, und in dieses Gefühl muss man hineinhorchen. Es tritt ein, kurz bevor die Tränen fließen und die Verzweiflung kommt und die übliche Depression und Resignation und eben der Entschluss: Wenn Kaj um vier aufstehen kann, schaffst du es schon um drei oder zwei oder lässt das Schlafen gleich bleiben, um ganz sicher als erster da zu sein, in diesem kurzen Augenblick, in dem der vertraute innere Motor aussetzt und noch nicht wieder angesprungen ist, in diesem Augenblick öffnet sich etwas.

Daran denke ich hier auf dem Blågårds Plads und horche in mich hinein und spüre, wie sich die Tür durch den Schock allmählich auftut.

Danach überstürzen sich die Ereignisse, so dass wir erst einmal darauf achten müssen, den Schnorchel über Wasser zu halten, das gilt auch für Tilte.

Zuerst sagt Tilte, was wir alle denken.

»Vater und Mutter sind verschwunden!«

Als nächstes verändert sich der Blågårds Plads.

Ich weiß nicht, ob du das schon erlebt hast, dass deine Stimmung sozusagen auf die Umgebung abfärbt? Und die sich dann plötzlich verändert? Eben noch war der Blågårds Plads wie gesagt total in Ordnung, ohne dass er deswegen gleich im Weltkulturerbe-Katalog der UNESCO erscheinen müsste, um dann fünf Millionen Touristen anzulocken. Und in der nächsten Minute gleicht er einem Ort, zu dem die Leute sich hinschleppen, um zu sterben. Die Menschen vor der Kirche erinnern an ein Trauergeleit. Die drei auf der Bank legen sich gleich hin, um Freund Hein zu begegnen, wenn sie ausgetrunken haben, und sie brauchen nicht lange zu warten. Die Zitronen des Gemüsehändlers befinden sich im fortgeschrittenen Stadium der Kompostierung, und die Dame mit dem Rollator und ihrem Katzenfutter sieht uns an, als wären wir mit Leichenwagen und Sarg unterwegs und als wollte sie uns fragen, ob sie den Verstorbenen noch ein letztes Mal sehen dürfe.

Dann sage ich: »Bodil hat Angst.«

Wir haben es alle gehört, und das ist irgendwie das Unheimlichste. Bodils Stimme konnte man anhören, dass sie auf irgendetwas gestoßen sein musste, das größer war als sie selber. Anders war es nicht zu erklären.

Dann beginnt der Gesang.

Er kommt aus der Kirche, eine Frau singt. Sie muss Mikrophon und Lautsprecher zur Verfügung haben, und gleichzeitig wirkt der Blågårds Plads wie ein Trichter, der Ton wird verstärkt, es klingt wie ausländische Kirchenmusik, und es swingt langsam wie ein sanfter Gospel.

Die Worte kann man nicht verstehen, aber das macht nichts, solange nur die Stimme da ist. Die Stimme ist so groß, dass man an einem Wintertag unsere ganze Kutsche hineinfahren könnte, und so warm, dass man keine Sekunde frieren würde, und so nice, dass man eine Buße wegen Falschparkens riskierte, weil man es nicht übers Herz brächte, wieder hinauszufahren.

Einen kurzen Augenblick lang erleuchtet sie den ganzen Platz. Sie schafft es, dass die Zitronen wieder an den Bäumen hängen, dass die Männer auf der Bank erwägen, sich bei den Anonymen Alkoholikern anzumelden, und dass die Dame vor uns ihren Rollator loslässt und sich startklar macht für einen Fandango.

Und wegen dieser Stimme steht Hans auf, stellt sich Tilte auf den Sitz und stoße ich Hans den Ellbogen in die Seite, damit er mich hochhebt und ich besser sehen kann, so wie er es gemacht hat, seit ich denken kann.

Aus der Kirche ist eine Prozession gekommen. Ich kann mehrere Pfarrer im Messgewand sehen, viele Menschen in Schwarz, und an der Spitze geht sie, die Sängerin.

Erst denkt man, wie kann ein so kleiner Mensch eine so große Stimme haben, dann denkt man, dass da gar kein Mensch ist, weil es aussieht, als schwebte ein langes grünes Kleid ganz von allein und darüber ein grüner Seidenhut wie ein großer Turban, ohne Inhalt. Dann dreht sich das Kleid, und ich kann das Gesicht sehen, ihr Teint ist hellbraun wie der Stein, aus dem die Kirche erbaut wurde, deshalb war ihr Gesicht unsichtbar.

Nun sieht sie zu uns herüber. Während sie den letzten Ton hält, zieht sie ihre hochhackigen Goldschuhe aus, setzt den grünen Turban ab, lässt ihn fallen und nimmt eine Tasche von jemandem, der neben ihr steht. In der Hand hält sie ein schnurloses Mikrophon, sie legt es auf den Boden, dann hebt sie ihr Kleid an. Und fängt an zu rennen. Auf uns zu. Barfuß. Über die Schneewehen, an den Männern auf der Bank vorbei. Und schon ehe sie halb über den Platz ist, sehe ich, dass sie in Tiltes Alter ist oder etwas älter und dass sie die vierhundert Meter in unter einer Minute schafft.

