Der Wolkenatlas - David Mitchell - E-Book
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David Mitchell

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Beschreibung

Sechs Lebenswege, die sich unmöglich kreuzen können: darunter ein amerikanischer Anwalt, der um 1850 Ozeanien erforscht, ein britischer Komponist, der 1931 vor seinen Gläubigern nach Belgien flieht, und ein koreanischer Klon, der in der Zukunft wegen des Verbrechens angeklagt wird, ein Mensch sein zu wollen. Und dennoch sind diese Geschichten miteinander verwoben. Mitchells originelle Menschheitsgeschichte katapultiert den Leser durch Räume, Zeiten, Genres und Erzählstile und liest sich dabei so leicht und fesselnd wie ein Abenteuerroman. «Mitchell kartographiert Seelen und schreibt Weltliteratur.» (Neue Zürcher Zeitung) «David Mitchell nimmt den Leser mit auf eine literarische Achterbahnfahrt. Und man wünscht sich, diese Reise möge nie enden.» (A. S. Byatt) «Einer der wichtigsten jungen britischen Autoren.» (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

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David Mitchell

Der Wolkenatlas

Deutsch von Volker Oldenburg

Für Hana und ihre Großeltern

Das Pacifiktagebuch des Adam Ewing

Donnerstag, 7.November ~

Jenseits des indischen Weilers, an einem einsamen Gestade, stieß ich auf eine Spur frischer Fußabdrücke. Über fauligen Riementang, Meerescocosnüsse u. Bambus führten sie mich zu ihrem Verursacher, einem Weißen mit flott gestutztem Barte u. übergroßem Biberhut, welcher, Hosenbeine u. Ärmel seiner Seemannsjacke aufgekrempelt, mit einem Teelöffel so andächtig den groben Sand durchschaufelte u. siebte, daß er mich erst bemerkte, als ich ihn aus etwa zehn Schritt Entfernung anrief. Auf diese Weise machte ich Bekanntschaft mit Dr.Henry Goose, Chirurg der Londoner feinen Gesellschaft. Seine Staatszugehörigkeit erstaunte mich nicht. Sollte es irgendwo ein so verlassenes Nest geben, eine so abgelegene Insel, daß man dort Zuflucht finden könnte, ohne einem Engländer in die Arme zu laufen, so ist dieser Ort auf keiner mir bekannten Landkarte verzeichnet.

Ob er an diesem trostlosen Ufer etwas verloren habe? Könne ich ihm behülflich sein? Dr.Goose schüttelte den Kopf, knüpfte sein Schnupftuch auf u. breitete mit sichtlichem Stolze dessen Inhalt aus. «Zähne, Sir, sind emaillierte Schätze u. der Gegenstand meiner Suche. In früheren Tagen hielten an diesem idyllischen Gestade Cannibalen ihre Festgelage ab, während deren die Starken sich gierig an den Schwachen labten. Die Zähne spuckten sie aus, wie Sie u. ich Kirschkerne ausspeien. Aber diese Backenzähne hier werden sich zu Gold verwandeln! Wie das? Ein Künstler in Piccadilly, der Gebisse für den Adel fertigt, zahlt ein hübsches Sümmchen für menschliche Beißerchen. Wissen Sie, was ein Viertelpfund von dieser Ware einbringt, Sir?»

Nein, bekannte ich, das wisse ich nicht.

«Dann werde ich Ihnen auch kein Licht aufstecken, Sir, denn das ist ein Berufsgeheimniß!» Er tippte sich auf die Nase. «Kennen Sie die Marquise Grace of Mayfair, Mr.Ewing? Nein? Um so besser für Sie, sie ist nämlich ein Cadaver in Unterröcken! Fünf Jahre ist es nun her, seit die alte Vettel meinen Namen beschmutzt hat, ja, u. zwar mit Anschuldigungen, die zu meinem Ausschluß aus der guten Gesellschaft führten.» Dr.Goose blickte hinaus aufs Meer. «In jener finstren Stunde begann mein Auszug in die Fremde!»

Ich bekundete seiner Misere meine Antheilnahme.

«Ich danke Ihnen, Sir, ich danke Ihnen vielmals, aber diese Zähne», er schüttelte sein Schnupftuch, «sind meine Engel der Erlösung. Lassen Sie mich das erklären: Die Marquise trägt künstliche Zähne, hergestellt von vorgenanntem Dentisten. Kommende Weihnachtszeit, wenn die parfumierte Schnepfe auf dem Botschafterballe das Wort ergreift, werde ich, jawohl ich, Henry Goose, mich erheben u. vor allen Anwesenden verkünden, daß unsere Gastgeberin mit Cannibalenzähnen kaut! Sogleich wird mich Sir Hubert scharf attaquieren. ‹Legen Sie Ihre Beweise vor›, wird der Flegel pöbeln, ‹oder geben Sie mir Genugthuung!› Ich werde erwidern: ‹Beweise, Sir Hubert? Wohlan, ich sammelte die Zähne Ihrer Mutter eigenhändig aus dem Spucknapfe des Südpacifik! Hier, Sir, hier sind noch einige von derselben Sorte!› Dann werfe ich ebendiese Zähne hier in die Suppenterrine aus Schildpatt, u. das, Sir, gibt dann mir Genugthuung. Die scharfzüngigen Schreiber werden die eiskalte Marquise in ihren Klatschjournalen gar kochen, u. in der nächsten Saison wird sie sich glücklich schätzen, wenn sie noch eine Einladung zum Armenhausballe erhält!»

In aller Eile entbot ich Henry Goose einen guten Tag. Ich glaube, dieser Mann ist irrsinnig!

Freitag, 8.November ~

In der primitiven Schiffswerft unterhalb meines Fensters schreitet die Arbeit am Klüverbaum unter Mr.Sykes’ Leitung voran. Mr.Walker, Ocean Bays einziger Kneipenwirth, ist auch der führende Holzhändler am Ort u. prahlt damit, er sei seinerzeit Schiffsbaumeister in Liverpool gewesen. (Mittlerweile bin ich mit der Etiquette der Antipoden ausreichend vertraut, um solche unglaubwürdigen Wahrheiten auf sich beruhen zu lassen.) Mr.Sykes berichtete mir, es bedürfe einer ganzen Woche, um die Prophetess nach «Bristoler Art» wieder herzurichten. Sieben Tage in der Musket eingelocht zu sein ist wie eine grausame Strafe, doch wenn ich mir die Urgewalt des tropischen Wirbelsturms u. die über Bord gespülten Seeleute in Erinnerung rufe, verliert mein gegenwärthiges Schicksal an Härte.

Heute morgen begegnete ich Dr.Goose auf der Treppe, u. wir frühstückten gemeinsam. Er logiert schon seit Mitte October in der Musket, nachdem er mit der Namorados, einem brasilianischen Kauffahrteyschiffe, von Fidschi, wo er in einer Missionsstation seinen Beruf practicierte, hierherkam. Nun wartet er auf einen längst überfälligen australischen Robbenfänger, die Nellie, welcher ihn nach Sydney bringen soll. In der Colonie wird er sich eine Position an Bord eines Passagierschiffes nach dem heimathlichen London suchen.

Mein Urtheil über Dr.Goose war ungerecht u. voreilig. Man muß schon cynisch sein wie Diogenes, um in meinem Berufe zu reüssieren, aber Cynismus kann einen für höhere Werthe blind machen. Der Doctor hat so seine Grillen, über die er für ein Gläschen portugiesischen Pisco (nie im Übermaße) mit Freuden berichtet, doch ich will ihm zugestehen, daß er östlich von Sydney u. westlich von Valparaiso der einzige andere Gentleman in diesen Breiten ist. Vielleicht setze ich ihm sogar ein Empfehlungsschreiben für die Partridges in Sydney auf, zumal Dr.Goose u. der liebe Fred aus ein u. demselben Holze geschnitzt sind.

Da mein morgendlicher Ausgang von schlechtem Wetter vereitelt wurde, fabulierten wir beim Torffeuer, u. die Stunden entschwanden wie Minuten. Die meiste Zeit sprach ich von Tilda u. Jackson sowie von meinen Befürchtungen hinsichtlich des «Goldrausches» in San Francisco. Unsere Unterhaltung wanderte von meiner Heimathstadt zu meinen gegenwärthigen Pflichten als Notar in Neusüdwales, von dort über Egel u. Eisenbahnen zu Gibbon, Malthus u. Goodwin. Eine gepflegte Unterhaltung ist wie Balsam, den ich an Bord der Prophetess schmerzlich entbehre, u. der Doctor ist ein wahrer Universalgelehrter. Darüber hinaus besitzt er eine hübsche Armee handgeschnitzter Schachfiguren, von denen wir eifrig Gebrauch machen werden, bis entweder die Prophetess ausläuft oder die Nellie eintrifft.

Sonnabend, 9.November ~

Sonnenaufgang, glänzend wie ein Silberdollar! Unser Schoner draußen in der Bucht bietet weiterhin ein jammervolles Bild. Am Ufer wird ein indisches Kriegskanu ausgebessert. Henry u. ich schlugen in Feiertagslaune den Weg zum «Festmahlsstrand» ein u. grüßten frohgemuth das Mädchen, das im Dienste Mr.Walkers steht. Das mürrische Ding hängte Wäsche über einen Busch u. schenkte uns keinerlei Beachtung. Sie hat einen Tropfen schwarzen Blutes u. ich vermuthe, ihre Mutter ist noch eng mit dem Urwaldstamme verwandt.

