Die Kirche ist tot - es lebe die Kirche - Heinzpeter Hempelmann - E-Book

Die Kirche ist tot - es lebe die Kirche E-Book

Heinzpeter Hempelmann

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Beschreibung

In seinem neuen Buch wagt der Theologe Prof. Dr. Heinzpeter Hempelmann eine Bestandsaufnahme der Kirche ohne Ausreden und Schminke. Aus seiner Sicht befinden sich die Kirche und das Christentum in einer schweren Krise. Die Volkskirche hat in ihrer bisherigen Form keine Zukunft mehr. Heinzpeter Hempelmann nennt die Gründe beim Namen, warum die Kirche in dieser Gesellschaft immer mehr an Gewicht verliert. Weil er überzeugt ist, dass es so nicht weitergehen kann, zeigt er im zweiten Teil, wie die evangelische Kirche eine neue Zukunft gewinnen kann: Wenn Sie sich traut, eine schwache Kirche zu sein, die sich auf einen starken Gott besinnt. Und wenn sie wieder den Weg in die Lebenswelten der Menschen findet. Provokativ. Ehrlich. Hoffnungsvoll.

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Heinzpeter Hempelmann

Die Kirche ist totes lebe die Kirche !

Denkanstöße, wie die Kirche neue Zukunft gewinnen kann

Die verschiedenen Kapitel beruhen auf Aufsätzen, die bereits veröffentlicht wurden und hier überarbeitet vorliegen:

Kapitel 1: Warum die Kirche keine Zukunft hat. 11 Provokationen, in: thbeitr 51. Jg. (2020), 440-456.

Kapitel 2: Schwache Kirche unter den Verheißungen eines starken Gottes. Wie die Kirche Zukunft gewinnen kann, in: thbeitr 52. Jg. (2021), 78-97.

Kapitel 3: ,,Jede(r) hörte sie in seiner Sprache reden“ (Apg 2,6b). Verheißungen für eine milieusensible, lebensweltorientierte Kirche, in: Thomas Schlegel/Martin Reppenhagen (Hrsg.): Kirche in der Diaspora. Bilder für die Zukunft der Kirche. Festschrift zu Ehren von Michael Herbst, Leipzig, Evangelische Verlagsanstalt 2021, 145-168. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

Kapitel 4: Welche Kirche hat Zukunft?, in: thbeitr 46. Jg. (2015) H.2/3, 84-95.

Die Überlegungen in diesen Aufsätzen sind noch einmal zusammengefasst, verdichtet und weitergeführt in einem Vortrag, gehalten am 7. Juni 2022 in Nöbdenitz auf der Zukunftswerkstatt ,,Vo(r)m Untergang der Titanic. Werkstatt für Visionär*innen“: Sieben Gründe, warum diese Kirche keine Zukunft hat. Acht Perspektiven, wie diese Kirche Zukunft gewinnen kann. In: Emilia Handke/Kristin Jahn (Hrsg.): Risse und Glanz. Röntgenbilder einer Kirche, Altenburg 2022, 9-28.

© der deutschen Ausgabe:

2023 Brunnen Verlag GmbH, Gießen

Lektorat: Uwe Bertelmann

Umschlagillustrationen: Adobe Stock

Umschlaggestaltung: Jonathan Maul, Brunnen Verlag

Satz: Brunnen Verlag

ISBN Buch 978-3-7655-2139-3

ISBN E-Book 978-3-7655-7677-5

www.brunnen-verlag.de

Stimmen zum Buch

Es mag wehtun, die harten Analysen Heinzpeter Hempelmanns zur Zukunft der Kirche zu lesen. Es kann sein, dass vieles an der Institution Kirche zerbricht, aber Gott bricht zu uns auf und das ist alles, was zählt. Daran zu erinnern, ist das Verdienst dieses anstößigen Buches. Unter dem Titel ,,Vo(r)m Untergang der Titanic. Werkstatt für Visionär*innen“ haben wir Hempelmanns Thesen im Sommer 2022 im Kirchenkreis Altenburger Land, in Nöbdenitz, diskutiert. Hempelmanns Thesen sind eingeflossen in den Tagungsband „Risse und Glanz. Röntgenbilder einer Kirche, hg. v. Emilia Handke und Kristin Jahn. Ein Buch, das von einer Region erzählt, wo vieles von dem, was Hempelmann hier beschreibt, längst eingetreten ist und Gottes Gegenwart neu aufscheint – abseits der alten Strukturen.