Als sie die Kutsche erreicht, springt sie wie ein Grashüpfer neben Hans auf den Bock, und während sie noch halb in der Luft hängt, schreit sie: »Fahr los, Mann! Los! Ich hab euch herbestellt!«

In der Prozession entsteht Unruhe, Menschen werden beiseitegeschubst, zwei Männer im Anzug befreien sich aus der Gruppe und sprinten auf uns zu. Wir wissen alle vier, dass sie hinter der Sängerin her sind. Und wir wissen allesamt, dass wir auf ihrer Seite stehen. Ich sage klipp und klar wieso. Mit der Stimme könnte sie Kinderschänderin oder Tierquälerin sein, ich würde sie trotzdem zu retten versuchen, und ich weiß, dass es Tilte und Basker genauso geht.

Aber wir brauchen Hans, und einen kurzen Moment ist uns nicht klar, ob er der Aufgabe gewachsen ist.

Es ist nämlich leider eine Tatsache, dass Hans das mit den Damen noch nicht kapiert hat.

Was umso peinlicher ist, als die Damen das mit Hans schon längst kapiert haben. Wenn er gegen acht Uhr abends die Toiletten im Hafen gereinigt und die Liegegebühr abkassiert hat, weil er im Juni und Juli den Hafenmeister vertritt, warten mindestens schon drei der Sommerschönsten und wollen ihn ausführen. Aber Hans auszuführen ist leichter gesagt als getan, denn schon nach den ersten Schritten fängt er an, die Mädchen zu umkreisen, als hielte er nach etwas Ausschau, vor dem er sie beschützen müsste, oder als suchte er einen tiefen Tümpel, in den er sich mit dem Bauch zuerst werfen könnte, damit sie trockenen Fußes hinüberkämen.

Der springende Punkt ist, dass mein Bruder achthundert Jahre zu spät geboren wurde, er ist in der Ritterzeit zu Hause, er sieht alle weiblichen Wesen als Prinzessinnen, denen man sich nur ganz behutsam nähert, indem man zum Beispiel Lindwürmer erschlägt oder sich vor ihnen auf den Bauch wirft.

Aber, nun ja, die Mädchen auf Finø gehen zum Taekwondo oder ziehen mit sechzehn nach Århus und fliegen mit siebzehn als Austauschschülerin für ein Jahr nach Amerika, und falls sie einem Lindwurm begegnen, wollen sie wahrscheinlich mit ihm gehen, oder sie nehmen ihn auseinander und schreiben eine Biologiehausarbeit über das, was übrig bleibt. Ich will damit sagen, Hans hatte noch nie eine feste Freundin, und jetzt ist er neunzehn, und die Zukunftsaussichten sind nicht gerade rosig, um ehrlich zu sein. Auch jetzt steht er wieder dumm da und glotzt wie ein Wesen, das der Naturführer auf Finø aufgetrennt hat und das ausgestopft werden soll, bis Tilte ihn anbrüllt:

»Jetzt komm in die Gänge, du Tölpel-Hans!!«

Das bringt endlich Leben in ihn: Tiltes Gebrüll einerseits und andererseits der Umstand, dass die beiden Männer einen respektablen Spurt hinlegen und den Platz schon halb überquert haben, der Gedanke ist also nicht ganz von der Hand zu weisen, dass es hier um die Rettung einer Prinzessin geht.

Wenn ich gerade – entre nous – despektierlich über meinen Bruder gesprochen habe, so muss um der Gerechtigkeit willen auch Folgendes gesagt sein: Er versteht es, mit Pferden umzugehen. Von April bis September ist die Stadt Finø mit Ausnahme von Kranken- und Lieferwagen für Motorfahrzeuge gesperrt, dann kutschieren wir die Touristen in Droschken und kleinen elektrischen Golfwagen herum, für die Tour vom Hafen bis zum Marktplatz nehmen wir zweihundertfünfzig Kronen, die dazu beitragen, dass Finø wie eine Postkarte aussieht und die Insel in den einarmigen Banditen des Kattegats verwandelt wird, sagen wir’s doch, wie es ist!

Alle auf Finø können Kutsche fahren, aber keiner wie Hans, er fährt die Dinger wie einen Sulky auf der Trabrennbahn in Århus, vielleicht hat es damit zu tun, dass die Pferde, wenn sie nicht gehorchen, immer riskieren, auf den Rücken geworfen und am Bauch gekitzelt zu werden, und das wissen sie ganz genau.

Die Peitsche benutzt er nie, jetzt auch nicht, er macht bloß ein Geräusch mit dem Mund und schlägt mit den Zügeln, und unsere vier Gäule springen wie die Wildkaninchen, und schon verschwindet der Blågårds Plads am Horizont.

Nun begehen die beiden Typen im Anzug einen Fehler. Sie ändern den Kurs und pesen zu einem dicken schwarzen BMW mit Diplomatenkennzeichen CD, der vor der Stadtteilbibliothek steht, und im nächsten Moment sitzen sie drin und geben Gas.

