Das Mädchen - Edna O'Brien - E-Book
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Das Mädchen E-Book

Edna O’Brien

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Beschreibung

 "Das beeindruckende Zeugnis eines universell menschlichen, über alle Grenzen hinausgehenden Mitgefühls." Neue Zürcher Zeitung  "Ein unbedingt lesenswertes Buch." Frankfurter Rundschau Wie ihre Mitschülerinnen wurde Maryam von Boko-Haram-Kämpfern aus ihrer nigerianischen Schule an einen ihnen unbekannten Ort entführt. Mit ihrer Freundin Buki übersteht sie die höllische Gefangenschaft und gemeinsam gelingt ihnen die Flucht. Mit  »tiefer, unverbrüchlicher Empathie« (Richard Ford) erzählt Edna O'Brien von einem langen Weg zurück ins Leben, von unvermuteter Hilfsbereitschaft und Mitgefühl. Den kriegerischen Wirren setzt sie die Schönheit der Natur entgegen und gibt der traumatisierten Seele ihre Würde zurück. Aber ist für Maryam überhaupt eine Heimkehr möglich, gibt es doch dort, wo sie einmal zuhause war, keine Sprache für das, was sie durchlebt hat? Für ihren kunstvollen, mutigen Roman hat Edna O'Brien in den letzten Jahren Nigeria bereist und das Schicksal der entführten Mädchen eingehend recherchiert. Es ist ein Buch über ihr Lebensthema: Gewalt gegen Frauen und deren Fähigkeit, diese wieder und wieder zu überwinden. Gewidmet ist es den Müttern und Töchtern Nordostnigerias. Das Mädchen ist Weltliteratur.

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Seitenzahl: 258

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Edna O'Brien

Das Mädchen

Roman

Roman

Aus dem Englischen von Kathrin Razum

Hoffmann und Campe

Für die Mütter und Töchter des nordöstlichen Nigeria

Wir haben jetzt Hubschrauber, die viertausend Schuss pro Minute abfeuern können. Wirklich schlagkräftiges Kriegsgerät. Es wird das Blatt wenden.

Erklärung der nigerianischen Regierung in Reaktion auf Boko Haram

»So mit Verbänden schließ ich deine Wunden.«

Euripides, Die Troerinnen

Ich war einmal ein Mädchen, aber ich bin es nicht mehr. Ich rieche. Bin voller getrocknetem, verkrustetem Blut, und mein Kleid ist zerfetzt. Mein Inneres ein Morast. Eine Getriebene in diesem Wald, den ich sah, als in jener ersten schrecklichen Nacht meine Freundinnen und ich aus der Schule entführt wurden.

Das plötzliche Krachen von Schüssen in unserem Schlafsaal und maskierte Männer mit finsterem Blick, die sagen, dass sie vom Militär sind und uns beschützen sollen, weil es in der Stadt einen Aufstand gibt. Wir haben Angst, aber wir glauben ihnen. Mädchen taumelten aus ihren Betten, andere kamen von der Veranda herein, wo sie geschlafen hatten, denn es war eine schwüle Nacht.

In dem Moment, wo wir Allahu Akbar, Allahu Akbar hörten, wussten wir Bescheid. Sie hatten die Uniformen unserer Soldaten gestohlen, um an den Wachleuten vorbeizukommen. Sie bombardierten uns mit Fragen: Wo ist die Jungenschule, Wo wird der Zement aufbewahrt, Wo sind die Lagerräume. Als wir ihnen sagten, dass wir das nicht wüssten, fingen sie an zu toben. Dann kamen ein paar andere hereingerannt und sagten, sie hätten in den Schuppen weder Ersatzteile noch Benzin gefunden, was zu heftigen Diskussionen führte.

Sie konnten nicht mit leeren Händen zurückkommen, sonst würde ihr Kommandeur fuchsteufelswild werden. Mitten in das ganze Geschrei sagte einer von ihnen grinsend: »Mädchen tun’s doch auch«, worauf der Befehl ertönte, mehr Lastwagen zu schicken. Eine von uns zückte ihr Handy, um ihre Mutter anrufen, aber es wurde ihr sofort aus der Hand gerissen. Sie fing an zu weinen, auch andere fingen an zu weinen und flehten darum, nach Hause zu dürfen. Eine ging auf die Knie und sagte: »Mister, Mister«, was ihn wütend machte, er verfluchte und verhöhnte uns, nannte uns Schlampen, Prostituierte, wir gehörten verheiratet und bald würden wir es auch sein.

Wir wurden in Gruppen zu je zwanzig aufgeteilt und mussten dann warten, stammelnd, aneinandergeklammert, bis sie uns befahlen, den Schlafsaal zu verlassen und nichts mitzunehmen.

Der Fahrer des Lastwagens, der vor dem Schultor stand, hatte eine Gewehrmündung am Kopf, also fuhr er wie ein willenloser Clown durch den kleinen Ort. Es war niemand auf der Straße, der hätte berichten können, dass zu nachtschlafender Zeit ein Lastwagen voller Mädchen durch den Ort gefahren war.

