Die kleinen roten Stühle - Edna O’Brien - E-Book

Die kleinen roten Stühle E-Book

Edna O’Brien

0,0

Beschreibung

In einer kalten, dunklen Nacht taucht in Cloonoila an der irischen Westküste ein Fremder auf und bringt Unruhe ins eingeschlafene Dorfleben. »Ein bisschen Romantik« erhoffen sich die einen, »Skandal« wittern die anderen. Denn Dr. Vladimir Dragan, kurz Vuk: »Wolf«, aus Montenegro will sich als Heiler und Sexualtherapeut bei ihnen niederlassen. Priesterliche Bedenken gegen seine Behandlungen zerstreut der Doktor im Nu, einen misstrauischen Polizisten wickelt er um den Finger. Der ganze Ort erliegt nach und nach dem Charisma des mysteriösen Fremden, der martialische Gedichte schreibt, lateinische Verse rezitiert und vor allem bei den Frauen scheinbar Wunder bewirkt. Die schöne, mit einem viel älteren Mann verheiratete Fidelma hat ihn sogar als Vater des Kindes auserwählt, nach dem sie sich so verzweifelt sehnt. Doch Vuk ist wirklich ein Wolf unter Schafen, ein gesuchter Kriegsverbrecher, und Fidelma wird für ihren Pakt mit ihm bitter bezahlen. Ihr Leben nimmt eine dramatische Wendung.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 407

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



EDNA O’BRIEN

DIE KLEINEN ROTEN STÜHLE

Aus dem Englischen von Kathrin Razum und Nikolaus Stingl

Roman

Steidl

Mit Dank

Zrinka Bralo

Ed Vulliamy

Mary Martin (sechs Jahre alt)

Der Einzelne kommt gegen die Geschichte nicht an.

Roberto Bolaño

Der Wolf hat ein Recht auf das Lamm.

Der Bergkranz (serbisches Epos)

Am 6. April 2012, zwanzig Jahre nach Beginn der Belagerung Sarajewos durch bosnisch-serbische Truppen, stellte man in der Stadt zum Gedenken 11 541 rote Stühle entlang der achthundert Meter langen Hauptstraße auf. Einen leeren Stuhl für jeden Einwohner und jede Einwohnerin Sarajewos, die während der 1425 Tage währenden Belagerung umgekommen waren. Sechshundertunddreiundvierzig kleine Stühle repräsentierten die Kinder, die durch Heckenschützen oder das Artilleriefeuer von den umliegenden Hügeln getötet worden waren.

ERSTER TEIL

CLOONOILA

[Gilgamesh] wusch seine verfilzte mähne, er reinigte sein schweißband,

er schüttelte sein haar über den rücken hinab,

legte seine schmutzigen kleider ab und zog saubere an,

warf den umhang über und band sich einen wehrgürtel um.

Der Ort ist nach dem Fluss benannt. Dieser, reißend und gefährlich, drängt in manischem Übermut vorwärts und trägt Bruchholz und Eisbrocken mit sich. In den kleinen Seitenarmen, wo das Wasser sich sammelt, glänzen blaue, schwarze, purpurne Steine vom Flussbett empor, perfekt gerundet und geglättet, es ist, als sähe man ein Gelege von ziemlich großen Eiern in einem Eimer Wasser. Das Tosen ist ohrenbetäubend.

Von den schlanksten Zweigen der ausladenden Bäume im Folk Park tropft das schmelzende Eis, ein sanftes Wispern, und die ringförmige Metallskulptur, für etliche Ortsansässige ein Schandfleck, wird durch eine ungleichmäßige Halskette aus Eiszapfen verschönt, bläulich in der kalten Nacht. Wäre er weiter ins Ortsinnere vorgedrungen, hätte der Fremde die Flaggen diverser Länder gesehen, Anzeichen dafür, wie kosmopolitisch der Ort inzwischen ist, sowie – eine nostalgische Reverenz an die Vergangenheit – einige alte landwirtschaftliche Geräte, einen Mähdrescher, ein Mühlrad und den Nachbau eines irischen Cottage aus der Zeit, als die Bauern in armseligen Unterkünften hausten und Nesseln aßen, um nicht zu verhungern.

Er bleibt am Wasser, scheint davon gebannt.

Bärtig, in langem dunklem Mantel und weißen Handschuhen, steht er auf der schmalen Brücke, schaut auf den rauschenden Fluss hinunter und sieht sich dann um, wirkt ein bisschen verloren, seine Anwesenheit das einzige Kuriosum in der Monotonie dieses Winterabends in einem eiskalten Kaff, das als Stadt durchgeht und den Namen Cloonoila trägt.

Sehr viel später würden Leute von seltsamen Geschehnissen an diesem Winterabend berichten: von Hunden, die wie verrückt bellten, so als donnerte es, und vom Schlag der Nachtigall, deren Trillern und Flöten so weit im Westen eigentlich nie zu hören war. Die kleine Tochter einer Tinker-Familie, die in einem Wohnwagen am Meer wohnte, schwor, sie habe den Púca gesehen, der ihr durchs Fenster mit dem Beil gedroht habe.

* * *

Dara, ein junger Mann mit gelverklebter Stachelfrisur, strahlt, als er hört, wie jemand zögerlich die Türklinke herunterdrückt, und denkt Endlich Kundschaft. Wegen dieser verfluchten Promillegrenze läuft das Geschäft schlecht, sie hocken da draußen auf dem Land, die verheirateten Männer und die Junggesellen, lechzen nach ein paar Pints, aber sie riskieren es lieber nicht, wo ihnen die Polizei doch bei jedem Schlückchen über die Schulter schaut, ihnen die einfachen Freuden des Lebens nimmt.

»’n Abend, Sir«, sagt er, als er die Tür öffnet und den Kopf hinausstreckt. Dann macht er eine Bemerkung über das furchtbare Wetter, und die beiden Männer stehen in einer Art sich anbahnender Kameradschaftlichkeit da und atmen die kalte Luft beherzt in tiefen Zügen ein.

Als er den Mann da draußen etwas genauer betrachtete, verspürte Dara den Impuls, das Knie vor ihm zu beugen, denn er sah aus wie ein Heiliger mit seinem weißen Bart und weißen Haar und in diesem langen schwarzen Mantel. Er trug weiße Handschuhe, die er jetzt langsam abstreifte, Finger um Finger, und sah sich unbehaglich um, als würde er beobachtet. Dara bot ihm den guten Ledersessel am Kamin an, warf ein paar Briketts ins Feuer und gab eine Prise Zucker dazu, damit es ordentlich loderte. Es war das mindeste, was er für den Fremden tun konnte. Dieser war gekommen, um nach einer Unterkunft zu fragen, und Dara sagte, er werde »mal scharf nachdenken«. Er bereitet einen heißen Whiskey mit Nelken und Honig zu und legt als Hintergrundmusik die Pogues auf, in all ihrer großartigen Wildheit. Dann zündet er ein paar alte Kerzenstummel an, der »Stimmung« halber. Der Fremde lehnt den Whiskey ab und fragt, ob er stattdessen einen Brandy bekommen könnte, den er dann eine Weile in dem großen Kognakschwenker kreisen lässt und schließlich trinkt, ohne ein Wort zu sagen. Dara, eine echte Quasselstrippe, breitet sein Leben vor ihm aus, einfach um ein Gespräch in Gang zu halten – »Meine Mutter ist echt eine Heilige, mein Vater hält viel von Jugendtreffs, aber nichts von Drogen und Alkohol … meine kleine Nichte ist meine Freude und mein ganzer Stolz, die hat gerade mit der Schule angefangen, und da hat sie eine neue Freundin gefunden, Jennifer … Ich arbeite in zwei Bars, hier im TJ’s und am Wochenende im Castle … Die Fußballer gehen ins Castle, das sind absolute Gentlemen … Ich hab mich mit einem von ihnen fotografieren lassen … Hab mal Pelés Autobiographie gelesen, echt stark … Im Sommer fliege ich nach England, zu einem Freundschaftsspiel gegen England im Wembley-Stadion … Wir haben den Flug schon gebucht, wir sind zu sechst, übernachten in einem Hostel, das wird bestimmt klasse … Ich geh ab und zu ins Fitnessstudio, mach ein bisschen Ausdauertraining und Unterarmstütze. Ich mag meine Arbeit … Mein Motto ist ›Sorg vor, dann musst du dich nicht sorgen‹ … Bei der Arbeit trinke ich nie, aber wenn ich mit den Jungs unterwegs bin, darf’s schon mal ein Guinness sein … Ich mag Fußball, aber ich guck mir auch gern Filme an … neulich hab ich einen tollen Film gesehen, mit Christian Bale als Dark Knight und so, aber Horrorfilme wären nichts für mich.«

