Die Glückseligen - Edna O'Brien - E-Book

Die Glückseligen E-Book

Edna O’Brien

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Beschreibung

"Es ist noch nicht lange her, da tranken Kate Brady und ich ein paar trübselige Gin-Fizzes in London und klagten darüber, dass sich wohl nichts mehr ändern würde, dass wir so sterben würden, wie wir jetzt lebten – ausreichend ernährt, verheiratet, unbefriedigt." So beginnt Babas bissiger Bericht über die zunehmende Desillusionierung der beiden Freundinnen. Von Eugene enttäuscht beginnt Kate eine ansonsten völlig unmotivierte Affäre mit einem Anderen. Als ihr Mann dahinterkommt, erweist er sich als erbarmungslos und selbstgerecht, und nichts ist mehr so, wie es war. Währenddessen hat die gleichfalls verheiratete Baba ihre ganz eigenen Probleme. Kunstvoll kontrastiert O'Brien Babas unerbittliche, deftige Sprache mit Kates zunehmend bitterer, trauernder Stimme und erzählt drastisch von der ungeheuren Fallhöhe zwischen Traum und Wirklichkeit, die die beiden durchmessen.

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Edna O’Brien

Die Glückseligen

Roman

Aus dem Englischen von Margaret Carroux Epilog übersetzt von Hans-Christian Oeser

Atlantik

1

Es ist noch nicht lange her, da tranken Kate Brady und ich in London ein paar trübselige Gin-Fizz und klagten darüber, dass sich wohl nichts mehr ändern würde, dass wir so sterben würden, wie wir jetzt lebten – ausreichend ernährt, verheiratet, unbefriedigt.

Wir sind schon immer Freundinnen gewesen – als Kinder in Irland schliefen wir sogar zusammen. Oft schubste ich sie absichtlich aus dem Bett und hoffte, sie würde sich dabei den Schädel oder sonst was aufschlagen. Ich hatte sie gern, wirklich – natürlich war ich wahnsinnig eifersüchtig auf sie –, aber sie war zu brav und zu gut. Sie wissen schon, sie hatte diese unnütze Art, gut zu sein, fragte die Leute, wie es ihnen geht und wie es ihren Eltern geht. In der Grundschule schrieb sie meine Aufsätze für mich, und in der Klosterschule der Barmherzigen Schwestern gluckten wir immer zusammen, weil die anderen achtzig Mädchen noch dämlicher waren als sie – und das will etwas heißen. Nachdem wir aus der Klosterschule getürmt waren, wohnten wir in einem Armeleuteviertel, erst in Dublin, dann hier in London, wo jede von uns im Laufe von achtzehn Monaten zu ungefähr drei guten Abendessen eingeladen wurde, was sechs Mahlzeiten für uns beide bedeutete, denn wir hatten einen Pakt geschlossen, dass diejenige, die eingeladen war, dem Aschenbrödel etwas zu essen mitbringen musste. Auf diese Weise habe ich das Innere von mehr als einer Handtasche ruiniert …

Wir waren noch kein Jahr hier, als sie einen Spinner mit Namen Eugene Gaillard wiedertraf, den sie von Irland her kannte. Da ging die alte Leier von neuem los – sie verliebten sich ineinander, oder glaubten es wenigstens, und verloren keine Zeit, die Sache gründlich zu versauen. Die Trauung fand in der Sakristei einer katholischen Kirche statt. Musste so sein. Sie wollten es nicht in aller Öffentlichkeit durchziehen, weil er geschieden war und sie hochschwanger. Ich war Brautjungfer. Rosa Chiffon und ein Hut mit Schleier, den sie bezahlt hatten. Ich sah aus wie die Braut. Sie trug ein weites, schlabbriges, gestreiftes Umstandskleid und machte dazu ein Kindergesicht. Sie ist durchtrieben, die Sorte, die auch dann noch wie ein unschuldiges Kind aussehen würde, wenn sie die eigene Mutter im Schrank eingesperrt hätte. Der Priester blickte nicht ein einziges Mal auf ihren Bauch.

Als wir aus der Kirche kamen, fuhr Eugene ganz schnell davon, und das erschütterte mich, denn er ist ein Umstandskrämer, der lange Anweisungen erteilt, ehe er einen in den Wagen einsteigen lässt. »Tritt nicht aufs Trittbrett, schieb den Sitz nicht zu weit zurück, schieb den anderen Sitz nicht zu weit nach vorn.« Damit will er sich wichtig machen. Nach der Trauung preschte er los und raste die Straße entlang wie ein Rennfahrer. Er lachte sogar, was er nicht oft tut.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Unser verehrter Herr Pfarrer wird eine kleine Überraschung erleben«, sagte er, und Kate fragte: »Wieso?« – genau wie eine Ehefrau.

Offenbar enthielt der Umschlag, den er dem Priester überreicht hatte und in dem zwanzig Pfund für die Trauung hätten stecken sollen, nur eine orangefarbene irische Zehn-Shilling-Note, in mehrere Lagen Papier eingewickelt, damit sich der Umschlag prall anfühlte. Nun, sie spielte die Beleidigte und wurde violettrot im Gesicht. Er sagte zu ihr, sie sei eine typische Bauerntochter, die nicht aus ihrer Haut könne, und sie sagte zu ihm, er sei so geizig, dass er ihr nicht mal erlaube, ein paar Sachen für das Baby anzuschaffen. Ein Seitenhieb, denn er war schon einmal verheiratet gewesen und hatte Kinderwagen und Windeln für alle Fälle aufbewahrt. Er sagte, sie habe keine Manieren, und wenn sie ausfällig werden wolle, solle sie lieber gleich aussteigen. Er sagte, die zwanzig Pfund werde er einer weniger schädlichen Organisation überlassen, und sie sagte: »Na, dann mach doch, verschenk sie, halte irgendeine arme Frau an und gib sie ihr.« Er aber blieb ungerührt hinter seinem Lenkrad sitzen und fuhr zielstrebig zu einem mittelmäßigen Restaurant in Soho, wo wir ein freudloses Frühstück einnahmen und eine Flasche leichten Perlwein tranken, der ihm so gut schmeckte, dass er das feuchte Etikett ablöste und in seine Brieftasche steckte, um sich den Namen zu merken. Für die nächste Hochzeit! Sie schmollte die ganze Zeit, da konnte ich schließlich nicht gut lachen.