Kristin Jahn, Generalsekretärin des Deutschen Evangelischen Kirchentags

Kein düsteres Untergangsszenario, sondern eine schonungslos nüchterne Analyse von Kirche in unserer Zeit zeichnet Heinzpeter Hempelmann in diesem Buch. Dies tut er nicht lieblos, sondern mit einer tiefen Leidenschaft für die Kirche, Jesus Christus und ihren Auftrag in dieser unserer Welt. Aber ein „Weiter-so“ sucht man vergebens. Im Gegenteil, vermeintliche Sicherheiten, auf die wir unser kirchliches Handeln lange Zeit bauten, werden als brüchig, ja trügerisch entlarvt. Nicht resignativ lamentierend, sondern provokativ in seiner radikalen Ausrichtung an dem, was uns von dem Herrn der Kirche in den neutestamentlichen Zeugnissen gesagt ist. „Die Kirche ist tot. Es lebe die Kirche“ ist ein Mut machendes und zugleich wagemutiges Buch. Es vertröstet nicht, sondern rüttelt wach. Es redet nicht schön, sondern lässt die Schönheit und Wirksamkeit einer schwachen Kirche erahnen. Wer dieses Buch zur Hand nimmt, wird nicht gedrängt, endlich die reine Wahrheit gegenüber der ach so bösen Welt zu postulieren. Hempelmann ermutigt aus der „Wahrheit zu leben“ und in der daraus geschenkten Gewissheit, sich als Kirche um der Menschen willen zu riskieren. Ein verheißungsvoller Ansatz, lesenswert für alle, die eine Leidenschaft für Kirche haben und sich mit der gegenwärtigen Situation der Kirche nicht abfinden.

Werner Baur, OKR i.R.

Mit diesem Buch beweist Heinzpeter Hempelmann doppelten Mut: Er wagt es, die Zukunftsfähigkeit der Kirche radikal anzuzweifeln, ohne die verharmlosenden Wendungen und Schönfärbereien, welche zur „internen“ Kirchenkritik sonst dazugehören. Und er wagt es, trotzdem für die Kirche zu hoffen – für eine gedemütigte Kirche, die wohl nicht ihre glorreichsten, aber möglicherweise ihre segensreichsten Tage noch vor sich hat.

Dr. Manuel Schmid, RefLab, Reformierte Landeskirche Kanton Zürich

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1 Provokationen – Warum diese Kirche keine Zukunft hat

Persönliche Vorbemerkung

1. Die Kirche hat keine Zukunft, weil sie schlicht immer mehr Mitglieder verliert.

2. Die Kirche hat keine Zukunft, weil sie kommunikativ ihre Anschlussfähigkeit verloren hat.

3. Die Kirche hat keine Zukunft, weil sie ein geschlossenes System und veränderungsunfähig ist.

4. Die Kirche hat keine Zukunft, weil Konstantinisches Kirchentum nur noch eine historische Größe ist.

5. Kirche hat keine Zukunft, weil viele Christen sich schämen, zur Kirche zu gehören, und sich deshalb auch nicht gerne zu ihr bekennen.

6. Die Kirche hat keine Zukunft, weil sie nicht (mehr) lebensnotwendig ist.

7. Die Kirche hat keine Zukunft mehr, weil sie ihren Unique Selling Point (USP) verloren hat.

8. Die Kirche hat keine Zukunft, weil sie falsch ausbildet, die falschen Leute ausbildet, und auch noch stolz darauf ist.

9. Die Kirche hat keine Zukunft, weil sie eine Theologie duldet, akzeptiert und sogar fördert, die tödlich ist und geistliches Leben wie Gemeindewachstum zerstört.

10. Die Kirche hat keine Zukunft, weil sie nicht mehr weiß, wer sie ist, und weil sie scheut und zutiefst ablehnt, was sie ist.

11. Die Kirche hat keine Zukunft, weil sie selbstsicher im Bewusstsein lebt, sie besitze eine Ewigkeitsgarantie.

12. Die Kirche hat keine Zukunft, weil sie ihre Zukunftsfähigkeit verspielt, indem sie ihre Ressourcen für deren Reflexion aufbraucht.