Der Gast wirkt jetzt etwas wacher und sieht sich um, offenbar fasziniert von dem Krimskrams, der in all den Ecken und Winkeln herumsteht, Sachen, die Mona, die Besitzerin, im Laufe der Jahre angesammelt hat – Porter- und Bierflaschen, kunstvoll beschriftete Zigarettenschachteln und Zigarrenkisten, ein kleines Sherryfässchen aus Keramik mit goldenem Zapfhahn und dem Namen der Region in Spanien, aus der es stammt, und zum Gedenken an einen traurigen Tag ein geschnitztes Holzschild, auf dem steht: »Achtung! Tiefe Jauchegrube!« Dieses Erinnerungsstück, erklärte Dara, bezog sich auf einen Bauern in Killamuck, der eines dunklen Abends in seine Jauchegrube gefallen war, worauf seine beiden Söhne hinterhergesprungen waren, um ihn zu retten, und dann auch noch ihr Hund Che – und sie alle ertranken.

»Furchtbar traurig, wirklich furchtbar«, sagt er.

Er ist mit seiner Weisheit am Ende, kratzt sich mit einem Bleistift am Kopf, schreibt die Namen der verschiedenen B&Bs auf, die aber, wie er bedauernd anmerkt, fast alle schon Saisonende haben. Er hat es bei Diarmuid versucht, dann bei Grainne, aber es ist niemand rangegangen, und bei drei anderen springt ein Anrufbeantworter an und weist den Anrufer klipp und klar an, keine Nachrichten zu hinterlassen. Dann fiel ihm Fifi ein, die ein bisschen verschroben war seit ihrer Zeit in Australien, aber sie war nicht zu Hause, wahrscheinlich, wie er erklärte, irgendwo meditieren oder Mantras singen, sie war ein New-Age-Junkie, stand auf Prana und Karma und all diesen Kram. Seine letzte Chance ist das Country House Hotel, wobei er weiß, dass es eigentlich schon geschlossen hat und die Inhaber, ein Ehepaar, demnächst zu einer Trekkingreise nach Indien aufbrechen werden. Er hat Iseult, die Frau, am Telefon. »Ausgeschlossen. Ausgeschlossen.« Aber nachdem er ihr ein bisschen Honig ums Maul geschmiert hat, lenkt sie ein: eine Nacht, aber wirklich nur eine. Er kennt sie. Er liefert Sachen dort an, Wein oder frischen Fisch und Hummer direkt vom Kai. Ihre Zufahrt ist ewig lang, zieht sich in Windungen dahin, von gewaltigen alten Bäumen überschattet, auf der einen Seite ein Wildpark, ein eigenes Flüsschen, ein Schwesterfluss des Flusses in der Stadt, eine kleine Bogenbrücke, hinter der sich die Zufahrt weiter erstreckt bis zu dem Rasen vorm Haus, auf dem Pfauen herumstolzieren und tun, was Pfauen eben tun. Einmal hatte er beim Aussteigen aus dem Lieferwagen zufällig gesehen, wie einer der Pfauen sein Rad schlug, die Schwanzfedern wie ein Fächer oder der Balg einer Ziehharmonika, ein toller Anblick, das Grün und Blau leuchtend wie Buntglas, eine wahre Pracht. Ab und zu beschwerten sich anscheinend Hotelgäste über die nächtlichen Schreie der Pfauen, die denen eines notleidenden Babys seltsam ähnlich seien, aber die Leute, fügte Dara hinzu, kämen manchmal eben auf komische Gedanken.

Ein Jugendlicher kam herein, gaffte die seltsame Gestalt mit der Sonnenbrille an, brach in schallendes Gelächter aus und ging wieder. Dann erschien eine der Muggivan-Schwestern und versuchte den Gast in ein Gespräch zu verwickeln, aber er war in seiner eigenen Welt, dachte seine eigenen Gedanken und murmelte in einer fremden Sprache vor sich hin. Als sie gegangen war, entspannte er sich etwas, ließ den Mantel von seinen Schultern gleiten und sagte, er sei schon seit vielen Tagen auf Reisen, allerdings sagte er nicht, von wo er aufgebrochen war. Dara schenkte ihm ein zweites Glas ein, diesmal großzügiger bemessen, und bot ihm an, die Drinks anzuschreiben, er werde ja hoffentlich öfter mal vorbeikommen.

»Es ist mir eine Ehre, Sie als Gast zu haben, Sir«, und mit diesen Worten überließ er den müden Mann seinen Gedanken und trug das Datum und die beiden Brandys in sein Buch ein. Der Gast erzählte, da, wo er herkomme, werde der Branntwein aus Pflaumen und Zwetschgen gemacht und Rakija genannt, und er habe mindestens vierzig Prozent. Er sei obligatorisch bei Taufen, Hochzeiten und am Grab von Kriegern.

»Obligatorisch.« Dara gefiel es, wie dieses Wort seinen Mund ausfüllte. Wo das denn sei, wo der Gast herkomme, wagte er zu fragen.

»Montenegro.«

Als Dara das Wort Montenegro hörte, fiel ihm ein anderer Fremder von dort ein, ein ziemlicher Einsiedler, er hatte in einem großen Haus mit Blick aufs Meer gewohnt und morgens in aller Herrgottsfrühe seine garstigen Hunde ausgeführt. Sein vorzeitiger Tod mit Anfang sechzig, nicht ganz hasenrein. Nur drei Trauernde an seinem Grab in Limerick, drei Leute, die sich unter einen einzigen Schirm duckten. Er war ihm nie persönlich begegnet, hatte aber so einige Geschichten vom Sergeant gehört, denen zufolge er woanders polizeilich gesucht wurde. Aber das war wohl keine angemessene Anekdote für den Gast.

Er war hinter dem Tresen hervorgekommen, völlig baff, so sollte er es später formulieren, über die Klugheit dieses Mannes, dessen Wissen, ein wandelndes Lexikon. Er hörte von der schönen Landschaft Montenegros, Bergen, die sich mit den Alpen messen konnten, tiefen Schluchten, Gletscherseen, die als die Augen der Berge bezeichnet wurden, und Tälern, in denen die Kräuter üppig sprossen. In den Fels gehauene kleine Kirchen und Klöster ohne Fenster, wo die Leute hingingen, um auf die gleiche Weise zu beten, wie man es von den Iren kannte. In den Jahrhunderten vor Christus hatten, so erfuhr er, in den Schluchten der Karpaten und an den Ufern der Drina Kelten gelebt, die Verbindung zwischen Irland und dem Balkan war unstrittig. Wissenschaftler hatten die Hieroglyphen in alten Schriftrollen und die Artefakte in diversen Museen eingehend studiert und Ähnlichkeiten zwischen den damals jeweils benutzten Waffen und Rüstungen festgestellt.

»Ihr Volk hat also ähnliche Ungerechtigkeiten erleiden müssen wie meines«, sagte er.