Bald waren wir in einem Grenzdorf, das in dichten Dschungel überging. Der Fahrer musste anhalten, und kurz nachdem sie ihn weggeführt hatten, hörten wir eine Gewehrsalve.

Andere Lastwagenfahrer sind gekommen, und es wird lautstark beraten, welche Mädchen in welches Fahrzeug sollen. Wir sind gelähmt vor Angst. Der Mond, den wir für eine Weile verloren hatten, taucht hoch oben am Himmel wieder auf, seine kalten Strahlen bescheinen dunkle Bäume, die kein Ende nehmen, weisen uns das Wesen unseres Bestimmungsorts. Er ist nicht wie der Mond, der auf den Boden unseres Schlafsaals schien, als wir wie befohlen unsere Kleider aufhoben, die Hefte, Schulranzen und persönlichen Gegenstände jedoch liegen ließen. Nur mein Tagebuch steckte ich heimlich ein, es war die letzte Verbindung zu meinem Leben.

Aber wir hatten die Hoffnung noch nicht verloren. Wir wussten, dass die Suchtrupps inzwischen losgezogen sein mussten, unsere Eltern, die Ältesten, die Lehrer, alle würden sie uns folgen. Durch die offenen Seiten des Lastwagens warfen wir Sachen hinaus, um eine Spur zu legen – einen Kamm, einen Gürtel, ein Taschentuch, Zettel mit hastig daraufgekritzelten Namen – Sucht uns, sucht uns.

Jetzt fahren wir in dichten Dschungel hinein, alle möglichen Arten von Bäumen, ineinander verschlungen, umfangen uns in beklemmender Umarmung. Die Natur ist hier Amok gelaufen. Der Boden ist so uneben, dass sogar die Motorradfahrer, die neben uns herfahren, damit wir nicht fliehen können, immer wieder den Halt verlieren und auf der hohen Böschung landen. Rebeka sagt zu mir: »Komm, wir springen«, aber ich zögere. Sie sagt: »Lieber sterben als in der Gewalt dieser Männer sein.« Sie hat zu Gott gebetet, seit wir die Schule verlassen haben, und Gott hat ihr gesagt, dass diese Männer böse sind und wir fliehen müssen. Sekunden verstreichen, und ich sehe es noch vor mir wie eine Fata Morgana, diese Lücke zwischen zwei Lastwagen, und Rebeka, die nach einem hervorstehenden Ast greift, sich hinunterschwingt und dann fallen lässt. Ich dachte, irgendwo da unten auf dem Boden liegt sie, tot, oder auch nicht tot. Aber meine Nerven spielten nicht mit, außerdem brüllte im selben Moment einer der Anführer: »Wer springt, wird erschossen.« Sie nahmen wohl an, dass Rebeka tot war.

Die Lastwagen fahren schlingernd weiter, und wir werden hin und her geworfen. Aisha, die einen Moment lang gedöst hat, schreckt auf und ruft den Namen ihrer Mutter. Aus einem Traum gerissen, fängt sie an zu weinen. Jemand legt ihr die Hand über den Mund, damit wir nicht alle geschlagen werden. Wir haben furchtbare Angst. Es ist nichts mehr da, was wir noch hinauswerfen könnten. Wir sind so weit gefahren, dass man uns nicht mehr finden wird.

Jetzt gibt es nur noch Babby und mich. Sie schreit aus der Tiefe ihres leeren Magens, heisere, wilde Schreie, und ich sage zu ihr: »Du hast keinen Namen und keinen Vater.« Ich blaffe sie an. Manchmal möchte ich sie umbringen. Meine Brüste sind nicht größer als Eierbecher, und sie zerrt an den Brustwarzen, als wollte sie mich auch umbringen. Wir suchen nach einer Quelle, denn das Wasser in den Gräben ist braun und schlammig. Es schmeckt faulig. Wir trinken das klare Wasser, das sich in den Einbuchtungen der großen Felsen gesammelt hat. Ich schöpfe es mit gewölbten Händen, und sie schlabbert es auf, schluckt gierig, als müsste sie gleich ersticken. Das sind unsere Gnadenmomente, frisches Wasser, eine vorübergehende Erlösung von Durst und Hoffnungslosigkeit. Ich habe keine Ahnung, welcher Tag es ist, welcher Monat, welches Jahr. Ich weiß bloß, dass die Luft von Sand durchsetzt ist, Sand, der aus dem Sahel herweht, in den Augen sticht und uns fast blind macht.

Wo keine Bäume stehen, ist die Erde ockergelb, von tiefen, zickzackförmigen Furchen durchzogen, was für ein Anblick, und an den Zweigspitzen sprießen die jungen, noch eingerollten Blätter. Wenn ich nachts wach liege, sehe ich den Himmel. Einen unendlich weiten, violetten Himmel – ein Land der Schönheit, zu einem Ort des Leids geworden. So viele tote Mädchen. Die Bäume rauschen traurig.