Unter normalen Umständen hätten sie uns binnen weniger Sekunden eingeholt. Aber die Umstände sind nicht normal, denn die Blågårdsgade ist eine Fußgängerzone, gesperrt für Kraftfahrzeuge.

Eigentlich ist sie auch für Pferdewagen verboten. Aber in jedem Dänen steckt die Sehnsucht nach der guten alten Zeit, als Dänemark noch Bauernland war und der König in Kopenhagen mit dem Pferd herumritt und alle Leute Nutztiere hielten und mit den Schweinen in der Küche schliefen, damit es wärmer war und auch wegen der Gemütlichkeit. Daher traten die Passanten, als wir in scharfem Trab heranschossen, freundlich lächelnd beiseite, obwohl Hans die Pferde antrieb, als nähmen wir an einem Rodeo teil.

Aber als der BMW heranrauscht, ändert sich die Volksstimmung, ich kenne das aus Finø, wenn die Stadt im Sommer eine einzige Fußgängerzone ist, dann steigt in den Menschen der Hass auf, wenn sie ein Auto sehen, das da nicht hingehört. Das CD-Schild hilft dem BMW auch nicht, es macht die Sache nur noch schlimmer, jetzt scharen sich die Massen um das Auto und kesseln es ein.

Hans sieht sich um und zeigt, dass er in Ausnahmefällen auch außerhalb des Spielfelds den absoluten Ballblick besitzt, er biegt nämlich nach links ab, in eine Seitenstraße. Das ist ein Geniestreich.

Wir sind in einer Einbahnstraße und fahren in die falsche Richtung, die Fahrbahn ist voller Autos, und einen Moment lang scheinen wir einer Katastrophe entgegenzurasen. Aber als uns die Leute in einer Kutsche sehen, sind die Verkehrsregeln außer Kraft gesetzt. Vielleicht weil eine Kutsche etwas Festliches an sich hat, vielleicht meinen die Leute auch, wir hätten feiernde Abiturienten an Bord, obwohl wir erst April haben, aber das Schuljahr wird ja auch immer kürzer, jedenfalls halten Autos und Fahrräder am Bordstein, manche fahren sogar halb auf den Bürgersteig, keiner hupt, wir haben freie Bahn.

Auch der BMW biegt jetzt um die Ecke, die beiden Männer haben es geschafft, den Kessel auf der Blågårdsgade zu durchbrechen, jetzt wittern sie Blut.

Aber das ist nicht von Dauer. Eine Abiturientenkutsche gegen die Fahrtrichtung, das geht, das ist romantisch. Aber ein BMW, das geht gar nicht, das ist eine grobe Übertretung der Verkehrsregeln. Plötzlich befindet sich der Wagen wieder in einem Kessel, diesmal vorwiegend aus Blech, er ist regelrecht umzingelt von anderen Autos, Fahrrädern und Fußgängern, die Verwünschungen ausstoßen, und das Hupkonzert ist ohrenbetäubend.

Zu diesem Zeitpunkt wissen wir von den beiden Männern nur, dass sie nicht die Väter oder Onkel der singenden Sprinterin sein können, weil ihre Haut so weiß ist wie der Spargel auf Finø. Umso größer ist der Respekt vor ihrem Zweihundermetersprint.

Ein Respekt, der noch größer wird. Sie springen nämlich aus dem Auto, das sie mitten auf der Straße stehenlassen, kämpfen sich aus der massiven Unpopularität frei und preschen jetzt hinter uns her.

Wenn du schon mal wie ich von Kameraden mit verdorbenem Charakter dazu verführt worden bist, in Finøs Gärten Birnen oder getrocknete Plattfische zu stehlen, dann wirst du wissen, dass erwachsene Menschen, die alt genug sind, um Häuser zu kaufen, Birnbäume zu pflanzen und im Garten Fisch zu trocknen, in der Regel die Fähigkeit oder das Interesse verloren haben, in eine schnellere Gangart zu verfallen als das, was man im besten Fall einen energischen Trott nennen würde. Namentlich, wenn sie auch einen Anzug besitzen. Ich persönlich habe Anzüge immer nur gehen sehen, nie in schnellerer Fortbewegung.

Dies trifft allerdings nicht auf die beiden Männer zu, die hinter uns her sind. Für mich sind es ältere Leute, wahrscheinlich an die vierzig, aber ihr Spurt ist derart rasant, dass sich das Bild einer düsteren Zukunft abzeichnet, in der wir in Bälde auf eine größere Straße mit dichtem Verkehr stoßen und das Tempo drosseln müssen und die beiden uns einholen – den Gedanken noch weiterzuspinnen, habe ich jetzt keine Lust.

Tilte und ich haben so eine Theorie entworfen, dass der erste Eindruck von einem Menschen am wichtigsten ist. Bevor man weiß, was einer verdient, ob er Kinder und ein sauberes Führungszeugnis hat, vor all diesem gibt es ein erstes Gefühl, das gleichsam nackt ist.