Kapitel 2 Perspektiven – Wie eine schwache Kirche wieder Zukunft gewinnen kann

1. Gott setzt auf das Schwache.

2. Die Kirche hat Zukunft – um ihrer Schwäche willen.

3. Theologische Logik als Entlastungslogik: Verzichtserklärungen.

4. Ressourcen heben und gewinnen

5. Bewusst Minderheitenkirche werden

6. Den Ansehensverlust als Chance begreifen

7. Kirche ohne Konstantinische Rüstung

Resümee

Kapitel 3 Konkretionen – Impulse für eine milieusensible, lebensweltorientierte Kirche

1. Milieusegmentierte Kirche in einer milieufragmentierten Gesellschaft

2. Milieusensible Kirche unter der Verheißung: vom Segen der Umkehr

3. 21 Impulse für eine Kirche, die nahe bei den Menschen ist

4. Verheißung auf milieusensibler Kommunikation

Kapitel 4 Hoffnungen – Wie die Kirche der Zukunft aussieht

1. Wer wissen will, was Kirche ist und wie Kirche aussieht, muss sich eine Geschichte anhören.

2. Die Kirche der Zukunft ist eine Kirche, die ihre sicheren Burgen verlässt, die aufbricht und die sich riskiert.

3. Die Kirche der Zukunft gewinnt Zukunft, indem sie ihre Identität preisgibt.

4. Die Kirche der Zukunft verzichtet auf alle Selbstbehauptung.

5. Die Kirche der Zukunft ist mobile und flexible Kirche.

6. Die Kirche der Zukunft gibt dem Menschen absolute Bedeutung.

7. Die Kirche der Zukunft ist eins in der Vielfalt.

Zum Schluss – Kein Happy End, aber belastbare Hoffnung

Anmerkungen

Vorwort

Inzwischen merkt es fast jeder: Kirche und Christentum befinden sich in einer tiefen Krise. Sie haben in unserer Gesellschaft ihre weitgehende Selbstverständlichkeit verloren. Inzwischen muss man sich nicht mehr entschuldigen, wenn man aus der Kirche austritt; man sieht sich eher genötigt zu begründen, warum man denn noch zu ihr hält.

In einem ersten Kapitel versuche ich eine – sicher pauschale – Bestandsaufnahme der Gründe. Ziel ist es, nicht die Details auszumalen, sondern eine Gesamtschau anzubieten, wie sie sich mir nach mehr als vier Jahrzehnten Erfahrungen auf allen möglichen kirchlichen Tätigkeitsfeldern nahelegt.

In einem zweiten Kapitel möchte ich dieser sehr kritischen Analyse die Ressourcen gegenüberstellen, die gerade eine solche schwach gewordene Kirche besitzt, wenn sie offen und ehrlich Bilanz zieht und – in Gottes Namen – einen Neuanfang wagt. Damit das nicht theologisch-theoretisch bleibt, trage ich aus der akademischen Diskussion wie vor allem der praktischen Beratungsarbeit Impulse zusammen, die nicht einem Wünsch-dirwas-Katalog entspringen, sondern Wege für eine Kirche im Übergang weisen können.

In einem dritten Kapitel wird ein Hauptproblem evangelischen und katholischen Christentums fokussiert: Die beiden großen Kirchen haben weitgehend ihre Kommunikationsfähigkeit verloren und sind für die Mehrheit der Menschen in unserer Gesellschaft schlicht nicht mehr anschlussfähig. Eine neue Lebensweltorientierung ist nicht nur Masche und Methode. Sie folgt dem inkarnatorischen Gott, der kommuniziert, indem er wird wie wir. Was sind die praktikablen Konsequenzen?

Im vierten Kapitel möchte ich noch einmal klarstellen: Die Frage ist nicht, ob Kirche Zukunft hat, sondern welche. Sie gewinnt neu Zukunft, auch nach dem Ende des Konstantinischen Zeitalters, wo sie sich neu an der Kommunikation des dreieinigen Gottes ausrichtet.

Danken möchte ich meinem Freund und Lektor Uwe Bertelmann. Wenn dieses Büchlein eine überzeugende und gewinnende Gestalt hat, verdanke ich das seiner Mit-Arbeit, bis in inhaltliche Aspekte hinein. Sie ist ein weiteres Stück einer fruchtbaren Weggemeinschaft.