Als das Kind geboren war, zogen sie aufs Land, und sie schrieb mir ein Briefchen, das ich aufgehoben habe. Ich weiß nicht, warum. Sie schrieb:

Liebe Baba,

wir wohnen in einem Tal und blicken auf einen Hügel mit goldenem, zertrampeltem Farnkraut, und in den Bäumen, die noch kaum Knospen haben, nisten schon die Vögel. Wir wohnen in einem grauen Steinhaus mit Schieferplatten auf dem Dach und Holzbalken drinnen und weiß getünchten, buckligen Wänden und Blumentöpfen überall; die Dielen knarren, und er liebt mich, und es ist schon was dran, ein Kind zu haben und in einem Tal zu wohnen und geliebt zu werden, das ist wunderbarer als alles, was wir beide, Du und ich, uns in unseren leichtsinnigen Tagen je vorgestellt haben.

Immer die Deine,

Kate

Immer die Deine, Kate! Damals war ich unglücklich. Niemals die Deine, Kate! An jenem Abend zog ich mein bestes Kleid an und ging in einen irischen Klub. Fügung des Schicksals: Ich begegnete meinem Bauunternehmer.

Sein Name war Frank, und er warf mit Geld nur so um sich und erzählte Witze. Ich will einen der Witze wiederholen, damit Sie eine Vorstellung davon haben, wie groß meine Not war: Zwei Männer mit Angelgeräten haben den Arm um eine voluminöse Frau gelegt, und der eine sagt zum anderen: »Ein guter Fang.« Wenn Leute betrunken sind und sich nicht gerade streiten oder schlagen, lachen sie über alles.

Jedenfalls fuhr er mich nach Hause und bot mir Geld an – er hat einen zwanghaften Drang, Leuten Geld anzubieten, die mit Sicherheit nein sagen werden –, und er fragte, ob ich finde, dass er gebildet aussieht. Gebildet! Er war ein dicker, grober Kerl mit öligem Haar und zusammengewachsenen Augenbrauen über der gebrochenen Nase. Und so sagte ich zu ihm: »Hüte dich vor einem, dessen Augenbrauen zusammengewachsen sind, denn sein Herz ist voller Lug und Trug.« Und, du lieber Gott, das nächste Mal, als wir uns trafen, hatte er sie sich zupfen lassen! Er ist so was von begriffsstutzig; hat nicht mal kapiert, dass die Tatsache, dass sie zusammengewachsen sind, bedeutsam war. Begriffsstutzig. Aber auch nett. Jeder, der so verletzlich ist, ist nett – zumindest empfinde ich das so. Noch ein Abendessen. Zwei Abendessen in einer Woche, und dann bekam ich einen Blumenstrauß geschickt. Als ich die Blumen sah, war mein erster Gedanke, ob ich sie nicht mit Preisnachlass weiterverkaufen könnte. Ich bot sie den Mädchen in den möblierten Zimmern oben und unten an, und alle sagten nein, außer einer Idiotin, die ja sagte. Sie griff sofort nach ihrem Portemonnaie, und ich war so verdammt geldgierig, dass ich sagte: »Hier hast du die Hälfte.« So hatte jede von uns eine Hälfte, und als er abends kam, um mich abzuholen, zählte er die Blumen, die ich in eine Farbdose gestellt hatte, weil ich keine Vase besaß. Und man sollte es nicht glauben, aber er rief wirklich und wahrhaftig den Blumenladen an und sagte, sie hätten ihn betrogen. Er stand draußen im Treppenhaus und brüllte ins Telefon, er habe drei Dutzend Armagh-Rosen bestellt, und was für Gauner sie seien, und sie hätten ihn als Kunden verloren, und ich saß in meinem Zimmer und presste die Faust vor den Mund, um mein Lachen zu ersticken. »Du magst vielleicht nicht gebildet sein«, sagte ich, »aber du bist durch und durch Kaufmann. Du wirst es noch weit bringen.« Zu guter Letzt sagten sie im Blumenladen, sie würden noch welche schicken, und das taten sie auch. Ich musste zu Woolworth gehen und mir für zwei Shilling eine Plastikvase kaufen, denn ich wusste, wenn ich auch nur noch eine einzige Blume hineinsteckte, würde die Farbdose umkippen.