Ich lege Babby hin, bette ihren Kopf auf eine kleine Erhebung im Gras. Nur in diesen Momenten schläft sie. Ich wache immer wieder auf, aus Angst vor all dem, was uns zustoßen könnte. Manchmal erwache ich mit feuchten Lidern aus einem Traum, dem Traum von einer Person, die ich einmal gekannt oder sogar geliebt haben muss. Aber es ist nicht die richtige Zeit für Erinnerungen oder Pathos. Manchmal höre ich in der Ferne Hunde bellen. Ich bin seit Tagen keiner Menschenseele mehr begegnet, und ich habe Angst, dass eine Begegnung bedeuten wird, dass wir zu einem furchtbaren, blutigen Ende zurückgeschleift werden.

Es gelingt mir nicht mehr, in meiner alten Sprache zu beten, denn sie haben uns mit ihren Gebeten, ihren Erlassen, ihrer Ideologie, ihrem Hass, ihrer Frömmigkeit überrollt.

Es war ein großer, matschiger Hof voll Gerümpel. Eimer, Schaufeln, Kisten, Schubkarren, Pflastersteine, Zement und Motorräder. Der Sand vom Regen schmutzig gelb. Das stetige Summen von Generatoren war zu hören.

Jenseits der hohen, von Stacheldrahtrollen gekrönten Lehmwälle der endlose Wald. Er war dunkel und unheimlich, eine Unmenge von Bäumen, die weitere Bäume hervorbrachten, weiteres Dunkel, endgültige Verbannung. Die kleine Moschee hatte ein Minarett aus glänzendem Aluminium, und an einem Mast daneben flatterte eine schwarze Fahne. Akra, ein Mädchen aus der Klasse über mir, kam aus dem Schlafsaal, wo wir festgehalten wurden, stand ganz still da und nahm diese trostlose Umgebung in sich auf. Es waren nur fünfzehn Mädchen von unserer Schule hier. Die übrigen hatte man in andere Lager im Dschungel gebracht. Uns hatten sie in einen Schlafsaal gestoßen, in dem schon andere Mädchen schliefen, dort hatten wir uns aneinandergeschmiegt.

Ein großer Baum in der Mitte des Hofs, von dessen Stamm ein kräftiger Seitenast abging, beherrschte das Gelände. Sein nasses Braun hatte einen grünlichen Einschlag, und ich fragte mich, ob unser Baum zu Hause den gleichen grünlich-feuchten Farbton hatte. Noch wusste ich es nicht, aber dieser Baum war unser künftiges Schulhaus. Fünfmal am Tag würden wir unter ihm stehen, sitzen und knien, um zu beten. Man würde uns zwingen, Suren in einer Sprache auswendig zu lernen, die uns fremd war, und einen Gott zu verehren, der nicht unserer war. Ab und zu würde man uns als Gruppe fotografieren, mit unserer tristen Kleidung und unseren stumpfen Mienen, und die Bilder zurückschicken, damit unsere verzweifelten Eltern unter den vielen Gesichtern, die jetzt alle gleich und bemitleidenswert aussahen, nach dem ihrer Tochter suchen konnten.

Aus den Rundhütten kamen jetzt Männer und eilten zur Moschee. Sie waren unterschiedlich gekleidet, einige trugen Jeans und T-Shirts, andere weite Gewänder, wieder andere Armeejacken. Im Vorbeilaufen begutachteten einige von ihnen mit abschätzendem Blick unsere Reize.

Während das monotone Gemurmel des Gebets zu uns herausdrang, kam ein junges Mädchen durch den Hof getaumelt und blieb vor uns stehen. An ihrer Unterlippe saß ein dicker Bausch Mull, aus dem Blut sickerte. Sie konnte nicht sprechen, obwohl sie es wollte. Sie deutete immer wieder auf ihren Mund, und schließlich gelang es ihr, ihn zu öffnen. Sie hatte keine Zunge mehr. Was für ein Verbrechen hatte sie begangen.

Während wir dort standen, kam eine Frau mit grünen Gummistiefeln auf uns zu, einen Dornenast in der Hand. Die Dornen waren so rot wie Beeren und spitz wie Nägel. Wir wurden in den Schlafsaal zurückgeschickt. So begann unsere Initiation.

Wir bekamen alle einheitliche Kleidung, die genauso aussah wie die der Mädchen, die schon länger hier waren. Man befahl uns, die Kleider sofort anzuziehen. Sie waren von einem düsteren Blau mit einem noch dunkleren Hijab, und ich konnte mich zwar nicht selbst sehen, denn Spiegel gab es nicht, aber ich sah meine Freundinnen, verwandelt, plötzlich alt, wie trauernde Nonnen. Ich sah Teresa und Fatim, Regina, Aida und Kiki, alle zum Schweigen gebracht, ihre Tränen unterdrückend. Wir wurden angewiesen, unsere alten Kleider aufzuheben und nichts, gar nichts, zurückzubehalten. In dem Durcheinander gelang es mir, mein kleines Notizbuch zu verstecken. Es war ein winziges Büchlein, eher für Zahlen als für Buchstaben gedacht, aber ich zwängte Wörter in jedes der kleinen Karos. Ich hortete sie. Sie waren jetzt meine einzigen Freunde. Ich hatte das Notizbuch für meinen Aufsatz über die Natur gewonnen, zusammen mit einem parfümierten Bogen Papier. Auf den Rändern des Bogens stand Woods of Windsor. Ich hatte keine Ahnung, wo Windsor lag.

