Die Knochenuhren - David Mitchell - E-Book
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Die Knochenuhren E-Book

David Mitchell

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Beschreibung

An einem verschlafenen Sommertag des Jahres 1984 begegnet die junge Holly Sykes einer alten Frau, die ihr im Tausch für «Asyl» einen kleinen Gefallen tut. Jahrzehnte werden vergehen, bis Holly Sykes genau versteht, welche Bedeutung die alte Frau dadurch für ihre Existenz bekommen hat. Die Knochenuhren folgt den Wendungen von Holly Sykes' Leben von einer tristen Kindheit am Unterlauf der Themse bis zum hohen Alter an Irlands Atlantikküste, in einer Zeit, da Europa das Öl ausgeht. Ein Leben, das gar nicht so ungewöhnlich ist und doch punktiert durch seltsame Vorahnungen, Besuche von Leuten, die sich aus dem Nichts materialisieren, Zeitlöcher und andere kurze Aussetzer der Gesetze der Wirklichkeit. Denn Holly – Tochter, Schwester, Mutter, Hüterin – ist zugleich die unwissende Protagonistin einer mörderischen Fehde, die sich in den Schatten und dunklen Winkeln unserer Welt abspielt – ja, sie wird sich vielleicht sogar als deren entscheidende Waffe erweisen. Metaphysischer Thriller, moralische Betrachtung und Chronik unseres selbstzerstörerischen Handelns – dieser kaleidoskopische Roman mit seiner Vielfalt von Themen, Schauplätzen und Zeiten birst vor Erfindungsreichtum und jener Intelligenz, die David Mitchell zu einem der herausragenden Autoren seiner Generation gemacht hat.

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Seitenzahl: 1080

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David Mitchell

Die Knochenuhren

Roman

Aus dem Englischen von Volker Oldenburg

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

An einem verschlafenen Sommertag des Jahres 1984 begegnet die junge Holly Sykes einer alten Frau, die ihr im Tausch für «Asyl» einen kleinen Gefallen tut. Jahrzehnte werden vergehen, bis Holly Sykes genau versteht, welche Bedeutung die alte Frau dadurch für ihre Existenz bekommen hat.

 

Die Knochenuhren folgt den Wendungen von Holly Sykes’ Leben von einer tristen Kindheit am Unterlauf der Themse bis zum hohen Alter an Irlands Atlantikküste, in einer Zeit, da Europa das Öl ausgeht. Ein Leben, das gar nicht so ungewöhnlich ist und doch punktiert durch seltsame Vorahnungen, Besuche von Leuten, die sich aus dem Nichts materialisieren, Zeitlöcher und andere kurze Aussetzer der Gesetze der Wirklichkeit. Denn Holly – Tochter, Schwester, Mutter, Hüterin – ist zugleich die unwissende Protagonistin einer mörderischen Fehde, die sich in den Schatten und dunklen Winkeln unserer Welt abspielt – ja, sie wird sich vielleicht sogar als deren entscheidende Waffe erweisen.

 

Über David Mitchell

Inhaltsübersicht

WidmungHitzewelle30. Juni1. Juli2. JuliMein ist die Myrrhe, ihr bitterer Duft13. Dezember20. Dezember23. Dezember29. Dezember30. Dezember31. DezemberNeujahrstag 1992Die Hochzeitsfeier16. April17. AprilCrispin Hersheys einsamer Planet1. Mai 201511. März 201614. März 201621. Februar 201720. August 201817. September 201919. September 201920. September 201923. September 201913. Dezember 2020Das Labyrinth des Horologen1. April3. April4. April5. April6. April7. AprilSheep’s Head26. Oktober27. Oktober28. OktoberDanksagungNachweise

Für Noah

Hitzewelle

1984

30. Juni

Ich reiße die Vorhänge auf, und da ist der durstige Himmel und der breite Fluss voll mit Booten und Schiffen, aber ich denke schon wieder an Vinnys schokoladige Augen, Shampooschaum auf Vinnys Rücken, Schweißperlen auf Vinnys Schultern, an Vinnys schelmisches Lachen, und mein Herz tickt aus, o Gott, wäre ich doch jetzt bei Vinny in der Peacock Street und nicht in meinem dämlichen Zimmer. Die Worte kamen ganz von selber gestern Abend: «Ich bin soo verliebt in dich, Vin», und er blies eine Rauchwolke ins Zimmer und sagte mit Prinz-Charles-Stimme: «Ich muss zugeben, auch ich empfinde unsere Zusammenkünfte als ausgesprochen vergnüglich, Holly Sykes.» Ich hab mich weggeschmissen vor Lachen, obwohl, wenn ich ehrlich bin, war ich ein bisschen sauer, weil er nicht auch von Liebe gesprochen hat. Aber Männer stellen sich halt bescheuert an, wenn’s darum geht, über Gefühle zu reden, das steht in jeder Zeitschrift. Zu blöd, dass ich ihn jetzt nicht anrufen kann. Wann erfinden sie endlich Telefone, mit denen du jeden jederzeit überall erreichen kannst. Er fährt jetzt auf der Norton zur Arbeit, in der Lederjacke mit dem LED ZEP-Schriftzug aus Nieten. Im September, wenn ich sechzehn werde, macht er mit mir eine Motorradtour.

Unten schlägt eine Schranktür zu.

Mam. Kein anderer würde sich trauen, so laut mit Türen zu knallen.

Ob sie es weiß?, fragt eine verzerrte Stimme.

Nein. Vinny und ich waren viel zu vorsichtig.

Das sind die Wechseljahre. Mams, meine ich. Ganz sicher.

Fear of Music von den Talking Heads liegt auf dem Plattenteller, und ich setze die Nadel auf. Vinny hat mir die LP geschenkt, an dem Samstag, an dem wir uns bei Magic Bus Records wiederbegegnet sind. Die Platte ist spitze. Es ist nicht ein schwaches Stück drauf, aber «Heaven» und «Memories Can’t Wait» gefallen mir besonders. Vinny war in New York und hat die Talking Heads live gesehen. Sein Kumpel Dan hat für die Security gearbeitet und ihn nach dem Konzert in den Backstage-Bereich geschleust, wo Vinny dann mit David Byrne und der Band abhing. Wenn er nächstes Jahr wieder hinfährt, nimmt er mich mit. Beim Anziehen bemerke ich die vielen Knutschflecke und wünsche mir, ich könnte heute Abend wieder zu Vinny gehen, aber er trifft sich mit ein paar Freunden in Dover. Männer können es nicht ab, wenn Frauen eifersüchtig sind, also lasse ich mir nichts anmerken. Meine beste Freundin Stella ist in London, auf dem Camden Market nach Secondhand-Klamotten stöbern. Mam sagt, ich bin noch zu jung, um ohne Erwachsenen nach London zu fahren, also hat Stella Ali Jessop mitgenommen. Mein größtes Highlight heute ist, im Pub staubzusaugen, damit ich meine drei Pfund Taschengeld bekomme. Ganz toll! Danach muss ich für die Prüfungen nächste Woche lernen. Am liebsten würde ich einfach ein leeres Blatt abgeben und der Schule verklickern, wo sie sich den Satz des Pythagoras, Herr der Fliegen und den Lebenszyklus der Würmer hinstecken können. Soll ich?

Ja. Vielleicht mache ich das wirklich.

 

Unten in der Küche herrscht Antarktis-Stimmung. «Morgen», sage ich, aber nur Jacko, der malend am Fenster sitzt, blickt auf. Sharon lümmelt in der Sitzecke und guckt einen Zeichentrickfilm. Dad spricht unten in der Diele mit dem Lieferanten – der Bierlaster brummt draußen vorm Pub. Mam schneidet Äpfel klein und straft mich mit Schweigen. «Was ist los, Mam, habe ich was ausgefressen?», soll ich jetzt fragen, aber da kann sie lange warten. Anscheinend hat sie mitgekriegt, dass ich gestern Abend spät zu Hause war, aber soll sie das Thema doch selber ansprechen. Ich gieße Milch über meine Weetabix und setze mich an den Tisch. Mam scheppert mit dem Topfdeckel und kommt zu mir rüber. «Und? Was hast du zu deiner Entschuldigung zu sagen?»

«Dir auch einen guten Morgen, Mam. Das wird wieder ein heißer Tag.»

«Was hast du zu deiner Entschuldigung zu sagen, Fräulein?»

Im Zweifelsfall immer das Unschuldslamm spielen. «Was meinst du?»

Ihr Blick bekommt etwas Tückisches. «Um welche Uhrzeit bist du zu Hause gewesen?»

«Ach so, das, ja, es ist ein bisschen später geworden, tut mir leid.»

«Zwei Stunden sind nicht ‹ein bisschen später›. Wo warst du?»

Ich löffle meine Weetabix. «Bei Stella. Hab die Zeit vergessen.»

«Ach, das ist ja sonderbar. Um zehn habe ich nämlich Stellas Mutter angerufen, weil ich wissen wollte, wo du so lange steckst, und weißt du, was sie gesagt hat? Du hättest dich schon vor acht auf den Weg gemacht. Wer lügt hier, Holly? Du oder Stellas Mutter?»

Scheiße. «Ich war noch spazieren.»

«Und wo warst du spazieren?»

«Am Fluss, was dagegen?», erwidere ich spitz.

«Hat dich dein kleiner Spaziergang flussaufwärts oder flussabwärts geführt?»

Ich zögere einen Moment. «Ist doch egal, oder?»

Im Trickfilm fliegt etwas in die Luft. «Stell die Glotze aus und mach die Tür von außen zu, Sharon», blökt Mam.