Mindestens sechsmal hatte er mich schon zum Abendessen eingeladen und mir kein einziges Mal vorgeschlagen, mit ihm zu schlafen, und das erschütterte mich. Ich wusste nicht, ob ich erfreut oder gekränkt sein sollte. An dem Abend, als er sagte, nun sollten wir aber, war er stockbetrunken, und meine Dachkammer war eisig und alles andere als ein Liebesnest. Die Rosen waren verwelkt, aber noch nicht weggeworfen worden, und mein Bett so kurz, dass seine Füße unten heraushingen. Ich legte mich neben ihn – nicht ins Bett, bloß obendrauf – und war noch angezogen. Er fummelte an meinem Reißverschluss herum und machte ihn natürlich kaputt, und ich dachte, hoffentlich lässt er für den angerichteten Schaden Geld da, aber selbst dann werde ich einen Nähkurs besuchen und lernen müssen, wie man einen Reißverschluss einnäht, denn das ist sehr kompliziert. Ich wusste, das Bett würde zusammenbrechen – das hat man im Gefühl, wenn man einem unzulänglichen Bett so etwas zumutet. Endlich bekam er den Reißverschluss auf, schob mein Unterhemd beiseite – es war bitterkalt – und legte mir ein oder zwei Finger auf die Haut, genau auf die Taille, die nach all den reichlichen Abendessen mit Sauce und so allmählich breiter wurde. Ich nahm an, ich müsste dasselbe tun wie er, stöberte ein bisschen und drang bis zu seiner Haut vor, und erstaunlicherweise war seine Haut weich und nicht dick wie die in seinem Gesicht. Er begann, tiefer zu forschen, zuerst sehr gierig, und dann döste er ein. Das ging so eine Weile – erst fummeln, dann dösen –, bis er schließlich sagte: »Wie machen wir’s?«, und da wusste ich, warum er mir nicht schon früher an die Wäsche gegangen war. Ein Ire: tapfer in Schlachten, bei Belagerungen und Massakern. Untauglich im Bett. Aber das hatte ich erwartet. Dadurch kam er mir verdammt viel netter vor als die meisten der Schlitzohren, mit denen ich ausgegangen war und die immer erwarten, dass du deine Kinokarte selbst bezahlst, die dich auf dem Autorücksitz vergewaltigen, mit dir nach Hause kommen, dir die Baked Beans wegfuttern und dann irgendeine neue Art Sex ausprobieren und nichts davon hören wollen, dass du Angst hast, du könntest ein Baby bekommen, denn sie haben’s gern natürlich, ohne Zubehör. Ich machte ihm eine Tasse Pulverkaffee, und als er einschlief, legte ich ihm eine Decke über und löschte das Licht. Ich setzte mich auf den Stuhl und dachte über die achtzehn Monate in London und all die Männer nach, die ich kennengelernt hatte, und wie anstrengend es gewesen war, sich immer in Schale zu werfen und eine frische Haut zu behalten – für den Richtigen, der eines Tages aufkreuzen musste.

Ich wusste, dass ich bei ihm hängen bleiben würde, denn er war reich, ein Waschlappen und die Sorte Mann, die dir, bevor du verreist, Tabletten gegen Seekrankheit kauft. Sie werden es nicht glauben, aber irgendwie tat er mir leid, weil er sich darum sorgte, ob er gebildet war, ob er von Blumenhändlern betrogen oder von Kellnern für einen irischen Bauerntölpel gehalten wurde. Dabei waren die Kellner italienische Bauerntölpel. Denen konnte ich sagen, sie sollten sich zum Teufel scheren, denn ich hatte ein freches Gesicht und sah gut aus und fürchtete mich vor keinem von ihnen, nicht einmal davor, ob die Leute mich mochten oder nicht – wovor sich die meisten Menschen fürchten. Ich weiß, dass es reiner Zufall ist, ob die Leute dich mögen oder nicht, und dass es mit ihnen zu tun hat und nicht mit dir. Das gilt auch für die Liebe – vor allem für die. Nun, langer Rede kurzer Sinn, ich heiratete ihn, und wir hatten eine riesige Hochzeit. Namen wurden ausgerufen und ein roter Teppich ausgerollt. Genau genommen war es gar kein richtiger Teppich, sondern irgendetwas aus Kokosfasern. Natürlich habe ich ihn nicht darauf aufmerksam gemacht, denn dann hätte er auf der Stelle Streit angefangen, und die anwesenden Fotografen hätten es bezeugt. Ein Abt aus einem der Klöster, die Franks Firma gebaut hatte, traute uns. Die Hochzeit war eine große Show mit Reden über Hurling und Glück – und allen möglichen blödsinnigen Gemeinplätzen. Vierundneunzig Telegramme waren eingetroffen. Später erfuhr ich, dass er seiner Sekretärin Anweisung gegeben hatte, eine Menge davon selbst abzuschicken und mit den Namen von Arbeitern zu unterzeichnen. Er wäre gestorben, wenn er nicht mehr Telegramme bekommen hätte als alle anderen oder wenn er nicht die witzigste Rede gehalten hätte. Bei den Gästen, die wir hatten, war es leicht, witzig zu sein. Seine Rede hatte er wochenlang vorbereitet. Stellen Sie sich vor! Vier Abende lang arbeitete er mit einer Stimmbildnerin. Andere Leute würden dafür bezahlen, nicht so zu sprechen wie die. Sie kreischte, dass es durch die ganze Wohnung gellte, und die beiden hockten im Zimmer und machten mehrere Stunden lang ›A‹ und ›O‹. Sie war eine von diesen fetten Engländerinnen, die vollgestopft sind mit Brot und Vornehmtuerei und sonst gar nichts.

Natürlich haben sich auf der Hochzeit alle betrunken, und als wir zum Flugzeug kamen, ich in einem taubenblauen Pariser Reisekostüm, ließ man uns nicht einsteigen, weil sein Zustand nicht danach war. Er wurde aufmüpfig und fragte, ob sie nicht wüssten, wer er sei, und ob sie nicht wüssten, dass seine Frau ein Balenciaga trage. Jedenfalls mussten wir umkehren, und das Einzige, was mich tröstete, war, dass er in dieser ersten Nacht nicht mit mir schlafen wollte, denn das war das Einzige, wovor ich mich fürchtete. Sehen Sie, das war der einzige Aspekt an ihm, der mir ganz und gar nicht gefiel. Ich mochte sein Geld und seine weichen Seiten; ich hatte nichts dagegen, wenn wir uns im Kino bei der Hand hielten, aber ich verspürte kein Verlangen, mit ihm ins Bett zu gehen. Ganz im Gegenteil.