Wenn ich nach diesem Gefühl gehe, bin ich froh, dass keiner von beiden, soweit ich es erkennen kann, Connys Vater ist, denn sie sind nun nicht gerade das, was man den Traum eines Schwiegersohns nennt. Trotz Kurzhaarfrisur und glatt rasierten Wangen, BMW mit CD-Kennzeichen und herausragenden Leistungen auf der kurzen Distanz scheinen sie kaum Interesse an vernünftigen Unterhaltungen oder einer Runde Mensch-ärgere-dich-nicht zu haben. Sie sehen eher aus wie Leute, die ihren Willen durchsetzen wollen und denen es nicht das Geringste ausmacht, wenn hinterher drei, vier Kinderleichen und ein toter Hund herumliegen.

In dieser finstren Situation sagt Tilte:

»Wir halten hier an!«

Hans macht ein Geräusch, und die Pferde stoppen, als wären sie gegen eine Betonwand gerannt.

Wir halten vor einem kleinen Park mit Tischen und Bänken in der Sonne. Die Bänke sind von den unterschiedlichsten Menschen bevölkert. Mütter mit Kindern, Jugendliche in unserm Alter, die Basketball spielen, Rentner, andere wiederum, auch in unserm Alter, sind kahlgeschoren und haben ihre Unterlippe mit Sicherheitsnadeln durchbohrt und denken über ihre Zukunft nach, vielleicht sollte man sich auf der Polizeischule bewerben. Und dann gibt es noch einen Haufen braungebrannter und tätowierter Wesen beiderlei Geschlechts, die den entscheidenden Punkt ihrer Karriereplanung erreicht haben, wo man sich entschließen muss, ob man sich die nächste Rakete sofort drehen soll oder ob man noch ein Viertelstündchen wartet.

Tilte hat sich auf den Bock gestellt. Sie wartet einen Augenblick, bis sie sich der Aufmerksamkeit des Parks sicher ist. Dann zeigt sie auf die beiden Männer.

»Das ist ein Ehrenmord«, brüllt sie.

Tilte ist kaum größer als ich und dünn. Aber ihre Haare! Lockig und rot, rot wie unsere dänischen Briefkästen, außerdem hat sie sich Extensions machen lassen. Wenn man zu den Haaren jetzt noch ihre feldherrnhafte Ausstrahlung hinzurechnet, hat man so ungefähr eine Erklärung für die folgenden Ereignisse.

Wieder fängt die Wirklichkeit an, sich zu verändern. Plötzlich wird für alle klar erkennbar, dass wir in einer Hochzeitskutsche sitzen, dass Hans und die Milchkaffeebraune frisch verheiratet sind und Tilte die Brautjungfer und ich der Brautknabe und Basker der Hochzeitshund. Und es ist ebenso unverkennbar, dass die beiden rasch sich nähernden Männer potenzielle Mörder sind, die einer jungen Liebe den Vollzug verwehren wollen.

Eine Konstellation, die Nørrebros Vergangenheit als Arbeiterbezirk wiederbelebt. In der Schule haben wir das nur gestreift, an einem Tag, an dem meine intellektuelle Formkurve nicht ihren höchsten Stand erreicht hatte, das heißt, ich kenne mich da eigentlich nicht so aus, und wie viele von diesen Sonnenanbetern im Park wirklich Industriearbeiter genannt werden können, ist schwer zu sagen. Aber der BMW und die schicken Anzüge verleihen den beiden Männern einen leicht kapitalistischen Anstrich, was sich in Nørrebro schnell als gesundheitsschädigend erweisen kann. Hinzu kommt Tiltes Charisma, alle im Park erkennen, dass hier eine Königin die Wachen alarmiert, und die tiefe Liebe der dänischen Bevölkerung zu ihrem Königshaus ist ja weltbekannt.

Was passiert also? Es bildet sich eine lebende Barrikade quer über die Straße, aus Müttern mit Kinderwagen, aus Hiphoppern, aus Männern und Frauen, um die man nicht herumkommt. Ihre uns zugewandten Rücken verströmen Wärme und Schutz, und ihre den Verfolgern zugewandte Front vermittelt, dass man, wenn die beiden nur noch einen Schritt machen, etwas möglicherweise Historisches erlebt, nämlich die Wiedereinführung der Todesstrafe in Nørrebro.

Tilte setzt sich wieder hin, Hans lässt die Zügel schnalzen, und die vier Rappen hüpfen wie Kängurus. Weit hinter uns haben unsere Verfolger noch immer ein rasendes Tempo drauf, aber jetzt in die andere Richtung, sie flüchten vor dem Hinrichtungs-Peloton und wollen zu den Resten ihres BMW.

Wir kreuzen einen breiten Damm und fahren auf sonnigen Straßen weiter und haben die Eltern einen Augenblick lang vergessen, so mitgenommen sind wir noch vom eben Erlebten und so effektvoll waren Tiltes Worte. Wir freuen uns einfach für Hans und seine Wunderschöne, und Autos hupen, um Glück zu wünschen, und wir winken zurück.