«Du bist gemein! Holly hat doch die Schimpfe verdient.»

«Raus, Sharon, du auch, Jacko, ich will –» Aber Jacko hat sich schon verkrümelt. Als Sharon draußen ist, fällt Mam wieder über mich her. «Und du warst natürlich alleine spazieren?»

Woher kommt bloß das eklige Gefühl, dass sie mir eine Falle stellen will? «Ja.»

«Wie weit bist du denn gegangen, so ganz alleine?»

«Willst du Meilen oder Kilometer?»

«Kann es sein, dass dich dein kleiner Spaziergang in die Peacock Street zu einem gewissen Vincent Costello geführt hat?» Die Küche fängt an sich zu drehen, und ich wende den Blick zum Fenster. Auf der anderen Flussseite hebt ein Strichmännchen sein Fahrrad von der Fähre. «Hat es dir auf einmal die Sprache verschlagen? Ich helfe deinem Gedächtnis gerne auf die Sprünge: Gestern Abend um zehn hast du im Wohnzimmer das Rollo runtergezogen, du hattest ein T-Shirt an und nicht viel mehr.»

Stimmt, ich bin nach unten gegangen, um Vinny ein Bier zu holen. Stimmt, ich habe das Rollo im Wohnzimmer runtergezogen. Stimmt, es ist jemand vorbeigekommen. Keine Panik, hab ich gedacht. Wie wahrscheinlich ist es schon, dass dieser Jemand dich kennt? Mam spekuliert darauf, dass ich einknicke, aber da hat sie sich geschnitten. «Du bist als Barfrau unterfordert, Mam. Du solltest beim MI5 die Abteilung Spitzel leiten.»

Da ist er, der vernichtende Kath-Sykes-Blick. «Wie alt ist er?»

Jetzt reicht’s aber! «Das geht dich nichts an.»

Ihre Augen werden schlitzschmal. «Vierundzwanzig, soweit ich weiß.»

«Warum fragst du dann, wenn du es eh schon weißt?»

«Weil sich ein vierundzwanzigjähriger Mann strafbar macht, wenn er sich an einer fünfzehnjährigen Schülerin vergreift. Er könnte dafür ins Gefängnis wandern.»

«Im September werde ich sechzehn, und ich schätze mal, die Kenter Polizei hat Wichtigeres zu tun. Ich bin alt genug, um selber zu entscheiden, mit wem ich zusammen sein will.»

Mam steckt sich eine Marlboro an. Ich würde jetzt alles für eine geben. «Wenn ich deinem Vater davon erzähle, macht er Hackfleisch aus diesem Costello.»

Klar, ab und zu muss Dad ein paar Suffköppe vor die Tür setzen, das muss jeder Wirt, aber ein Hackfleischmacher ist er bestimmt nicht.

«Brendan war auch erst fünfzehn, als er mit Mandy Fry gegangen ist, und wenn du glaubst, die beiden hätten nur auf der Schaukel gesessen und Händchen gehalten, täuschst du dich. Kann mich nicht erinnern, dass du ihm da mit Gefängnis gedroht hast.»

Sie sagt es so deutlich, als hätte ich einen Hirnschaden: «Bei – Jungs – ist – das – was – anderes.»

Ich mache ein genervtes Das-glaube-ich-jetzt-einfach-nicht-Geräusch.

«Eins sage ich dir, Holly, diesen … Autoverkäufer siehst du nur über meine Leiche wieder.»

«Weißt du was, Mam? Ich treffe mich, mit wem es mir passt!»

«Regeländerung.» Mam drückt ihre Kippe aus. «Ab morgen fahre ich dich jeden Tag zur Schule und hole dich auch wieder ab. Du gehst nicht mehr aus dem Haus, außer ich, dein Vater, Brendan oder Ruth begleiten dich. Wenn ich diesen Kinderverführer noch einmal in deiner Nähe sehe, greife ich sofort zum Hörer und rufe die Polizei an – das schwöre ich, bei allem, was mir heilig ist. Außerdem – außerdem informiere ich seinen Arbeitgeber, dass er es mit minderjährigen Schülerinnen treibt.»

Zähe Sekunden sickern dahin, bis die Botschaft ganz angekommen ist.

Meine Tränendrüsen zucken, aber den Triumph gönne ich diesem weiblichen Hitler nicht! «Wir sind hier nicht in Saudi-Arabien! Du kannst mich nicht einfach einsperren!»

«Solange du unter unserem Dach haust, hältst du dich an unsere Regeln. Als ich in deinem Alter war –»

«Ja, ja, ja, du hattest zwanzig Brüder, dreißig Schwestern und vierzig Großeltern und musstest jeden Tag aufs Kartoffelfeld, weil, das Leben in Irland war ja ach so schwer damals. Aber wir sind hier in England, Mam, England! In den Achtzigern! Und wenn in Scheiß-West-Cork alles so wahnsinnig toll gewesen ist, frage ich mich, warum du überhaupt nach –»

Watsch! Ein Schlag auf die linke Wange.

Wir starren einander an: ich vor Schreck zitternd, sie so wütend, wie ich es noch nie erlebt habe, und – so scheint es – in dem Wissen, dass sie gerade etwas kaputt gemacht hat, was sich nie mehr kitten lässt. Wie eine Siegerin stolziere ich wortlos aus der Küche.

 

Ich weine bloß ein bisschen, kein Heulsusengeflenne, sondern weil ich so geschockt bin, und als es vorbei ist, stelle ich mich vor den Spiegel. Meine Augen sind verquollen, aber mit ein bisschen Eyeliner krieg ich das schnell wieder hin … Lippenstift, ein Hauch Rouge … fertig. Das Mädchen im Spiegel mit den kurzen schwarzen Haaren, dem Quadrophenia-T-Shirt und der schwarzen Jeans ist eine Frau. «Ich hab gute Neuigkeiten für dich», sagt sie. «Du ziehst heute noch bei Vinny ein.» Ich zähle Gründe auf, warum daraus nichts wird, und halte inne. «Ja», juble ich aufgeregt und bin gleichzeitig ganz ruhig. Die Schule schmeiße ich auch hin. Heute. Bevor die Anwesenheitskontrolettis deswegen rumfurzen, sind schon Sommerferien, und wenn ich im September sechzehn werde, heißt es, leck mich, Windmill-Hill-Gesamtschule. Bringe ich das?

Ja! Also packen. Aber was? Alles, was in meine große Reisetasche passt. Unterwäsche, BHs, T-Shirts, die Bomberjacke, Schminkbeutel, die Oxo-Dose mit meinem Schmuck. Zahnbürste und Tampons – meine Regel ist ein bisschen überfällig und kann jeden Moment einsetzen. Geld. Ich habe 13,85 gespart. Auf dem Sparbuch bei der TSB liegen noch mal 80. Ich meine, Vinny wird wohl kaum Miete von mir verlangen, und gleich nächste Woche suche ich mir einen Job. Babysitten, auf dem Markt aushelfen, kellnern: Es gibt eine Menge Möglichkeiten, ein bisschen Geld zu verdienen. Was passiert mit meinen Platten? Ich kann unmöglich die ganze Sammlung rüber in die Peacock Street schleppen, und wie ich Mam kenne, bringt sie sie aus purer Gehässigkeit zu Oxfam, also wickle ich Fear of Music vorsichtig in meine Bomberjacke, damit sie in der Tasche nicht verbiegt, und verstecke die anderen fürs Erste unter dem losen Dielenbrett. Als ich den Teppich wieder drüberlege, kriege ich fast einen Herzinfarkt: Jacko steht in Hausschuhen und seinem Thunderbirds-Schlafanzug in der Zimmertür. Er beobachtet mich.

«Du hast mich zu Tode erschreckt, junger Mann.»

«Du gehst fort.» Seine Stimme klingt immer leicht abwesend.

«Unter uns gesagt: Ja, ich gehe weg. Aber nicht weit weg, keine Angst.»

«Ich habe dir ein Andenken gebastelt, damit du mich nicht vergisst.» Er überreicht mir ein rundes Stück Pappe – der plattgedrückte Deckel eines Schmelzkäsekartons –, auf das er ein Labyrinth gezeichnet hat. Jacko ist ganz versessen auf Labyrinthe: Das kommt von dem Fantasyzeugs, das Sharon und er ständig lesen. Dieses Exemplar besteht aus acht oder neun Kreisen, absolut simpel für Jackos Verhältnisse. «Nimm es mit», sagt er. «Es ist diabolisch.»

«Dia– was?»

«‹Diabolisch› heißt ‹teuflisch›, Schwesterherz.»

«Was ist so diabolisch an deinem Labyrinth?»

«Die Dämmerung verfolgt dich, wenn du hindurchgehst. Wenn sie dich berührt, erlischt dein Leben. Eine falsche Abzweigung in eine Sackgasse, und es ist aus mit dir. Darum musst du dir den Weg ganz genau einprägen.»

Meine Herren, mein kleiner Bruder ist wirklich mehr als verrückt. «Super. Danke, Jacko. Aber jetzt muss ich –»

Jacko fasst mich am Handgelenk. «Lerne das Labyrinth auswendig, Holly. Deinem verrückten kleinen Bruder zuliebe. Bitte.»

Das versetzt mir einen kleinen Schock. «Du verhältst dich wirklich eigenartig, junger Mann.»

«Versprich mir, dass du den Weg memorierst, damit du notfalls auch im Dunkeln durch das Labyrinth findest. Bitte.»