Ich vertraute mich sogar meiner Mutter an. Mit meiner Mutter hatte ich kaum je über irgendetwas gesprochen, weil sie mich, als ich vier war und Scharlach hatte, in eine Gaeltacht geschickt hatte, damit ich Irisch lerne. In Wirklichkeit hatte sie mich nur deshalb weggeschickt, damit sie sich nicht um mich zu kümmern brauchte – das Hausmädchen hatte gerade zwei Wochen Urlaub –, aber diese Gaeltacht-Masche hatte sie sich ausgedacht, damit es nicht so verfänglich klang. Ich war erst einen Tag dort, da musste ich ins Krankenrevier. Sie ließen mich Briefe diktieren: Liebste Mami (»Ich bin nicht deine Mutter, ich bin Mami«, pflegte sie zu sagen), mir geht es schon besser. Heute Morgen habe ich Orangensaft mit einem Strohhalm getrunken. Viele Grüße an Dich und Papi, liebste Mami.

Ich will mich nicht als Märtyrerin hinstellen, es ist nur so, dass ich ihr nie etwas erzählt hatte, doch diese körperliche Tortur erwähnte ich, und sie sagte, es würde schon alles gut werden, ich solle nur die Zähne zusammenbeißen und es über mich ergehen lassen. Sie sagte, die meisten Ehen gingen wegen körperlicher Anziehung in die Brüche, körperliche Anziehung sei eine Art Aufputschmittel. Aufputschmittel nannte meine Mutter alles, womit die Leute sich über die Runden halfen. Ich werfe es ihr nicht vor. Ich erwarte nicht, dass Eltern einen mit etwas anderem als einer Geburtsurkunde und gelegentlich einem Paar neuer Schuhe ausstatten. Sie sagte, was sie sagte, weil auch sie ihre Schäfchen ins Trockene bringen wollte. So nämlich hat er uns geangelt – indem er uns alle finanzierte. Dank seines Geldes war meine Mutter hier in London zu Besuch und führte ein Leben wie Gott in Frankreich: Hühneraugenbehandlung, neue Kleider, jeden Abend Gin Slings in irgendwelchen Hotels, und dann zogen wir alle (mit weniger als zehn oder zwölf Leuten gab er sich nie ab) in irgendein Lokal, wo ein vulgärer Mann oder eine aufgedonnerte Frau Klavier spielten. Als ob so was aufregend wäre! Meine Mutter allerdings genoss es nach Strich und Faden. »Er ist ein guter Mann, dein Frank«, sagte sie in einer dieser grässlichen Kneipen manchmal über den Tisch hinweg zu mir, und dann sah sie sich nach ihm um, hob ihr Glas und sagte: »Frank, pass auf dich auf«, und sie tranken auf mein Wohl: auf das blutende Opferlamm. Zwanzig Jahre früher hätte sie ihn nicht die Außentoilette unseres Hauses benutzen lassen. Sie werden glauben, ich sei verbittert über meine Mutter, aber das bin ich nicht. Kurz danach starb sie. Sie bekam Magenkrebs und war nach wenigen Monaten tot. Ich glaube, in den vierundzwanzig Stunden, ehe sie starb, hat sie geschrien und sich gegen den Tod gewehrt. Sie fehlte mir mehr, als ich mir je hätte vorstellen können. Ich vermute, solange die Menschen nicht gestorben sind, denkt man immer, ihr Leben wird sich verbessern oder man wird besser mit ihnen auskommen, doch sobald sie tot sind, weiß man, dass weder das eine noch das andere möglich ist.

Nun, so ist es dann gekommen. Wir zogen in ein piekfeines Haus. Ich liebe den Geruch von reichen Häusern und reichen Läden, von Blumen und Teppichen. Wenn ich könnte, würde ich die ganze Welt mit Blumen und Teppichen versehen. Wir blickten auf die Themse – großartige Aussicht, Winterfenster, Alarmanlagen, Doppeltüren und was nicht alles. Manches machte richtig Spaß – Bilder aufhängen und die Zimmer so einrichten wie im Vatikan. Unser Badezimmer wurde in einer Modezeitschrift abgebildet – mit mir, wie ich in meinem Rohrsessel thronte. Wir kauften die Nummer dutzendweise und schickten sie nach Irland, an die Verwandten. Eine Zeit lang hatten wir zwei Einzelbetten, bis er las, die seien passé. Er kaufte eine überdimensionale Scheußlichkeit mit skandinavischem Kopfteil. Da war’s um meine Gemütsruhe geschehen. Von allem anderen einmal abgesehen, bewegt er sich im Schlaf wie ein Trüffelhund, wirft sich herum, schnüffelt und wühlt in den Kissen.

Auch Brady kam wieder nach London – Natur und Abendstille hatten sich schließlich doch nicht bewährt. Wir trafen uns regelmäßig, um unsere missliche Lage zu besprechen. Ihr Leben war wie ein Kapitel aus der Inquisition. Er wollte, dass sie dauernd zu Hause blieb und seine Hämorrhoiden pflegte. Eines Tages hatte sie ein seltsames Glitzern in den Augen.