Unsere Kleider wurden auf einen Haufen geworfen, und kaum hatte sie etwas Diesel daraufgegossen und ein Streichholz angerissen, schossen die Flammen hoch in die milchige Morgendämmerung. Unsere weißen Blusen, unsere Schuluniformen und unsere Kopftücher verwandelten sich rasch in gewichtslose graue Ascheflocken, die einen Moment lang in der Luft schwebten und dann nach oben getragen wurden, um durch die Zwischenräume in den Stacheldrahtrollen ihren Weg hinaus zu finden. Ich folgte ihnen im Geiste und dachte töricht, dass die Ascheflocken unsere Boten sein würden. Sie würden zu unserer Schule schweben, wo noch Rauch über dem nur mehr schwelenden Feuer hing, das die Milizionäre gelegt hatten, bevor wir abfuhren. Ich stellte mir alle möglichen törichten Dinge vor. Ich hatte nicht geschlafen. Der Gestank der Schuhe hing in der Luft, sie verbrannten nicht so schnell. Der Geruch erinnerte an die Häute der Tiere, die in den Schlachthäusern neben den Märkten zum Trocknen aufgehängt waren – Schweine, Kälber, Ziegen, Schafe.

Dann wurden wir in den Hof geführt und mussten uns unter den großen Baum setzen. Wasser platschte von den Ästen, und der Boden war nass. Andere Mädchen, die schon länger hier waren, warteten bereits, einige mit gefalteten Händen, entrückt.

Drei Männer steigen aus einem cremefarbenen Jeep. Zwei sind maskiert und gehen hinter dem dritten her, dem obersten Emir. Er hält einen heiligen Text in der Hand. Alle drei sind bewaffnet. Als der Emir näher kommt, streckt er eine Hand weit aus, und es ist, als würde er die ganze Welt an sich reißen.

Mädchen, die ihn schon einmal gesehen haben, blicken mit scheuer Bewunderung und neuerlichem Staunen zu ihm auf. Einige strecken die Hände aus, um sich wenigstens vorzustellen, dass sie den Stoff seiner Jacke berühren. Sie verehren ihn. Er geht zwischen uns herum, erkennt die neuen Gesichter, sein Blick so wachsam, als sähe er in unsere Köpfe, unsere gequälten Herzen.

»Die Krankheit ist Unwissenheit.« Drei Mal sagte er das. Ich sah ihn nicht an, weil er so grimmig war. Dann hieß er uns als die werdenden Töchter Allahs willkommen und sagte, wir müssten Allah für das Wunder danken, gerettet worden zu sein. Noch würden wir uns vielleicht fremd fühlen, aber sehr bald werde es uns wie Schuppen von den Augen fallen.

Dann machte er die Menschen nieder, denen man uns entrissen hatte. Ungläubige. Diebe. Unser Präsident, unsere Vizepräsidenten, unsere Gouverneure, unsere Polizei, alle korrupt. Sie seien Sultane der Banken, schöpften Reichtum ab, säßen in ihren großen Villen auf ihren goldenen Thronen und sähen sich auf ihren riesigen Fernsehbildschirmen westliche Filme an. Ihre fetten Frauen hätten so viel Geld angesammelt, so viel Gold, so viele Perlen, dass sie zusätzliche Häuser bauen müssten, um diese Schätze aufzubewahren. Selbst die Muslime unter diesen Leuten seien infiziert, in den Pesthauch der Korruption geraten. Wir würden bald begreifen, dass die Erziehung, die wir erhalten hatten, vollkommen falsch sei, so wie auch die Universitätsausbildung, die wir anstrebten, vollkommen falsch sei. Sie dürfe nicht sein.