Die kleinen Brüder meiner Freundinnen stehen alle auf Autorennbahnen, BMX-Räder und Quartett – warum macht ausgerechnet meiner so merkwürdige Dinge und benutzt Wörter wie «diabolisch» und «memorieren»? Keine Ahnung, wie er in Gravesend überleben soll, falls er schwul ist. Ich wuschle ihm durchs Haar. «Na schön, ich verspreche dir, dass ich deinen Irrgarten auswendig lerne.» Jacko drückt mich an sich, was irgendwie unheimlich ist, denn er ist so gar nicht der Kuscheltyp. «He, ich bleibe doch in der Nähe … Wenn du ein bisschen älter bist, wirst du mich verstehen, und –»

«Du ziehst zu deinem Freund.»

Eigentlich dürfte mich das nicht mehr überraschen. «Stimmt.»

«Pass gut auf dich auf, Holly.»

«Vinny ist nett. Wenn Mam sich erst mal dran gewöhnt hat, sehen wir uns wieder – ich meine, Brendan sehen wir doch auch, obwohl er jetzt mit Ruth verheiratet ist.»

Jacko vergräbt die Pappe mit dem Labyrinth in meiner Reisetasche, wirft mir einen Blick zu und verlässt stumm das Zimmer.

 

Mam kommt mit einem Korb voll Barmatten nach oben, als würde sie nicht die ganze Zeit auf der Lauer liegen. «Ich meine es ernst. Du hast Hausarrest. Ab mit dir in dein Zimmer. Nächste Woche sind Prüfungen. Setz dich auf den Hosenboden und fang an zu lernen.»

Ich halte mich am Geländer fest. «‹Unser Haus, unsere Regeln›, hast du gesagt. In Ordnung. Ich habe weder Bock auf eure Regeln noch auf euer Haus, und erst recht nicht darauf, dass du mir jedes Mal eine scheuerst, wenn du die Beherrschung verlierst. Würdest du dir das etwa gefallen lassen?»

Ein leichtes Zucken in ihrem Gesicht. Wenn sie jetzt das Richtige sagt, lasse ich mit mir handeln. Aber nein, sie registriert nur meine Reisetasche und grinst, als könnte sie nicht fassen, wie blöd ich bin. «Früher warst du ein kluges Mädchen.»

Ich gehe wortlos die Treppe hinunter.

Ihre Stimme wird schrill. «Und was ist mit der Schule?»

«Geh doch selber hin, wenn sie dir so wichtig ist.»

«Ich hatte nie die Möglichkeit, Holly! Ich musste mich um den Pub kümmern und dafür sorgen, dass du, Brendan, Sharon und Jacko was zum Anziehen, genug zu essen und eine gute Schulbildung bekommt, damit ihr später nicht tagein, tagaus Klos putzen, Aschenbecher ausleeren und euch den Rücken krumm schuften müsst.»

Ihre Litanei perlt an mir ab. Ich gehe weiter.

«Aber geh nur, geh. Mach deine eigenen schmerzhaften Erfahrungen. Wetten, Romeo schmeißt dich nach drei Tagen raus? Es ist nicht der fabelhafte Charakter eines Mädchens, für den Männer sich interessieren, Holly.»

Ich höre gar nicht hin. Von der Diele aus kann ich Sharon hinter der Theke stehen sehen, beim Regal mit den Fruchtsäften. Sie hilft Dad dabei, die Bar aufzufüllen, aber ich sehe ihr an, dass sie alles mitgehört hat. Ich winke ihr kurz zu, und sie winkt zaghaft zurück. Aus der Kellerluke schmettert Dad «Ferry ’Cross The Mersey». Am besten, ich halte ihn aus der Sache raus. In Mams Beisein wird er sich auf ihre Seite schlagen. Vor den Stammgästen wird er sagen: «Ich wäre schön blöd, wenn ich mich zwischen die beiden Streithühner stelle», und dafür ein einhelliges «Recht hast du, Dave» ernten. Außerdem wäre ich lieber nicht dabei, wenn er das mit Vinny erfährt. Nicht, dass es mir peinlich wäre, ich will bloß nicht dabei sein. Newky schnarcht in seinem Körbchen. «Du bist der größte Stinker in ganz Kent, alte Misttöle», sage ich, weil ich sonst weinen muss. Ich kraule ihm den Nacken, öffne die Seitentür und trete hinaus auf die Marlow Alley. Die Tür fällt hinter mir ins Schloss.

 

Auf der West Street ist alles zu hell oder zu dunkel, wie ein Fernsehbild, bei dem die Kontrasteinstellung spinnt. Ich setze die Sonnenbrille auf, und die Welt wird lebendiger, realer und traumhaft schön. Ich zittere und habe Halsschmerzen. Niemand läuft mir aus dem Pub hinterher. Gut so. Ein rußender Zementlaster rollt vorbei, und die Kastanie wiegt sich raschelnd im Luftzug. Es riecht nach heißem Asphalt, Bratkartoffeln und dem wochenalten Abfall, der aus den Tonnen quillt – die Müllabfuhr streikt mal wieder.

Kleine Vögel schwirren aufgeregt umher, wie die pfeifenden Blechdinger am Band, die es auf Kindergeburtstagen gibt oder früher gegeben hat. Im Park bei der Kirche in der Crooked Lane spielen ein paar Jungs Verstecken. Fang ihn! Hinter dem Baum! Befreimich! Kinder! Stella sagt, erwachsene Männer sind die besseren Liebhaber: Bei Jungs in unserem Alter, sagt sie, schmilzt das Eis, wenn du die Waffel in die Hand nimmst. Stella weiß als Einzige Bescheid über mich und Vinny – sie war dabei an dem ersten Samstag bei Magic Bus –, aber sie kann Geheimnisse für sich behalten. Als sie mir das Rauchen beibringen wollte und ich die ganze Zeit gekotzt habe, hat sie mich weder ausgelacht noch den anderen davon erzählt, und außerdem weiß ich von ihr alles über Jungs, was man wissen muss. Stella ist mit Abstand das coolste Mädchen in unserem Jahrgang.

Von der Crooked Lane biege ich in die Queen Street, wo mich Julie Walcott fast mit ihrem Kinderwagen niedermäht. Ihr Baby brüllt wie am Spieß, und Julie sieht kaputt aus. Sie ist von der Schule abgegangen, als sie schwanger wurde. Vinny und ich passen höllisch auf. Nur einmal haben wir es ohne Kondom gemacht, beim ersten Mal, aber es ist wissenschaftlich erwiesen, dass Jungfrauen nicht schwanger werden können. Das weiß ich von Stella.

 

Über der Queen Street flattern bunte Wimpel wie zur Feier von Holly Sykes’ Unabhängigkeitstag. Die Schottin vom Wollgeschäft gießt ihre Blumenampeln, Mr. Gilbert, der Juwelier, stellt Schmuckladen mit Ringen ins Schaufenster. Mike und Todd, die Schlachter, hieven ein kopfloses Schwein vom Transporter, in dem ein Dutzend tote Tiere baumeln. Vor der Leihbücherei sammeln ein paar Gewerkschaftsleute mit Eimern für die streikenden Bergarbeiter, und die Vertreter der Socialist Workers Party halten Plakate hoch mit COAL NOT DOLE und THATCHER ERKLÄRT BERGARBEITERN DEN KRIEG. Ed Brubeck kommt auf dem Fahrrad in meine Richtung. Ich verdrücke mich schnell in die Markthalle, damit er mich nicht sieht. Er ist erst im vergangenen Jahr hierhergezogen, aus Manchester, wo sein Vater wegen Einbruch und Körperverletzung im Knast sitzt. Er hat keine Freunde, und anscheinend will er auch keine. Normalerweise wird man an unserer Schule für so was gelyncht, aber der Typ aus dem Abschlussjahrgang, der es versucht hat, hat dafür mit einem gebrochenen Nasenbein bezahlt, und seitdem lassen sie Brubeck in Ruhe. Er radelt vorbei, ohne mich zu bemerken, mit einer Angel am Lenker. Ich gehe weiter. Vor der Spielhalle bläst ein Straßenmusiker Trauerlieder auf der Klarinette. Jemand wirft eine Münze in seinen Kasten, und er spielt die Titelmusik von Dallas. Ich gehe bei Magic Bus Records vorbei und werfe einen Blick hinein. Ich hatte bei «R» nach den «Ramones» gesucht. Vinny behauptet, er sei bei «S» wie «scharf», «sexy» und «Sykes» gewesen. Hinten im Laden werden gebrauchte Gitarren verkauft. Vin kann das Intro von «Stairway to Heaven» spielen, weiter ist er allerdings nicht gekommen. Ich werde mir auf seiner Gitarre das Spielen beibringen, wenn er bei der Arbeit ist. Wir könnten zusammen eine Band gründen. Warum nicht? Tina Weymouth ist auch ein Mädchen und Bassistin bei den Talking Heads. Man stelle sich Mams Gesicht vor, wenn sie mal wieder «Sie ist nicht mehr meine Tochter» wettert und mich dann plötzlich bei Top of the Pops sieht. Mams Problem ist, dass sie noch nie so geliebt hat, wie Vin und ich uns lieben. Sicher, sie und Dad kommen einigermaßen miteinander aus, auch wenn ihre Familie in Cork es nicht gerade toll findet, dass er weder Ire ist noch katholisch. Meine älteren irischen Cousins haben mir früher immer unter die Nase gerieben, dass Mam mit Brendan schwanger war, bevor sie geheiratet haben, aber sie sind jetzt seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet, und das ist wahrscheinlich gar nicht so schlecht. Trotzdem, ihre Beziehung zu Dad ist nicht so tief wie die zwischen Vin und mir. Stella sagt, Vin und ich sind Seelenverwandte. Jeder sieht, sagt sie, dass wir füreinander geschaffen sind.