Schließlich haben wir einen großen Platz überquert und fahren eine Allee hinauf, da sagt die Sängerin:

»Ich steige hier aus.«

Sie holt ein Paar Laufschuhe aus der Tasche und zieht sie an, dann einen Pulli, den sie über das grüne Kleid streift, und sie bindet sich ein Tuch ums Haar, so kann sie ihren Sternenglanz ein wenig verhüllen, aber nur ein bisschen, weil er so überwältigend ist, und nach wie vor sage ich, ganz ehrlich und unter uns, wenn ich Conny nicht ewige Treue geschworen hätte und der Meinung wäre, mehr als zwei Jahre Altersunterschied zwischen Liebesleuten grenze an Kindesmissbrauch, schwebte ich in äußerster Gefahr, mich in flammender Liebe zu ihr zu verzehren. Und ich weiß, dass es Tilte und Basker genauso geht.

Sehen wir uns also Hans an.

Was nützt es schon, wenn ich sage, Hans sei von einer Frau im Herzen getroffen, weil er ja ständig und jede Minute nicht nur getroffen ist, sondern geradezu torpediert wird durch die Tatsache, dass es Frauen überhaupt gibt. Trotzdem, obwohl er vor einem Mädchen schon mehr als einmal den Affen gemacht hat, das hier schlägt alle Rekorde. Dieser erste nackte Eindruck, über den Tilte und ich unsere Theorie aufgestellt haben, du erinnerst dich, hat ihn total benebelt und in einen Teddybären verwandelt, der mit seinen wasserblauen Kulleraugen hilflos die kaffeebraune Schönheit anstarrt.

Also muss Tilte die Initiative ergreifen.

»Wie heißt du?«, fragt sie das Mädchen.

»Aschanti.«

Dann fügt sie hinzu:

»Ihr wart wunderbar.«

»Wissen wir«, sagt Tilte. »Und jetzt gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder du bewahrst das Wunderbare wie eine Perle der Erinnerung in deinem Herzen, die du dann bis zur Bahre mit dir herumtragen kannst.«

Ich weiß nicht, wieso Tilte ständig diese Sache mit dem Tod auftischen muss, aber so ist sie nun mal.

»Und die zweite Möglichkeit?«, fragt das Mädchen.

»Du kriegst Hans’ Handynummer. Denn mit solchen Verehrern wie den beiden eben könntest du bald wieder Hilfe brauchen.«

Das Mädchen, das Aschanti heißt, guckt Tilte an.

»Das sind Leibwächter«, sagt sie.

Sie kramt ihr Mobiltelefon heraus.

»Die sehen eher aus wie Gefangenenaufseher«, sagt Tilte.

»Das ist ja das Problem«, sagt Aschanti. »Wenn es schwer wird, den Unterschied zu erkennen.«

Irgendwo in ihrem perfekten Dänisch hört man einen fremden Dialekt, so als wäre man im Hochwald von Finø auf eine Kokospalme gestoßen.

Sie bekommt Hans’ Nummer und speichert sie ab. Als sie sich aufrichtet, glauben wir alle, dass sie jetzt vom Wagen springen will. Aber dann gibt sie Basker einen Kuss und mir einen und Tilte einen, und abschließend drückt sie Hans einen Kuss auf die entgeisterten Züge, und dieser Kuss dauert eine Ahnung länger. Dann springt sie hinunter und entschwebt.

Es gibt Menschen, die nehmen ein wenig Tageslicht mit, wenn sie gehen. Als Aschanti weg ist, ist es gleichsam dunkler geworden, und die Wirklichkeit kehrt zurück, mit Bodil Nilpferds Anruf und der Gewissheit, dass Vater und Mutter verschwunden sind.

Wir halten im Hof von Hans’ Studentenwohnheim, das auf den Fælledpark zeigt. Auf der Straße sind Sonnenschein und Verkehr und läutende Kirchenglocken und Menschen, die am Kiosk Milch und Zeitungen kaufen, jede Menge Leben sozusagen. Aber um uns herum sieht es sehr schwarz aus.

»Gleich werden sie uns holen«, sagt Tilte.

»Niemand wird euch holen«, sagt Hans.

Vielleicht haben alle Menschen verschiedene Seelen in sich, auf jeden Fall steckt in meinem großen Bruder ein Beschützer. Er zeigt sich nicht sehr oft, aber wenn, dann schlagen die Messinstrumente aus und die Dinge stürzen um. Das feinste Restaurant in Finø-Stadt liegt am Hafen und heißt Svumpukkel, und mehrmals schon ist Hans da vorbeigekommen und hat ein paar Mädchen umkreist, die ihn ausführten, und dann kamen aus dem Svumpukkel drei, vier junge Männer, die meinten, der perfekte Abschluss eines idyllischen Ferienaufenthalts in naturschöner und historischer Umgebung sowie eines guten Mittagsmenüs mit fünf Gängen und passendem Wein wäre, ein paar Eingeborene zu massakrieren, und sie fanden, Hans und seine Mädels hätten sich selbst auf dem Silbertablett serviert. Aber kaum gingen sie zum Angriff über, passierte irgendetwas mit meinem großen Bruder. Der verlegene, aber herzensgute Jüngling, den wir alle kennen und mögen, verschwand, und an seiner statt erscheint eine Naturkatastrophe, plötzlich schwimmen zwei der jungen Männer in ihrem Blute, der dritte hängt zwischen den Fahrrädern und der vierte versucht, in einer Staubwolke zu fliehen.