»Was ist los?«, fragte ich. Ich hätte es wissen können. Sie hatte einen anderen kennengelernt, sie war verliebt, die alte, alte Geschichte. Sie begann zu schwärmen, bis ich am liebsten gekotzt hätte. Er erwies sich als ein guter Fang. Nachmittags kamen sie zu mir, um Tee zu trinken und sich zu unterhalten; ich ging sogar weg, um ihnen eine Chance zu geben, aber übers Vorderzimmer sind sie nie hinausgekommen. Lieder über die Unterdrückten wurden angestimmt. Ich fragte mich oft, wann es wohl aus sein würde; aber davon abgesehen, maß ich der Sache nicht viel Bedeutung bei. Was nur beweist, wie sehr ich mich irren kann.

2

»Lange Beine, krumme Schenkel, kleiner Kopf und keine Augen …«

Kates Sohn Cash gab seiner Mutter das Rätsel nun schon zum fünften Mal auf, als sie an einem düsteren Teich vorbeigingen und sich an den behandschuhten Händen hielten.

»Ein buckliger Mann«, sagte Kate.

»Nein. Soll ich’s dir sagen?«, fragte das Kind. Es brannte darauf, sein Wissen zu teilen.

»Lass mich noch mal raten«, bat sie und riet wieder falsch: »Eine bucklige Frau.«

Der Junge brach in ein schrilles, gekünsteltes Gelächter aus. So lachte er oft; er versuchte wohl, ein wenig Fröhlichkeit in ihrer aller Leben zu bringen.

»Eine Zange«, stieß er schließlich triumphierend hervor, und sie beugte sich zu ihm und presste ihre feuchte Nase an seine. Sie wollten die Enten füttern und dann rasch wieder nach Hause, zurück ins Warme. Der Teich war noch halb zugefroren. Eisschollen schaukelten auf dem Wasser, und die Enten schwammen um sie herum. Eine Ente saß auf einem Balkon aus Eis, fand das aber offenbar zu gefährlich und hüpfte schnell wieder herunter. Als sie die Brotkrumen sahen, schwammen sie alle auf das Ufer zu, und auch die drei Schwäne kamen aus dem Wasser auf den gefrorenen Schlackenweg gewatschelt. Kate hasste Schwäne. Ihre Gier. Ihre hässlichen Körper. Ihre schleimigen Füße mit den Schwimmhäuten.

»Pass auf deinen Handschuh auf«, sagte sie. Einmal, vor einem Jahr, hatte ein Schwan nach dem roten Handschuh des Jungen geschnappt und ihn ans gegenüberliegende Ufer verschleppt, wo ihn der Parkwächter mit einem Angelhaken in Sicherheit bringen musste.

»Ich aufpassen Handschuh«, sagte das Kind.

»Rede nicht wie ein Baby«, sagte sie, während sie dort stand und überlegte, wie sie es anfangen sollte, am Abend wegzukommen, und ob sie ihre guten Sachen anziehen sollte oder nicht.

Es war zwischen drei und vier Uhr nachmittags, und das Licht ließ bereits nach. Wochenlang hatte es immer wieder einmal geschneit, nur in den letzten Tagen nicht; deshalb sah der Schnee auf dem Rasen schmutzig und trostlos gelb aus.

»Gehst du heute Abend weg?«, fragte der Junge. Es lag etwas Eindringliches in der Art, wie er ihr ins Gesicht sah und die beiden Tränen betrachtete, die sie wie Kontaktlinsen in den Augen zurückhielt.

»Ja.«

»Mit Dada?«

»Ohne Dada.«

»Geh nicht«, bat er und setzte ein trauriges Gesicht auf. Traurigkeit trug er ebenso leicht zur Schau, wie er lachte, was aber nicht bedeutete, dass er nicht bekümmert war. Ebenso wenig, dass ihre Tränen seicht waren.

»Schau«, sagte sie, um ihn abzulenken, hielt die Tüte verkehrt herum und streute die restlichen Brotkrumen aufs Wasser. Die Enten und die Schwäne stürzten sich darauf.

Als sie zu dem Papierkorb kamen, der an der ›Bürger-schont-eure-Anlagen‹-Tafel festgenagelt war, warf sie die zusammengeknüllte Tüte hinein und las dem Kind zu Gefallen die Namen der Fische vor, die sich der Notiz zufolge in diesem jämmerlich kleinen stehenden Gewässer vermehrten.

»… Karpfen, Ukelei, Brassen.«

Das klang überhaupt nicht wie die Namen von Fischen, sondern eher wie eine Litanei der Stimmungen, denen eine Frau unterworfen ist, wenn sie am Montagmorgen die Wäsche aufhängt und einen hinreißenden Mann allein im Auto vorbeifahren sieht.

Außer ihnen war niemand mehr im Park. Es war Essenszeit, die Zeit, da man den Kamin anzündete. Aus mehreren Schornsteinen stiegen die ersten stinkigen Rauchwolken auf. Daran merkte sie, dass in all diesen Häusern Gasanzünder benutzt wurden. Es waren einförmige Häuser, hinter deren Ziegelsteinfassaden sich ein einförmiges Leben abspielte.

»Tu ich riechen Puddingpulver?«, fragte Cash, obwohl er genau wusste, dass es kein Puddingpulver war. Je nach Windrichtung roch es im Sommer manchmal aus irgendeiner Fabrik nach Puddingpulver. Ein angenehmer Duft an lichten, luftigen Sommertagen, wenn das Glockenspiel des Eiswagens ertönte und stoische Männer auf Klappstühlen saßen und im »… Karpfen, Ukelei, Brassen«-Teich nach Walfischen angelten. Sie überquerten die Straße und gingen auf ihr Haus zu.