Während wir unterhalb des indischen Weilers einhergingen, erregte ein «Summen» unsere Neugier, u. wir kamen überein, seinen Ursprung zu ergründen. Die Ansiedlung ist von einem Lattenzaune umgeben, so morsch allerdings, daß sich wohl an einem Dutzend Stellen Zutritt finden ließe. Eine kahle Hündin hob ihren Kopf, doch sie war zahnlos u. schien vor sich hin zu sterben, denn sie bellte nicht. Ein äußerer Ring von Ponga-Hütten (errichtet aus Zweigen, Lehm u. abgedeckt mit Matten) stand geduckt im Windschatten «erhabener» Wohnstätten, Holzbauten mit geschnitzten Thürstürzen u. einfachen Portalen. Im Centrum des Dorfes fand eine öffentliche Auspeitschung statt. Henry u. ich waren die einzigen anwesenden Weißen, während die zuschauenden Inder sich in drei gesellschaftliche Gruppen untertheilten. Der Häuptling saß in einem mit Federn geschmückten Mantel auf seinem Throne, umgeben von den tatauierten Vornehmen samt ihren Weibern u. Kindern, alles in allem etwa dreißig Leute. Die Sclaven, dunkelhäutiger als ihre nußbraunen Herren u. an Zahl weniger als die Hälfte, hockten abseits im Schlamm. Welch angeborene, thierische Stumpfheit! Von Pockennarben u. eitrigen haki-haki-Pusteln gezeichnet, beobachten diese armen Teufel den Strafvollzug ohne jede Reaktion außer diesem absonderlichen bienenartigen «Summen». Ob das Geräusch Antheilnahme oder Verdammung ausdrückte, war uns nicht ersichtlich. Der Auspeitscher war ein Goliath, dessen physische Kraft jeden Preisboxer im Grenzland das Fürchten lehren würde. Jeder Zoll seines muskulösen Leibes war mit Eidechsen unterschiedlichster Größe tatauiert: seine Haut würde einen schönen Preis erzielen, wobei ich für alle Perlen Hawaiis nicht derjenige sein wollte, sie ihm abzuziehen. Der bedauernswerthe Häftling, eisgrau von vielen entbehrungsreichen Jahren, war nackt an einen Dreiecksrahmen gefesselt. Sein Leib erzitterte unter jedem Peitschenhieb, der sich in seine Haut schnitt; sein Rücken glich einem Pergament voll blutiger Runen, sein ungerührtes Antlitz jedoch zeugte von der heiteren Ruhe eines Märtyrers, der sich bereits in des Herrn Obhuth wähnt.

Ich bekenne, daß ich bei jedem Klatschen der Peitsche einer Ohnmacht nahe war. Dann geschah etwas Sonderbares. Der geprügelte Wilde hob den gebeugten Kopf, sah mir in die Augen u. musterte mich mit einem Blicke unheimlichen, freundschaftlichen Erkennens! Als habe ein Bühnenschauspieler einen lange verloren geglaubten Freund in der königlichen Loge erblickt u. würde nun, vom Publicum unbemerkt, mit dem Wiedergefundenen in Verbindung treten.

Ein tatauierter «Australneger» kam auf uns zu u. bedeutete uns mit einer kurzen Bewegung seines Nephritdolches, daß wir nicht willkommen seien. Ich erkundigte mich, welchen Vergehens der Gefangene schuldig sei. Henry legte seinen Arm um mich. «Kommen Sie, Adam, ein kluger Mann stellt sich nicht zwischen das Raubthier u. seine Beute.»

Sonntag, 10.November ~

Mr.Boerhaave saß inmitten seiner Bande getreuer Raufbolde wie Lord Anaconda mit seinen Strumpfbandnattern. Ihr «Sonntagsgottesdienst» hatte unten schon begonnen, bevor ich aufgestanden war. Als ich herunterkam, um mir Wasser zum Rasieren zu holen, fand ich die Schenke überfüllt mit Teerjacken, die um die bedauernswerthen indischen Mädchen anstanden, welche Mr.Walker in seinem improvisierten Bordell gefangenhält. (Rafael war nicht unter den Lüstlingen.)

Ich entweihe meinen Sonntag nicht in einem Hurenhause. Henrys Abscheu entsprach dem meinen, u. so ließen wir das Frühstück ausfallen (das Mädchen war zweifellos zu Diensten anderer Art verpflichtet worden) u. brachen zur Kapelle auf, um dort, ohne unser Fasten gebrochen zu haben, am Gottesdienste theilzunehmen.

Wir waren noch nicht zweihundert Meter weit gegangen, als mir mit Entsetzen einfiel, daß dieses Tagebuch auf dem Tische meines Zimmers in der Musket lag, einzusehen für jeden trunkenen Seemann, der sich dort hineinstahl. Besorgt um seine Sicherheit (u. um meine eigene, falls Mr.Boerhaave es in die Hände bekäme), eilte ich zurück, um es an einem besseren Orte zu verstecken. Bei meiner Rückkehr empfing mich breites Grinsen, u. ich nahm an, ich sei jener «Teufel, von dem man spricht», doch als ich meine Thür öffnete, lernte ich den wahren Grund der Belustigung kennen: nämlich Mr.Boerhaave, den ich in flagranti in meinem Bette ertappte, als er mit seinen bärigen Hinterbacken rittlings auf seinem Mohren-Goldschopf saß! Entschuldigte sich dieser holländische Teufel vielleicht? Mitnichten! Er übernahm sogleich selbst die Rolle des Gekränkten u. brüllte: «Macht, daß Ihr fortkommt, Mr.Federschwanz! Oder ich breche Euch, beim Bl—e Christi, Euren elenden Yankee-Stecken entzwei!»

Ich griff eilig mein Tagebuch u. polterte die Treppe hinunter, wo die dort versammelte Crawallgesellschaft weißer Wilder mich mit ausgelassenem Spotte empfing. Ich beschwerte mich bei Mr.Walker. Ich entrichte für einen privaten Raum meine Miethe u. dürfe daher wohl erwarten, daß dieser auch in meiner Abwesenheit privat bleibe, doch dieser Halunke bot mir lediglich einen Nachlaß von einem Drittel für «einen viertelstündigen Ritt auf dem hübschesten Fohlen in meinem Stall!» an. Angewidert gab ich zurück, ich sei Ehemann u. Vater u. würde eher sterben, als wegen einer seiner pockennarbigen Huren von meiner Würde u. Wohlanständigkeit etwas abzustreichen! Walker schwor, er werde mir «die Augen decorieren», wenn ich seine lieben Töchter noch ein einziges Mal «Huren» schimpfte. Wäre bereits der Besitz eines Weibes u. eines Kindes für sich gesehen eine Tugend, höhnte eine zahnlose Strumpfbandnatter, «wohlan, Mr.Ewing, dann bin ich zehnmal tugendhafter als Sie!». Eine unsichtbare Hand leerte einen Humpen Kaffernbier über mir. Ich entfernte mich, bevor das Gebräu durch ein handfesteres Geschoß ersetzt wurde.

Die Glocke rief die Gottesfürchtigen von Ocean Bay, u. ich eilte, bemüht, die soeben in meiner Unterkunft bezeugten Widerwärthigkeiten zu vergessen, stehenden Fußes zur Kapelle, wo Henry auf mich wartete. Die Kapelle knarrte wie ein altes Faß, u. die Gemeinde zählte kaum mehr Mitglieder, als Finger an zwei Händen sind, doch kein Reisender hat je in einer Wüstenoase seinen Durst mit derselben Dankbarkeit gelöscht, mit der Henry u. ich an diesem Morgen unsere Andacht verrichteten. Der lutherische Gründer war schon vor zehn Wintern auf dem Gottesacker der Kapelle zur letzten Ruhe gebettet worden, u. bis jetzt ist kein geweihter Nachfolger das Wagniß eingegangen, die Herrschaft über den Altar für sich zu reclamieren. Folglich ist die Gemeinde ein Sammelsurium christlicher Glaubensrichtungen. Bibelabschnitte wurden von jener Hälfte der Gemeinde gelesen, die über die nöthige Bildung verfügten, u. wir übrigen stimmten in die ein, zwei Choräle ein, die vom Vatican benannt wurden. Der «Kirchenvorsteher» dieser volksthümlichen Herde, ein gewisser Mr.D’Arnoq, stand unter dem einfachen Kreuze u. ersuchte Henry u. mich, uns in irgendeiner Weise zu betheiligen. Eingedenk meiner eigenen Errettung aus dem Sturme der letzten Woche, gab ich Lukas, Cap. 8 an: «Da traten sie zu ihm, wecketen ihn auf u. sprachen: ‹Meister, Meister, wir verderben!› Da stund er auf u. bedräuete den Wind u. die Woge des Wassers; u. es ließ ab, u. ward eine Stille.»

Henry recitierte den achten Psalm mit so klangvoller Stimme,als wäre er ein geübter Dramatiker:«Du hast ihn zum Herrn gemacht über deiner Hände Werk; alles hast du unter seine Füße gethan: Schafe u. Ochsen allzumal dazu auch die wilden Thiere, die Vögel unter dem Himmel u. die Fische im Meer, u. was im Meer gehet.»

Das Magnificat spielte kein Organist, sondern der Wind im Rauchfang; das Nunc Dimittis sang kein Chor, sondern die Sturmmöwen; dennoch glaube ich, unser Schöpfer war nicht unzufrieden. Wir glichen eher den Frühchristen in Rom denn irgendeiner späteren, mit Mysterien u. Geprunke überladenen Kirche. Es folgten die Fürbitten. Die Gemeindemitglieder beteten aus dem Stegreif für die Ausrottung der Kartoffelfäule, baten um Erlösung für die Seele eines verstorbenen Kindes, den Segen für ein neues Fischerboot u. so fort. Henry dankte für die Gastfreundschaft, die uns von den Christen der Chatham-Inseln erwiesen wurde. Ich wiederholte seine Bekundungen u. sprach ein Gebet für Tilda, Jackson u. meinen Schwiegervater wegen der langen Dauer meines Fortseins.

Nach dem Gottesdienste wurden der Doctor u. ich überaus herzlich von einem älteren «Hauptmast» der Gemeinde begrüßt, einem gewissen Mr.Evans, der uns seiner lieben Frau (beide umschifften die Behinderung, die ihnen durch ihre Schwerhörigkeit verursacht wurde, indem sie nur auf Fragen antworteten, von denen sie glaubten, sie seien gestellt worden, u. nur Antworten acceptierten, von denen sie annahmen, sie seien gegeben worden – eine List, die so mancher amerikanische Anwalt verinnerlicht hat) u. ihren Zwillingssöhnen, Keegan u. Dyfedd, vorstellte. Mr.Evans gab bekannt, es sei seine Gepflogenheit, Mr.D’Arnoq, unseren Prediger, jede Woche zum Abendessen in sein nahegelegenes Haus einzuladen, denn letzterer wohne bei Port Hutt, einem Vorgebirge, einige Meilen von hier entfernt. Ob wir die Güthe hätten, ebenfalls an ihrem Sonntagsmahle theilzunehmen? Da ich Henry von dem Sündenbabel in der Musket schon berichtet hatte u. unsere Mägen knurrend aufbegehrten, nahmen wir die freundliche Einladung der Evans dankbar an.