 

Vor der NatWest Bank auf der Milton Road laufe ich Brendan in die Arme. Haare nach hinten gegelt, Krawatte mit Paisleymuster, Blazer lässig über der Schulter – man könnte glauben, er wäre unterwegs zur Mister-Schönling-Wahl und nicht zur Arbeit bei Stott and Conway. Die älteren Schwestern meiner Freundinnen schwärmen für meinen großen Bruder – gleich muss ich kotzen. Er ist mit Ruth verheiratet, der Tochter von seinem Chef Mr. Conway. Die Trauung fand im Rathaus statt, und danach gab’s einen protzigen Empfang im Chaucer Country Club. Ich war nicht Brautjungfer, weil ich keine Kleider trage, erst recht keine, in denen man aussieht wie ein Sammlerstück aus Vom Winde verweht, also haben Sharon und Ruths Nichten die Sache übernommen, und es waren jede Menge Verwandte aus Cork dabei. Brendan ist Mams Goldstück, und Mam ist für ihn die Größte. Nachher werden sie gemeinsam alles durchhecheln, was ich ihm erzählt habe.

«Morgen», begrüße ich ihn. «Wie geht’s?»

«Kann nicht klagen. Alles in Ordnung im Captain?»

«Bestens. Mam ist heute ausgesprochen guter Laune.»

«Echt?» Brendan schmunzelt verblüfft. «Wie kommt’s?»

Ich zucke die Achseln. «Wahrscheinlich ist sie ausnahmsweise mal mit dem richtigen Bein aufgestanden.»

«Stark.» Sein Blick fällt auf die Reisetasche. «Willst du verreisen?»

«Nicht direkt. Ich gehe zu Stella Yearwood, Französisch lernen – und übernachte dort. Nächste Woche sind Prüfungen.»

Mein Bruder macht ein beeindrucktes Gesicht. «Alle Achtung, Schwesterchen.»

«Geht’s Ruth wieder besser?»

«Kaum. Weiß der Geier, warum das Morgenübelkeit heißt, wenn es mitten in der Nacht am schlimmsten ist.»

«Vielleicht ist das ein Härtetest von Mutter Natur, zur Vorbereitung, wenn das Baby da ist», schlage ich vor. «Schlaflose Nächte, Dauerstreit, Babykotze … Da braucht man Durchhaltevermögen.»

Mein Bruder springt nicht darauf an. «Wahrscheinlich.» Ich kann mir Brendan nur schwer als Vater vorstellen, aber Weihnachten wird er es sein.

Die Bank öffnet ihre Pforten, und die Angestellten traben hinein. «Nicht dass Mr. Conway seinen Schwiegersohn feuern würde», ermahne ich Brendan, «aber musst du nicht um neun im Büro sein?»

«Hast recht. Wir sehen uns morgen nach deinem Lernmarathon. Mam hat uns zum Mittag eingeladen. Schönen Tag dir.»

«Es ist jetzt schon der schönste Tag meines Lebens», stecke ich meinem Bruder und damit indirekt Mam.

Ein kurzes Siegerlächeln, dann taucht Brendan unter im Strom der Anzug- und Uniformträger, alle auf dem Weg zur Arbeit in Büros, Geschäften und Fabriken.

 

Montag lasse ich mir einen Schlüssel für Vinnys Haustür machen, aber heute nehme ich noch mal den Schleichweg, der über eine Straße namens The Grove führt. Vor dem Finanzamt ist ein schmaler Durchgang, halb versteckt hinter einem überquellenden Müllcontainer, aus dem es nach vollen Windeln stinkt. Eine braune Ratte mustert mich hochnäsig. Ich passiere den Durchgang, biege rechts ab und komme zwischen den eingezäunten Gärten der Peacock Street und der Rückseite vom Finanzamt raus. Ganz am Ende, im letzten Haus vor dem Bahndamm, wohnt Vinny. Ich zwänge mich zwischen den losen Latten hindurch und wate durch den Garten. Gras und Unkraut reichen mir bis zur Taille, die Pflaumenbäume tragen schon Früchte, aber die meisten sind Futter für die Würmer und die Wespen, sagt Vinny, weil er keinen Bock hat, sie zu pflücken. Der Garten ist wie die Dornenhecke in Dornröschen, die das Schloss überwuchert, während die Bewohner hundert Jahre schlafen. Eigentlich soll Vinny ihn für seine Tante pflegen, aber die wohnt in King’s Lynn und kommt nie zu Besuch, und außerdem ist Vinny Biker und kein Gärtner. Wenn ich erst mal richtig eingezogen bin, werde ich den Dschungel bändigen. Es fehlt einfach eine Frau im Haus. Vielleicht fange ich heute schon an, aber vorher lerne ich ein bisschen Gitarre. In der Ecke, halb verborgen von Gestrüpp, steht ein Schuppen mit Rasenmäher und Werkzeug. Ich werde Sonnenblumen pflanzen, Rosen, Stiefmütterchen, Nelken, Lavendel und Terracottatöpfchen mit Kräutern. Ich backe Scones und Pflaumentarte und Rührkuchen, und Vinny wird sagen: «Holly, wie bin ich bloß ohne dich zurechtgekommen!» In jeder Zeitschrift steht, bei Männern geht die Liebe durch den Magen. In dem üppigen lila Busch bei der Regentonne wimmelt es von weißen Schmetterlingen – Konfetti und Spitze, fast wie in echt.

Die Hintertür ist immer offen, weil Vinny den Schlüssel verloren hat. In der Spüle stehen noch die Pizzakartons und Weingläser von gestern Abend, aber kein Frühstücksgeschirr – bestimmt hat Vinny mal wieder verpennt und ist sofort zur Arbeit gebraust. Im ganzen Haus muss dringend geputzt, Staub gewischt und gesaugt werden. Aber vorher gibt’s einen Kaffee und eine Zigarette – wegen Mams Muhammad-Ali-Attacke hab ich ja nur ein paar Löffel Weetabix gegessen. Meine Kippen sind alle – nach der Begegnung mit Brendan hab ich total vergessen, neue zu kaufen –, aber Vinny hat immer welche im Nachtschrank, also tappe ich die Treppe hoch in sein Schlafzimmer. Unser Schlafzimmer, meine ich. Die Vorhänge sind noch zu, und es mieft nach alten Socken. Ich lasse Licht ins Zimmer, mache das Fenster auf, und als ich mich umdrehe, mache ich vor Schreck einen Satz – Vinny liegt im Bett, mit einem Gesicht, als hätte er die Hosen voll. «Ich bin’s nur, Holly», stammele ich. «Entschuldige, ich – ich – ich – ich dachte, du wärest bei der Arbeit.»

Er fasst sich ans Herz, als hätte ihn eine Kugel getroffen, und lacht irgendwie. «Mann, Hol. Ich hab dich für einen Einbrecher gehalten!»

Ich lache auch irgendwie. «Du … bist zu Hause.»

«Chaos im Dienstplan – die neue Sekretärin ist eine hoffnungslose Niete. Kev hat angerufen und gesagt, ich hätte heute frei.»

«Cool», sage ich. «Das ist toll, weil … ich habe eine Überraschung.»

«Super, ich liebe Überraschungen. Aber setz doch erst mal Wasser auf. Ich komme gleich runter. Scheiße, was rede ich da? Der Kaffee ist alle – läufst du schnell zu Staffa und holst ein Glas Nescafé? Das Geld geb ich dir – äh – später.»

Ich kann es nicht länger für mich behalten. «Mam weiß Bescheid über uns, Vin.»

«Hä? Oh.» Er macht ein nachdenkliches Gesicht. «Ach so. Wie hat sie es, äh …»

Plötzlich hab ich Schiss, dass er mich nicht will. «Nicht so toll. Ehrlich gesagt, sie ist ziemlich ausgerastet. Sie hat mir verboten, dich wiederzusehen, und gedroht, dass sie mich in den Keller sperrt. Also bin ich abgehauen. Kann ich …»

Er sieht mich nervös an und schweigt.

«Kann ich … vielleicht … bei dir bleiben? Eine Weile wenigstens?»

Vinny schluckt. «O-kay … ah, schon klar, hm … okay.»

Das klingt nicht sehr begeistert. «Heißt das ja, Vin?»

«Ja-aa. Logisch. Aber jetzt brauche ich dringend Kaffee.»

«Echt? Ach, Vin!» Die Erleichterung ist wie ein warmes Bad. Ich schlinge die Arme um ihn. Er ist verschwitzt. «Du bist der Größte, Vinny. Und ich hatte schon Bammel, du würdest –»

«Wir können eine kleine scharfe Sexmaus wie dich doch nicht unter der Brücke schlafen lassen! Aber ernsthaft, Hol, mein Körper braucht Koffein wie Dracula frisches Blut, also –» Er kann den Satz nicht beenden, weil ich ihn küsse, meinen Vinny, meinen Freund, der schon in New York gewesen ist und David Byrne die Hand geschüttelt hat, und meine Liebe zu ihm brodelt wie ein Heizkessel, und ich lege mich auf ihn, und wir rollen gegen eine Beule in der Bettdecke, aber die Beule bewegt sich. Ich reiße die Decke weg, und zum Vorschein kommt meine beste Freundin Stella Yearwood. Splitternackt. Als wäre ich in einem schlechten Sextraum, bloß, dass es keiner ist.