Kapitel 1

Provokationen –

Warum diese Kirche keine Zukunft hat

Persönliche Vorbemerkung

Dieser Text hat schon vor seiner Veröffentlichung in der Zeitschrift Theologische Beiträge1 Kontroversen ausgelöst. Ich rechne damit, dass er auch bei den Lesern dieses leicht veränderten (u. a. um eine zwölfte Provokation erweiterten) Nachdrucks auf ebenso energischen, teilweise empörten Widerspruch stoßen wird, ebenso wie auf dankbare Zustimmung. Möglicher Hauptangriffspunkt ist die notwendigerweise flächige, weit ausgreifende und nicht um 1000 Differenzierungen bemühte Darstellung, die auch als gewalttätig, unfair und ungerecht empfunden wurde.

Ich nehme diese möglichen Einwände hier bewusst vorweg und entwaffne mich damit ein Stück weit selber. Ich habe mich trotz der polarisierenden Wirkung, ja sogar wegen ihr zum Abdruck entschlossen. Und das vor allem aus zwei Gründen. Der moderne Diskurs, auch der über die Kirche, ist gekennzeichnet durch das Bemühen um Differenzierungen. So notwendig diese an ihrem Ort sind, sosehr kann Diskurs – auch und der über und in der Kirche – eine im Endeffekt lähmende Wirkung entfalten. Schlicht formuliert: Man sieht vor lauter Bäumen, Ästen und Blättern den Wald nicht mehr. Technisch-administrativ gesprochen: Man versucht die noch bezahlbaren Immobilien gerecht auf die Gemeinden zu verteilen und entsprechend umzurechnen, und bemerkt nicht, was die Schließung von Kirchen für die Gesellschaft „bedeutet“; man versucht, die noch besetzbaren und bezahlbaren Pfarrstellen auf die immer kleiner werdende Zahl von Kirchenmitgliedern umzurechnen und in immer kürzeren Abständen das parochiale Netz neu zu stricken, und bemerkt nicht, dass es an vielen Stellen schon gerissen ist oder zu zerreißen droht.

Es fehlt das Gesamtbild, das letztlich handlungsleitend und zielgebend sein muss. Bleibt es allein beim analytisch-kritischen Diskurs, kommt es nicht zum Tun, das die notwendigen Veränderungen bringt, und diese gehen eben nicht in rein technisch-administrativen Maßnahmen auf. Ein Pfarr-Plan ist eben noch kein Fahrplan. Umgestaltung setzt den Mut zum Risiko eines – ungeschönten – Gesamtbildes voraus. Ich könnte mir selbst bei jedem der 12 Gründe, warum diese Kirche keine Zukunft hat, x-fach in den Arm fallen, seitenweise Differenzierungen vornehmen und – verstummen. Ich möchte aber nicht mehr nur Bäume, Blätter, Äste zeigen, sondern den Wald selber sichtbar machen. Dabei schreibe ich nicht nur aus einer engagierten Insiderperspektive, sondern beziehe auch das mit ein, was mir seit Jahren in Begegnungen außerhalb der kirchlichen Hauptamtlichen- und Funktionärsszene an Einschätzungen, Anfragen und Kritik begegnet.

Das Resultat ist ein Wucht-Text, aber kein Wut-Text; apodiktisch im Ton, ohne Ausreden und Schminke, sicherlich korrektur- und ergänzungsbedürftig, mindestens aber ein Versuch, verschiedene Gründe zu benennen, warum evangelische Kirche in dieser Gesellschaft immer mehr an Gewicht verliert, und sich dabei nicht auf die bekannten religionssoziologischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen zurückzuziehen.

Meine Überzeugung ist: So geht es nicht weiter. Dabei soll es aber auch von meiner Seite aus nicht bleiben. In einem bewusst zweiten Schritt benenne ich, unter welchen operationalisierbaren Bedingungen auch eine evangelische Kirche eine Zukunft hat (Kapitel 2, Ressourcen). Diese Vorschläge und die ihnen voraussichtlich folgende Diskussion soll der vorliegenden Analyse aber nicht die Kraft nehmen.