Der Hof unseres Gastgebers, eine halbe Meile oberhalb von Ocean Bay in einem gewundenen, winddurchbrausten Thale gelegen, erwies sich als ein bescheidenes Gebäude, aber eine feste Burg gegen die rasenden Stürme, die so vielen unglückseligen Schiffen auf den nahegelegenen Riffs das Rückgrat brechen. Die gute Stube bewohnte außer einem gräßlichen Keilerkopfe (verunziert durch ein hängendes Maul u. Glotzaugen), den die Zwillinge an ihrem sechzehnten Geburtstage geschossen hatten, auch eine mondsüchtige Standuhr (welche meiner Taschenuhr um mehrere Stunden voraus war. Die genaue Zeitmessung ist in der That ein wertvoller Import aus Neu-Seeland). Ein indischer Knecht starrte durch die Fensterscheibe auf die Gäste seines Herrn. Nie zuvor habe ich ein so zerlumptes Subject gesehen, doch Mr.Evans versicherte uns feierlich, der Quarteron «Barnabas» sei der «flinkeste Hütehund, der je auf zwei Beinen gelaufen ist». Keegan u. Dyfedd sind rauhe, schlichte Burschen, hauptsächlich beschlagen in allem, was Schafe betrifft (der Familie gehören 200Stück), denn beide haben weder jemals die «Stadt» besucht (so bezeichnen die Insulaner Neu-Seeland) noch eine Schulbildung erfahren, abgesehen von dem Bibelunterricht ihres Vaters, mittels dessen sie leidlich gut Lesen u. Schreiben gelernt haben.

Mrs.Evans sprach das Tischgebet, u. ich genoß das köstlichste Mahl (weder durch Salz noch Maden oder Flüche verdorben) seit meinem Abschiedsessen mit Consul Bax u. den Partridges im Beaumont. Mr.D’Arnoq unterhielt uns mit Geschichten über Schiffe, die er in den zehn Jahren seines Aufenthaltes auf den Chatham-Inseln beliefert hat, während Henry uns mit Geschichten über hoch- u. niedriggeborene Patienten ergötzte, welche er in London u. Polynesien behandelte. Ich für meinen Theil beschrieb die vielen Unannehmlichkeiten, denen sich ein amerikanischer Notar ausgesetzt sieht, der den australischen Begünstigten eines in Californien zu vollstreckenden Testamentes aufzuspüren hat. Wir spülten unseren Hammeleintopf u. die Apfelknödel mit dem leichten Biere hinunter, das Mrs.Evans braut u. an Walfänger verkauft. Keegan u. Dyfedd zogen los, um sich um ihr Vieh zu kümmern, während Mrs.Evans sich ihren Pflichten in der Küche widmete. Henry erkundigte sich danach, ob derzeit auf den Chathams Missionare tätig seien, worauf Mr.Evans u. Mr.D’Arnoq Blicke wechselten u. der erstere uns mittheilte: «Nein, die Maori schätzen es gar nicht, wenn wir Pakeha ihre Moriori durch zu viel Civilisation verderben.»

Ich äußerte Bedenken, ob es überhaupt ein solches Übel wie «zu viel Civilisation» geben könne. Mr.D’Arnoq antwortete: «Wenn es westlich von Cap Horn keinen Gott gibt, dann gibt es auch jenen Grundsatz Ihrer Verfassung nicht, der ‹Alle Menschen sind gleich geschaffen› heißt, Mr.Ewing.» Die Begriffe «Maori» u. «Pakeha» waren mir durch den Aufenthalt der Prophetess in der Bay of Island geläufig, aber ich bat um Aufklärung, wen oder was «Moriori» wohl bezeichnen möge. Meine Nachfrage öffnete die Büchse der Pandora, die genauen historischen Abläufe des Verfalles u. Untergangs der Eingeborenen der Chatham-Inseln betreffend. Wir zündeten unsere Pfeifen an. Mr.D’Arnoqs Schilderungen waren noch nicht beendet, als er drei Stunden später, bevor die hereinbrechende Nacht den Weg auf dem Deiche verdunkelte, nach Port Hutt aufbrechen mußte. Sein historischer Vortrag kann sich für meine Begriffe mit der Feder Defoes oder Melvilles messen, u. ich werde nach einem, so Morpheus will, gesunden Schlafe in diesen Blättern davon berichten.

Montag, 11.November ~

Tagesanbruch trübe u. schwül. Die Bucht wirkt schlammig, doch das Wetter ist mild genug, um die Reparaturen an der Prophetess fortzusetzen. Ich danke Poseidon. In diesem Augenblicke wird ein neues Kreuzbramsegel gehißt.

Vorhin, als Henry u. ich beim Frühstück saßen, tauchte ein heimlichtuerischer Mr.Evans auf u. bestürmte meinen Freund, den Doctor, er möge eine zurückgezogen lebende Nachbarin, eine gewisse Witwe Bryden, aufsuchen, die von ihrem Pferde in ein steiniges Schlammloch abgeworfen worden sei. Mrs.Evans sei schon dort u. befürchte, die Witwe ringe um ihr Leben. Henry holte seine Arzttasche u. brach unverzüglich auf. (Ich bot an, ihn zu begleiten, aber Mr.Evans bat mich um Nachsicht, denn die Patientin habe ihm das Versprechen abgenommen, daß nur ein Arzt sie in ihrem versehrten Zustande zu Gesicht bekäme.) Walker, der die ganze Angelegenheit mit angehört hatte, erzählte mir, seit zwanzig Jahren habe kein Angehöriger des männlichen Geschlechts die Schwelle dieser Witwe übertreten, u. gelangte zu dem Schluß, daß «die frigide alte Sau aus dem letzten Loch pfeifen muß, wenn sie sich von Dr.Quacksalber filzen läßt».

Die Ursprünge der Moriori auf «Rēkohu». (der einheimische Name für die Chathams) bleiben bis in unsere Tage verborgen. Mr.Evans vertritt die Ansicht, sie würden von aus Spanien vertriebenen Juden abstammen, wobei er sich auf ihre Hakennasen u. höhnisch hochgezogenen Lippen beruft. Mr.D’Arnoqs bevorzugte Theorie, die Moriori seien dereinsten Maori gewesen, deren Kanus vor dieser entlegensten aller Inseln Schiffbruch erlitten hätten, gründet sich auf Ähnlichkeiten von Sprache u. Mythologie u. verfügt daher über einen höheren Grad an Logik. In jedem Fall ist gewiß, daß die Moriori nach Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden des Lebens in Abgeschiedenheit ein ebenso primitives Dasein fristeten wie ihre leidgeprüften Vettern in Van-Diemen’s-Land. Die Kunst des Bootsbaues (über roh zusammengezimmerte Flöße, mit denen sie die Meeresarme zwischen den Inseln überquerten, hinausgehend) u. der Seefahrt gingen verloren. Daß der Erdenkreis noch aus anderen Ländern bestand, welche von anderen Füßen beschritten wurden, ahnten die Moriori nicht. In der That fehlt ihrer Sprache ein Wort für «Volk», u. «Moriori» heißt nichts weiter als «Leute». Viehwirthschaft betrieben sie nicht, denn auf den Inseln gab es keine Säugethiere, bis vorbeifahrende Walfänger hier Schweine aussetzten, damit diese sich vermehrten, für die Speisekammern. In ihrem ursprünglichen Zustande waren die Moriori Sammler; sie lasen Paua-Schnecken auf, tauchten nach Langusten, plünderten Vogelnester, speerten Robben, pflückten Riementang u. buddelten nach Maden u. Wurzeln.

Insoweit waren die Moriori nichts anderes als eine örtliche Variante der meisten bastbeschurzten, federgeschmückten Heiden von jenen im Verschwinden begriffenen «weißen Flecken» im Oceane, die noch nicht vom civilisierten Mann beeinflußt sind. Was dem alten Rēkohu jedoch seinen Anspruch auf Einmaligkeit ertheilte, waren seine einzigartig friedfertigen Glaubensvorstellungen. Seit unvordenklichen Zeiten bestimmte die Priesterkaste der Moriori, daß, wer auch immer das Blut eines Menschen vergoß, sein eigenes mana – seine Ehre, seinen Werth, seinen gesellschaftlichen Rang u. seine Seele – tötet. Kein Moriori durfte der persona non grata zu Hülfe eilen, ihr zu essen geben, mit ihr sprechen oder sie auch nur ansehen. Falls der ausgestoßene Mörder seinen ersten Winter überlebte, trieb ihn die Verzweiflung über seine Vereinsamung gewöhnlich zu einem Spritzloch am Cape Young, wo er sich das Leben nahm.

«Überlegen Sie nur», drängte uns Mr.D’Arnoq. «Zweitausend Wilde (nach Mr.Evans’ günstigsten Schätzungen) beherzigen Du sollst nicht töten in Worten u. in Thaten u. formulieren eine mündliche ‹Magna Charta›, um eine Eintracht zu erschaffen, die, seit Adam vor sechs Jahrtausenden vom Baume der Erkenntniß aß, nirgendwo bekannt war. Krieg war den Moriori ein ebenso fremder Begriff wie den Pygmäen das Telescop. Frieden, nicht als Zeitspanne zwischen Kriegen, sondern Jahrtausende währender Frieden herrschte auf diesen entlegenen Inseln. Wer kann bestreiten, daß das alte Rēkohu näher an Thomas Morus’ Utopia lag als unsere fortschrittlichen Staaten, regiert von kriegslüsternen Fürstelchen in Versailles u. Wien, Washington u. Westminster? Hier», eiferte Mr.D’Arnoq, «u. nur hier gab es jenes vage Phantasiegeschöpf, den edlen Wilden, geformt aus Fleisch u. Blut!». (Später, als wir auf dem Rückwege zur Musket waren, bekannte Henry: «Ich könnte eine Rasse von Wilden, die zu rückständig ist, um ordentlich einen Speer zu werfen, niemals ‹edel› nennen.»)