Dann wies er uns an, auf die vergangenen achtundvierzig Stunden zurückzublicken und die bereits bewirkte Verwandlung zu bestaunen. Es war wieder, als schaute er in unsere Köpfe, und er drohte, wir sollten ja nicht wagen, ihm zu widersprechen. »Als unser Trupp vor zwei Nächten in eure Schule eingedrungen ist, waren eure Soldaten abgezogen, weil sie wussten, dass wir kamen. Könnt ihr diesen Menschen trauen? Könnt ihr Menschen trauen, die dafür bezahlt werden, euch zu bewachen? Wenn ihr wirklich ehrlich seid, muss eure Antwort ›Nein‹ lauten. Sie hätten einen Gegenangriff unternehmen können, aber das haben sie nicht getan. Sie haben zu viel Angst vor uns. Sie wissen, dass sie den Sambisa-Wald niemals betreten werden. Sie werden euch niemals finden. Sie wissen, dass wir euch auf Allahs Wunsch hierhergeholt haben. Während ihr eure Bücher zusammengesucht und Schultaschen gepackt habt, um zu der Schule zu fahren, wo ihr eure Prüfungen ablegen wolltet, hat Allah euch beobachtet – das war alles vorherbestimmt. Wo waren eure Pfarrer, wo waren eure Betreuer, wo waren eure Lehrer? So ist es immer gewesen. Als der Prophet Mohammed aus Medina verjagt wurde, schauten seine ehemaligen Anhänger weg. Feiglinge. Ungläubige. Eure Eltern denken vielleicht, sie hätten euch geliebt und gut behandelt, aber sie sind blind, geblendet. Unwissenheit ist die Krankheit. Es gibt keinen Gott außer Allah. Bittet um Vergebung für die Sünden eurer Eltern, und Allah wird wissen, ob ihr es in ehrlicher Absicht tut. Vergesst nicht, dass ihr in ein neues Leben wiedergeboren worden seid. Auch wenn ihr glaubt, dass ihr eure Familie liebt, und im Herzen ein Versprechen abgelegt habt, müsst ihr es jetzt aufkündigen, ihr müsst es tilgen. Für eine kleine Weile werdet ihr Mädchentränen vergießen, aber sie werden bald versiegen, und ihr werdet wie Vögel zu den Feldern des Paradieses fliegen. Dort erwarten euch Engel, der Engel Gabriel, der Engel Azrael, der Engel Michael. O ja, unsere irdische Technologie und Kommunikation hat uns geholfen, aber Allah hat uns über alles unterrichtet, selbst über die kleinen Tratschereien in eurem Schlafsaal. Ich spreche jede von euch direkt an. Wendet euch dem Koran zu, wendet euch dem Hadith des Propheten Mohammed zu, wo immer ihr seid, wendet euch Allah zu. Sonst müssen wir euch dazu zwingen, und wir schrecken vor Bestrafungen nicht zurück. Unterdessen geht fröhlich eurem Tagwerk nach, lernt die Suren auswendig, seid wie duftende Blumen, im Wissen darum, dass ihr in die riesige, unbesiegbare Armee Allahs aufgenommen werdet. Ihr seid Kriegerinnen. Dieses Land namens Nigeria muss von Ungläubigen jeglicher Art befreit werden. Ihr werdet in diesem Kampf euren Beitrag leisten. Und ihr werdet stolz darauf sein. Selbst wenn ihr in der Schlacht fallt: Denkt daran, dass der Tod eines Gläubigen etwas Wunderbares ist. Man wird euch im Paradies den roten Teppich ausrollen. Und jetzt komme ich zum Allerwichtigsten: Wendet euch nicht ab. Habt keine Angst. Wir müssen den Kampf in die Kasernen der Schweine und Ratten und Ungläubigen tragen, die auch eure eigenen Leute sind, eure Sippe, eure Eltern. Reißt den Ungläubigen das Herz aus der Brust. Eliminiert sie. Schneidet ihnen die Kehle durch. Sagt ihnen, wenn sie euch zurückhaben wollen, müssen sie uns unsere toten Brüder wiederbringen.«

Bevor man ihn wieder fortgeleitete, blickte er zum Himmel auf, zu einem imaginären Geschwader lauernder Feinde – »Denkt nicht, ihr könntet mit euren Kampfflugzeugen gegen uns ankommen. Der Allah, den wir verehren, lebt über euren Jets, er harrt des passenden Moments, um euch zu vernichten.«

In meinem Kopf wurde es schwarz. Solche Macht, solche Unangreifbarkeit hätte ich nie für möglich gehalten. Eimer und Kisten flogen durch den Hof, und der Himmel teilte sich. Ich sah zwei Götter, die Stäbe in den Händen hielten, oder vielleicht waren es auch Gewehre, und einander trotzten.

Der Boden, auf dem ich kniete, war übersät von herausgerissenen Herzen, und überall lagen durchgeschnittene Kehlen herum, aus denen Blut sprudelte, ein nicht versiegender Strom. Ich rannte zwischen den aufgehäuften Überresten umher, bis ich meine Eltern und meinen Bruder gefunden hatte. Ich küsste sie, und sie vergaben mir, obwohl sie tot waren. Ich war zu traurig, um zu weinen.

Einige meiner Freundinnen kamen, um zu fragen, was mit mir los sei. Ich konnte nicht antworten. Mein letztes bisschen klarer Verstand war dahin. Hätten wir Messer gehabt, wir hätten unsere eigenen Kehlen durchgeschnitten.

»Mach dir keine Sorgen … Unsere Eltern werden uns finden«, sagte Aisha zu mir, aber sie war noch nicht auf dem Feld der Toten gewesen.

Drei Mädchen wurden auf die Seite gewinkt und blieben verwirrt dort stehen, während wir übrigen von ein paar Frauen durch den Hof zu den Hütten geführt wurden, wo uns die nächste Strafe erwartete.

Es war, wie wenn Rinder zusammengetrieben werden. Wir mussten hinausgehen und uns unter den großen Baum stellen, zitternd, stumm. Wir waren mittlerweile voneinander getrennt. Ich wohnte in einer Hütte, bei der Frau eines der Anführer, einer zänkischen Person, die mich mehrmals pro Nacht weckte und zwang, Gebete und Verse zu wiederholen, die sie mich tagsüber gelehrt hatte.