»Oh, ja, allerdings … Meine Mutter, die aus Kerry kommt, hat uns oft von dem Massaker in Ballyseedy erzählt, da haben sie neun Männer aneinandergefesselt und eine Granate mittenrein geworfen. Nur einer hat das überlebt, nämlich mein Großvater, und der ist ihr dann jedes Jahr an diesem Tag erschienen, am 24. März, wirklich wahr … stand immer am Fußende von ihrem Bett.«

Der Fremde hörte sich das an, sann darüber nach, senkte mitfühlend den Kopf.

»Haben Sie schon mal von Siddharta gehört?«, fragte er nach langem Schweigen.

»Ich glaube nicht«, antwortete Dara.

Siddharta, so erfuhr er jetzt, hatte vor Tausenden von Jahren gelebt und eines Tages bei einem rituellen Pflügen eine Vision gehabt, in der ihm das Leiden der Menschheit offenbart und die Aufgabe übertragen wurde, zu tun, was er konnte, um dieses Leiden zu lindern. Nun sei er natürlich nicht Siddharta, schob der Fremde rasch nach, doch auch er habe mitten im Leben einen ganz neuen Weg eingeschlagen. Er habe sich in verschiedene Klöster zurückgezogen, um dort zu meditieren und zu beten. Am meisten habe ihn die schwierige Frage beschäftigt, wie er dieses bestimmte Etwas, das er verloren habe, wiedererlangen könne. Dieses Etwas, das dem modernen Menschen schlechthin verlorengegangen sei, ob man es nun Seele nenne oder Harmonie oder Gott. Indem er sich aus der Welt zurückgezogen und die Reise auf dem fliegenden Teppich der Gelehrsamkeit angetreten habe, sei er in den Rosengarten des Wissens, der Esoterik, Traumdeutung und Trance gelangt. Durch sein ausgiebiges Studium habe er eine schlichte Erkenntnis gewonnen, nämlich die der Analogie von Gegensätzen, was ihn wiederum auf die Idee gebracht habe, die überlieferte Medizin mit der modernen Wissenschaft zu kombinieren, eine Synthese des Alten und Neuen, die sich gegenseitig befruchteten.

»Und das alles bringe ich Ihnen«, sagte er und streckte Dara zur Bekräftigung die Hand entgegen.

»Wahnsinn«, war das Einzige, was Dara dazu einfiel.

»Eine Frau hat mich hierhergeführt«, fuhr der Fremde mit einem Anflug von Schalk fort und schilderte, wie ihm eines Nachts im Kloster mit den Worten Ich bin aus Irland eine bleiche, tränenüberströmte Frau erschienen war, die ihn angefleht hatte, in ihre Heimat zu kommen. Dara mit seinen oberflächlichen Geschichtskenntnissen sagte, diese weinende Frau sei weithin bekannt und in jedem Schullesebuch zu finden, man nenne diese Erscheinung Aisling, was so viel heiße wie Traum. Dann reichte ihm der Gast seine Karte, auf der in schwarzer Schrift Dr. Vladimir Dragan stand, gefolgt von einer Reihe akademischer Grade. Darunter las er Heiler und Sexualtherapeut.

»Aber ich werde Vuk genannt«, sagte der Mann mit einem zögerlichen Lächeln. Vuk sei in seiner Heimat ein beliebter Name für Söhne, und zwar wegen der Legende von der Frau, die mehrere Säuglinge hintereinander verloren und dann beschlossen hatte, ihr Neugeborenes Vuk zu nennen, was Wolf bedeutete, damit die Hexen, die Babys fraßen, zu viel Angst hätten, um sich auf das Wolfskind zu stürzen. Sie unterhielten sich prächtig, als zu Daras großem Ärger das verdammte Telefon klingelte. Es war Iseult vom Country House Hotel, die wissen wollte, wann der Gast komme und ob ihm Krebsscheren zum Abendessen recht seien.

Er stand in der Tür und verfolgte, wie der Mann unter einer dünnen Mondsichel die Straße entlangging, wie seine auf dem Eis knirschenden Schritte immer leiser wurden, er die Brücke überquerte und den rauschenden Fluss hinter sich ließ, auf dem Weg zu dessen Schwesterfluss, der nicht annähernd so schnell dahinströmte. Dara tat ein paar kräftige Atemzüge und rüstete sich innerlich, denn er wusste, dass die Bar sich bald füllen und man einen detaillierten Bericht über diese Begegnung von ihm erwarten würde.

Desiree war die Erste, ein dralles Mädchen im rosa Minikleid, das ihre kräftigen, nackten Arme sehen ließ, und mit einem Mantel über dem Kopf; sie platzte vor Neugier.

»Gott, ich könnte echt einen Kerl gebrauchen, hab schon seit einem halben Jahr keinen mehr gehabt«, sagte sie und wollte wissen, ob der Bursche vorzeigbar sei und ob Single oder verheiratet. Trug er einen Ring? Die Muggivan-Schwestern waren die nächsten, sie schlichen in ihren grauen Mänteln und Häkelmützen herein und bestellten Pfefferminzlikör. Fifi erschien mit ein paar Freundinnen, und Mona, auf den Trubel aufmerksam geworden, kam aus ihrer Wohnung herunter, setzte sich wie ein normaler Gast auf einen Barhocker und bestellte sich ihren üblichen Drink, einen großen Portwein mit einer Scheibe Orange. Seit zwanzig Jahren verwitwet, trug sie immer schöne dunkle Kreppkleider mit einem Ansteckbukett aus Stoffveilchen an ihrer üppigen Büste, und sie sprach mit leiser, hauchiger Stimme. Monas Leben ruhte auf zwei Grundpfeilern: Zum einen war das Padre Pio, in den sie unbeirrbares Vertrauen hatte, zum anderen waren es Liebesromane, von denen sie gar nicht genug kriegen konnte. Sie verschlang sie, so wie sie abends im Bett Toffees verschlang, und als sie sich jetzt umsah, stellte sie zu ihrer Freude fest, dass die Bar sich füllte, seit Weihnachten war das Geschäft nämlich gar nicht gut gelaufen. Auch Plodder der Polizist war da, Diarmuid, der ehemalige Lehrer, und Dante, der Stadtpunk mit seinen Dreadlocks und seiner schwarzen Kluft, flankiert von seinen Kumpanen, die beide schon im Knast gesessen hatten – Ned, weil er in Blumenkästen Marihuana angebaut, und Ambrose, weil er von dem Bauunternehmer, bei dem er arbeitete, Bleirohre gestohlen hatte. Der Laden brummte. Von Begeisterung erfasst verkündete Dara stolz, der Fremde sei ein Gentleman durch und durch, bis zu den Schuhspitzen. Bald hatte er seine Zuhörer völlig in der Hand, setzte ihnen die Ereignisse wie ein Puzzle zusammen, wobei er das Ganze noch etwas ausschmückte, den bohrenden Blick des Mannes beschrieb, seine langen Finger, ausdrucksvoll wie die eines Pianisten, und den Siegelring mit dem Adlerwappen in der Farbe roten Wachses. Der Fremde sei zwar, wie gesagt, ein feiner Pinkel, aber er habe zugleich die Aura eines heiligen Mannes, wie einer dieser Pilger, die früher barfuß umhergezogen seien und Gutes getan hätten. Dara erzählte auch von dem Zwetschgenbrand, Rakija, der bei Taufen, Hochzeiten und am Grab von Kriegern obligatorisch sei, und dass die Menschen auf dem Balkan und in Irland gemeinsame Vorfahren hätten.

Ob der Neuankömmling einer dieser Haie sei, die auf Gas oder Öl spekulierten und ihr fruchtbares grünes Land ausbluten wollten?