Unter wiederholten Schlägen erbringen Glas u. Frieden den Nachweis ihrer Zerbrechlichkeit auf selbige Weise. Der erste Schlag gegen die Moriori war der Union Jack, den Lieutenant Broughton von HMS Chatham vor fünfzig Jahren im Namen König Georgs auf einem Rasenstück in der Skirmish Bay aufpflanzte. Drei Jahre später war Broughtons Entdeckung in den Londoner u. Sydneyer Seekarten verzeichnet, u. vereinzelte freie Siedler (unter denen sich auch Mr.Evans’ Vater befand), schiffbrüchige Seeleute u. Strafgefangene, welche über die Bedingungen ihrer Haft mit dem Colonialamte von Neusüdwales uneins waren, bauten Kürbisse, Zwiebeln, Mais u. Mohrrüben an. Diese verkauften sie an nachfragende Robbenfänger, die – der zweite Schlag gegen die Unabhängigkeit der Moriori – die Hoffnungen der Eingeborenen auf glückliches Gedeihen zunichte machten, indem sie die Brandung mit Robbenblut rosa färbten. (Mr.D’Arnoq illustrierte die Gewinne durch folgende Rechnung: Jedes Fell erzielte in Canton 15Schillinge, u. jene ersten Robbenschläger erbeuteten über zweitausend Felle pro Boot!) Innerhalb weniger Jahre gab es nur noch an den weit draußen liegenden Felsen Robben, so daß nun auch die Robbenschläger sich dem Anbau von Kartoffeln sowie der Schafu. Schweinezucht zuwandten, u. zwar in einem Umfange, daß die Chatham-Inseln heute als «der Garten des Pacifik» tituliert werden. Diese Amateurbauern roden das Land mit Buschfeuern, die im darunter liegenden Torfe noch über viele Jahre schwelen, was in Trockenperioden zu neuerlichem Elend führt.

Der dritte Schlag gegen die Moriori erfolgte durch die Walfänger, welche nun in beträchtlicher Zahl in Ocean Bay, Waitangi, Owenga u. Te Whakaru der Reparaturarbeiten, Ausrüstung u. Vorräte bedurften. Ihre Katzen u. Ratten vermehrten sich wie die Plagen Ägyptens u. fraßen die Vögel, deren Eier die Moriori für ihre Ernährung so hochschätzten. Viertens senkte das bunte Gemisch von Krankheiten, welche die dunkleren Rassen decimieren, wann immer die weiße Civilisation sich nähert, die Zahl der Eingeborenen weiter nach unten.

All diese Schicksalsschläge hätten die Moriori womöglich ertragen, wäre Neu-Seeland nicht von Berichten erreicht worden, die Chatham-Inseln seien ein wahres Paradies von mit Schalenthieren bedeckten Buchten, aalreichen Lagunen u. Bewohnern, die sich weder auf Verteidigung noch auf Waffen verstünden. Für die Ohren der Ngati Tama u. der Ngati Mutunga, zweier Stämme der Taranaki Te Ati Awa Maori (in der Genealogie der Maori ist, wie Mr.D’Arnoq uns versicherte, jeder Familienzweig so verschlungen wie die adorierten Stammbäume des europäischen Landadels, u. in der That kann jedes Kind dieses analphabetischen Volkes im Handumdrehen Namen u. Rang seines Ururgroßvaters benennen), verhießen diese Gerüchte einen Ersatz für die Landstriche aus dem Besitze ihrer Vorfahren, die sie kürzlich in den «Musketenkriegen» verloren hatten. Kundschafter wurden ausgesandt, welche die Leidensfähigkeit der Moriori überprüfen sollten, indem sie gegen ihr tapu verstießen u. ihre heiligen Stätten plünderten. Diesen Provocationen begegneten die Moriori, wie unser Herr Christus es verlangt, indem sie «die andere Backe hinhielten». Die Übelthäter kehrten nach Neu-Seeland zurück, wo sie den augenscheinlichen Kleinmuth der Moriori bestätigten. Die tatauierten Maori-Conquistadores fanden ihre einschiffige Armada bei Captain Harewood von der Brigg Rodney, welcher sich in den letzten Monaten des Jahres 1835 bereit erklärte, im Austausch gegen Saatkartoffeln, Feuerwaffen, Schweine, eine große Lieferung gekämmten Flachses u. eine Kanone neunhundert Maori u. sieben Kriegskanus in zwei Überfahrten zu verschiffen. (Vor fünf Jahren begegnete Mr.D’Arnoq dem verarmten Harewood in einer Schenke in der Bay of Islands. Zunächst stritt dieser ab, der Harewood von der Rodney zu sein, dann schwor er, er sei dazu gezwungen worden, die Schwarzen zu befördern, aber es blieb undurchsichtig, auf welche Weise dieser Zwang auf ihn ausgeübt worden war.)

Die Rodney segelte im November von Port Nicholas ab, doch als sie sechs Tage später in der Whangatete-Bucht vor Anker ging, war ihre heidnische Fracht von fünfhundert Männern, Frauen u. Kindern, welche die ganze sechstägige Reise seekrank u. ohne jede Versorgung mit Wasser zusammengepfercht im schmutzigen Kielraum verbracht hatte, in einem so geschwächten Zustande, daß es selbst für die Moriori, hätten sie denn den Willen gehabt, ein leichtes gewesen wäre, ihre kriegerischen Brüder zu erschlagen. Doch anstatt ihr mana durch Blutvergießen zu zerstören, zogen die barmherzigen Samariter es vor, den geschwundenen Überfluß Rēkohus zu theilen, u. sie pflegten die kranken, dem Tode nahen Maori wieder gesund. «Schon früher waren Maori nach Rēkohu gekommen», erklärte Mr.D’Arnoq, «aber sie waren auch wieder gegangen, weshalb die Moriori annahmen, die Colonisten würden sie gleichfalls in Frieden lassen.»

Die Großmut der Moriori wurde belohnt, als Cpt. Harewood mit den übrigen vierhundert Maori aus Neu-Seeland zurückkehrte. Die Fremden erhoben nun Anspruch auf Chatham durch takahi, ein Maori-Ritual, welches übersetzt «Das Land ablaufen u. in Besitz nehmen» bedeutet. Das alte Rēkohu wurde somit aufgetheilt u. das Volk der Moriori darüber unterrichtet, daß sie fortan Unterthanen der Maori seien. Anfang December, als einige Dutzend Eingeborene dagegen protestierten, wurden sie schonungslos mit der Streitaxt erschlagen. Die Maori erwiesen sich in den «finsteren Künsten der Colonisierung» als gelehrige Schüler der Engländer.

Im Osten der Chatham-Insel liegt Te Whanga, eine ausgedehnte Lagune mit fruchtbarem Marschland, das mit jeder Flut bei Te Awapatiki vom Ocean überschwemmt wird. Vor vierzehn Jahren hielten die Moriori auf diesem geheiligten Boden ein Palaver ab. Es währte drei Tage u. behandelte die Frage, ob das Vergießen von Maoriblut ihr mana zerstöre. Die jüngeren Männer führten an, das Bekenntniß zum Frieden beziehe sich nicht auf fremdländische Cannibalen, von denen ihre Vorfahren keine Kenntniß gehabt hätten. Die Moriori müßten töten oder würden selbst getötet werden. Die Älteren rieten zur Beschwichtigung, denn solange die Moriori mit ihren Ländereyen ihr mana wahrten, würden ihre Götter u. Ahnen sie vor allem Übel beschützen. «Umarme deinen Feind», drängten sie, «u. halte ihn so davon ab, dich zu schlagen.». («Umarme deinen Feind», witzelte Henry, «u. fühle, wie sein Dolch deine Nieren kitzelt.»)

Die Älteren erhielten die Mehrheit, doch es nützte wenig. «Wenn es ihnen, was die Zahl angeht, an Überlegenheit fehlt», erklärte uns Mr.D’Arnoq, «suchen die Maori sich einen Vortheil zu verschaffen, indem sie zuerst u. mit äußerster Härte zuschlagen, was viele unglückliche Briten u. Franzosen von ihren Gräbern aus bezeugen können.» Die Ngati Tama u. die Ngati Mutunga hatten ihrerseits Rathsversammlungen abgehalten. Als die Männer der Moriori von ihrem Palaver zurückkehrten, wurden sie aus dem Hinterhalt überfallen, u. es begann eine Nacht der Schändlichkeit, entsetzlicher als jeder Albtraum: Dörfer wurden geplündert u. niedergebrannt, wahllos Metzeleyen verübt, Männer u. Frauen wurden in Reihen am Strand gepfählt, Kinder, die sich in Erdlöchern versteckt hatten, wurden von Schweißhunden aufgespürt u. zerrissen. Einige Häuptlinge handelten im Hinblicke auf das Morgen u. erschlugen nur so viele, wie sie für nöthig befanden, um den übrigen einen von Furcht erfüllten Gehorsam einzutrichtern. Andere Häuptlinge waren nicht so zurückhaltend. Auf dem Waitangi-Strand wurden fünfzig Moriori geköpft, zerlegt, in Flachsblätter gewickelt u. mit Jamswurzeln u. Süßkartoffeln in einem gewaltigen Erdofen gebacken. Nicht einmal die Hälfte der Moriori, die den letzten Sonnenuntergang des alten Rēkohu gesehen hatten, erlebten noch den Aufgang der Maori-Sonne. («Heute giebt es weniger als einhundert reinrassige Moriori», beklagte Mr.D’Arnoq. «Auf dem Papiere hat die britische Krone diese schon vor vielen Jahren vom Joch der Sclaverei befreit, aber die Maori scheren sich nicht um Papiere. Wir sind sieben Tagesreisen vom Gouverneurspalast entfernt, u. Ihre Majestät unterhält keine Garnison auf Chatham.»)

Ich frug, warum die Weißen den Maori während des Massakers nicht Einhalt geboten hätten.

Mr.Evans war aus seinem Nickerchen erwacht u. nicht halb so taub, wie ich gemuthmaßt hatte. «Haben Sie jemals Maori-Krieger im Blutrausch gesehen, Mr.Ewing?»

Ich gab zu, daß dies nicht der Fall sei.

«Aber Sie haben sicher schon Haie im Blutrausche gesehen, nicht wahr?»

Dieses bestätigte ich.

«Es verhält sich ganz ähnlich. Stellen Sie sich vor, ein blutendes Kalb paddelt in einem von Haien verseuchten, flachen Gewässer. Was thun? Sich vom Wasser fernhalten oder versuchen, den Mäulern der Haie Einhalt zu gebieten? Genau dies war unsere Wahl. Oh, natürlich halfen wir den wenigen, die an unsere Thür kamen – unser Schäfer Barnabas war einer von ihnen–, aber wären wir in jener Nacht hinausgegangen, man hätte uns niemals wiedergesehen. Bedenken Sie, wir Weißen zählten damals in Chatham weniger als fünfzig Mann. Die Maori insgesamt neunhundert. Die Maori dulden uns Pakeha, Mr.Ewing, aber sie verachten uns. Vergessen Sie das niemals.»