Als ich herauskam und meine Freundinnen sah, genauso benommen wie ich, die Gesichter vom Weinen schwammig und verzerrt, dachte ich, jetzt bin ich mit meinen Freundinnen zusammen, so schlimm wird es nicht werden.

Sehr bald begannen sich Männer zu versammeln. Sie waren jung und lebhaft. Sie trugen Jeans und bunte T-Shirts. Es war klar, dass irgendetwas geschehen würde, das mit uns zu tun hatte, also klammerten wir uns aneinander. Zwei Männer schoben einen Tisch auf Rollen heraus und platzierten ihn in der Mitte des Hofs, und ein dritter Mann stellte einen weißen Eimer darunter. Es dauerte nur Sekunden, aber wir ahnten, was kommen würde. Das erste Mädchen, Faith, musste sich auf den Tisch legen, und zwei Männer spreizten ihr die Beine auseinander. Die anderen jubelten und johlten. Als sie anfing zu schreien, presste ihr jemand die Hand auf den Mund, und der erste der jungen Männer machte sie sich zu Willen. Nach ihm folgten die anderen. Bei dem zweiten Mädchen war es genauso. Ich war die Dritte. Während ich mich auf den Tisch legte, blickte ich hoch und sah ein paar Sterne am Himmel, taumelnd, weit voneinander entfernt. Es war noch nicht dunkel. Mir war, als würde auf mich eingestochen, wieder und wieder, und dann ein wilder Schrei, als er ganz in mich eingedrungen war. Ich sagte meinen Eltern und allen, die ich kannte, Lebewohl.

Als ich aufstand, war ich benebelt. Dicke Blutstropfen fielen in den Eimer. Wir mussten zusehen, wie weitere Mädchen an die Reihe kamen. Der Tisch knarrte, die Männer wurden noch erregter und triumphaler.

Als alles vorbei war, wankten wir zurück, wund, verstört. Wir konnten nicht sprechen. Wir waren zu jung, um zu wissen, was geschehen war oder wie wir es nennen sollten. Fatim erinnerte sich, dass es in ihrer ersten Schule eine Puppe gegeben hatte, an der die Mädchen herumgestochert hatten, und ein Mädchen hatte sich mit einer Schere an dem Stoffzwickel zu schaffen gemacht und gesagt, Dolly bräuchte jetzt ihre Operation. Wir hatten unsere Operation gehabt. Sie hatten uns entjungfert. Es war jetzt dunkel, und die Sterne prassten am Himmel.

Die Frau führte mich zum Kochhaus. Hier würde ich arbeiten. Es roch nach Geschlachtetem. Draußen an den Bäumen hingen große Stücke Wildfleisch, an denen sich Schwärme von Fliegen zu schaffen machten. Ich musste für die ganze Einheit kochen. Die Kommandeure sollten die größten Portionen erhalten, dann kamen die Leutnants, und die Rekruten mussten mit einer Art Eintopf vorliebnehmen, kleinen Fleischstücken mit Perlhirse oder Sorghum. Wenn nicht genug Fleisch da war, brachte man mir Streifen von Tierhaut zum Braten. Das Brutzeln und Zischen von Fett und Fleischsaft machte die Männer wild vor Ungeduld. Die drei Hunde, die tagsüber eingesperrt waren, heulten und warfen sich gegen die verzinkte Tür.

Morgens gab es einen Getreidebrei, den sie aus einem Trog auf einem großen Tisch aßen. Abends wurde der Elite das Essen in ihren Unterkünften serviert, die niederen Ränge aßen wieder an dem großen Tisch. Ich durfte nicht servieren. Ehefrauen trugen die Gerichte vom Kochhaus zu den Hütten. Falls einer der Männer aus irgendeinem Grund ins Kochhaus kommen musste, hatte ich den Blick abzuwenden.

John-John war der einzige Junge, den ich treffen durfte, wahrscheinlich weil er noch so jung war. Er war vielleicht zehn oder elf. In kurzer Hose und einem Blazer mit Messingknöpfen, beides viel zu groß für ihn, fuhr er auf einem Fahrrad herum. Wenn er zum Arbeiten kam, krempelte er die Ärmel hoch, und er sang. Er sang mit einer Mädchenstimme. Es gab Fleisch aller Art, auch von Vögeln, Fledermäusen, Eidechsen, die Augen der Vögel starrten uns glasig an, und die wilden Fledermäuse hatten ihre breiten Flügel ausgestreckt, als ob sie sich noch im Tod an ihre nächtlichen Flüge erinnerten.

Wir hackten das Fleisch in Stücke und schabten mit einem anderen Messer die toten Insekten und Maden ab, die daran hafteten. Die Vögel füllten wir mit Blättern, um den unangenehmen Geruch zu überdecken. Er wusste, was es war – Gelbwurz, Wacholder, Baobab.