»Ganz und gar nicht … er ist ein Doktor, ein Philosoph, ein Dichter und Heiler.«

»Jesusmaria, kleiner geht’s wohl nicht!«, sagte Plodder der Polizist, der seine eigenen Schlüsse zog. Kurz vor der Pensionierung und von den Kollegen eher belächelt, wurde er nur mit kleinen Aufgaben betraut, fehlende Rücklichter, streunende Schafe, aber dass mit diesem Besucher irgendwas nicht stimmte, das spürte er im Urin, ein Hochstapler oder Schwindler war das oder vielleicht ein Bigamist.

»Wo kommt er denn her?«, fragte Mona.

»Aus Montenegro«, antwortete Dara und erzählte dann die Geschichte von der Blutsbrüderschaft zwischen den irischen und balkanischen Kelten und dass die Artefakte, die man dort in den Feldern und sonstwo gefunden habe, denen aus Boyne ähnelten.

»So ein Blödsinn«, sagte Desiree.

»Er bleibt länger hier …«, sagte Dara und ließ dann, zufrieden mit seinem Timing, die Bombe platzen und erzählte, dass der Mann eine Praxis als Heiler und Sexualtherapeut eröffnen wolle.

»Gütiger Gott«, entfuhr es den Misses Muggivan, und sie bekreuzigten sich.

»Oh, oh, oh … ein Sexualtherapeut!« Die Diskussion wurde hitzig. Einige witterten Laster und Verderbnis, vereinzelte Stimmen beharrten darauf, dass er ein Vehikel für das Gute sein könnte. Sie überschrien einander. Es war zu viel für den ehemaligen Lehrer Diarmuid, der sich das ganze Gequassel angehört hatte und jetzt an die anderen appellierte, ihm doch bitte die Gelegenheit zu geben, eine vernünftige, vermittelnde Ansicht kundzutun:

»Es gab mal einen Mann namens Rasputin«, begann er und ging dabei auf und ab, rechthaberisch und streitsüchtig, immer noch der Lehrer, nur von niemandem mehr mit Ehrfurcht betrachtet, »der aus der sibirischen Wildnis kam und sich in den innersten Zirkel des russischen Hofs einschlich, indem er sich als Heiler und Visionär ausgab. Er versprach, Russland aus seiner Lethargie und Finsternis zu erheben, das kranke Kind der Zarin, den künftigen Erben, von seiner Hämophilie zu heilen und Wunder ohne Ende zu vollbringen. Hat er den Erben geheilt? Nein. Hat er die russische Familie vor dem Erschießungskommando bewahrt? Nein. Er war ein Hurenbock und Hochstapler, der sich jeden Abend betrank und mit fast allen Frauen am Hof Geschlechtsverkehr hatte.«

Er hörte Gekicher und Füßescharren, war jedoch entschlossen, seine Meinung zu sagen, und warnte sie, schon auf dem Weg zur Tür, dass Rasputins letzte Mahlzeit ein Teller voll Kekse mit Zyanid gewesen sei.

»Eine tolle Geschichte, Diarmuid«, rief Mona ihm nach und bat ihn, doch zu bleiben, denn sie mochte es nicht, wenn Gäste verärgert gingen.

Dante hatte die ganze Zeit zugehört, und auf Monas Nicken hin begann er nun, die Bodhrán zu spielen, das braune Haar fiel ihm ins Gesicht, und seine Truppe wartete auf ihr Zeichen. Jede Menge Irish Coffee wurde bestellt. Dara bekam Komplimente dafür, dass er weiterreden und trotzdem die Schlagsahne so geschickt über die Rückseite des Löffels fließen lassen konnte, bevor sie zitternd im Kaffee landete. Die Musik wurde wilder, stampfender, Dantes Kumpane spielten Verzierungen und Rhythmen auf den Löffeln, während Desiree ihren Pseudo-Striptease vollführte. Dante ging auf den Zehenspitzen herum, beugte sich über jeden, der Schamane, und offenbarte ihnen flüsternd:

Der Weihnachtsmann, der kam nicht

Stattdessen kam sein Bruder

Der Weihnachtsmann ist tot

Der Weihnachtsmann ist tot

Das hat er berichtet

Samt Schlitten vernichtet

Das hat er berichtet

So sieht’s aus, mein Sohn

So sieht’s aus.

Ne finstere Geschichte.

Mona auf ihrem Hocker, ein bisschen beschwipst und nostalgisch geworden, presste die Stoffveilchen an ihre Brust und sagte: »Vielleicht bringt er ein bisschen Romantik in unser Leben.«

Draußen zeigte das Thermometer am Tor zum Folk Park drei Grad unter Null an, und drinnen aalten sie sich in der Wärme eines Feuers, das schon seit dem Morgen brannte. Rauchkringel schwebten durch den Raum, die Gesichter neugierig, fröhlich, verträumt, von Rauch umkränzt, wie Wesen, die in einem seltsamen nächtlichen Bacchanal gefangen waren.

FIFI

Fifi wachte auf, weil sie Stimmen hörte. Das konnte nur John sein, John, der seit fast drei Jahren tot war und sie immer noch regelmäßig besuchte, Verbindung aufnahm, wie er es genannt hätte. Als stünde er leibhaftig vor ihr, so sah sie ihn vor sich mit seinem zerzausten schwarzen Haar, den wilden schwarzen Augen und seinem alten grünen Pullover, von dessen Ärmeln Fäden hingen, sah ihn vor sich, wie er die Geheimnisse des Göttlichen verkündete, in das er eingeweiht war.

Sie hatte keine Angst vor seinem Geist, er konnte nur Gutes bringen. Sie waren Seelenverwandte, waren beide in der Welt herumgekommen und von ihren Reisen hierher zurückgekehrt, zum Küsten- und Bodennebel, in die Dunkelheit der Fomoren, wie er immer sagte. Die Beziehung war natürlich rein platonisch, denn wie sie bedauernd einräumte, war sie nach all der Sonne in Australien nur noch »ein vertrockneter alter Vogel«, während John mit seinem Haarschopf und seinen wilden Augen immer noch Orpheus war, der für irgendeine einsame Eurydike sang, wer immer sie auch sein mochte.

Ach ja, der glorreiche, abgehobene Unsinn von damals.

Zwei Jahre hatte er unter ihrem Dach gelebt, im hinteren Zimmer, das er Manaan Mac Lir nannte, Sohn des Meeres und Meeresgott. Er verrichtete körperliche Arbeit, grub um und hackte und tat das gern, weil er dadurch der Natur nahe war, und nachts betrieb er seine mystischen Studien. Ursprünglich hatten sie sich auf Übernachtung mit Frühstück geeinigt, aber das änderte sich mit der Zeit, ab und zu brachte er einen Hasen oder eine Forelle mit, und dann kochte sie für ihn und sie saßen am Küchentisch zusammen und unterhielten sich, John ließ sich über Gott und das Heidentum aus, über Gaia und Johannes vom Kreuz. Oft widersprach er sich dabei, erklärte, der Weg zur Religion bestehe darin, gar keiner Religion anzuhängen, und dann schlugen sie sich dort am Küchentisch fast die Köpfe ein, schrien einander nieder, wegen der unbefleckten Geburt und der Wiederauferstehung Christi. Sie war gläubig, doch für John war die Dichtung die wahre Religion.

Er missbilligte es, dass sie Sommergäste aufnahm, kampierte dann im Moor oder an der Küste und gab hin und wieder ein Seminar bei einer Summer School, an dem sie nicht teilnahm, weil sie zu viel zu tun hatte. Ihre Gäste kamen Jahr für Jahr wieder, einige zum Angeln, andere zur Jagd oder wegen der Festivals, die das ganze Jahr über stattfanden, zum Wandern oder weiß der Himmel wozu sonst noch.