»Das war aber ein kurzer Spaziergang«, sagte Eugene, als er ihnen die Tür öffnete. Er sah aschgrau aus, schon den ganzen Herbst hindurch, als das Licht draußen noch bronzen war von den Bäumen, und auch jetzt, im Winter, der von ihm bevorzugten, der ihm zugewiesenen Jahreszeit. Schwäche, Ängstlichkeit und Schuld überkamen sie. Er weiß es, dachte sie, er weiß es. Wenn er mir nur noch diese letzte Chance gibt. Dann werde ich mich ändern, mich bessern, mich so hässlich machen, dass ich nicht mehr in Versuchung geraten kann.

»Die Spüle stinkt schon wieder. Ich hab dir doch gesagt, du sollst darin nicht Kraut und Blumenkohl abgießen«, sagte er.

»Das muss Maura getan haben. Wo ist sie?«, fragte Kate, erleichtert, dass sein Zorn nur der Spüle galt.

»Ich weiß nicht, wo sie ist«, sagte er, als Kate zur Treppe ging und so gebieterisch, wie sie konnte, nach dem jungen, ewig gickelnden Dienstmädchen rief.

Es gab gedämpften Fisch und Blumenkohl. Der Fisch war kalt geworden, und Maura verdarb jedes Gemüse, weil sie es zu lange kochte.

»Schmeckt’s?«, fragte Kate aus schierer Gewohnheit. Sie saßen an ihren üblichen Plätzen, er an einem Ende des Mahagonitisches, sie am anderen, dazwischen, einander gegenüber, Cash und Maura, die alberne Geräusche von sich gaben, wenn sie einen Bissen mal hinunterschlangen, mal bis zur Erschöpfung auf ihm herumkauten.

»Ich würde nicht sagen, dass es die beste Mahlzeit ist, die ich je zu mir genommen habe«, sagte er, blickte von dem Teller mit den weißlichen, faden Speisen auf und starrte über ihren Kopf hinweg zum Treibhaus, das von den knorrigen Ästen eines alten Weinstocks überwuchert war.

»Blumenkohl braucht nur wenig Wasser«, sagte sie belehrend zu Maura. Sie wollte etwas Praktisches von sich geben, damit sie nach dem Abendessen aufstehen und mit Anstand erklären konnte: ›Ich geh noch auf ein Stündchen zu Baba.‹

Baba, ihre Freundin aus der Kinderzeit und jetzt die angetraute Ehefrau eines Bauunternehmers. Baba besaß eine Zuchtnerzstola und hatte die Absicht, noch einige mehr zu besitzen. Eine davon hatte sie sogar Kate versprochen. Baba hatte grüne Augen, deren Winkel sich nach unten zogen und in denen dann und wann etwas Verruchtheit aufblitzte. Wenn ihr Mann sie gelegentlich schlug, trat eine tiefe Klugheit in diese grünen Augen, als sei sich Baba mit ihren fünfundzwanzig Jahren über den Sinn des Lebens völlig im Klaren. Sie hatte Pläne für sie beide gemacht: Eines Tages, wenn sie genug Pelze und Diamanten angesammelt hätten, würden sie ihre Ehemänner verlassen – genau wie sie einst geplant hatte, dass sie reiche Männer kennenlernen und heiraten und in Häusern wohnen würden, wo, ob geöffnet oder ungeöffnet, alkoholgefüllte Flaschen auf silbernen Tabletts herumstünden.

Sobald Eugene Messer und Gabel weggelegt und den Teller beiseite geschoben hätte, würde Kate ihm sagen, dass sie ausgehen wolle. Dann würde sie nach oben stürzen, sich schminken, aber nicht zu sehr, ihren zweitbesten Mantel anziehen, ihre Ohrringe und ihren Pelzhut in eine Papiertüte stecken und sagen, sie enthalte selbst gebackene Scones für Baba, und sich eiligst davonmachen. Wie immer würde sie Ohrringe und Hut in der Damentoilette des U-Bahnhofs anlegen.

»Ich glaube, heute ist der kälteste Tag, den wir je hatten«, sagte sie und hoffte auf eine Antwort.

»Im Radio hieß es, es wird noch mehr schneien«, sagte Maura.

»Nein, bloß nicht«, sagte Kate und fing einen Blick von ihm auf, der besagte: ›Das ist lästig für uns alle, nicht nur für dich.‹

»Prima! Haufenweise Schnee! Dann bauen wir einen Schneemann.« Cash drohte immer damit, einen Schneemann zu bauen, tat es aber nie. Er war ein Stubenhocker wie die anderen auch. Wartete auf den Frühling.

»Warst du heute gar nicht draußen?«, fragte sie ihren Mann. Er arbeitete nicht. Sein letztes Projekt hatte so viel Geld eingebracht, dass sie ein paar Monate davon leben konnten. Er drehte Dokumentarfilme, aber mit denen verschaffte er sich immer so viel Muße, als wäre es vor allem Müßiggang, der ihm vorherbestimmt war.

»Nein«, antwortete er. Sie waren von Stille umgeben. Um die Stille zu unterbrechen, sagte sie, von dem Ölofen im Zimmer bekomme sie Kopfschmerzen.

»Ach ja, alles im Leben hat seine Nachteile«, sagte er. Jedes seiner Worte traf sie wie ein Stachel. Heute Abend würde sie ihrem Freund sagen, dass sie sich eine Weile nicht sehen durften. Die Freude, ihn zu sehen, hatte ohnehin nachgelassen, und sie war sich eher der Gefahren als des Vergnügens bewusst. Sie dachte, dass man zu Beginn einer Verlockung nie wusste, ob es nun die große Liebe war oder nicht.