Was ist die Moral von der Geschichte? Obgleich unser Herr ihn so sehr liebt, ist Frieden nur dann eine Kardinaltugend, wenn wir mit unseren Nachbarn dasselbe Gewissen theilen!

Nachts ~

Mr.D’Arnoqs Name ist in der Musket nicht beliebt. «Ein weißer Schwarzer, eine halbblütige Promenadenmischung von einem Mann», sagte Walker zu mir. «Niemand weiß, was er wirklich ist.» Suggs, ein einarmiger Schäfer, der unter dem Schanktische wohnt, behauptete steif u. fest, unser Bekannter sei ein bonapartistischer General, der sich hier unter fremder Fahne verstecke. Ein anderer schwor Stein u. Bein, er sei ein Polacke.

Gleichfalls unbeliebt ist das Wort «Moriori». Ein betrunkener Maori-Mischling erzählte mir, die ganze Geschichte der Ureinwohner sei nur ein Hirngespinst dieses «verrückten alten Lutheraners» u. daß Mr.D’Arnoq sein Moriori-Evangelium nur deshalb predige, um seine eigenen betrügerischen Landansprüche gegen die Maori zu rechtfertigen, den wahren Eigenthümern von Chatham, die seit unvordenklichen Zeiten mit ihren Kanus von Insel zu Insel gefahren seien. James Coffee, ein Schweinezüchter, meinte, die Maori hätten dem weißen Manne einen Dienst erwiesen, als sie eine andere viehische Rasse ausrotteten, um Platz für uns zu schaffen. Er fügte hinzu, daß die Russen die Kosaken darin unterrichteten, den Sibiriern auf ganz ähnliche Weise «das Fell zu gerben».

Ich hielt dagegen, die schwarzen Völker zu bekehren, nicht sie auszurotten sei doch unsere Aufgabe, denn schließlich habe Gottes Hand auch sie erschaffen. Die ganze Kneipengesellschaft fiel wegen meines «sentimentalen Yankee-Geschwätzes» über mich her. «Der Beste von denen ist nicht zu gut, um wie ein Schwein zu sterben!» schrie einer. «Das einzige Evangelium, das ein Schwarzer capiert, ist das Evangelium der v—n Peitsche!» Ein weiterer rief: «Wir Briten haben in unserem Reiche die Sclaverei abgeschafft – so viel kann kein Amerikaner von sich behaupten!»

Henrys Standpunkt war, gelinde formuliert, uneindeutig. «Nach jahrelanger Arbeit mit Missionaren bin ich versucht festzustellen, daß ihre Bemühungen lediglich die Pein eines aussterbenden Volkes um zehn bis zwanzig Jahre verlängern. Ein mitleidiger Bauer erschießt sein getreues Pferd, wenn es zu alt ist, den Pflug zu ziehen. Wäre es nicht unsere Pflicht als Menschenfreunde, die Leiden der Wilden in gleicher Weise zu lindern, indem wir ihre Auslöschung vorantreiben? Denken Sie an Ihre Indianer, Adam, denken Sie an die Verträge, die ihr Amerikaner, wieder u. immer wieder annulliert u. gebrochen habt. Ist es nicht humaner u. gewiß auch ehrenwerther, den Wilden eins über den Schädel zu schlagen u. die Sache hinter sich zu bringen?»

Es giebt so viele Wahrheiten wie Menschen. Gelegentlich erhascht mein Blick eine wahrhaftigere Wahrheit, die sich in unvollkommenen Abbildern ihrer selbst verbirgt, doch sobald ich mich ihr nähere, rafft sie sich auf u. zieht sich noch tiefer in den dornenreichen Sumpf der Uneindeutigkeiten zurück.

Dienstag, 12.November ~

Unser ehrenwerther Cpt. Molyneux beehrte heute die Musket, um mit meinem Wirthe den Preis für fünf Fässer gepökeltes Rindfleisch auszuhandeln. (Die Angelegenheit wurde mit einer wilden Partie Trentuno ausgefochten, welche der Capitain gewann.) Bevor er zur Werft zurückkehrte, um den Reparaturfortschritt zu überprüfen, ersuchte Cpt. Molyneux, sehr zu meiner Überraschung, Henry um einige vertrauliche Worte in dessen Zimmer. Die Besprechung dauert an, während ich dies schreibe. Man hat meinen Freund vor des Capitains tyrannischem Wesen gewarnt, aber dennoch, mir gefällt das nicht.

Später ~

Cpt. Molyneux, so viel ist durchgesickert, leidet an medicinischen Beschwerden, die, so sie nicht behandelt werden, seine Tauchfähigkeit beeinträchtigen könnten, welche für die Ausübung seines Dienstpostens erforderlich ist. Der Capitain hat Henry deshalb vorgeschlagen, mit uns nach Honolulu zu reisen (eigene Kajüte u. Verpflegung frei) u. bis zum Ende unserer Reise sowohl das Amt des Schiffsarztes als auch des Leibarztes von Cpt. Molyneux zu übernehmen. Mein Freund erklärte, er habe eigentlich die Absicht, nach London zurückzukehren, aber Cpt. Molyneux war äußerst beharrlich. Henry versprach, das Angebot zu überdenken u. sich bis Freitag morgen zu entscheiden, dem Tag, welcher nun für die Abfahrt der Prophetess festgesetzt ist.

Henry benannte die Krankheit des Capitains nicht, u. ich frug auch nicht danach, doch man muß kein Äsculap sein, um zu erkennen, daß Cpt. Molyneux von der Gicht befallen ist. Seine Verschwiegenheit macht meinem Freunde große Ehre. Wie exzentrisch Henry Goose sich als Sammler von Curiositäten auch gebärden mag, ich halte den Arzt Goose für einen begnadeten Heilkünstler, u. es ist meine innigste, wenn auch selbstsüchtige Hoffnung, daß Henry dem Vorschlage des Capitains seine Zusage ertheilen möge.

Mittwoch, 13.November ~

Ich komme zu meinem Tagebuche wie ein Katholik zu seinem Beichtvater. Meine Blessuren bestätigen, daß die außerordentlichen Geschehnisse der letzten fünf Stunden keine durch mein Leiden heraufbeschworene Sinnestäuschung waren, sondern sich wahrhaftig ereignet haben. Ich werde schildern, was mir am heutigen Tage widerfahren ist, wobei ich mich so eng als möglich an die Thatsachen halte.

Heute morgen stattete Henry der Witwe Bryden einen weiteren Besuch ab, um ihre Schiene zu richten u. ihr einen neuen Breiumschlag anzulegen. Statt mich dem Müßiggange hinzugeben, beschloß ich, eine nördlich von Ocean Bay gelegene Anhöhe zu erklimmen, die als der Kegelberg bekannt ist u. deren luftiger Gipfel den besten Ausblick auf das «Hinterland» der Chatham-Insel erlaubt. (Henry, als Mann in den reiferen Jahren, besitzt zuviel Verstand, um unerschlossene Inseln zu durchstreifen, die von Cannibalen bevölkert sind.) Der träge dahinplätschernde Bachlauf, welcher Ocean Bay mit Wasser versorgt, führte mich stromaufwärts über sumpfiges Weideland u. mit Baumstümpfen übersäte Hänge in einen unberührten Wald, so faulig, dicht u. verschlungen, daß ich von Baum zu Baum klettern mußte wie ein Orang-Utan. Ein Hagelschauer ging hernieder, erfüllte den Wald mit einem wilden Trommelkonzerte u. endete so jäh, wie er begonnen hatte. Ich erspähte einen Lerchensänger, sein Gefieder pechschwarz wie die Nacht u. so zutraulich, daß es an Verachtung grenzte. Ein unsichtbarer Tui stimmte sein Lied an, aber meine entfachte Einbildungskraft verlieh ihm die Fähigkeit der menschlichen Sprache: «Aug um Auge!» rief er über mir, derweil er durch das Dickicht aus Knospen, Zweigen u. Dornen huschte. «Aug um Auge!» Nach einer äußerst strapaziösen Kletterey bezwang ich, erheblich geschrunden u. zerkratzt, den Gipfel, ohne zu wissen, wie spät es war, da ich am Vorabend vergessen hatte, meine Taschenuhr aufzuziehen. Trüber Nebel, der die Inseln häufig heimsucht (der einheimische Name «Rēkohu» bedeutet laut Mr.D’Arnoq «verschleierte Sonne»), war während meines Aufstiegs aufgezogen, u. so beschränkte sich das ersehnte Panorama auf schemenhafte Baumwipfel im Sprühregen. Fürwahr eine kümmerliche Belohnung meiner Mühen!

Der «Gipfel» des Kegelberges war ein felsiger Krater, nur einen Steinwurf im Durchmesser, dessen Grund sich weit unterhalb des düsteren Blätterdaches von zwölf Dutzend oder mehr Kopi-Bäumen verbarg. Niemals hätte ich gewagt, seine Tiefen ohne die Hülfe von Seilen u. einer Pickelaxt zu erkunden. Ich wanderte um den Rand des Kraters, um mir einen weniger beschwerlichen Weg zurück nach Ocean Bay zu suchen, als ich, von einem plötzlichen Huu-ruusch! erschreckt, zu Boden ging. Der Geist verabscheut die Leere u. pflegt, sie mit Trugbildern auszufüllen; demgemäß erblickte ich zuerst ein mit Hauern bewehrtes Wildschwein, dann einen Maori-Krieger mit erhobenem Speere, in dessen Gesicht der seit Urzeiten vererbte Haß seines Volkes eingemeißelt war.