Ich verstand den Text von John-Johns Lied nicht, aber ich nahm an, dass es ein Kirchenlied war. Er lebte mit vier anderen Jungen in einer Art Höhle, fuhr mit seinem Fahrrad zu den verschiedenen Lagern und lieferte Vorräte aus. Später half er mir dann, die großen Töpfe zu den Feuern zu tragen, die wir im Hof angezündet hatten. Sie hingen an Ketten von hölzernen Gestellen, und der faulige Geruch von kochendem Fleisch erfüllte die ganze Umgebung. Nach einer Weile bekam ich den Schlüssel zum Vorratsraum, und so konnte ich, ohne dass die Ehefrauen davon erfuhren, ab und zu etwas für John-John und mich zu essen stibitzen. Gebackene Kartoffelschalen mochte er am liebsten, besonders mit gerösteten Zwiebeln. Wir aßen draußen, wo die Wachleute selten patrouillierten, weil sie sich vor Ratten fürchteten.

O mein Gott

O mein Gott

O mein Gott

Dir gebührt unser Lob

Schließlich erfuhr ich, wie er in Gefangenschaft geraten war:

Sie kommen. Sie kommen. Sie haben unser Dorf umzingelt, und wir hatten schreckliche Angst. Meine Schwester, meine Mutter und ich. Und eine Menge anderer Frauen und Mädchen, die alle weinten, so wie wir, wir sind um unser Leben gerannt. Die Dschihadisten umzingelten unser Dorf, also mussten wir fliehen. Mein Vater war nicht bei uns. Er war auf unserem kleinen Hof, und wir wussten nicht, ob sie ihn gefangen genommen hatten. Wir sind weggelaufen. Die anderen Frauen, die mit uns flohen, wollten mich nicht dabeihaben, weil ich ein Junge bin und sie wussten, dass die Dschihadisten auf die Jungs aus sind, um sie zu Soldaten zu machen. Noch während wir flüchten, haben wir die ganze Zeit Angst, dass sie uns bis tief in den Wald verfolgen werden. Als wir ewig gerannt und völlig außer Atem sind, lassen wir uns fallen, einer auf den anderen. Alle weinen. Meine Mutter bittet eine Frau, ihr ein Kleid aus ihrem Bündel zu geben, damit sie mich als Mädchen verkleiden kann. Die Frau sagt nein. Es ist ihr bestes Kleid. Mama bittet und bettelt, und irgendwann schließen sich ihr die anderen Frauen an und sagen, es geht hier darum, ein Leben zu retten, das Leben eines Kindes. Es gibt Streit. Dann zieht eine der Frauen das Kleid einfach aus dem Bündel, und sie und die Besitzerin geraten sich in die Haare, ganz gewaltig, bis die anderen das Kleid schließlich an sich nehmen.

Meine Mutter geht mit mir hinter einen Baum, zieht mir die kurze Hose aus und das Kleid an und bindet mir ein blaues Tuch um den Kopf. Alle gucken mich in meiner Mädchenkleidung an, und obwohl die anderen Kinder niedergeschlagen sind, müssen sie lachen, als sie mich sehen, und machen sich über mich lustig. Bald wird es Nacht, wir legen uns hin, wo es halt geht, und ich schlafe in dem blauen Kleid. Es ist kalt in der Nacht. Wir wachen sehr früh auf, und meine Schwester ist weg. Sie ist nirgends zu finden. Meine Mutter geht von einer Gruppe zur anderen und fragt, ob jemand sie gesehen hat, aber niemand weiß etwas, und dann läuft sie überall herum und schreit und ruft. Die Anführerin unserer Gruppe sagt, dass es besser ist, wenn wir weitergehen, denn inzwischen wissen die Milizionäre bestimmt, wo wir sind, und sind unterwegs, um uns zu töten. Meine Mutter ruft die ganze Zeit den Namen meiner Schwester, »Umi, Umi, Umi«, als würde meine Schwester dadurch wieder aus dem Nichts auftauchen. Gegen ihren Willen ziehen wir also weiter, und ich spüre ihren Kummer in meinem eigenen Körper, denn sie hat mich auf den Rücken genommen. Sie kann mich kaum halten.

Wir kommen zu einem Dorf, und dort steht ein strohgedecktes Haus, in das sich alle drängen, um Schutz vor der Sonne zu finden. Meine Mutter setzt mich ab und bittet eine andere Frau, auf mich aufzupassen, denn sie muss ihr kleines Mädchen finden, selbst wenn es nur sein Leichnam ist. Ich sehe ihr nach, als sie zu dem Berg zurückeilt. Wir warten also dort, und ein paar Leute geben uns Yamswurzeln von ihrem Acker. Wir essen sie roh. Alle sind sehr still und haben große Angst, und keiner sagt etwas, weil wir nicht wissen, wie es weitergehen soll. Verschiedene Gerüchte werden flüsternd weitergegeben. Nach einer Nacht, einem Tag und fast einer ganzen weiteren Nacht kommt meine Mutter mit meiner Schwester auf dem Rücken zurück, und als meine Mutter sie absetzt, sagt meine Schwester: »Maa-ma«, denn die Zeit allein auf dem Berg hat ihr schreckliche Angst gemacht. Meine Mutter ist so müde von der Suche und dem anstrengenden Fußmarsch, dass sie mitten im Reden einschläft. »Warum bist du weggelaufen?« Ich bin wütend auf meine Schwester, weil sie mir meine Mutter weggenommen hat. Sie sagt, dass sie es selbst nicht weiß. Andere seien einen Hang hochgelaufen, und sie sei ihnen gefolgt, weil sie dachte, wir würden nachkommen. Dann zerstreute sich die Gruppe. Einige gingen schneller als andere, und sie wollte sich ein bisschen ausruhen und dann am Berg zu ihnen aufschließen, um noch vor Tagesanbruch über die Grenze zu kommen. Als meine Mutter sie fand, war sie ganz allein und schlief, die Kleider nass vom Tau.