Diese Seite von Hans kommt nun zum Vorschein. Aber Tilte schüttelt den Kopf.

»Wir brauchen dich draußen«, sagt sie.

Jetzt kommt eine Pause, in der Pause ist es still. Wir wissen alle vier, dass wir uns jetzt trennen müssen, nun fängt die Mühsal an, wir sagen nichts, und in der Stille spüre ich etwas von Tilte und Hans.

Eltern sind natürlich in Ordnung, auch unsere. Wenn aber Erwachsene ein Examen ablegen müssten, um Kinder kriegen zu dürfen, wie viele würden es bestehen, ganz ehrlich? Und wenn sie es bestünden, dann wahrscheinlich gerade so mit Ach und Krach. Und unsere Eltern? Auch wenn Tilte meint, dass in meiner Kindheit nichts Gravierendes passiert ist, was nicht mit zwei Jahren Jugendknast und fünf Jahren Therapie wieder einzurenken wäre, dann möchte ich dazu doch bemerken: Falls man unsern Vater und unsre Mutter nicht hätte durchfallen lassen, dann lediglich aus Mitleid.

Doch mit den Geschwistern verhält es sich manchmal anders, schwer zu erklären, aber da auf der Droschke spüre ich etwas. Und natürlich schaut Tilte mich im selben Augenblick an.

Mit dem Wort Liebe sollte man vorsichtig sein. Es macht einen schnell pomadig und verwässert den zwirbelnden Innenrist. Aber hier muss ich es benutzen, es ist das Einzige, das passt. Wenn dies der Fall ist, geht die Tür leise auf, und die Chance ist da, einen Schimmer der Freiheit zu erahnen.

Damit du verstehst, was ich meine, möchte ich kurz einschieben, wie wir entdeckt haben, dass die Liebe und die Tür etwas miteinander zu tun haben. Also eigentlich hat Tilte es entdeckt, in der Küche des Pfarrhauses.

Ich weiß nicht, wie es in deiner Familie ist. Aber bei uns muss man immer früh raus, dann sind so viele Stullen zu schmieren und so viele Schulstunden und Hausaufgaben zu machen und so viel Fußball hinterher, und so viele Leute besuchen den Pfarrhof, auch weil meine Mutter und mein Vater alle drei Kirchen auf Finø abwechselnd betreuen, da ist also so viel los, dass man im Alltag das Gefühl hat, der Orkan Lulu tobe über dem Kattegat und habe sich im Pfarrhof häuslich niedergelassen.

Aber zuweilen kommt es vor, dass der Wind abflaut, in der Regel freitags oder sonnabends, die See wird plötzlich ruhig, und einen kurzen Augenblick lang wird uns dann bewusst, dass die Familie nicht nur so ein Gerücht ist, normalerweise passiert das in der Küche, und in einem solchen Augenblick haben wir es entdeckt.

Mein Vater war dabei zu kochen. Angeblich entspannt es ihn, obwohl es dann immer aussieht wie in der Fleischwarenfabrik, und zwar zu Stoßzeiten. Er sagt – und glaubt selber daran –, er mache das Essen, das er in seiner Kindheit in Nordhavn im nördlichen Teil unserer Insel bekommen habe; von Nordhavn spricht er immer in den höchsten Tönen, als wäre es sonnendurchflutet und tränenselig und wonnetrunken gewesen, obwohl wir Kinder seine Mutter, unsere Großmutter, noch besucht haben, bevor sie starb, wahrscheinlich an verschluckter Galle, weshalb wir die Möglichkeit, sie sei irgendwann imstande gewesen zu kochen, mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen können.

Trotzdem zaubert mein Vater mit seinem Presskopfapparat und seinen Wursttrichtern und mittelalterlichen Rezepten aus Das alte Finø Gerichte zusammen, die manche Menschen schätzen, und gerade jetzt macht er Entenrillettes und Schweinsfußsülze, die er genauso fest hinkriegt wie einen Lecablock.

Meine Mutter sitzt mit Elektrozangen, Lötkolben, Uhrmacherlupe, Computer, Mikrophonen und einem Oszillographen am Tisch und bastelt an einem Öffnungsmechanismus für den Vorratskeller, der per Stimmerkennung ausgelöst werden soll. Links von ihr, auf der Schlafbank, sitzt Hans mit einem Himmelsatlas. Daneben sitzt Tilte und überblickt die Szenerie. Unterm Tisch liegt Basker und ächzt wie ein Asthmatiker, dabei hat er eine Sauerstoffaufnahme wie ein Windhund, aber er hört sich halt gerne beim Atmen zu.

Und ich sitze im Sessel. Wenn du mich als kleinen, zarten und geringfügig schwächlichen Knaben vor dir siehst, der ausschließlich damit beschäftigt ist, seinen Beitrag zur guten Stimmung zu leisten, bist du auf der richtigen Spur.

Alles in allem also ein Moment, in dem man zu glauben wagt, man habe eine Familie.