1. Die Kirche hat keine Zukunft, weil sie schlicht immer mehr Mitglieder verliert.

Die Zahlen sind hinreichend bekannt. Die großen Kirchen verlieren massiv und beschleunigt Mitglieder. Die Zahl der Kirchenaustritte steigt nicht nur linear, sondern exponentiell. Gehörten in Deutschland vor nicht allzu langer Zeit noch bis zu 90% der Bevölkerung zu einer der beiden großen Kirchen, so sind allein aus der evangelischen Kirche seit 1990 10 Mio. Menschen aktiv ausgetreten – und da haben wir noch nicht vom demografisch bedingten Mitgliederschwund geredet. Kein Geringerer als einer der ehemaligen Vizepräsidenten des Kirchenamtes der EKD, Thies Gundlach, kommentiert im Hinblick auf den Charakter von Kirche als Volkskirche: „Schlägt dieser beständige quantitative Verlust in eine neue Qualität um? Was bedeutet dies für das Ideal einer flächendeckenden Präsenz der Kirche? Wie verändert sich die Rede von der Volkskirche, wenn sie zwar weiterhin Großkirche bleibt, aber nicht mehr als Mehrheitskirche erfahren wird?“2 Die Freiburger Studie zur langfristigen Entwicklung der Kirchenmitglieder und des Kirchensteueraufkommens prognostiziert bis 2060 einen Rückgang der Zahlen der Kirchenmitglieder um die Hälfte.3 Man mag aus wissenschaftstheoretischer Sicht diskutieren, ob solche Prognosen seriös sind. Vorstellbar ist durchaus, dass sich der Prozess noch mehr beschleunigt. Sicher ist allerdings eines: Der Volkskirche laufen die Leute weg. Die Hauptveranstaltung von Kirche, der sonntägliche Gottesdienst, wird, setzt man freundliche Zähltage an, gerade noch von 3-4% der Mitglieder besucht. Das sind Vor-Corona-Zahlen. Was die Pandemie davon übrig gelassen hat, muss sich ja erst noch zeigen. Mich überrascht immer wieder, wie sehr man auf diese Veranstaltungsform fixiert ist, die quasi ein Monopol darauf hat, Kirche zu sein. Mich wundert, welche enormen personellen und finanziellen Mittel man für diese marginalisierte, quantitativ kaum noch ins Gewicht fallende Veranstaltung einsetzt. Mich verwundert, dass die ständig zurückgehenden Zahlen angesichts der angeblichen Bedeutung dieser Gottesdienstform kaum ein Aufreger sind. Man hat sich weitgehend daran gewöhnt.

Wir sehen eine weit fortgeschrittene mentale Entfremdung weiter Teile der Bevölkerung von den Kirchen. Damit bin ich bei meinem zweiten Punkt.

2. Die Kirche hat keine Zukunft, weil sie kommunikativ ihre Anschlussfähigkeit verloren hat.

Die Kirche erreicht nur noch drei Lebenswelten in unserer milieufragmentierten Gesellschaft. In den SINUS-Milieus sind dies das nostalgisch-bürgerliche Milieu, vor allem natürlich die Traditionsorientierten und in Teilen postmateriell/sozialökologisch bewegte Menschen.4 Vor allem die ersten beiden Milieus sehen in der Kirche ihre Heimat und fühlen sich in ihr wohl. Sie dominieren das kirchliche Leben und prägen ihm ihren Stempel auf. Das Resultat, sattsam bekannt, aber wenig beachtet: Sosehr wie sich die einen – in Kirchengemeinden oder aber auf Kirchentagen dominierenden – Milieus wohlfühlen, so klar spüren die anderen, die allermeisten: Das ist nicht unsere Welt. Wolfgang Huber spricht von der Milieugefangenschaft der Kirche:

„Unsere Berührungsängste richten sich auf diejenigen, die an den Rand geraten, genauso wie auf diejenigen, die in Entscheidungszentren und Verantwortungsberufen tätig sind. Unsere Berührungsängste halten uns von vielen kulturell Kreativen genauso fern wie von wirtschaftlich Erfolgreichen. Mit dieser sozialen geht eine geistliche Milieuverengung einher. Wir wollen dem Volk aufs Maul schauen, aber wir hören nicht, was es sagt. Das ist geistlich besorgniserregend. Denn wir kennen den Kummer vieler Menschen nicht und auch nicht ihre Freude. Wir ahnen die Zweifel nicht, die sie in sich tragen, aber auch ihre Glaubensfestigkeit ist uns fremd. Wir würdigen das Engagement der Eliten nicht und sind sprachlos gegenüber den Ausgeschlossenen an den Rändern der Gesellschaft. Milieugrenzen zu überschreiten, ist der Kirche der Freiheit aufgegeben. Die Befreiung aus der Milieugefangenschaft ist für die Reform unserer Kirche zentral.“5

Sosehr die einen eingeschlossen sind, so sehr wissen sich die anderen ausgeschlossen. Kirche ist entgegen ihrem Anspruch und Selbstverständnis nicht „für alle da“.