Wir blieben in dem strohgedeckten Haus, und es kamen immer mehr umherirrende Menschen. Es war furchtbar stickig. Dann machte sich meine Mutter auf die Suche nach jemandem, der ein Motorrad hatte. Bevor sie ging, löste sie den Knoten am Ende ihres Wickelrocks, wo sie das bisschen Geld aufbewahrte, das sie gespart hatte. Es stammte von den Bohnen, die wir gepflanzt und dann auf dem Markt verkauft hatten. Sie nahm gerade genug mit, um das Motorrad bezahlen zu können, denn sie wusste, dass der Fahrer alles würde haben wollen. Die restlichen Naira heftete sie innen an mein Unterhemd.

Wir fuhren zu dritt auf dem Motorrad mit, meine Schwester, meine Mutter und ich, unten an dem Berg entlang, auf dem meine Schwester fast gestorben wäre. Das Motorrad fuhr Zickzacklinien, meine Schwester kreischte, und meine Mutter hielt uns fest, so gut sie nur konnte. Als wir einen Hang hinuntergefahren waren und auf eine Ebene kamen, sahen wir Männer, die Nahrungsmittel und Wasser auf Lastwagen luden. Meine Mutter ging vor ihnen auf die Knie und bat um etwas zu essen für die Kinder. Sie konnten unsere Mägen knurren hören. Meine Mutter hoffte, wir könnten es wieder zu unserem Dorf zurück schaffen, denn dort würden ein paar Leute sein, vielleicht wäre inzwischen auch unser Vater wieder da. Die Männer an den Lastwagen gaben uns eine Flasche Orangensaft. Wir tranken abwechselnd. Nur ganz wenig, denn wir wollten nicht gierig sein. Die Männer sagten, die Milizionäre seien weitergezogen, deshalb beschloss meine Mutter, zuerst zu unserem kleinen Hof zu fahren und zu schauen, ob noch etwas von unserer Ernte übrig war. Unterwegs wollte sie meine Schwester bei unserer Großmutter absetzen, die sich seit Wochen bei Verwandten versteckte. Die Verwandten wollten meine Schwester nicht nehmen. Aber als sie die traurige Geschichte hörten, wie sie fast auf dem Berg gestorben wäre, bekamen sie Mitleid und ließen sie herein. Meine Mutter und ich fuhren weiter bis zu einer Stelle nicht weit von unserem Hof, dort bezahlte sie den Motorradfahrer, und wir gingen den gewundenen Pfad den Hügel hinauf. Unsere Felder waren nicht geplündert worden, im Gegensatz zu vielen anderen ringsum. Also pflückten wir alle Bohnen und packten sie in Säcke, die wir mitgebracht hatten. Jetzt hatten wir etwas zu verkaufen. Wir machten uns auf den Weg zurück ins Dorf. Unterwegs hielt uns ein Mann an. Zuerst dachten wir, es sei einer von der Sekte, aber dann sprach er ein Gebet, das wir kannten, und wir fühlten uns sicher. Es war ein großer Mann mit scharfen Augen. »Sind die Bohnen da zu verkaufen?«, fragte er. »Ein Teil davon schon«, antwortete meine Mutter. »Wie viel?« – »Fünftausend Naira«, sagte meine Mutter, und ich mischte mich ein und sagte: »Sechstausend«, und dann standen wir da auf diesem felsigen Grat und handelten und handelten, sodass der Preis in die Höhe ging und schließlich von fünftausend auf siebentausend gestiegen war.

Nachdem wir uns ein paar Tage bei meiner Großmutter und den Verwandten ausgeruht und ihnen etwas von unseren Bohnen abgegeben hatten, beschloss meine Mutter, dass wir unseren Vater finden müssten. Wir mussten wieder eine Familie werden. Also gingen wir los, Mama mit meiner Schwester auf dem Rücken, die sich an sie klammerte und »Maama-ma« sagte, damit sie nicht wieder verlorenging. In einem Dorf fragten wir bei einem Polizisten nach, der sagte, mein Vater sei nicht tot. Er habe gehört, dass mein Vater zu unserem Haus zurückgekehrt sei und in dem Teil des Gebäudes wohne, der nicht völlig niedergebrannt war.