Es war nur ein Albatros; seine Flügel peitschten die Luft wie ein Windjammer. Ich sah ihn im sich lichtenden Nebel verschwinden. Der Kraterrand war gut einen Schritt von mir entfernt, aber zu meinem Entsetzen zerbröckelte der Torf unter meinen Füßen wie eine Kruste aus Nierenfett – ich stand nicht auf festem Boden, sondern auf einem Überhange! Ich versank bis auf Brusthöhe, hielt mich in meiner Noth an ein paar Gräsern fest, doch sie rissen zwischen meinen Fingern, u. ich stürzte hinab wie ein Gnom, der in einen Brunnen gestoßen wird! Ich erinnere mich, daß ich ins Leere trudelte; an meine Schreie u. an Zweige, die mir das Gesicht zerkratzten; daß ich mich überschlug, meine Jacke sich verfing u. zerriß; an lockere Erde; an ein Vorgefühl von Schmerz u. ein heißes Stoßgebet um Hülfe; an einen Busch, der meinen Fall milderte, aber nicht aufhielt, u. den vergeblichen Versuch – rutschend–, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, bis schließlich fester Boden von unten auf mich zuraste. Der Aufprall raubte mir das Bewußtsein.

Ich lag inmitten wolkenartiger Steppdecken u. sommerlicher Kopfkissen in einem Schlafzimmer ähnlich dem meinen in San Francisco. Ein zwergwüchsiger Diener sagte: «Du bist ein dummer, dummer Junge, Adam.» Tilda u. Jackson betraten das Zimmer, aber als ich meiner Freude Ausdruck verleihen wollte, entrang sich meinem Munde kein Englisch, sondern das kehlige Gebell eines indischen Volksstammes. Meine Frau u. mein Sohn schämten sich meiner u. bestiegen eine Kutsche. Ich nahm, in dem Bemühen, dieses Mißverständniß aufzuklären, die Verfolgung auf, aber die Kutsche verflüchtigte sich mit zunehmendem Abstand, bis ich unter Bäumen im Zwielicht erwachte, u. in einer dröhnenden, ewiglichen Stille. Meine Prellungen u. Schnittwunden, meine Muskeln u. Gliedmaßen ächzten wie erbittert streitende Processparteien in einem Gerichtssaale.

Eine Matratze aus Moos u. Mulch, wohl schon seit dem zweiten Tage der Schöpfung in dieser düstren Mulde gelegen, hatte mein Leben gerettet. Engel bewahrten meine Glieder, denn hätte ich mir ein Bein oder auch nur einen Arm gebrochen, läge ich gewiß noch immer dort unten, außerstande, mich zu befreien, um den Tod durch die Elemente oder durch die Klauen eines wilden Thieres zu erwarten. Als ich mich ein wenig erholt hatte u. sah, wie tief ich hinabgerutscht u. -gefallen war (ungefähr der Höhe eines Fockmastes entsprechend), ohne schlimmere Verletzungen davongetragen zu haben, dankte ich unserem Herrn für meine Errettung, denn in der That heißt es: Du riefest mich in der Noth, u. ich habe dich erhört, da dich das Wetter überfiel.

Meine Augen gewöhnten sich an das schummrige Licht u. wurden eines unauslöschlichen, furchterregenden u. zugleich erhabenen Anblickes gewahr: Erst ein, dann zehn, dann hunderte Gesichter tauchten aus dem immerwährenden Dämmerlichte auf, von Götzenanbetern mit Streitäxten in die Rinden der Bäume geschlagen, als wären Waldgeister im Banne eines bösen Zauberers zu Salzsäulen erstarrt. Mit keinem Wort ist dieser Stamm von Fabelwesen wahrheitsgetreu zu umschreiben! Vielleicht können nur leblose Wesen so lebendig sein. Ich fuhr mit den Daumen über die grausigen Fratzen. Zweifellos war ich, seit seinen prähistorischen Anfängen, der erste Weiße in diesem Mausoleum. Die jüngste Holzskulptur zählt wohl nicht mehr als zehn Jahre, doch die alten, mit den Bäumen mitgewachsenen, wurden von Heiden geschnitzt, deren Geister längst vergessen sind. Diese Alterthümer waren gewiß das Werk von Mr.D’Arnoqs Moriori.

Die Zeit schritt voran an diesem verzauberten Ort, u. ermuthigt von der Erkenntniß, daß auch die Schöpfer dieser «Baumbilder» einen ganz gewöhnlichen Ausgang aus diesem Höllenschlunde gefunden haben mußten, suchte ich nach einem möglichen Fluchtweg. Eine Wand sah weniger steil aus als die anderen, u. faserige Schlingpflanzen boten eine Art Takelage. Ich wollte gerade mit dem Aufstiege beginnen, als ein rätselhaftes «Summen» meine Aufmerksamkeit erregte. «Wer da?» rief ich (etwas übereilt für einen unbewaffneten weißen Eindringling in einem heidnischen Schrein). «Gib dich zu erkennen!» Die Stille verschluckte meine Worte samt Echo u. verhöhnte mich. Mein Leiden regte sich in meiner Milz. Das «Summen» führte mich zu einem Fliegenschwarm; dieser umkreiste einen Klumpen, aufgespießt auf einem abgebrochenen Zweig. Ich stach mit einem Kiefernstecken in den Klumpen u. erbrach mich fast, denn es handelte sich um ein Stück stinkenden Aases. Ich wollte mich zur Flucht wenden, doch die Pflicht gebot mir, den schlimmen Verdacht zu zerstreuen, es sei ein menschliches Herz, das an diesem Baume hing. Ich bedeckte Mund u. Nase hinter meinem Schnupftuch u. berührte mit dem Stecken ein fast abgetrenntes Stück. Das Organ zuckte, als wäre es lebendig! Brennend schoß mein Leiden die Wirbelsäule hinauf! Wie in einem Traum (doch es war kein Traum!) erschien ein durchsichtiger Salamander aus seiner fauligen Behausung u. flitzte über den Stecken auf meine Hand zu! Ich schleuderte den Stecken fort, ohne zu sehen, wohin das Thier verschwand. Furcht breitete sich in mir aus, u. ich machte mich eilig daran, meine Flucht zu bewerkstelligen. Leichter notiert denn gethan. Wäre ich nämlich ausgerutscht u. erneut von diesen schwindelerregenden Wänden abgestürzt, hätte das Schicksal meinen Fall womöglich kein zweites Mal abgefedert. Aber es waren Fußtritte in den Fels gehauen, u. so erreichte ich ohne weiteres Mißgeschick den Kraterrand.

Zurück im trostlosen Nebel, sehnte ich mich nach der Gesellschaft von Menschen meiner Hautfarbe, ja, selbst nach den rüpelhaften Seeleuten aus der Musket u. begann, in der Hoffnung, nach Süden zu gelangen, meinen Abstieg. Mein anfänglicher Entschluß, über alles zu berichten, was ich gesehen hatte (müßte nicht zumindest Mr.Walker, der factische, wenn nicht sogar rechtmäßige Consul, über den Raub eines menschlichen Herzens unterrichtet werden?), verflüchtigte sich, je mehr ich mich Ocean Bay näherte. Ich bin noch immer unentschlossen, was zu berichten ist u. wem. Sehr wahrscheinlich handelt es sich um das Herz eines Schweines oder eines Schafes. Die Vorstellung, daß Walker u. seinesgleichen die Bäume fällen u. die Holzskulpturen an Sammler verkaufen könnten, verletzt mein Ehrgefühl. Man mag mich der Gefühlsduseley zeihen, doch ich möchte nicht der Verursacher der letzten Schändung der Moriori sein.1

Abends ~

Das Kreuz des Südens leuchtete schon am Himmel, als Henry in die Musket zurückkehrte, denn er war von etlichen Inselbewohnern aufgehalten worden, die den «Heilkünstler der Witwe Bryden» wegen Schnupfen, Himbeerpocken oder Wassersucht zu consultieren wünschten. «Wenn Kartoffeln Dollar wären», bedauerte mein Freund, «müßte ich jetzt reicher sein als Nebukadnezar!» Er zeigte sich über mein (sehr gekürzt wiedergegebenes) Mißgeschick auf dem Kegelberge beunruhigt u. bestand darauf, meine Verletzungen zu untersuchen. Zuvor hatte ich das indische Mädchen dazu bewegen können, mir ein Bad zu bereiten, welchem ich überaus erquickt entstiegen war. Henry verehrte mir einen Tiegel Salbe für die Hautabschürfungen u. lehnte es ab, dafür auch nur einen Cent zu nehmen. Besorgt, dies könne meine letzte Gelegenheit sein, einen so begnadeten Arzt zu consultieren (Henry beabsichtigt, Cpt. Molyneux’ Vorschlag abzulehnen), offenbarte ich ihm meine Befürchtungen bezüglich meines Leidens. Henry hörte nüchtern zu u. frug nach Häufigkeit u. Dauer meines Unwohlseins. Er bedauerte, daß es ihm an Zeit u. Instrumenten für eine genaue Diagnose fehle, aber er empfahl mir dringend, in San Francisco gleich nach meiner Rückkehr einen Specialisten für tropische Parasiten aufzusuchen. (Ich brachte es nicht über mich, zu erwidern, daß es dort keinen solchen Specialisten giebt.)

Ich bin schlaflos.

Donnerstag, 14.November ~

Wir werden mit der Morgenflut die Segel setzen. Ich bin zurück an Bord der Prophetess, aber ich kann nichts Gutes daran finden, wieder hier zu sein. Mein Sarg hat nun drei aufgerollte Trossen geladen, über die ich hinwegsteigen muß, wenn ich zu meiner Koje gelangen will, denn nicht ein einziger Zoll des Fußbodens ist frei. Mr.D’Arnoq verkaufte dem Quartiermeister ein halbes Dutzend Fässer mit diversen Vorräten u. einen Ballen Segeltuch (sehr zu Walkers Mißvergnügen). Er kam an Bord, um die Lieferung zu beaufsichtigen, eigenhändig zu cassieren u. mir eine glückliche Reise zu wünschen. Da wir uns in meinem Sarge drängten wie zwei Männer in einem Erdloch, begaben wir uns an Deck, denn heute ist ein schöner Abend. Nachdem wir uns über verschiedene Angelegenheiten ausgetauscht hatten, verabschiedeten wir uns, u. er stieg hinunter zu seinem wartenden Beiboot, gut bemannt mit zwei jungen mischlingsblütigen Bediensteten.