Ich … starre stumm zwischen ihre Beine, bis sie sagt: «So anders sieht’s bei dir sicher auch nicht aus!»

Dann starre ich Vinny an, der ein Gesicht macht, als hätte er sich in die Hose geschissen, und dann bescheuert kichert: «Es ist nicht so, wie’s aussieht.»

Stella deckt sich seelenruhig zu und fährt Vinny an: «Red keinen Stuss. Es ist genau so, wie es aussieht, Holly. Wir wollten es dir sagen, aber wie du siehst, bist du uns zuvorgekommen. Im Klartext, du hast den Laufpass gekriegt. Unangenehm, aber das passiert jedem von uns irgendwann, na ja, fast jedem, so ist nun mal das Leben. Keine Panik, Vinnys gibt’s wie Sand am Meer. Am besten findest du dich einfach damit ab. Und gehst, solange du noch einen Funken Würde übrig hast.»

 

Als die Tränen endlich versiegen, sitze ich auf einer kalten Treppe in einem kleinen Innenhof, eingerahmt von hohen alten Backsteinhäusern mit schmalen Blindfenstern. Zwischen den Gehwegplatten wuchert Unkraut, und Pusteblumensamen stieben umher wie Schnee in einer Schneekugel. Meine Füße haben mich von Vinny bis hierher getragen, vorbei am Krankenhaus von Gravesend, wo mich Dr. Marinus als Siebenjährige von Miss Constantin befreit hat. Habe ich Vinny geschlagen? Mir war, als würde ich durch zähen Sirup waten. Ich bekam keine Luft mehr. Er fasste mich hart am Handgelenk – es tut jetzt noch weh –, und Stella ätzte: «Werd erwachsen und verpiss dich, Holly. Das hier ist nicht der Denver-Clan, sondern das wahre Leben!» Ich lief die Treppe runter, schlug die Haustür hinter mir zu und rannte, so schnell ich konnte, irgendwohin, nirgendwohin … Ich wusste, wenn ich stehen bleibe, breche ich zusammen wie ein wabbeliges Häufchen Elend, und dann hätte mich einer von Mams Spitzeln gesehen und ihr alles berichtet, und das wäre dann die Krönung ihres Triumphes gewesen. Weil sie nämlich recht hat. Ich habe Vinny geliebt, als wäre er ein Teil von mir, und er hat mich geliebt wie einen Kaugummi. Als der Geschmack weg war, hat er mich ausgespuckt und sich den nächsten in den Mund geschoben, und zwar nicht bloß irgendeinen, sondern Stella Yearwood. Meine beste Freundin. Wie konnte er mir das antun? Wie konnte sie …?

Hör auf zu flennen! Denk an was anderes …

 

Holly Sykes und der schräge Scheiß, 1. Teil. 1976 war ich sieben Jahre alt. Es gab den ganzen Sommer über keinen Regen, und die Gärten wurden braun. Ich weiß noch, dass Brendan, Mam und ich mit unseren Eimern an der Zapfstelle in der Queen Street Schlange standen, weil das Wasser so knapp war. In diesem Sommer fing es an. Ich hörte Stimmen. Sie waren nicht wütend, auch nicht gemein oder besonders furchterregend, jedenfalls nicht sofort … Ich nannte sie die Radiomenschen, weil ich anfangs glaubte, im Zimmer nebenan liefe das Radio. Nachts waren die Stimmen am klarsten, aber ich hörte sie auch in der Schule, wenn es um mich herum still war, bei Klassenarbeiten und so. Es brabbelten immer drei, vier Stimmen gleichzeitig, und ich verstand nie, was sie sagten. Brendan hatte von psychiatrischen Anstalten und Männern in weißen Jacken geredet, darum traute ich mich nicht, jemandem davon zu erzählen. Mam war schwanger mit Jacko, Dad hatte alle Hände voll im Pub zu tun, Sharon war erst drei, und Brendan war schon damals ein Idiot. Ich wusste, es war nicht normal, dass man Stimmen hörte, aber sie taten mir schließlich nichts, und so handelte es sich vielleicht einfach um eines der Geheimnisse, mit denen die Leute leben.

Eines Nachts hatte ich einen Albtraum, in dem das Captain Marlow von Killerbienen überfallen wurde, und ich wachte schweißgebadet auf. Eine Frau saß am Fußende meines Bettes und sagte: «Sei unbesorgt, Holly, alles ist gut.» Ich sagte: «Danke, Mam», denn wer sollte es sonst sein? Dann hörte ich Mam am Ende des Flures in der Küche lachen – damals wohnte ich noch nicht im Dachgeschoss. Da wusste ich, dass ich die Frau an meinem Bett nur geträumt hatte, und ich knipste die Nachttischlampe an, um es zu beweisen.

Tatsächlich, da war niemand.

«Hab keine Angst», sagte die Frau, «aber ich bin so wirklich wie du.»

Ich bin weder durchgedreht, noch habe ich geschrien. Natürlich habe ich gezittert, aber trotz meiner Angst kam mir das Ganze wie eine Rätselaufgabe oder eine Prüfung vor. Ich war alleine im Zimmer, aber irgendjemand sprach mit mir. Also fragte ich die Frau so ruhig wie möglich, ob sie ein Geist ist. «Nein», sagte die Frau, die gar nicht da war, «ich bin ein Gast in deinen Gedanken. Darum kannst du mich nicht sehen.» Ich fragte sie nach ihrem Namen. Miss Constantin, antwortete sie – und dass sie die Radiomenschen fortgeschickt hätte, damit sie uns nicht stören könnten, ich hätte hoffentlich nichts dagegen? «Nein», sagte ich. Sie müsste jetzt gehen, sagte Miss Constantin, aber sie würde gerne bald wieder vorbeischauen, denn ich wäre «eine ganz phänomenale junge Dame».

Dann war sie weg. Ich lag noch Ewigkeiten wach, und als ich endlich einschlief, hatte ich das Gefühl, eine neue Freundin zu haben.

 

Was jetzt? Nach Hause? Lieber bohre ich mir Stecknadeln ins Zahnfleisch. Mam wird mir meine Niederlage als dampfendes Verlierer-Ragout mit Loser-Soße servieren und genüsslich zusehen, wie ich jeden Ekelbissen runterwürge, und wenn ich in Zukunft nicht spure, reibt sie mir jedes Mal den Vinny-Costello-Reinfall unter die Nase. Okay, ich ziehe nicht in die Peacock Street, aber ich kann trotzdem von zu Hause weggehen, wenigstens so lange, bis ich Mam gezeigt habe, dass ich alt genug bin, auf mich selber aufzupassen, und dass sie mich nicht mehr wie eine Siebenjährige behandeln muss. Mein Geld reicht für ein paar Tage Essen, und da ein Ende der Hitzewelle nicht in Sicht ist, stelle ich mir einfach vor, ich hätte jetzt schon Sommerferien. Scheiß auf die Prüfungen, scheiß auf die Schule. Stella wird die Sache so hindrehen, dass ich als die hysterische Klette dastehe, die nicht einsehen will, dass ihr Freund genug von ihr hat. Morgen früh um neun ist Holly Sykes die Lachnummer an der Windmill High. Jede Wette.

Eine Krankenwagensirene wird lauter, drängender, kreist außen um den Innenhof und verstummt mitten im Satz … Ich zuckle die Reisetasche zurecht und stehe auf. Okay, was jetzt? Jeder jugendliche Ausreißer in England fährt direkt nach London, weil er glaubt, er wird da von einem Talentscout oder einer guten Fee entdeckt. Ich entscheide mich für die entgegengesetzte Richtung, am Fluss entlang ins Marschland von Kent: Wenn du in einem Pub aufwächst, bekommst du unfreiwillig mit, was für Typen diese Scouts und Feen sind, die in London junge Ausreißer aufgabeln. Vielleicht finde ich eine Scheune oder ein leeres Ferienhaus, wo ich eine Weile bleiben kann. Das könnte klappen. Ich gehe um das Krankenhaus herum. Vorne auf dem vollen Parkplatz glitzern Windschutzscheiben im grellen Sonnenlicht. Drinnen, im kühlen schattigen Foyer, warten rauchende Leute in Schlangen auf Neuigkeiten.

Krankenhäuser sind seltsame Orte …

 

Holly Sykes und der schräge Scheiß, 2. Teil. Wochen vergingen, und ich dachte schon, ich hätte Miss Constantin nur geträumt, weil, sie war nicht wiedergekommen. Nur das unbekannte Wort «phänomenal» ging mir nicht mehr aus dem Kopf … Ich schlug es nach und fragte mich, wie es in meinem Kopf gelandet war, wenn Miss Constantin es nicht dort abgelegt hatte. Bis heute weiß ich darauf keine Antwort. Im September, das neue Schuljahr hatte begonnen und ich war gerade acht geworden, wachte ich eines Nachts auf und wusste, dass sie da war, und meine Freude war größer als die Angst. Es gefiel mir, was Besonderes zu sein. Ich fragte Miss Constantin, ob sie ein Engel ist. Sie lachte leise und sagte, nein, sie wäre ein Mensch so wie ich und dass sie nur gelernt hätte, ihren Körper zu verlassen, um ihren Freunden Besuche abzustatten. Ich wollte wissen, ob ich jetzt ihre Freundin war, und sie erwiderte: «Wärest du das denn gern?» – «Ja», rief ich, «bitte, unheimlich gerne», und sie sagte: «Dann sollst du meine Freundin sein.» Dann fragte ich sie, woher sie kam, und sie sagte, aus der Schweiz. Ich wollte ein bisschen angeben und fragte, ob die Schweiz das Land ist, in dem die Schokolade erfunden wurde, und sie sagte, sie wäre noch nie einem so hellen Kopf begegnet. Danach besuchte sie mich jede Nacht für ein paar Minuten, und ich erzählte ihr von meinem Tag. Sie hörte mir zu, war verständnisvoll oder heiterte mich auf. Immer war sie auf meiner Seite, ganz anders als Mam oder Brendan. Zwischendurch stellte ich ihr Fragen. Manchmal bekam ich auch genaue Antworten, «chromblond» zum Beispiel, als ich sie nach ihrer Haarfarbe fragte. Meistens aber wich sie eher aus und sagte: «Aber, Holly, wir wollen doch mein Geheimnis wahren.»