Nun tritt etwas ein, das an sich zunächst ganz vertrauenerweckend aussieht.

Mutter programmiert den Computer so, dass er ihre und unsere Stimmen erkennt, und summt dafür die ersten Strophen von »Am Montag im Regen am Solitudevej«.

Das Lied ist einer ihrer absoluten Favoriten. Bach und Schubert bringt sie liebende Sympathie entgegen, aber was ihre tiefsten Gefühle berührt, ist »Solitudevej«, das heißt, wir Kinder sind mit diesem unsterblichen Klassiker wie mit etwas Selbstverständlichem aufgewachsen. Die Gefahr dabei ist, dass man so etwas als gegeben hinnimmt. So dass die Familie ein wenig zusammenzuckt, als Tilte plötzlich sagt:

»Mama, hat das Lied eigentlich eine besondere Bedeutung für dich und Papa?«

Es wird auf einmal sehr still in der Küche. Mutter räuspert sich.

»Als ich neunzehn war«, sagt sie, »hat mich meine Freundin Bermuda, die ihr alle kennt, aufgefordert, beim jährlichen großen Talentwettbewerb im Hotel Finø anzutreten. Ich habe mich drei Monate vorbereitet, der große Tag bricht an, Bermuda begleitet mich zum Hotel, ich betrete die Bühne in Regenmantel und einem Hütchen groß wie eine Pillenschachtel und singe also ›Am Montag im Regen am Solitudevej‹. Mit einem kleinen Tanz, den ich selber choreographiert hatte. Das Licht war ziemlich grell. Deshalb hat mich erst in der letzten Strophe so ein Gefühl beschlichen, dass dies hier gar kein Talentwettbewerb war. Aber erst hinterher wurde mir bewusst, dass ich mich auf dem alljährlichen Pfarrkonvent des Amtes Nordjütland befand.«

Zwei Minuten andächtiges Schweigen. Dann spricht Tilte.

»Ich hoffe, Bermuda gegenüber hast du die entsprechenden Maßnahmen ergriffen.«

»Ich wollte es gerade tun«, sagt Mutter, »aber ich wurde abgehalten. Euer Vater kam nämlich zu mir. Damals habe ich ihn das erste Mal gesehen.«

»Was hat er gesagt?«, fragt Tilte.

Mutter steckt den Lötkolben in den Halter. Legt den Draht mit dem Lötzinn hin. Nimmt die Lupe aus dem Auge.

»Er hat mir erzählt«, sagt sie, »wie froh ich werden würde. Wie wundervoll das Leben mit ihm wäre.«

Wieder ein Augenblick Stille. Wir wissen: das stimmt. Vater ist so. Seiner Meinung nach erweist er den Leuten tiefstes christliches Mitgefühl, indem er ihnen erzählt, es erwarte sie das Erlebnis ihres Lebens, wenn sie ihn etwas besser kennenlernten.

Jetzt steht Mutter auf. Langsam geht sie auf Vater zu. Es spricht für ihn, dass er rot geworden ist, dass er also gegen allen Anschein und die Überzeugung vieler so etwas wie Scham im Leibe hat. Er sieht Mutter an, die Sülze ist in Vergessenheit geraten.

»Und weißt du was, Konstantin«, sagt Mutter. »Du hast recht behalten.«

Dann küsst sie ihn. Dem beizuwohnen ist einerseits ausgesprochen peinlich, andererseits darf man sich damit trösten, dass keine Außenstehenden zugegen sind.

Bis hierhin ist alles einigermaßen normal und unter Kontrolle und im Rahmen dessen, was man an einem guten Tag in womöglich sogar mehreren Familien auf Finø erleben kann. Aber in dem Moment, in dem Mutter Vater losgelassen hat und die drei Schritte zu ihrem Stuhl zurückgehen will, kommt Tilte ins Bild.

»Hört mal eben!«

Was dann geschieht, ist schwer zu erklären. Jedenfalls hat es damit zu tun, dass wir alle sechs auf etwas lauschen. Nicht darauf, was gesagt oder getan wird, sondern darauf, was dieser Situation eigentlich innewohnt. Und als wir das tun, folgen zwei, drei sensationelle Sekunden, in denen alles schwebt, der Pfarrhof, die Störche auf dem Dach, der Vorratskeller, sogar die Schweinssülze wird schwerelos, und inmitten dieser Schwerelosigkeit öffnet sich allmählich die Tür.

Dann können wir den Zustand nicht länger bewahren, mit der Innerlichkeit ist es ebenso wie mit dem Waldlauf, die Form muss allmählich aufgebaut werden. Mutter setzt sich also wieder hin, Vater steckt den Kopf in den Topf mit Entenrillettes, Hans richtet den Blick in die Sterne, und Basker hat einen neuen Asthmaanfall, der Zauber ist vorbei.

Aber wenn man erst einmal einen Blick dafür hat, wenn man sich bloß einen Moment lang in die Liebe versenkt, vergisst man es nicht mehr.

Und jetzt geschieht es wieder, hier im Hof von Hans’ Wohnheim, als ich merke, wie gut es ist, Geschwister zu haben, und Tilte mir in die Augen sieht.