Mr.Roderick hat wenig übrig für meine Bitte, die störenden Trossen anderwärts zu verstauen, denn er muß seine eigene Kajüte räumen (zu den Gründen später) u. sich ins Vorschiff zu den einfachen Matrosen bequemen, deren Zahl um fünf Castilier angewachsen ist, abgeworben von dem Spanier, der in der Bay vor Anker liegt. Deren Capitain wurde zur wahren Furie, doch obwohl er kurz davor stand, der Prophetess den Krieg zu erklären – eine Schlacht, die ihm mit Sicherheit eine blutige Nase eintrüge, denn er befehligt den morschesten aller Kähne–, bleibt ihm wenig mehr zu thun, als seinen Sternen dafür zu danken, daß Cpt. Molyneux nicht noch mehr Überläufer benöthigt. Allein die Worte «gen Californien» sind mit Gold bestäubt u. ziehen von überall her Menschen an wie Laternen einen Mottenschwarm. Die fünf Neuen ersetzen die zwei in der Inselbucht Entlaufenen u. die im Sturme über Bord Gegangenen, doch fehlen uns zur vollen Besatzung noch immer mehrere Leute. Finbar erzählte mir, die Männer würden über die neue Anordnung murren, denn mit Mr.Roderick bei ihnen im Vorschiffe könnten sie nicht länger ungestört bei einer Flasche ihr Garn spinnen.

Das Schicksal hat mir einen schönen Ausgleich beschert. Nachdem ich Walkers wucherische Rechnung beglichen hatte (natürlich erhielt der Halunke nicht einen Cent Trinkgeld), packte ich meine Kiste aus Jackbaumholz, als Henry mit folgender Begrüßung in mein Zimmer trat: «Guten Morgen, Schiffskamerad!» Gott hat meine Gebete erhört! Henry hat die Stellung als Schiffsarzt angenommen, u. ich bin nun nicht mehr ohne Freund auf diesem schwimmenden Bauernhofe. Der gemeine Seemann ist so störrisch wie ein Maulthier, denn anstatt daß sich die Mannschaft dankbar dafür zeigt, einen Arzt an Bord zu haben, der ihre gebrochenen Glieder schient u. ihre Infectionen behandelt, hört man sie unentwegt stöhnen: «Was sind wir denn, daß wir einen Schiffsarzt mitschleppen müssen, der nicht einmal den Bugspriet besteigen kann? Ein königlicher Flußkahn?»

Ich muß einen Anflug von Verstimmung darüber eingestehen, daß Cpt. Molyneux einem vollzahlenden Gentleman wie mir nur eine schäbige Kammer gewährte, obgleich eine bequemere Kajüte die ganze Zeit lang zur Verfügung stand. Allerdings ist Henrys Versprechen, seine eindrucksvollen Fähigkeiten, sobald wir auf See sind, für eine Diagnose meines Leidens einzusetzen, von erheblich größerer Bedeutung. Meine Erleichterung ist unbeschreiblich.

Freitag, 15.November ~

Bei Tagesanbruch lichteten wir die Anker, unbeschadet dessen, daß der Freitag bei Seeleuten als Unglückstag gilt. (Cpt. Molyneux knurrte: «Aberglaube, Heiligengedenktage u. anderer elender Firlefanz sind ein trefflicher Zeitvertreib für papistische Fischweiber, aber ich betreibe Handel, um Profit zu machen!») Henry u. ich wagten uns nicht an Deck, denn die Seeleute waren eifrig dabei, das Schiff aufzutakeln, u. zudem bläst von Süden her ein steifer Wind mit schwerem Seegang; das Schiff war schon letzte Nacht unruhig u. ist es heute nicht weniger. Wir benöthigten einen halben Tag, um Henrys Apotheke einzurichten. Außer den Instrumenten eines modernen Arztes besitzt mein Freund mehrere gelehrte Schwarten in englischer, lateinischer u. deutscher Sprache. Ein Koffer enthält eine mannigfaltige Auswahl an Pulvern in verstöpselten, auf griechisch beschrifteten Flaschen. Diese mischt er, um daraus verschiedene Pillen u. Salben herzustellen. Gegen Mittag schauten wir durch die Luke im Zwischendeck; die Chatham-Inseln waren nur noch Tintenkleckse am bleigrauen Horizont, aber das Schlingern u. Schlagen ist gefährlich für Leute, deren Seebeine sich eine Woche lang an Land erholt haben.

Nachmittag ~

Torgny, der Schwede, klopfte an die Thür meines Sarges. Überrascht u. von seiner geheimnißthuerischen Art in Neugier versetzt, bat ich ihn einzutreten. Er setzte sich auf eine der Trossen u. flüsterte, er überbringe einen Vorschlag von einer Gruppe Schiffskameraden. «Sagen Sie uns, wo die besten Adern liegen, die versteckten, die ihr Einheimischen für euch behaltet. Ich u. meine Kumpel werden die Drecksarbeit übernehmen. Sie können sich zurücklehnen, u. wir betheiligen Sie mit einem Zehntel.»

Ich brauchte einen Augenblick, bis ich begriff, daß Torgny von den californischen Goldminen sprach. Es zeichnet sich also eine umfangreiche Flucht von Bord ab, sobald die Prophetess ihren Zielhafen erreicht hat, u. ich gebe zu, ich bin auf seiten der Seeleute! Indem ich dies zum Ausdrucke brachte, gelobte ich Torgny, daß ich keinerley Kenntniß über die Goldvorkommen hätte, denn ich sei seit zwölf Monaten nicht zu Hause gewesen, doch ich würde ihm gratis, u. zwar mit Freuden, eine Karte des sagenhaften Eldorados aufzeichnen. Torgny war einverstanden. Ich riß ein Blatt aus diesem Tagebuche u. begann damit, eine grobe Skizze von Sausalito, Benecia, Stanislaus, Sacramento u.s.w. anzufertigen, als sich eine feindselige Stimme erhob. «Stets der Alleswisser, nicht wahr, Mr.Federschwanz?»

Wir hatten nicht bemerkt, daß Boerhaave die Kajütstreppe hinabgestiegen war u. meine Thür geöffnet hatte! Torgny schrie bestürzt auf u. erklärte sich sogleich für schuldig. «Was, wenn ich fragen darf», polterte der Erste Officier, «was hast du mit unserem Passagiere zu schaffen, du Pestbeule von Stockholm?» Torgny hatte es die Sprache verschlagen, ich aber ließ mich nicht so leicht einschüchtern u. erklärte dem Rüpel, ich würde Torgny die «Sehenswürdigkeiten» meiner Stadt beschreiben, damit er seinen Landgang besser genießen könne.

Boerhaave zog die Augenbrauen hoch. «Ach, Sie bewilligen jetzt Landgänge? Das sind neue Nachrichten für meine alten Ohren. Das Papier, bitte, Mr.Ewing, wenn Sie erlauben.» Ich erlaubte keineswegs. Der Holländer hatte nicht das Recht, mein Geschenk für den Seemann zu beschlagnahmen. «Oh, ich bitte um Verzeihung, Mr.Ewing. Torgny, nimm dein Geschenk in Empfang.» Ich hatte keine andere Wahl, als es dem niedergeschmetterten Schweden auszuhändigen. Mr.Boerhaave stieß hervor: «Torgny, übergieb mir unverzüglich dein Geschenk, oder, bei den Hütern der Hölle, du wirst den Tag bedauern, an dem du aus der [meine Feder sträubt sich, seinen Fluch niederzuschreiben] deiner Mutter gekrochen bist.» Der Schwede fügte sich demüthig.

«Äußerst lehrreich», bemerkte Boerhaave, während er eindringlich meine Karte studierte. «Der Capitain wird mit Freuden vernehmen, welche Mühen Sie auf die Bildung unserer räudigen Janmaate verwenden, Mr.Ewing. Torgny, du schiebst vierundzwanzig Stunden Wache im Mastkorb, achtundvierzig, wenn du mit einer Stärkung erwischt wirst. Trink deine P—, wenn du Durst hast.»

Torgny stahl sich davon, doch mit mir war der Erste Officier noch nicht fertig. «Haie durchziehen diese Gewässer, Mr.Federschwanz. Verfolgen Schiffe, falls schmackhafte Happen ins Meer gehen. Ich habe einmal zugesehen, wie sie einen Passagier verschlangen. Er hatte, so wie Sie, seine Sicherheit vernachlässigt u. fiel über Bord. Wir hörten seine Schreie. Die großen Weißen spielen mit ihrem Mittagessen, zernagen es langsam, hier ein Bein, ein Theilchen dort… Dieser arme Wicht blieb länger am Leben, als Sie es sich vorstellen können. Denken Sie drüber nach.» Er schloss die Thür zu meinem Sarge. Boerhaave ist, wie alle Tyrannen u. Gewaltmenschen, stolz auf die Verabscheuungswürdigkeit, die seinen üblen Ruf begründet.

Sonnabend, 16.November ~

Mein Schicksal hat mir die bis heute größten Unannehmlichkeiten meiner Reise aufgebürdet. Ein Schatten des alten Rēkohu hat mich, der als sein einziges Begehr Stille u. Verschwiegenheit nennt, wegen Argwohns u. Gerüchtemacherei an den Pranger gezerrt. Dabei sind christliches Gottvertrauen u. fortdauerndes Unglück das einzige, dessen ich mich schuldig bekenne. Genau ein Monat ist nun vergangen, seit ich am Tage unserer Abreise aus Neusüdwales diesen heiteren Satz niederschrieb: «Ich erwarte eine ereignißlose u. langweilige Reise.» Wie mich diese Worte doch verhöhnen! Niemals werde ich die letzten achtzehn Stunden vergessen, aber da ich weder schlafen noch denken kann (u. Henry ist nun zu Bette), bleibt mir als einziger Weg aus der Schlaflosigkeit, mein Los auf diesen theilnahmsvollen Seiten zu verfluchen.

Letzte Nacht zog ich mich «hundemüde» in meine Kajüte zurück. Nach meinem Nachtgebete löschte ich das Licht u. sank, eingelullt von den unzähligen Geräuschen des Schiffes, in einen sanften Dämmerschlaf, als eine heisere Stimme, in meinem Sarge!, mich weckte. Ich riß vor Schreck die Augen auf. «Mr.Ewing», beschwor mich das heiße Flüstern, «nicht fürchten… Mr.Ewing… keine Gefahr, nicht schreien, bitte, Sir.»

Ich fuhr unwillkürlich hoch u. stieß mit dem Kopfe gegen die Balkendecke. Im schwachen Licht, das durch die beiden Ritzen meiner verzogenen Thür fiel, u. im Schimmer der Sterne sah ich, wie eine Trosse sich schlangengleich von selbst abwickelte u. eine schwarze Gestalt sich daraus erhob wie ein Toter beim Erschallen der letzten Posaune! Eine kräftige Hand schwebte durch die Finsterniß auf mich zu u. versiegelte meine Lippen, bevor ich einen Schrei ausstoßen konnte. Der Angreifer zischte: «Missa Ewing, keine Gefahr, Sie sicher, ich Freund von Mr.D’Arnoq… Sie wissen, er Christ… bitte, still!»