Eines Tages fiel Susan Hillage, das brutalste Mädchen an unserer Schule, auf dem Nachhauseweg über mich her. Ihr Vater war als Soldat in Belfast stationiert, und weil meine Mutter Irin ist, drückte sie mein Gesicht in den Dreck und sagte, sie würde mich erst loslassen, wenn ich zugab, dass wir die Brennkohle in der Badewanne lagerten und auf der Seite der IRA waren. Als ich mich weigerte, warf sie meine Schultasche in einen Baum und sagte, ich müsste für die drei in Belfast ermordeten Kameraden ihres Vaters büßen, und wenn ich nicht den Mund halten würde, würde die Einheit ihres Vaters unseren Pub anzünden, und ich wäre schuld, wenn meine ganze Familie im Feuer umkommen würde. Ich war kein Weichei, aber noch sehr klein, und Susan Hillage hatte mich an der richtigen Stelle getroffen. Ich verschwieg die Geschichte gegenüber meinen Eltern, obwohl ich schreckliche Angst davor hatte, am nächsten Tag in die Schule zu gehen. In der Nacht kuschelte ich mich in mein warmes Bett, und auf einmal war Miss Constantin da, nicht als Stimme in meinem Kopf, sondern ganz lebendig. Sie saß am Fußende im Sessel und sagte: «Aufwachen, Schlafmütze.» Sie war jung, hatte weißgoldenes Haar, ihre Lippen, ich stellte sie mir rosenrot vor, schimmerten dunkellila im Mondlicht, und sie hatte ein langes Kleid an. Sie war wunderschön, wie ein Gemälde. Ich nahm meinen Mut zusammen und fragte sie, ob ich das alles nur träumen würde, und sie sagte: «Ich bin gekommen, weil mein wunderbares, phänomenales Mädchen heute Nacht so unglücklich ist, und ich will wissen, warum.» Also erzählte ich ihr von Susan Hillage. Miss Constantin hörte still zu und sagte dann, sie würde alle Tyrannen verabscheuen – ob sie das Problem für mich beheben sollte? «Ja», sagte ich, «bitte», doch bevor ich fragen konnte, wie, hörte ich Dads Schritte auf dem Flur. Die Tür ging auf, und das Flurlicht schien mir hell in die Augen. Wie sollte ich ihm bloß erklären, dass Miss Constantin mitten in der Nacht an meinem Bett saß? Aber Dad bemerkte sie gar nicht. Er fragte, ob alles in Ordnung wäre, er hätte eine Stimme gehört, und tatsächlich, Miss Constantin war verschwunden. Ich sagte, ich hätte wohl schlecht geträumt und im Schlaf gesprochen.

Was ich schließlich selbst glaubte. Stimmen sind eine Sache, aber Frauen in langen Kleidern, die an deinem Bett sitzen? Am nächsten Morgen ging ich ganz normal zur Schule. Susan Hillage war nicht da. Niemand hatte sie gesehen. Während der Schulversammlung platzte der Rektor herein und teilte uns mit, Susan Hillage sei auf dem Weg zur Schule von einem Laster überfahren worden. Ihr Zustand sei sehr ernst, und wir sollten alle für sie beten, damit sie wieder gesund werde. Ich war wie betäubt. Mir wurde eiskalt, das Blut rutschte mir aus dem Kopf, die Aula fing an, sich zu drehen, und ich kippte um, aber daran konnte ich mich später nicht erinnern.

 

Die Themse ist heute rau und schmutzig blau. Ich lasse Gravesend hinter mir, immer weiter, und auf einmal ist es halb zwölf, und die Stadt ist nur noch eine Miniatur in der Ferne. Der Wind zieht den Rauch aus den Schornsteinen der Blue-Circle-Fabrik wie ein unendlich langes Tücherband aus der Tasche eines Zauberers. Rechts tost die A2. Der alte Mr. Sharkey sagt, darunter liegt eine Straße aus römischer Zeit, auf der die Leute damals schon nach Dover gefahren sind, um mit dem Schiff auf den Kontinent überzusetzen. Strommasten ziehen sich in Zweierreihen durch die Landschaft. Zu Hause saugt Dad jetzt wahrscheinlich den Gastraum durch, außer Sharon nimmt ihm die Arbeit ab, um meine drei Pfund einzusacken. Der Vormittag ist drückend und vergeht zäh wie eine Dreifachstunde Mathe, und die Sonne sticht mir in die Augen. Meine Sonnenbrille habe ich bei Vinny liegenlassen, auf dem Geschirrabtropfer in der Küche. 14,99 habe ich dafür hingelegt. Ich hab sie zusammen mit Stella gekauft. Ein Schnäppchen, dachte ich, weil sie behauptet hatte, sie hätte dasselbe Modell zum dreifachen Preis in der Carnaby Street gesehen. Ich stelle mir vor, dass ich Stella erwürge, und meine Arme und Hände werden so steif, als würde ich es wirklich tun.

Ich habe Durst. Mam hat Dad inzwischen sicher erzählt, dass ihre Teenagertochter nach einem Wutanfall abgehauen ist, aber ich wette eine Million, dass sie die Tatsachen komplett verdreht hat. Dad wird Witze reißen über den «Mädelszoff», und PJ, Nipper und Big Dex, die blöden Wichser, werden grinsend mit den Köpfen nicken. PJ wird so tun, als würde er aus der Sun vorlesen. «Hier steht: ‹Himmelsforscher an der Universität Bullshitshire gehen davon aus, dass Teenager tatsächlich der Mittelpunkt des Universums sind.›» Dann fangen sie an zu gackern, und aller Leute Lieblingswirt Dave Sykes stimmt ein mit seiner «Du bist so witzig, ich mach mir gleich in die Hose»-Lache. Mal sehen, ob sie immer noch lachen, wenn ich bis Mittwoch nicht wieder aufgetaucht bin.

Vor mir in der Ferne sitzen Männer beim Angeln.

 

Schräger Scheiß, letzter Teil. Als man mich ins Krankenzimmer schleppte, waren sie plötzlich wieder da. Die Radiomenschen. Hunderte, und alle flüsterten durcheinander. Das machte mich irre, aber nicht so irre wie der Gedanke, dass ich Susan Hillage umgebracht hatte. Also erzählte ich der Schulkrankenschwester von den Radiomenschen und von Miss Constantin. Die nette Tante befürchtete, ich hätte eine Gehirnerschütterung oder, noch schlimmer, einen Dachschaden, und rief Mam an, die sofort unseren Hausarzt anrief, und noch am selben Tag hatte ich einen Termin beim HNO-Arzt im städtischen Krankenhaus. Da er nichts finden konnte, empfahl er Mam einen Kinderpsychiater, den er noch aus seiner Zeit am Great Ormond Street Hospital in London kannte und der auf solche Fälle spezialisiert war. «Meine Tochter ist nicht verrückt!», rief Mam aufgebracht, aber als der Arzt das Wort «Tumor» aussprach, bekam sie es mit der Angst zu tun. Die folgende Nacht war die schlimmste meines Lebens – ich betete, dass Gott Miss Constantin von mir fernhalten sollte, hatte die Bibel unter dem Kopfkissen liegen und bekam wegen der Radiomenschen kaum ein Auge zu. Am nächsten Morgen kriegten wir einen Anruf von dem HNO-Arzt. Er teilte uns mit, dass sein Freund, der Spezialist, in einer Stunde in Gravesend eintreffen würde, und bat Mam, mich sofort in die Klinik zu bringen.

Dr. Marinus war der erste Chinese, dem ich begegnete, abgesehen von denen im Restaurant Tausend Herbste, wo Brendan und ich manchmal Essen holten, wenn Mam zu müde zum Kochen war. Dr. Marinus sprach ein vornehmes, fehlerfreies Englisch, so leise, dass man gut zuhören musste, um alles mitzubekommen. Er war klein und dürr, aber irgendwie ging etwas Beeindruckendes von ihm aus. Zuerst fragte er nach Schule, Familie und so weiter, dann kam er zu den Stimmen. Mam rief panisch: «Meine Tochter ist nicht verrückt, falls Sie darauf hinauswollen – das ist nur eine Gehirnerschütterung.» Nein, ich wäre ganz und gar nicht verrückt, sagte Dr. Marinus ganz sanft, aber im Gehirn würden manchmal wunderliche Dinge passieren. Damit er einen Tumor ausschließen konnte, sollte Mam sich zurückhalten und das Antworten mir überlassen. Also erzählte ich ihm von den Radiomenschen, von Susan Hillage und Miss Constantin. Mam wurde gleich wieder rappelig, aber Dr. Marinus versicherte ihr, dass solche akustischen Halluzinationen – «Wach-Albträume» – bei Mädchen in meinem Alter nicht ungewöhnlich wären. Das mit Susan Hillages Unfall wäre einfach ein enormer Zufall gewesen, erklärte er. Solche Zufälle könnten jedem Menschen auf der Welt passieren: Diesmal hatte es eben mich getroffen. Mam wollte wissen, ob es gegen diese Halluzinationen Medikamente gab. Dr. Marinus erwiderte, er würde es lieber mit einer simplen Technik aus der «Alten Heimat» versuchen, bevor wir zu stärkeren Mitteln griffen. Die Sache würde so ähnlich funktionieren wie Akupunktur, sagte er, nur ohne Nadeln. Er bat Mam, auf den Punkt an meinem Mittelfinger zu drücken, den er vorher mit Kuli markiert hatte – dann berührte er mit dem Daumen meine Stirnmitte. Wie ein Maler, der einen Tupfer Farbe aufträgt. Mir fielen die Augen zu …

… und die Radiomenschen waren weg. Nicht stumm, sondern einfach verschwunden. Mam erkannte an meinem Gesichtsausdruck, was passiert war, und sie war genauso erschrocken und erleichtert wie ich. «Das war’s?», rief sie. «Keine Drähte, keine Tabletten?» Dr. Marinus nickte und sagte, das sollte genügen.