Ihr Frühstück war legendär, die ganze Truppe außer John an ihrem langen Eichentisch, ihr bestes Knochenporzellan, die Baumwollservietten noch warm, weil sie sie gerade erst gebügelt und dann so gefaltet hatte, dass sie aussahen wie ein Briefumschlag mit offener Lasche und genau zwischen das sorgfältig um den Teller arrangierte Silberbesteck passten. Wenn die Gäste herunterkamen, wurden sie vom Duft warmen Kartoffelbrots und frischer Scones empfangen, dazu gab es Honig aus ihren eigenen Bienenstöcken und Marmelade oder Gelee aus verschiedenen Früchten. Sie nötigte ihre Gäste, dieses Frühstück einzunehmen, ob sie es wollten oder nicht, und schickte sie dann los zu ihren jeweiligen Unternehmungen.

Ihren kleinen »Ashram«, wie John es nannte, zu verlassen, war sein größter Fehler gewesen, denn wenig später starb er, und zwar, wie sie steif und fest behauptete, an Heimweh. Ein alter Pub, der jahrelang leergestanden hatte, war versteigert, renoviert und neu eröffnet worden, und der Lärm der Autos und Feiernden bis spät in die Nacht machte ihn schier wahnsinnig. Sie konnte ihn in seinem Zimmer fluchen und schimpfen hören, weil er aus seinen paradiesischen Träumen gerissen wurde. Er zog in den Süden, wo er Ruhe zu finden hoffte, nur um dort zu erleben, dass ein naher, stillgelegter Steinbruch wieder in Betrieb genommen wurde, sodass er den ganzen Tag den Lärm der Menschen und Maschinen ertragen musste.

»Und, John, was hast du mir zu sagen?«, fragte sie, während sie sich im Bett aufsetzte und eine Strickjacke anzog, denn es war eiskalt im Zimmer. Mit dem großen Zeh knipste sie die Stehlampe an, dann schlüpfte sie in ihre flauschigen rosa Hausschuhe. Sie ging hinunter, um ihre erste Tasse Tee zu trinken, und stellte sich vor, wie Bibi, ihre listige kleine Dackeldame, schon auf ihr erstes Schälchen Milch mit einem winzigen Schuss Tee wartete. Bibi hatte ein Gespür wie ein Mensch, sie wusste, dass ihr Frauchen bald verreisen würde, und nutzte jede Gelegenheit, um abzuhauen. Der Januar war der richtige Monat, um für eine Woche dichtzumachen und zu Mickey, dem Korbflechter, nach Leenane zu fahren, wo Fifi wieder lernen würde, wie man aus Weidengerten Körbe und Reusen flocht.

Das Klingeln überraschte sie – im Fenster des Wintergartens stand ein Pappschild, auf dem in Druckbuchstaben zu lesen war: Winterruhe – Geschlossen. Mit dem braunen Ei in der Hand, das sie sich vielleicht, aber vielleicht auch nicht, zum Frühstück kochen würde, ging sie an die Tür, und als sie den bärtigen Mann sah, ein Abbild des Moses, fiel ihr der feuchtfröhliche Abend gestern im Pub wieder ein, an dem sie unklugerweise Gin und Irish Coffee durcheinander getrunken hatte.

»Guten Morgen … Dara hat mich zu Ihnen geschickt«, sagte er in ruhigem, höflichem Ton.

»Guten Morgen … Dara hätte Sie nicht zu mir schicken sollen«, antwortete sie scharf. Einen Moment lang schwiegen sie beide, und er bewunderte die Aussicht, den Fluss, der hier zu einer großen Biegung ausholte, Aalreusen, Fischkörbe für die Krebse und zwei Schwäne, so reglos, als wären sie aus Porzellan. Der dunstverhangene Horizont schien sich auf den Bergkuppen abzustützen.

»Den Januar nutze ich immer zum Streichen und Renovieren«, sagte sie als Entschuldigung dafür, dass sie ihn abgewiesen hatte.

»Ihr Haus ist wirklich außergewöhnlich«, sagte er.

»Ach je, das bricht demnächst zusammen«, erwiderte sie, doch seine Bemerkung erfüllte sie mit Stolz. Ihr Haus war teils zwei-, teils einstöckig, mit einem halbrunden Wintergarten und einigen verfallenen Nebengebäuden auf der einen Seite. Es gab einen Vorgarten mit Zierpflanzen und einen großen Garten hinter dem Haus, der sich den steilen Hang zum Wald hinaufzog. Vor fünfzehn Jahren hatte sie das Cottage, das ihre Vorfahren einst aufgegeben hatten, erworben, die Wände von Pilzen bewachsen und Kakerlaken überall, doch zugleich das Wissen, dass hier irgendwann in ferner Vergangenheit der Mensch in Not und Elend hineingeboren worden war, von dem sie die pfefferschwarzen Tüpfel in ihren haselnussbraunen Augen und ihr aufbrausendes Temperament geerbt hatte.

Es war ein klarer, kalter Morgen, die Sonne warf ihr Licht auf die Büsche und die paar struppigen Heckenrosen, die den Winter bisher überlebt hatten, und die grünen Spitzen der frühen Krokusse lugten schon aus der Erde. Sie führte ihn nach hinten und zeigte ihm die kleine Lindenallee, den Apfelgarten und die schöne Sonnenuhr mit dem von Grünspan überzogenen Pfau, die von einem Herrenhaus im County Wicklow stammte. Sie zeigte auf die drei verfallenen Nebengebäude und sagte, irgendwann werde sie die zu Atelierwohnungen ausbauen. Als sie sich umschaute, stellte sie fest, dass Bibi verschwunden war. Sie war mal wieder weggelaufen – snobistisch, wie sie war, wahrscheinlich zum Castle, um sich unters vornehme Volk zu mischen. Fifi rief als Erstes im Castle an, wo man ihr sagte, Bibi sei nirgends zu sehen, dann lief sie hierhin und dorthin, bettelnd und beschwörend, und blies in eine Pfeife, die einen schrillen, gebieterischen Ton erzeugte. Sie befürchtete, jemand könnte Bibi gestohlen oder vergiftet haben, denn viele Leute neideten sie ihr.

Er half ihr suchen, und bald waren sie im Wald, bewegten sich ganz leise vorwärts, horchten auf jedes noch so kleine Geräusch. Ihm fiel auf, dass am Fuß einer Birke das Laub weggescharrt worden war und sich in der Erde eine kleine Öffnung befand. Er beugte sich vor, lauschte und sagte, er höre, dass sich dort etwas bewege.

»Da ist sie drin«, sagte er.

»Warum kommt sie denn nicht mehr raus?«

»Mutter Natur.« Er erklärte ihr, dass Bibi vermutlich der Witterung einer Ratte oder eines Hermelins gefolgt sei und sich mit geschärften Sinnen wildentschlossen in den Bau gezwängt habe. So hätte sie durch ein Nadelöhr gepasst. Aber wieder herauszukommen sei etwas ganz anderes. Das nötige Adrenalin fehle. Es sei ein Glück, dass sie so bald hierhergefunden hätten, denn wäre Bibi mehrere Tage dort drinnen geblieben, wäre sie zwar dünner geworden und hätte sich theoretisch wieder herauswinden können, tatsächlich aber wäre sie vorher verdurstet.

Er setzte den Spaten an, den sie vorsorglich mitgenommen hatten, lockerte die gefrorene Erde und grub dann mit einer kleineren Schaufel weiter, vorsichtig, um keine Knochen zu brechen, und als er den Bau weit genug geöffnet hatte, griff er hinein und zog sie behutsam heraus. Sie sah aus wie ein Lumpen, erdverschmiert, das eine Ohr eingerissen, und zitterte am ganzen Leib.

»Die war im Krieg«, sagte er.