Sie hatten sich auf einer Party kennengelernt und sich aus demselben Grund zueinander hingezogen gefühlt wie Hunderte anderer Menschen auch – aus Verlangen. Damit hätte es sein Bewenden gehabt, wenn sie sich nicht zufällig ein paar Tage später wiedergetroffen hätten, als sie während der Weißen Wochen Einkäufe machte.

»Wollen Sie sich auch ins Gewühl stürzen?«, fragte sie. Es wirkte ein bisschen weibisch, wenn ein Mann Bettlaken kaufte. Sie hatte ein Paket mit Wäsche in der Hand und den neuen Pelzhut bereits auf dem Kopf. Ersparte das Einpacken.

»Würden Sie eine Tasse Tee mit mir trinken?«, fragte er. Offenbar war es ihm doch peinlich einzukaufen. Er geleitete sie die Straße hinunter zu einem überfüllten Restaurant mit abscheulichen Masken an der Wand und hohen Hockern, auf denen man Kreuzschmerzen bekam, weil man sich nicht anlehnen konnte. Es war März. Windig. Papierfetzen und Staub wirbelten umher, und die Leute sahen tapfer aus, weil sie gegen den Wind ankämpfen mussten. Er sagte etwas von Apfelblüten, die jetzt wahrscheinlich in Kent überall in den Obstgärten umherwirbelten, und wie gern er dort wäre. Allerdings hätte er sie dann nicht getroffen! Und noch ein paar solcher Komplimente.

Er bat sie, nächste Woche wieder mit ihm Tee zu trinken, und sie war einverstanden, weil sie sich sagte, dass sie nicht in ihn verliebt und daher nicht in etwas Sündhaftes verwickelt war. Die Liebe kam erst später. Oder etwas, was daran grenzte. Sie begannen, sich öfter zu treffen; sie führten verstohlene Telefongespräche, schrieben sich glühende Briefe, schworen sich, etwas zu tun, taten aber nichts. Ihr Mann ahnte es sofort, auch wenn er keinen Beweis hatte. Er gewöhnte sich an, im Bett Schlafanzüge zu tragen, allein spazieren zu gehen, Bemerkungen über ihre erschlaffende Taille zu machen. Zu Weihnachten, das war erst vor ein paar Wochen, hatte sie ihm einen Kalender auf einem Marmorständer geschenkt, und er hatte gesagt: »Bist du sicher, dass der für mich ist?« Er selber holte nur zwei Päckchen hervor, eins für Cash und eins für Maura.

»Mich hast du vergessen«, sagte sie missmutig.

»Ich mache Geschenke, wenn ich Lust dazu habe«, antwortete er, »nicht aus Pflichtgefühl.«

»Damit hast du völlig recht«, sagte sie, aber im falschen Tonfall.

»Ich sehe, dass du wieder mal unter Verfolgungswahn leidest, stell doch gleich ein Schild auf«, sagte er zu ihr und wandte sich zu Cash, um ihm zu zeigen, wie der Dampfzug funktionierte, den er ihm gerade geschenkt hatte. Maura hatte hohe Stiefel und dazu passende Handschuhe bekommen, und sie zog beides an, marschierte umher, klatschte in die behandschuhten Hände und sagte, nun sei sie fein raus. Es war seltsam zu sehen, wie ein glückliches Gesicht sofort zu einem hübschen wurde.

»Möchtest du Tee oder Kaffee?«, fragte Kate, denn er hatte den halb gegessenen Fisch beiseite geschoben und wartete auf den nächsten Gang. An diesem Abend gab es keinen Nachtisch.

»Tee.«

Sie und Maura tranken der Einfachheit halber das Gleiche, und Cash bekam Milch, die er durch einen Strohhalm schlürfte, weil das mehr Spaß machte. Draußen hörte man den Schneeregen aufs Treibhaus prasseln. Der Wind heulte. Aus irgendeinem Grund dachte sie an einen Hund aus ihrer Kinderzeit, der Tollwut bekommen hatte und in ein Nebengebäude gesperrt worden war. Sie hatte Angst gehabt, der Hund könnte sich befreien und ihnen etwas Entsetzliches antun, so wie sie jetzt wusste, dass der Wind Schaden anrichten wollte.

»Ich hoffe, du hast nichts dagegen, aber ich habe Baba versprochen, zu ihr zu gehen«, sagte Kate so gleichmütig, wie ihr Schuldgefühl es zuließ.

»Bei diesem Wetter?«, fragte er.

»Ich hab’s ihr nun mal versprochen«, sagte sie, nahm ihre Tasse Tee und flüchtete aus dem Zimmer, nach oben in die Kälte, wo sie sich zurechtmachte und Tagescreme und den Goldpuder auftrug, den sie gerade gekauft hatte.

Als sie wieder hinunterkam, fand sie ihn im Mantel vor. Sie lächelte und fragte, ob er einen kleinen Verdauungsspaziergang machen wolle.

»Ich komme mit«, sagte er. »Ich hab Baba seit Monaten nicht gesehen.«

»Oh«, sagte sie, plötzlich sehr beunruhigt, »das lass lieber sein. Baba hat Kummer. Mit ihr und Frank steht es im Augenblick nicht so gut, und sie möchte einen Rat von mir.«

»In dem Fall«, erwiderte er, »gehe ich woandershin.«

Vor Schreck blieb ihr fast das Herz stehen. Sie küssten beide das Kind, ermahnten Maura, auf den Ölofen aufzupassen, und traten hinaus in die bittere Kälte.