Ich fragte, ob auch Miss Constantin für immer weg wäre.

«Ja», sagte Dr. Marinus, «für lange Zeit.»

Ende. Wir gingen nach Hause, ich wurde älter, und weder die Radiomenschen noch Miss Constantin kamen wieder. Ich habe ein paar Dokus darüber gesehen, wie der Verstand einem Streiche spielt, und heute weiß ich, dass Miss Constantin bloß in meiner Phantasie da war – wie Sharons Hase Bunny Boing Boing, nur durchgedrehter. Susan Hillages Unfall war nichts weiter als ein Riesenzufall, genau wie Dr. Marinus gesagt hatte. Gestorben ist sie auch nicht, bloß nach Ramsgate gezogen, obwohl manche behaupten, das wäre dasselbe. Dr. Marinus hat mich hypnotisiert oder so, wie die Kassetten, die man kaufen kann, um mit dem Rauchen aufzuhören. Seit dem Tag hat Mam nie wieder «Schlitzauge» gesagt, und noch heute staucht sie jeden zusammen, der dieses Wort gebraucht. «Es heißt Chinese», sagt sie immer, «und die sind die besten Ärzte in unserem Gesundheitssystem.»

 

Meine Armbanduhr zeigt ein Uhr. Hinter mir in der Ferne beim Shornemead Fort angeln Strichmännchen im seichten Wasser. Geradeaus liegt eine Kiesgrube mit einem großen Steinkegel und einem Förderband, das zu einem Transportschiff führt. Sogar das Cliffe Fort kann ich sehen, die Fenster wie leere Augenhöhlen. Der alte Mr. Sharkey sagt, damals im Krieg sei dort die Flakartillerie untergebracht gewesen. Wenn die Gravesender die Geschütze donnern hörten, wussten sie, dass sie – höchstens – noch eine Minute Zeit hatten, um in die Luftschutzräume unter der Treppe oder hinten im Garten zu flüchten. Ich wünschte, es würde eine Bombe auf ein gewisses Haus in der Peacock Street fallen. Bestimmt stopfen sie gerade Pizza in sich rein – Vinny ernährt sich nur von Pizza, weil er keinen Bock auf Kochen hat. Bestimmt lachen sich die beiden kaputt über mich. Ich wüsste zu gerne, ob Stella gestern bei ihm übernachtet hat. Zwei Leute verlieben sich ineinander, habe ich immer gedacht, und fertig. Bescheuert. Oberbescheuert! Ich trete gegen einen Stein, aber es ist gar kein Stein, sondern eine Felsnase, die mir den Zeh zerquetscht. Der Schmerz fräst sich im Zickzack hinauf bis in mein Hirn. Meine Augen brennen und tränen – wo kommt bloß das viele Wasser her, Herrgott noch mal? Außer der Milch auf den Weetabix und dem Wasser beim Zähneputzen habe ich heute noch nichts Flüssiges zu mir genommen. Meine Zunge fühlt sich an wie dieses Schaumzeugs, mit dem man Blumengestecke macht. Die Reisetasche reibt mir oben die Schulter wund. Mein Herz ist ein totgeschlagenes Robbenbaby. Mein Magen muss leer sein, aber mir ist zu mies, um Hunger zu fühlen. Umdrehen und nach Hause gehen, kommt trotzdem nicht in Frage. Auf gar keinen Fall.

 

Um drei ist nicht nur mein Mund eine Wüste, sondern mein ganzer Kopf. Ich glaube, ich bin noch nie so weit gelaufen. Kein Laden in Sicht, nicht mal ein Haus, wo ich um ein Glas Wasser bitten könnte. Dann entdecke ich eine Frau. Sie sitzt ganz am Ende eines Stegs und angelt, als hätte sie jemand an den Rand eines Bildes gemalt, wo niemand sie bemerkt. Trotz der Entfernung erkenne ich, dass sie aus einer Thermosflasche etwas in einen Becher gießt. Normalerweise würde ich so was nie tun, aber ich habe solchen Durst, also laufe ich hinab zum Ufer und stapfe geräuschvoll über die alten Holzplanken, damit sie nicht erschrickt. «Entschuldigen Sie, könnte ich vielleicht einen Schluck Wasser haben? Bitte?»

Sie dreht sich nicht mal um. «Kalter Tee. Möchtest du?» Ihre heisere Stimme klingt, als käme sie aus einer heißen Gegend.

«Das wäre toll, danke. Ich bin nicht heikel.»

«Wenn das so ist, bediene dich.»

Ich gieße den Becher voll, ohne an Bazillen oder Krankheiten zu denken. Es ist kein normaler Tee, aber unglaublich erfrischend, und ich lasse die köstliche Flüssigkeit im Mund herumschwappen. Erst jetzt sehe ich mir die Frau genauer an. Weise Elefantenaugen in einem alten, faltigen Gesicht, kurzgeschnittenes graues Haar, schmuddeliges Safarihemd und ein breitkrempiger Lederhut, der aussieht wie hundert Jahre alt. «Gut?», fragt sie.

«Ja. Sehr gut. Schmeckt wie Gras.»

«Grüner Tee. Dein Glück, dass du nicht heikel bist.»

Ich frage sie: «Seit wann ist Tee grün?»

«Seit die Sträucher ihre Blätter so gefärbt haben.»

Plitsch, ein Fisch! Eben war er noch da, jetzt ist er weg. «Guter Fang heute?»

Schweigen. «Fünf Flussbarsche. Eine Forelle. Ein schleppender Nachmittag.»

Ich sehe keinen Eimer oder so. «Wo sind sie?»

Eine Biene setzt sich auf ihre Hutkrempe. «Ich lasse sie wieder frei.»

«Warum fangen Sie Fische, wenn Sie gar keine wollen?»

Augenblicke verstreichen. «Wegen der guten Gespräche.»

Ich schaue mich um: der Weg, ein Feld mit Dornengestrüpp, ein kümmerlicher Wald, ein zugewachsener Trampelpfad. Offenbar verarscht sie mich. «Es ist niemand hier.»

Die Biene bleibt gemütlich sitzen, auch als die Frau sich bewegt, um die Angel einzuholen. Ich trete einen Schritt beiseite, als sie überprüft, ob der Köder noch fest am Haken sitzt. Wasser tropft auf den durstigen Steg. Der Fluss schwappt schmatzend ans Ufer und platscht an die Holzpfeiler. Mit einem gekonnten Schwung aus dem Handgelenk wirft die Alte im Sitzen das Bleigewicht aus, die Spule rollt sich sirrend ab, und das Gewicht landet in weitem Bogen an derselben Stelle, wo es vorhin gewesen ist. Kreise breiten sich auf dem Wasser aus. Totenstille …

Dann tut die Frau etwas sehr Sonderbares. Sie zieht ein Stück Kreide aus der Tasche und schreibt neben ihrem Fuß das Wort MEINauf den Steg. Auf die nächste Planke schreibt sie LANGER. Und auf die nächste NAME. Dann steckt sie die Kreide ein und widmet sich wieder der Angel.

Ich warte auf eine Erklärung, aber es kommt keine. «Was bedeutet das?»

«Was?»

«Was Sie gerade geschrieben haben.»

«Das sind Anweisungen.»

«Anweisungen für wen?»

«Für jemanden in ferner Zukunft.»

«Aber das ist Kreide. Die wird weggewaschen.»

«Vom Steg, ja. Nicht aus deinem Gedächtnis.»

Alles klar, sie hat nicht alle Tassen im Schrank. Aber das sage ich ihr nicht, weil ich mehr grünen Tee haben will.

«Trink den Tee ruhig aus, wenn du magst», sagt sie. «Der nächste Laden kommt erst, wenn du mit dem Jungen in Allhallows-on-Sea bist …»

«Vielen Dank.» Ich schenke mir nach. «Sind Sie sicher? Das ist der Rest.»

«Eine Hand wäscht die andere.» Sie nimmt mich scharfschützenmäßig ins Visier. «Ich benötige vielleicht Asyl.»

Asyl? Ist sie etwa obdachlos? «Wie meinen Sie das?»

«Schutz. Einen Unterschlupf. Falls meine Befürchtungen wahr werden und die Erste Mission scheitert.»

Verrückte sind anstrengend. «Ich bin fünfzehn. Ich kann keinen Schutz oder, äh, Asyl bieten. Tut mir leid.»