»Meine kleine Vagabundin«, sagte Fifi und schloss sie in die Arme, und dann gingen sie schweigend zurück zum Haus. Sie stellten Bibi in einen Bottich mit warmem Wasser, Fifi wusch sie mit einem Schwamm und er kürzte ihr die vom Scharren beschädigten Krallen. Sie zitterte immer noch, als wüsste sie nicht, wo sie war, und zuckte zusammen, als sie ihr mit einer Pinzette die Erde aus den Nasenlöchern entfernten.

Dann kümmerte sich Fifi um sein Wohl und bereitete ihm ein herzhaftes Frühstück, während er die Sachen in der Küche bewunderte, die altmodische, grün gestrichene Anrichte, die unterschiedlichen Tassen und Rasierschalen, die hinten hineingezwängten Teller, die Marmeladenschälchen aus milchigem Uranglas.

Sie saß ihm am Tisch gegenüber, schnitt Weidengerten auf die gleiche Länge und musterte ihn zugleich. Er war ein gutaussehender Mann und, so viel war klar, ein feiner Pinkel, ein dunkelrotes seidenes Einstecktuch korrespondierte mit dem etwas matteren Rot seiner Seidenkrawatte. Irgendwie kam sie auf John zu sprechen, der so eine Inspiration für sie gewesen sei, und einer spontanen Regung folgend, holte sie den Schuhkarton mit Fotos von ihm, die ihn mit seinem breiten Lächeln zeigten, und mit Sprüchen, die er aus den Upanishaden abgeschrieben hatte, sowie einigen aus seiner eigenen Feder. Ihr Gast schaute sich alles an, war offensichtlich beeindruckt und las ein paar Sachen laut vor.

Wenn ich ein wenig von mir wiederherstelle, dann stelle ich auch ein wenig von dir wieder her, denn im kosmischen Gesetz des Göttlichen sind wir alle eins.

Oh Mutter Asien von den Herz-Sutren, weise mir den Weg.

Kehren wir zurück zur Vogelherrschaft von Conaire Mor, in der alle Wesen friedvoll miteinander leben und Mensch und Tier sich im göttlichen Plan mit der Natur verbinden.

»Er hat hier gewohnt?«, fragte er.

»Ja …«, erwiderte sie stolz, aber bevor es zu spirituell wurde, fügte sie hinzu, wenn er getrunken habe, sei John ein Teufel gewesen, und sie beschrieb ihn, wenn er freitags abends besoffen mit Fergal, einem anderen Orpheus, unterwegs gewesen war, beide zusammen auf einem Fahrrad, wie sie am Hügel beim Aalwehr angehalten hatten und Fergal gesagt hatte: »Du bist fast daheim, John«, und John geantwortet hatte: »Ich weiß, aber ich folge dem Weg des Otters.«

Im »Manaan Mac Lir«-Zimmer blickte er aus dem Fenster, wie John es so oft getan hatte, auf die Apfelbäume, die verfallenen Nebengebäude und den Wald, wo die kleinen Birken den Verheerungen so vieler Winter standgehalten hatten.

»Wir sind jetzt in der Stille«, sagte er, und sein Anblick, wie er so feierlich, so bischöflich und dabei so männlich dastand, rührte sie auf eine lang vergessene Weise an.

Dann sagte er, wie schön dieser Vormittag für ihn gewesen sei, wie bereichernd, und dass er ihn nicht vergessen werde. Mehr brauchte es nicht, um sie umzustimmen.

Sie einigten sich auf den Preis von hundert Euro pro Woche, und es fügte sich gut, dass er nun Bibi und die sechs Hühner würde versorgen können, während Fifi ihr Versprechen wahrmachte und zu Mickey nach Leenane fuhr.

Sie sah ihm nach, als er den kleinen Weg entlangging, aufrecht und dabei geschmeidig, und dachte sich, dass die Frauen von Cloonoila, ob verheiratet oder ledig, ihm zu Füßen liegen würden.

»Für dich, John«, sagte sie, ein seltenes Eingeständnis ihrer Einsamkeit.

MÄNNER DES GLAUBENS

»Scheußlich … wirklich ein scheußlicher Morgen.«

Die Wellen tosen über die Felsen, stürzen krachend auf die Promenade, setzen alles unter Wasser.

Doch zwei Tapfere lassen sich nicht davon schrecken, der jugendliche Father Damien in braunen Sandalen und Soutane und Dr. Vladimir im langen Überzieher, mit rotem Schal, weißen Handschuhen und einer Sonnenbrille mit glänzendem Metallgestell. Der Wind fährt dem jungen Priester unter die Soutane und weht sie ihm ins Gesicht, sodass seine wenigen, unbeholfenen Worte nur gedämpft zu hören sind.

Er ist neu in der Gemeinde, wurde ganz plötzlich nach Hause beordert, nachdem hier ein Priester an einem Aneurysma gestorben war und ein anderer, den Greyhounds zu sehr zugetan, mehr Zeit bei Hunderennen als mit der Erfüllung seiner pastoralen Pflichten verbracht hatte und schließlich versetzt worden war. Wie sehr er seine Arbeit in den Slums von Leeds und Manchester vermisse – das sei seine wahre Berufung, den Armen zu helfen, ihnen Hoffnung zu geben, nicht dieser Disput hier.

Sie kommen an der Hundestation vorbei, sehen, wie die schweren schwarzen Brecher heranrollen und gegen die beiden schon triefnassen Bänke klatschen, und steuern die Dünen an. Sie waren übereingekommen, dass es klüger war, sich draußen zu unterhalten, da sie im TJ’s oder im Castle mit Lauschern rechnen mussten, oder, wie Father Damien es etwas netter formulierte: »Wände haben Ohren.«

»Eine Art crimen sollicitationis«, der Doktor wiederholt die Worte – mit wohlklingender Stimme, aber in brüskem Ton. Als der junge Priester diese Worte bei seinem unerwarteten Besuch im Sprechzimmer nervös hervorgestoßen hatte, hatte er allein den Klang schon als verletzend empfunden. Gleich an Ort und Stelle hatte er den Begriff nachgeschlagen und festgestellt, dass er nichts Gutes verhieß. Missbräuchliche Ausnutzung einer Vertrauensstellung zur Förderung unzüchtiger Handlungen. Er hatte sich die Definition in sein Notizbuch geschrieben und blickt jetzt auf den Eintrag, während es auf die aufgeschlagenen Seiten regnet.

»Der Bischof macht sich Sorgen«, sagt Father Damien, darin mit diesem einig.

»Das tut mir leid«, sagte der Doktor ruhig.

»Die Sache ist die – es hat sich herumgesprochen, dass Sie als Sexualtherapeut praktizieren wollen, aber wir leben hier in einem katholischen Land, und Keuschheit ist oberstes Gebot.«

»Aber natürlich …« Er versichert seinem Freund, dass in seiner Heimat, seinem geliebten Balkan, jahrhundertelang Krieg geführt wurde, um den Glauben gegen die Heiden zu verteidigen.

»Nach Ansicht des Bischofs«, fährt Father Damien fort, »müssen wir stets wachsam sein, und ›Sexualtherapeut‹ sendet einfach die falschen Signale … Experimente … Aufregung … Abweichungen …« Er verstummt schamhaft. Er ist hin- und hergerissen zwischen Ehrerbietigkeit und Pflichtgefühl, und während er vor sich hin stammelt, wirkt der Doktor, hinter seiner dunklen Brille versteckt, unnahbar – ihre Blicke treffen sich nicht, sodass er nicht erkennen kann, ob seine Worte irgendetwas bewirken.

»Vergessen Sie nicht, dass ich den Hippokratischen Eid abgelegt habe«, sagt der Doktor und berichtet von seiner Anrufung Apollons und anderer heilender Göttinnen und Götter, der Selbstverpflichtung auf ethische Grundsätze. Intimität, so fuhr er fort, sei undenkbar, Verführung oder die Freuden der Liebe seien in Zusammenhang mit Patienten, ob Männern oder Frauen, absolut tabu.