»In welche Richtung gehst du?«, fragte sie und blieb am Gartentor stehen. Er antwortete nicht, sondern ging neben ihr zur Bushaltestelle am Ende ihrer Straße. Die Schneeflocken, die ihr unaufhörlich ins Gesicht peitschten, die Leere und die Dunkelheit der Straße – nur zwei der sieben Laternen brannten –, all das machte sie nervös. Warum konnte er nicht den Wagen nehmen wie andere Männer auch? Und warum mussten sie in einer solchen Gegend wohnen?, dachte sie und vergaß, dass sie ihn dazu überredet hatte, herzuziehen. Es war eine lange, eintönige Straße. Bäume. Einige hatten im Herbst rote Beeren getragen, die dann von den Kindern auf dem Asphalt zertreten worden waren, sodass es aussah wie die Spur eines Menschen, der blutend die Straße entlanggegangen war. Bei Tage totenstill. Manchmal rumpelten Lumpensammler vorbei und schrien etwas Unverständliches, das sie niemals begriffen hätte, wenn sie nicht den Trödel gesehen hätte. Und dauernd Beerdigungen. Blumengeschmückte Särge, ein oder zwei Limousinen mit Kränzen, die ihnen folgten. Blumen anstelle von Freunden. Der Tod so trostlos wie das Leben. Mit den Nachbarinnen unterhielt sie sich kaum. Kein Wunder. Meist waren es Hausfrauen, die ihren Männern morgens zum Abschied nachwinkten, gegen elf Uhr Besorgungen machten, beim Kauf von Paketen mit staubblauem Waschpulver Plastiktulpen sammelten und an den Grafschaftsrat schrieben, er solle die Bäume fällen lassen. Sie waren überzeugt, dass die Bäume Asthma verursachten, und baten Kate dauernd, gleichfalls hinzuschreiben. Wie stellten sie es bloß an weiterzuleben? Durchhaltevermögen! Das war ein Ziel, nach dem sie streben sollte, vielleicht auch Asthma. Eine Krankheit, über die sie reden und die sie als Waffe gebrauchen könnte, um am Leben zu bleiben.

»Verpasst!«, sagte sie zu Eugene, als der Bus an ihnen vorbeischaukelte. Sie mussten zehn Minuten auf den nächsten warten. Immer wieder schaute sie auf seine Uhr und berührte dabei jedes Mal sein Handgelenk, um seine Gefühle für sie zu erkunden. Nichts.

Der Bus war von fader Nachweihnachtsstimmung erfüllt. Leute mit neuen Handschuhen, Handtaschen, Kopftüchern fuhren pflichtschuldig zu denjenigen, denen sie für diese langweiligen Gaben in hübschem, buntem Geschenkpapier zu danken hatten.

»Aber nehmen Sie zum Beispiel mich«, erklärte ein junges Mädchen hinter ihnen. »Die Leute sehen mich an und sagen: ›Hallo, Judith, wie geht’s Janice?‹«

»Sie muss ein Zwilling sein«, raunte Kate Eugene zu. Er hörte nicht zu; sein Blick ruhte auf einer schönen Inderin, die ganz still dasaß, eine so imposante Erscheinung, dass alle anderen Frauen dagegen albern oder aufdringlich wirkten.

»Ich sollte Kinder mit einer Inderin haben«, sagte er.

»Cash ist doch in Ordnung«, erwiderte Kate pikiert.

»Natürlich ist er in Ordnung.«

Es war zwecklos. Außerdem machte er sich auf der Sitzbank breit und zerdrückte ihren neuen Rock.

»Wenn du dich auf die andere Bank setzt, habe ich mehr Platz«, sagte sie zu Eugene. Ihre Worte durchschnitten das Stimmengewirr wie ein Skalpell. Sie biss sich auf die Zunge. Einen Augenblick lang sahen sie sich an. Es war der letzte Blick, in dem noch Anteilnahme mitschwang. Als sie sich einander zuwandten, hatten sie beide gespürt, wie das letzte bisschen davon aus ihnen gewichen war. Ein kleiner Satz hatte sie getrennt. Er setzte sich auf die Bank hinter ihr.

»Ich habe doch nur Spaß gemacht«, sagte sie. Er lächelte bloß, ein verbittertes, verschlagenes, unverbindliches Lächeln. Kate stieg als Erste aus, denn Baba wohnte in der Nähe. »Bis später«, sagte sie zu ihm. Das verschlagene Lächeln geleitete sie hinaus.

»Wiedersehen«, sagte er.

Sie ging über die Straße und fuhr mit einem Bus derselben Linie zurück zum Bahnhof, verärgert, weil sie zu der Verabredung mit ihrem Freund über eine Stunde zu spät kam.

3

Kate betrat die warme mahagonibraune Gaststube und schaute sich um. Durch eine der Glasscheiben sah sie, wie er aufstand, um sie zu begrüßen.

»Ich liebe dich«, sagte er, ehe er überhaupt hallo gesagt hatte. Er half ihr, die schneenassen Handschuhe auszuziehen, sodass sie beiläufig die Finger ineinanderflechten konnten.

»Hast du mich gehört?«, fragte er. Sein Kiefer zuckte, seine Oberlippe war gelb vom Bierschaum. Als sie zum Kaminfeuer gingen, erblickte sie sich in dem altmodischen Spiegel über dem Sims; ihre Nase war zwar nicht rot, aber von einem kalten, unschönen Blau überzogen. Der Goldpuder war ein Reinfall.

»Hör mal«, sagte er, als ob es für sie beide die letzte Gelegenheit sei, miteinander zu sprechen. »Ich musste immerzu denken, wie entsetzlich es wäre, wenn du nicht mehr kämst.«

»Nun, ich bin ja da.« Sie zwinkerte ihm zu, wollte heiter wirken. Verrückt. Verrückt.