«Du bist ideal. Niemand wird auf dich kommen. Mein Tee im Tausch für dein Asyl. Abgemacht?»

Dad sagt immer, man muss Betrunkenen ihren Willen lassen, wenn man sie loswerden will. Vielleicht sind Bekloppte ja wie Betrunkene, die nie nüchtern werden. «Abgemacht.» Sie nickt, und ich trinke, bis die Sonne fahl durch den dünnen Plastikboden schimmert.

Die alte Schachtel blickt wieder in die Ferne. «Ich danke dir, Holly.»

Ich bedanke mich auch und gehe zum Ufer. Ich drehe um und gehe zu ihr zurück. «Woher wissen Sie meinen Namen?»

Sie dreht sich nicht um. «Auf welchen Namen wurde ich getauft?»

Was soll dieses alberne Spiel? «Esther Little.»

«Und woher weißt du das?»

«Weil … Sie es mir eben gesagt haben.» Wirklich? Muss sie wohl.

«Das wäre dann erledigt.» Und das war Esther Littles letztes Wort.

 

Gegen vier Uhr komme ich zu einer Holzbuhne, die schräg hinab ins Wasser führt. Dahinter liegt ein schmaler Kiesstrand. Ich ziehe meine Docs aus. Auf meinem großen Zeh prangt eine fette Blase, lila wie eine zermatschte Brombeere. Lecker. Ich hole Fear of Music aus der Reisetasche, kremple die Jeans hoch und gehe bis zu den Knien ins Wasser. Der Fluss ist kalt wie Leitungswasser, und die Sonne sticht, aber nicht mehr so heftig wie vorhin bei der verrückten Anglerin. Ich schleudere die LP fort wie ein Frisbee. Das Ding ist nicht sonderlich aerodynamisch: Sie fliegt nach oben, die Platte fällt raus und platscht samt Innenhülle in den Fluss. Das schwarze Cover stürzt vom Himmel wie ein abgeschossener Vogel und treibt noch eine Weile auf dem Wasser. Tränen, immer mehr Tränen quellen mir aus den schmerzenden Augen, und in meiner Phantasie wate ich zu der Stelle, wo die Platte gerade untergeht, und lasse mich sinken, vorbei an Barschen und Forellen bis ganz runter zu den verrosteten Fahrrädern, Gebeinen von ertrunkenen Piraten, deutschen Flugzeugen, weggeworfenen Eheringen und Gott weiß was.

Aber ich kehre zurück ans Ufer und lege mich neben meine Stiefel in den warmen Kies. Dad liegt jetzt sicher oben auf dem Sofa: «Ich glaube, ich statte diesem Costello mal einen Besuch ab, Kath», sagt er. Mam wirft ihre Kippe in den Becher mit dem kalten Kaffeerest. «Nein, Dave. Genau das hat Ihre Ladyschaft im Sinn. Ignorier ihre große Botschaft, und sie lernt bald zu schätzen, wie viel wir für sie tun …»

Morgen Abend bricht sie dann in Panik aus, weil Montag wieder Schule ist, und wenn die Schule sich erkundigt, wo ich stecke und warum ich nicht zu den Prüfungen erschienen bin, ist Schluss mit den hochnäsigen Bemerkungen über meine große Botschaft. Sie wird kampflustig zu Vinny marschieren und ihn zur Schnecke machen – ha, sehr gut! –, aber davon wird sie auch nicht klüger. Abgemacht. Ich schlafe zwei Nächte im Freien und sehe mal, wie ich mich dann fühle. Wenn ich mir keine Zigaretten kaufe, reichen die 13,85 für eine Zweitagesration Pommes-Sandwich, Äpfel und Rich-Tea-Kekse. Wenn ich bis Rochester komme, könnte ich Geld von meinem Sparbuch abheben und meinen Kurzurlaub verlängern.

Ein gewaltiges Frachtschiff auf dem Weg zum Meer lässt sein Horn ertönen. Stern von Riga steht in weißen Lettern auf dem orangefarbenen Rumpf. Ob Riga eine Stadt ist? Sharon und Jacko könnten es mir sagen. Ich muss heftig gähnen, strecke mich auf den klackenden Kieseln aus und schaue zu, wie das Kielwasser des Riesenschiffs ans Flussufer plätschert.

Auf einmal bin ich hundemüde …

 

«Sykes? Lebst du? He … Sykes.» Der Nachmittag bricht ein, und es rattert: Wo bin ich?, Warum bin ich barfuß? und Verdammt, was hat Ed Brubecks Hand auf meinem Arm zu suchen? Ich ziehe den Arm weg, springe auf und renne ein paar Meter über den heißen Kiesstrand, au, au, au, winseln meine Fußsohlen, und haue mit dem Kopf gegen die Buhne.

Ed Brubeck rührt sich nicht. «Das hat weh getan.»

«Ich weiß, dass das weh getan hat. Ist schließlich mein Scheißkopf.»

«Ich wollte mich nur vergewissern, dass du nicht tot bist.»

Ich reibe mir den Schädel. «Sehe ich vielleicht so aus?»

«Na ja, eben schon, ein bisschen jedenfalls.»

«Bin ich aber nicht.» Brubecks Rad liegt am Strand, die Räder drehen sich noch. Die Angel hängt am Lenker. «Ich habe nur … gedöst.»

«Sag jetzt nicht, du bist den ganzen Weg hierher gelaufen, Sykes.»

«Nein, ich bin auf ’nem Hüpfball gekommen, aber das Scheißding hat mich abgeworfen.»

«Boah. Ich hab dich gar nicht für einen Naturfreak gehalten.»

«Und ich dich nicht für einen guten Samariter.»

«Man lernt eben nie aus.» Hoch oben am Himmel zwitschert ein Vogel ein beklopptes Comicpiepmatzlied. Ed Brubeck streicht sich das schwarze Haar aus dem Gesicht. Seine Haut ist so braun, er könnte Türke sein oder so. «Und, wohin des Weges?»

«So weit weg von diesem Scheißkaff, wie meine Füße mich tragen.»

«Oje. Was hat Gravesend dir Schlimmes angetan?»

Ich schnüre meine Docs. Die Blase schmerzt. «Wo willst du hin?»

«Mein Onkel wohnt da drüben.» Ed Brubeck deutet landeinwärts. «Er ist nicht mehr gut zu Fuß und fast blind, und ich will ihm ein bisschen Gesellschaft leisten. Ich war unterwegs nach Allhallows, ein bisschen angeln. Dann habe ich dich gesehen und –»

«Dachtest, ich wäre tot. Bin ich aber nicht. Lass dich nicht von mir aufhalten.»

Er macht ein Wie-du-willst-Gesicht und steigt das Ufer hinauf.

Ich rufe ihm hinterher: «Wie weit ist es nach Allhallows, Brubeck?»

Er hebt das Fahrrad auf. «Etwa fünf Meilen. Willst du mitfahren?»

Ich denke an Vinny und die Norton und schüttle den Kopf. Er steigt mackermäßig auf, und weg ist er. Ich greife eine Handvoll Kiesel und pfeffere sie wütend ins Wasser.

 

Ein klecksgroßer Ed Brubeck verschwindet hinter einer Gruppe aus spitzen Bäumen in der Ferne. Er hat sich nicht umgedreht. Jetzt wünsche ich mir, ich hätte sein Angebot angenommen. Meine Knie sind steif, meine Füße sind zwei pochende, geschwollene Klumpen, und meine Knöchel fühlen sich an, als hätte der Zahnarzt drin gebohrt. In diesem Tempo brauche ich für die fünf Meilen eine Ewigkeit. Aber Ed Brubeck ist ein Kerl, so wie Vinny, und alle Kerle sind Spermakanonen. Mir knurrt vor Hunger und Durst der Magen. Grüner Tee ist toll, während man ihn trinkt, aber hinterher pinkelst du wie ein Rennpferd, und jetzt schmeckt mein Mund, als hätte eine sterbende Ratte reingeschissen. Stimmt, Ed Brubeck ist ein Kerl, aber keiner von den Vollidioten. Letzte Woche hat er sich mit Mrs. Binkirk, unserer Religionslehrerin, angelegt und musste zu Mr. Nixon, weil er sie als «Heuchlerin des Jahres» bezeichnet hat. Ganz schön erwachsen, diese Beleidigung. Menschen sind Eisberge: Du siehst die Spitze, der große Rest aber bleibt im Verborgenen. Ich versuche, nicht an Vinny zu denken, aber ich kann nicht anders, und mir fällt wieder ein, dass ich heute Morgen noch davon geträumt habe, mit ihm eine Band zu gründen. In der Ferne, hinter der Gruppe aus spitzen Bäumen, taucht ein klecksgroßer Ed Brubeck auf und radelt auf mich zu. Wahrscheinlich ist ihm aufgegangen, dass es schon zu spät ist zum Angeln, und jetzt radelt er zurück nach Gravesend. Er wird größer und größer, dann ist er lebensgroß und kommt mit einer Schlitterbremsung im Angeberstil direkt vor mir zum Stehen, was mich daran erinnert, dass er nicht bloß ein Kerl, sondern auch ein Junge ist. Das Weiße in seinen Augen leuchtet im dunklen Gesicht. «Willst du nicht aufsteigen, Sykes?» Er klopft auf den Sattel. «Es ist weit bis nach Allhallows. Bis du da ankommst, ist es dunkel.»

Wir eiern in ansehnlichem Tempo über den Feldweg. Bei jedem Huckel fragt Brubeck: «Alles in Ordnung?», und ich sage, ja. Meeresbrise und Fahrtwind kriechen in meine Ärmel und