»Aber Sie sind ein alternativer Heiler, und das geht mit allen möglichen neumodischen Ideen einher … und vielleicht auch einem Hauch Darwinismus«, sagt Father Damien, schrecklich befangen.

Schulmedizin und alternative Medizin, erfährt er, gingen Hand in Hand, es habe da einen Quantensprung gegeben, der auf die neuesten Erkenntnisse in der Neurobiologie und Kognitionswissenschaft zurückgehe, eine akustische Resonanz, ein Tanz innerhalb der Partikel des Körpers, durch den eine Krankheit aufgehalten werden könne, gute Zellen, die wie Soldaten gegen böse Zellen kämpften. Er ist messianisch in seiner Begeisterung, spricht von den Geheimnissen der Pflanzen, im Farn, im Korb der Sonnenblume, im Innern eines Nektarinensteins, und sagt voraus, dass eine Zeit kommen wird, wo die Medizin es Patienten ermöglichen wird, den Klängen ihrer Seele zu lauschen.

»Unglaublich«, sagt der Priester. Er ist völlig baff. Defixi. Das Wort des Bischofs klingt ihm in den Ohren, das lateinische Wort für fixieren, festmachen, von den Nägeln, mit denen man zu Zeiten der Römer Fluchtafeln durchbohrte, um Gegnern zu schaden. Defixio. Er ist halb blind vom Regen, und der Boden ist voller Löcher, sodass er stolpert, wo seine Haltung doch aufrecht sein sollte.

»Ich möchte nicht darauf herumreiten«, sagt er, »aber wenn wir uns vorstellen, da liegt jemand auf Ihrer Couch, ob Mann oder Frau, dem das Wort Sexualtherapeut durch den Kopf schwirrt, würde so jemand nicht etwas« – ihm stockt der Atem – »Abartiges erwarten?«

»Ich danke Ihnen für Ihre deutlichen Worte, aber glauben Sie mir, ich bin nicht hier, um Ihrer Gemeinde Seelen oder Körper abspenstig zu machen. Ich bin hier, um Gutes zu tun.«

»Wissen Sie, so viele Menschen hier empfinden ein Vakuum in ihrem Leben … In der Ehe geht die Magie verloren … Internetdating … Nacktheit … Hedonismus … was ich in der Beichte alles zu hören bekomme …«

»Tja, aber das ist für den Beichtstuhl gedacht – das bleibt zwischen den Leuten und Ihnen und hat nichts mit mir zu tun.«

»Gibt es im orthodoxen Glauben eigentlich die Beichte?«, fragt der Priester, nachdem er seinen Mut zusammengenommen hat.

»Ja und nein … in unserem orthodoxen Glauben wird jeder Priester mit der Befugnis ausgestattet, die Beichte abzunehmen, aber nicht jeder tut es.«

»Das wird meinen Bischof nicht überzeugen … das Leiden an der Sünde und die Reue sind Bestandteil unseres Wesens.«

»Ich möchte Ihnen in Erinnerung rufen, dass auch wir die sieben Sakramente kennen, auch bei uns gibt es die Buße, die Sie Beichte nennen, und die Salbung mit dem Chrisam.«

»Aber Sie senden eine aufrührerische Botschaft aus … das rote Tuch für den gallischen Stier«, sagt der Priester unverblümt.

»Ah«, ruft der Doktor. Jetzt versteht er, worum es geht, es fällt ihm wie Schuppen von den Augen, jetzt sieht er nicht mehr durch einen Spiegel, in einem dunkeln Wort – der Sexualtherapeut ist das Schreckgespenst.

»Ich könnte den ›Sexualtherapeuten‹ ja weglassen«, sagt er zu seinem sorgenvollen Befrager.

Nichts einfacher als das. Er wird neue Karten drucken lassen, auf denen die streng wissenschaftliche Ausrichtung seiner Arbeit Ausdruck findet.

»Halleluja … heute Nacht wird der Bischof gut schlafen«, sagt Father Damien viel zu unterwürfig.

»Wir werden heute Nacht alle gut schlafen«, sagt der Doktor und wischt sich dabei mit einem sauberen, trockenen Taschentuch die Gischt von den Brillengläsern.

Sie sind sich fast einig, nur eine letzte Hürde ist noch zu nehmen. Father Damien sieht sich im Bischofspalast im Salon stehen, sieht den Bischof mit seinen eiskalten Augen und der langen spitzen Nase, den Gemeindepfarrer, schweißgebadet, und all die anderen Priester, die ihn gereizt in die Mangel nehmen. Es gilt jetzt, Klarheit zu gewinnen über die Unterschiede zwischen der römisch-katholischen und der orthodoxen Kirche.

Der Doktor begrüßt die Frage, gibt zu, dass es im Laufe der Jahrhunderte Differenzen und Quasi-Differenzen gab, die zu Schismen und Dualismus geführt haben, wobei es oft wohl nur um Fragen der Interpretation gegangen sei, was die Gelehrten auf beiden Seiten aber nicht hätten zugeben wollen. Zum Beispiel sei für die einen Gott reines Sein, und für die anderen sei Er reines Erleben, aber für beide sei Plato der Dieb der Wahrheit und Christus deren Bote. Dann lässt er sich freudig über die unauflösliche Vermählung beider Kirchen im Jahr 1964 aus, als Papst Paul VI. sich im Rahmen des Zweiten Vatikanischen Konzils mit dem Patriarchen Athenagoras traf, um die Differenzen endlich beizulegen, und daraufhin der ganzen Welt verkündete: »Jetzt atmen wir mit beiden Lungenflügeln.« Rom neige eher zum Empirischen, das Orthodoxe zum Mystischen, die Hölle sei für die einen ein konkreter Ort, für die anderen die Verzweiflung der Seele darüber, dass ihr der Anblick Gottes verwehrt bleibt. Das heilige Abendmahl führe Rom mit gesäuertem Brot oder zyme durch, die orthodoxe Kirche mit ungesäuertem Brot oder azyme. Doch beide Kirchen könnten ihre Geschichte bis zur Heiligen Schrift zurückverfolgen, und im Jahr 310 nach Christus habe Kaiser Konstantin das Christusmonogramm am Himmel gesehen, das XP, das für die ersten beiden Buchstaben des griechischen Wortes für Christus stehe. Fortan habe er unter der christlichen Standarte gekämpft, so Maxentius besiegt und dann um die Taufe gebeten. Beleg für seine Bekehrung sei, dass seine sterblichen Überreste auf Patmos in einem Sarkophag neben den zwölf Aposteln zur Ruhe gebettet worden seien, er werde gleichsam als dreizehnter Apostel betrachtet.

Bei dem Wort Patmos denkt Father Damien an Sonnenschein, türkisblaues Meer, Zedernwälder und die Überreste der Heiligen, schön unter Glas und Gold verwahrt, weißen Satin ums Kinn, um die verschrumpelte gelbe Haut zu verbergen, Heiligkeit verströmend. Doch zu seinem Entsetzen erfährt er, dass diese Überreste alle dahin sind, kein Knochen, keine Rippe ist geblieben nach Jahrhunderten voller Krieg, Plünderungen und Brandschatzungen.

»Und was ist mit den Reliquien?«

»Was ist mit den Reliquien!«, ist die Antwort, und sie seufzen beide.

Father Damien formuliert im Geiste bereits seinen Bericht für den Bischof und die Pater. Das Bild vom Atmen mit den beiden Lungenflügeln wird sie überzeugen, Anstoß nehmen werden sie indes an dem Gedanken, die Hölle sei für Rom ein konkreter Ort, für die Orthodoxen hingegen die Verzweiflung der Seele darüber, dass ihr der Anblick Gottes verwehrt bleibt, aber das Zweite Vatikanische Konzil wird seine Trumpfkarte sein. Plato wird er außen vor lassen. Dass Konstantins sterbliche Überreste neben den zwölf Aposteln begraben sind, wird sie faszinieren. Konstantin, der zudem am Berg Tabor eine Vision von der Transfiguration hatte, die gleiche Vision wie die Apostel, die Christus gefolgt waren.