Kirche wird mit einem Milieu identifiziert, zu dem man definitiv nicht dazugehören möchte. Konservativ-Gehobenen ist Kirche und Gottesdienst einfach zu schlicht, Postmateriellen ist sie zu unkritisch und unreflektiert, Performern zu unbeweglich, Expeditiven zu langweilig, Konsum-Hedonisten ein Ort der Regeln und ohne Spaß usw. usf.

Kommunikationsbarrieren kommen dazu. Menschen bewegen sich heute je nach Milieuzugehörigkeit in unterschiedlichen Medien, an ganz unterschiedlichen Orten, lassen sich von sehr unterschiedlichen Zeitbegriffen leiten, leben in sehr unterschiedlichen Sprachwelten, richten sich ein in krass gegensätzlichen Ästhetiken usw. Wer sie erreichen will, muss sich jeweils auf sie einstellen. Heutige Kommunikationskonzepte tun dies auch. In der Kirche hat man das nicht nötig. In ihr dominiert immer noch die „Komm-Struktur“. Die Kirchengebäude und kirchlichen Immobilien wie Gemeinde- und Pfarrhäuser sind ja da. Sie müssen bespielt werden.

Das wird nicht immer so krass ausgedrückt wie im Votum des Pfarrers, der auf die Frage nach adressaten- und zielorientierten Veranstaltungen die Antwort gab: „Wir machen doch schon jeden Sonntag Gottesdienst für alle.“

Ein halbes Jahrhundert Gemeindeaufbau- und Gemeindeentwicklungsprogramme haben als unhinterfragte Voraussetzung die „Komm-Struktur“. Auch für die ausgesprochen attraktionalen Programme gilt: Die Leute sollen in die Kirche, den Gottesdienst, in die kirchlichen Immobilien kommen. Alles andere wäre ja auch keine kirchliche Veranstaltung, kein richtiger Gottesdienst usw. So verliert man gerade die nachwachsende Generation, vermutlich auch schon einen erheblichen Teil der jetzt mittleren Generation. Junge Menschen gehen nicht in Kirche und Gemeindehäuser – nicht, wenn sie nicht müssen. Und nach der Konfirmation, zu deren Vorbereitung sie mussten, müssen sie nicht mehr. Die Komm-Struktur ist sowohl im immensen finanziellen Aufwand sichtbar, den diese steinreiche Kirche für ihre Immobilien treibt, von denen sie sich nur sehr schwer trennen kann, weil sie für ihre vergangene Größe stehen. Sie ist aber auch wahrnehmbar in der Schwerpunktsetzung auf den Erhalt der Gemeindepfarrämter, der die (auch im frommen Flügel gegebene) Bereitschaft gegenübersteht, die sog. Sonderpfarrämter zu reduzieren. Die sind ja eigentlich nicht nötig, weil sie nicht „der Gemeinde“ dienen. Aber ausgerechnet mit diesen funktionalen Diensten ragt Kirche noch in die unterschiedlichen Lebenswelten der Menschen hinein. Die angebliche Konzentration auf die Kernkompetenz ist in der Sache die Monopolisierung der Kernmilieus, die man bei der Stange halten will, so lange es geht.

Theologisch bedeutet das, dass Kirche ganz unevangelisch Bedingungen aufrichtet für ein Mitleben in der Gemeinschaft der Heiligen: Wenn du Christ sein und in der Kirche leben willst, musst du unsere subkulturelle Prägung annehmen und teilen.6

Soziokulturell geht es (a) um die Theorie der Orte und Unorte, wie sie etwa der französische Soziologe Michel Foucault entwickelt hat, nach der Menschen instinktiv bestimmte Orte favorisieren und andere ebenso instinktiv meiden7. Es geht weiter (b) um die Frage der Ästhetisierung des Alltags, incl. Musik, Formen sprachlicher Verständigung, Stilisierung der eigenen Lebenswelt. Wie der ebenfalls französische Soziologe Pierre Bourdieu in seiner bahnbrechenden Arbeit über Die feinen Unterschiede