Dann hören wir einen Motor.

Es ist ein Minibus mit getönten Scheiben, und schon als er auf den Hof biegt, haben wir uns geduckt.

Er hält hinter uns.

»Sie können nicht wissen, dass es sich um eine Kutsche handelt«, flüstert Tilte, »sie denken, sie müssten nach einer Taxe Ausschau halten.«

Sie hat recht. Die drei Personen, die aus dem Wagen steigen, werfen nur einen hastigen Blick auf den Vierspänner, dann sind sie im Wohnheim verschwunden.

Die beiden Ersten, ein Mann und eine Frau, sind Zivilbeamte.

An jedem zweiten Freitag im Sommer setzt die Finø-Fähre neben den üblichen sechshundert Touristen zur Verstärkung des örtlichen Polizeikorps zwei Beamte in Zivil ab, und unter den sechshundert Feriengästen fallen die beiden durch ihre individuell-anonyme Art auf wie zwei Laubfrösche auf einer halben Fischfrikadelle. Auch jetzt gibt es keinen Zweifel, und im Grunde hatten wir sie erwartet. Die eigentliche Überraschung ist die Dame dahinter. Es ist Bodil Nilpferd, Grenås Gemeindedirektorin.

In zwei Sekunden sind wir runter von der Kutsche und an dem schwarzen Minibus, das ist noch so eine gute Sache bei Geschwistern, wenn es wirklich drauf ankommt, ist jeder eingespielt und kennt seinen Platz im Team.

Wir machen die Tür auf. Es ist ein Sieben-Personen-Bus, hinten mit Gitter für den Hundetransport, und an fünf Sitzen ist eine Flasche mit Trinkwasser befestigt.

»Die nehmen Peter und Basker und mich mit«, sagt Tilte zu Hans, »das ist unvermeidlich. Das heißt, du musst verschwinden. Zieh zu einem Freund und halt dich bedeckt. Mich und Petrus nehmen sie nicht für voll, die denken, wir sind bloß Kinder, dadurch können wir eher herausfinden, was hier eigentlich vor sich geht.«

Eine andere Möglichkeit gibt es nicht, das müssen wir alle einsehen. Hans setzt sich auf den Bock. Er wirkt verbissen, beinahe verzweifelt. Er wirft uns noch einen letzten Blick zu, dann schnalzt er mit der Zunge, und die Kutsche ist weg.

Der Flur im Wohnheim ist leer, an seine Zimmertür hat Hans eine große Karte von Finø und eine noch größere des Sternenhimmels geheftet. Die Tür ist zu.

Tilte macht sie auf, man kommt in einen kleinen Flur, in dem es auch eine Kochecke gibt, und hier ist auch der Zugang zur Toilette. Die andere Tür führt ins Zimmer. Wir öffnen sie vorsichtig.

Bodil Nilpferd sitzt in einem Sessel. Die beiden Beamten suchen etwas, übrigens nichts, was sie verloren hätten, denn sie haben Hans’ Bücher aus dem Regal geräumt und die Schränke so gut wie geleert und machen nun Anstalten, das Bett auseinanderzunehmen.

Tilte zieht ihr Handy aus der Tasche, fotografiert die Beamten, und bevor wir bemerkt werden, ist das Telefon schon wieder in ihrer Tasche verschwunden.

Bodil hat uns entdeckt, sie winkt uns zu ihrem Sessel herüber. Typisch Bodil, sie sitzt auf dem Thron, zu ihr geht man hin.

»Schön, euch zu sehen«, sagt sie, »wo habt ihr denn euren großen Bruder gelassen?«

Sie öffnet ihre Hände, damit man sein Pfötchen in ihre Pranke legen kann.

»Er schließt sein Rad im Fahrradkeller an«, sagt Tilte.

»Wir können eure Eltern nicht erreichen. Wir haben zwar keinen Grund zu der Annahme, dass ihnen irgendetwas zugestoßen ist, aber wir können sie nicht ausfindig machen. Deswegen muss ich euch etwas fragen. Dem Gemeinderat haben sie gesagt, sie seien in Spanien, auf La Gomera. Haben sie euch das auch gesagt?«

»Wollen wir gern drauf antworten«, sagt Tilte. »Aber vorher möchten wir auch gerne wissen, wieso ihr meint, dass sie nicht auf Gomera sind.«

Ich weiß über Nilpferde nicht viel zu sagen. Aber ich glaube, in der großen Schlammpfütze gehören sie zu den Tieren, die die Tagesordnung festlegen. Das gilt auch für Bodil. Sie verstärkt den Griff um Tiltes Hand.

»Ich bin es, die hier die Fragen stellt«, sagt sie. »Habt ihr mit euren Eltern abgemacht, dass sie euch anrufen?«

»Darauf wollen wir gern antworten«, sagt Tilte.

Dabei lässt sie ihr Telefon in meine Tasche gleiten.

»Aber erst«, fährt sie fort, »möchten wir euch etwas fragen, was uns Sorgen macht, und zwar ob eure Papiere in Ordnung sind.«

Auf Bodils Stirn entsteht eine Falte.