Die Vernunft gewann schließlich die Oberhand über meine Furcht. Ein Mensch, nicht etwa ein Geist, verbarg sich in meiner Kajüte. Wenn er mir wegen meiner Werthsachen, meines Hutes oder meiner Schuhe die Kehle durchschneiden wollte, wäre ich bereits tot. Wenn es sich um einen blinden Passagier handelte, dann war nicht mein Leben in Gefahr, sondern seines. Seiner gebrochenen Sprache, seinem schattenhaften Umriß u. seinem Geruche nach vermuthete ich, daß der blinde Passagier ein Inder war, allein auf einem Schiffe mit fünfzig Weißen. Nun denn. Ich nickte langsam, um anzuzeigen, daß ich nicht um Hülfe schreien würde.

Die Hand gab behutsam meinen Mund frei. «Ich heiße Autua», sagte er. «Sie kennen ich, Sie gesehen ich, ja, Sie Mitleid mit ich.» Ich frug ihn, wovon er eigentlich rede. «Maori peitschen ich, Sie gesehen.» Mein Gedächtnis überwand die Absonderlichkeit meiner Lage, u. ich erinnerte mich an den Moriori, der von dem «Eidechsenkönig» ausgepeitscht worden war. Das ermuthigte ihn. «Guter Mensch Sie… Sie guter Mensch sagen Mr.D’Arnoq… gestern abend er versteckt ich in Kajüte hier… ich fliehen… helfen Sie, Mr.Ewing.» Nun entrang sich meinen Lippen ein Stöhnen! Seine Hand legte sich wieder auf meinen Mund. «Sie nicht helfen… ich Totgefahr.»

Allzu wahr, dachte ich, u. überdies wirst du mich mit dir ins Verderben reißen, sofern ich Cpt. Molyneux nicht von meiner Unschuld überzeugen kann! (Ich brannte förmlich vor Groll über Mr.D’Arnoqs Handlungsweise u. tue es noch. Er soll seine «edlen Wilden» gefälligst selbst retten u. dies nicht unbetheiligten Zuschauern überlassen!) Ich sagte dem blinden Passagiere, daß er bereits «in Totgefahr» sei. Die Prophetess sei ein Kauffahrteyschiff, kein «geheimer Pfad» für befreite Sclaven.

«Ich gut Seemann», betheuerte der Schwarze, «ich verdiene Überfahrt!» Schön u. gut, erwiderte ich (an seiner Behauptung zweifelnd, er sei ein Seemann von hohen Graden) u. bedrängte ihn, sich umgehend der Gnade des Capitains auszuliefern. «Nein, die nicht hören ich! Schwimm nach Hause, Nigger, die sagen u. werfen ich in Teich. Sie Gesetzmann, nicht? Sie gehen, Sie reden, ich hier, verstecken! Bitte. Capt’n Sie hören, Missa Ewing, bitte.»

Vergeblich versuchte ich, ihn davon zu überzeugen, daß es vor Cpt. Molyneux’ Gericht keinen weniger angesehenen Fürsprecher gebe als den Yankee Adam Ewing. Das gewagte Unternehmen dieses Moriori war seine Sache; ich wollte nichts damit zu thun haben. Er tastete nach meiner Hand, schloß sie zu meiner Bestürzung um den Griff eines Dolches u. sagte voll düsterer Entschlossenheit: «Dann töten ich.» Mit einer schrecklichen Ruhe u. Bestimmtheit drückte er die Spitze gegen seine Kehle. Ich sagte ihm, daß er verrückt sei. «Ich nicht verrückt, Sie nicht helfen ich, Sie töten ich, alles gleich. Ist Wahrheit, Sie wissen das.». (Ich beschwor ihn, sich zu zügeln u. leise zu sprechen.) «Dann töten ich. Sagen später, ich Sie angreifen, so Sie töten ich. Ich nicht Futter für Fische, Mr.Ewing. Besser sterben hier.»

Indem ich mein Gewissen einmal, mein Geschick zweimal u. Mr.D’Arnoq dreimal verfluchte, befahl ich ihm, das Messer fortzunehmen u. sich um Himmels willen zu verstecken, bevor uns jemand von der Mannschaft hörte u. an meine Thür klopfte. Ich versprach ihm, während des Frühstücks an den Capitain heranzutreten, denn ihn in seinem Schlafe zu stören würde für unser kühnes Vorhaben das Verdammnißurtheil bedeuten. Damit gab der Inder sich zufrieden, u. er dankte mir. Er glitt in die aufgerollten Taue zurück u. überließ mich der beinahe unmöglichen Aufgabe, für einen eingeborenen blinden Passagier an Bord eines englischen Schoners einen Sachverhalt zu construieren, ohne seinem Entdecker u. Kajütengefährten eine Anklage wegen Verrathes einzuhandeln. Die Atemzüge des Wilden verrieten mir, daß er schlief. Ich fühlte mich versucht, hinauszustürzen u. um Hülfe zu schreien, aber mein Wort war mir vor Gott Verpflichtung, selbst gegenüber einem Inder.

Die Mißlaute von knarrendem Schiffsholze, schwankenden Masten, gespannten Seilen u. flatterndem Segeltuche, von Schritten an Deck, meckernden Ziegen, vorbeihuschenden Ratten u. stampfenden Pumpen, von der bimmelnden Schiffsglocke, Gewusel u. Gelächter aus dem Vorschiff, Kommandos u. Shanties über das Ankerhieven u. Tethys’ ewiges Reich: all das beruhigte mich, während ich darüber nachsann, wie ich Cpt. Molyneux am besten von meiner Unschuld an Mr.D’Arnoqs Plan überzeugen könne (ich muß nun noch wachsamer sein denn je, damit dieses Tagebuch nicht von feindseligen Augen gelesen wird), als ein schriller Schrei, aus der Ferne kommend, aber mit der Geschwindigkeit eines Pfeils herniederrasend, nur wenige Zoll über meiner Koje auf dem Deck verstummte.

Was für ein gräßliches Ende! Ich lag stocksteif in meinem Bette u. vergaß vor Entsetzen zu atmen. Rufe erhoben sich von nah u. fern, Füße trampelten u. aufgeregte Stimmen schrien: «Weckt Dr.Goose!»

«Armer Kerl von Takelage fallen, tot jetzt», flüsterte der Inder, als ich mich anschickte, die Störung zu ergründen. «Sie nichts können tun, Missa Ewing.» Ich wies ihn an, sich versteckt zu halten, u. eilte hinaus. Ich glaube, der blinde Passagier fühlte, wie groß meine Versuchung war, den Zwischenfall dafür zu nutzen, um ihn zu verraten.

Die Mannschaft stand um einen Mann herum, der mit dem Gesicht nach unten am Fuße des Hauptmastes lag. Im schwankenden Lichtschein der Laterne erkannte ich einen der Castilier. (Ich gebe zu, mein erstes Gefühl war Erleichterung, daß nicht Rafael, sondern ein anderer sich zu Tode gestürzt hatte.) Ich hörte den Isländer sagen, der Tote habe beim Kartenspiel die Arraq-Rationen seiner Landsleute gewonnen u. alles vor Beginn seiner Wache ausgetrunken. Henry kam im Nachthemd mit seiner Arzttasche herbei. Er kniete bei der entstellten Gestalt nieder, fühlte nach dem Puls u. schüttelte den Kopf. «Der braucht keinen Arzt mehr.» Mr.Roderick rettete die Stiefel u. die Kleidungsstücke des Castiliers für eine Versteigerung, u. Mankin holte etwas drittklassiges Sackleinen für den Leichnam. (Mr.Boerhaave will das Sackleinen vom Erlöse der Versteigerung absetzen.) Die Janmaate kehrten schweigend ins Vorschiff oder auf ihre Posten zurück, düster gestimmt durch diesen Fingerzeig auf die Vergänglichkeit des Lebens. Henry, Mr.Roderick u. ich sahen zu, wie die Castilier für ihren Landsmann die katholischen Sterberiten celebrierten, bevor sie den Sack zunähten u. den Leichnam unter Thränen u. schwermüthigen Adios!-Rufen der Tiefe übergaben. «Gefühlsselige Welsche», bemerkte Henry u. entbot mir zum zweiten Male eine angenehme Nachtruhe. Ich sehnte mich danach, meinen Freund in das Geheimniß um den Inder einzuweihen, hielt aber meine Zunge im Zaume, um ihn nicht mit meiner Mitthäterschaft zu belasten.

Als ich von dem traurigen Schauplatze zurückkehrte, sah ich, daß in der Kombüse Licht brannte. Finbar schläft dort, «um Langfinger abzuwehren», doch auch er war von den Aufregungen der Nacht wachgerüttelt worden. Mir fiel ein, daß der blinde Passagier vermuthlich seit anderthalb Tagen nichts gegessen hatte – ein furchterregender Gedanke, denn zu welcher bestialischen That könnte ein Wilder nicht von seinem leeren Magen getrieben werden? Möglicherweise würde mein Handeln schon am nächsten Tage gegen mich sprechen, doch ich erzählte dem Koch, bohrender Hunger raube mir den Schlaf, u. ergatterte (wegen der ungewöhnlichen Stunde für das Doppelte des üblichen Preises) einen Teller mit Sauerkraut, Wurst u. süßen Brötchen so hart wie Kanonenkugeln.

Als ich in die enge Kajüte zurückkam, dankte mir der Wilde für meine Fürsorge u. aß die derbe Hausmannskost, als wäre es ein Präsidentenfestmahl. Ich verriet ihm meine wahren Beweggründe nicht, nämlich, je voller sein Magen, desto geringer seine Neigung, mich zu verspeisen, sondern frug ihn statt dessen, warum er mich während seiner Auspeitschung angelächelt habe. «Schmerz ist stark, ja, aber Freundauge mehr stark.» Ich bedeutete ihm, daß er so gut wie nichts über mich wisse u. ich nichts über ihn. Er zeigte auf seine Augen u. dann auf die meinen, als wäre diese einfache Geste eine umfassende Erklärung.