»Ich frage mich …«, sagt er vor sich hin, und der Doktor fragt sich mit ihm. Es ist so: Er, Damien, hätte gern, dass der Gemeinschaft ein Olivenzweig gereicht wird. Sie könnten doch eine öffentliche Versammlung abhalten, nicht vorm Altar, sondern zum Beispiel im Hinterzimmer von TJ’s, wo die Gläubigen ihre Fragen loswerden und Antworten erhalten könnten, die eventuelle noch bestehende Unklarheiten beseitigen würden.

»Eine richtige Frage-Antwort-Runde«, sagt der Doktor begeistert. Er möchte unbedingt die Ortsansässigen kennenlernen, denn er will sich in Cloonoila niederlassen, spürt hier diese ursprüngliche Unschuld, die den meisten anderen Orten auf der Welt verlorengegangen ist.

Damit ist die Sache für Father Damien entschieden. Er hat den Impuls, den Mann zu umarmen, beherrscht sich jedoch und kniet sich stattdessen ins nasse Gras, um aus dem Nizänischen Glaubensbekenntnis zu zitieren: Gott aus Gott, Licht aus Licht, wahrer Gott aus wahrem Gott, eines Wesens mit dem Vater. Der Doktor wiederholt das Gebet in seiner eigenen Sprache, sehr zur Erbauung des ihn begleitenden rattenartigen kleinen Hundes, der vorübergehend aufhört zu kläffen.

Dann stehen sie auf, wischen sich die Knie ab, und mit der Kameradschaftlichkeit von Männern, die sich endlich verstanden haben, beginnen sie zum Mantra von Papst Paul und dem Patriarchen Athenagoras zu atmen – Jetzt atmen wir mit beiden Lungenflügeln.

Der Himmel öffnete nun endgültig seine Schleusen, und der Regen peitschte herunter, während sie schweigend zurückgingen, platschend durch Pfützen stapften. Unweit der Promenade treffen sie auf Fidelma, die Frau des Textilhändlers, die in einen grauen Regenmantel mit Eichhörnchenkragen eingemummelt ist, ihr Gesicht nassglänzend.

»Was machen Sie denn bei diesem Sauwetter draußen?«, fragt Father Damien.

»Ich mag das … Ich mag den Regen«, antwortet sie im Vorbeigehen, und der Doktor verbeugt sich galant vor ihr.

»Eine reizende Frau … Reizende christliche Familie«, sagt der Priester, als sie außer Hörweite sind, und sie setzen ihren Weg fort, vom tosenden Sturm durchgeschüttelt.

Auf dem Parkplatz stellen sie fest, dass jemand die Scheibenwischer an ihren Wagen abgebrochen und auf den Boden geworfen hat und das neue Autoradio des Priesters gestohlen worden ist.

»Jugendliche … haben nichts Besseres zu tun«, sagt Father Damien, als wäre er für die Moral der ganzen Gemeinde verantwortlich. Stolz zieht er ein kleines Handy aus der Tasche und ruft eine Werkstatt in Sligo an, wo er jemanden kennt. Er horcht, lächelt, beendet seinen Anruf und deklamiert dann in feierlichem Ton: »Und dann wird er seine Engel senden, und sie werden sich versammeln.«

SCHWESTER BONAVENTURE

Kein großes Trara, nicht einmal ein Reporter vom Lokalblatt und ganz gewiss keine Fotos, denn der Doktor war der Überzeugung, dass durch den Einfluss der Kamera die Seele eines Menschen gestohlen wurde. Es war einfach nur ein geschmackvolles Hinweisschild, schwarze Schrift auf edlem weißem Papier, das bekannt machte, dass Dr. Vlads Praxis am Dienstag, dem 22. Februar eröffnen werde. In kleinerer Schrift stand darunter: Ganzheitliches Heilen nach östlicher und westlicher Lehre.

Er war schon fast einen Monat da, aber letztlich immer noch ein Fremder, ein Kuriosum – man sah ihn in aller Herrgottsfrühe mit hochgekrempelten Hosenbeinen Steine aus dem Fluss klauben, an anderen Tagen zog er mit der Schafschere los, um Seetang für seine Ganzkörperpackungen zu sammeln. Täglich trafen Kräuter und Tinkturen aus China, Indien, Burma und Wales für ihn ein, und die Postamtsvorsteherin, die örtliche Sphinx, erklärte, manches davon rieche wie Kuhmist.

Er ging viel spazieren, und nach einer ausgedehnten Runde setzte er sich manchmal in seinem langen Mantel auf eine Bank am Strand Hill, nicht weit von der Hundestation, und deklamierte lateinische Verse, während die großen Wellen unermüdlich heranrollten. Niemand sprach ihn an, wenn er in seinen Träumereien versunken war, bis eines Tages ein wissbegieriger Schüler, Taig, ihn zu fragen wagte, von wem denn diese Gedichte seien. Von Ovid, bekam er zur Antwort, einem Dichter aus dem dritten Jahrhundert, der aus Rom ans Schwarze Meer verbannt worden sei. In seinen Gedichten verfluche und beschwöre er jene, die ihn verbannt hätten, aber letztlich bitte er immer darum, zurückkommen zu dürfen. Wie Ovid sei auch er ein Dichter und Exilant.

Fifi, seine Vermieterin, lernte seine kulinarischen Vorlieben kennen, Lamm oder Schwein mit Rotkohl, den sie im Glas im Supermarkt besorgte, oder Crêpes mit unterschiedlichen Füllungen, etwa einem Weißkäse mit Zucker. Seinen Wein bestellte er bei einem Weinhändler in Galway. Abends vertiefte er sich in seine medizinischen Zeitschriften und Nachschlagewerke, und manchmal ging er sehr spät abends noch mit einer großen Taschenlampe in den Wald, um zu telefonieren. Er hatte zwei Handys, eins für die Arbeit und ein privates, und bei diesen nächtlichen Telefonaten dort oben im Wald hörte sie ihn oft schreien, andere Male aber auch lachen, wenn er mit irgendeinem Kumpel sprach. Er spielte ein Saiteninstrument namens Gusla, und sonntagabends rezitierte er manchmal im Wohnzimmer seine Gedichte, mit ihr als ganzem Publikum. Einige seiner Gedichte übersetzte er ihr auch, und sie fand sie sehr machomäßig, langatmiges Geschwafel über schlanke und majestätische Geschosse und starke Wölfe, die aus den Bergen kamen. Ganz anders als Yeats, nein, mit Yeats’ wilden Bächen aus den Hängen oberhalb Glen-Car hatte das alles keinerlei Ähnlichkeit.

Rauch stieg aus dem Schornstein seiner Praxis auf, und neben der Haustür war säuberlich Brennholz gestapelt, aber niemand traute sich, seine Schwelle zu überschreiten. Schließlich war es Schwester Bonaventure, die sich entschloss, das Versuchskaninchen zu geben. Als Nonne fürchtete sie sich nicht vor ihm und seinem südländischen Charme, sie rühmte sich ihres liberalen Denkens, fühlte sich befreit durch die humanen Lehren des Papst Johannes. Johannes war ein Mann ganz nach ihrem Geschmack. Ja, auch Nonnen mussten mit der Zeit gehen, genau wie alle anderen.

Sie und drei andere Nonnen lebten in einem Flügel des alten Klosters, dessen Hauptgebäude verkauft worden war und jetzt als Schule genutzt wurde, Auch der Vogel hat ein Haus gefunden,