Die komplette Kühlfach-Krimi-Reihe - Jutta Profijt - E-Book

Die komplette Kühlfach-Krimi-Reihe E-Book

Jutta Profijt

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  • Herausgeber: dtv
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

Diese Ausgabe enthält folgende Einzeltitel: Kühlfach 4, Im Kühlfach nebenan, Kühlfach zu vermieten, Kühlfach Betreten verboten, Knast oder Kühlfach Kühlfach 4: Dr. Martin Gänsewein trägt Dufflecoat, fährt Ente und sammelt Stadtpläne. Außerdem hat er täglich mit Leichen zu tun, denn er ist Rechtsmediziner - und zwar ein gewissenhafter. Wo die Seelen der Verstorbenen bleiben, überlässt er den Glaubenseinrichtungen der Angehörigen. Bis die Seele eines kleinkriminellen Prolls sich im Institut einnistet und behauptet, ermordet worden zu sein. Pascha verlangt von Gänsewein die Aufnahme der Ermittlungen ... Im Kühlfach nebenan: Pascha aus Kühlfach 4 macht genau da weiter, wo er aufgehört hat: Rechtsmediziner Dr. Martin Gänsewein erholt sich im Krankenhaus von seiner schweren Verletzung. Pascha geistert durch die Gänge, bis er auf Ordensschwester Marlene triff t, die nach ihrem Ableben bei einem Brand im baufälligen Kloster den Weg in den Himmel noch nicht gefunden hat. Pascha ist hocherfreut über die Gesellschaft, auch wenn »die Tussi ausgerechnet eine Nonne ist«. Dass es bei dem Klosterbrand nicht mit rechten Dingen zugegangen ist, wittert seine Spürnase natürlich sofort. Gemeinsam mit dem noch rekonvaleszenten Rechtsmediziner und seiner Nun-endlich-Freundin Birgit will Pascha die Wahrheit ans Licht bringen und gerät dabei schnell in eine brenzlige Situation. Kühlfach zu vermieten: Eine Hitzewelle rollt über Köln. Die Leute sterben wie die Fliegen und die Stadt weiß nicht mehr, wohin mit den Leichen. Da hat der profitgierige neue Leiter des Rechtsmedizinischen Instituts eine folgenschwere Idee: Er will Kühlfächer an Bestattungsunternehmen vermieten. Ab sofort hält das Chaos Einzug in die sonst so geordnete Welt von Rechtsmediziner Dr. Martin Gänsewein: Unbefugte gehen am RMI ein und aus, Leichen oder Teile von ihnen verschwinden und dubiose Obduktionsbefunde bei anonymen Toten häufen sich. Daher beauftragt Martin den prollig-nervigen Geist Pascha, der Sache auf den Grund zu gehen. Das passt dem gerade gar nicht, wo er doch auf Liebespfaden wandelt ... Kühlfach Betreten verboten: Pascha, der prollige Autoknacker-Geist, widmet sich mit Hingabe dem Abhören des Polizeifunks und ist sofort bei einem schweren Unfall zur Stelle. Ein Auto ist abends von der Straße abgekommen. Vier Kinder wurden schwer verletzt, die Fahrerin ist verschwunden. Im Krankenhaus werden die Kinder ins künstliche Koma versetzt, sodass ihre Seelen munter durch die Gegend schweifen können. Die Kurzen erzählen Pascha, dass die Lehrerin entführt wurde. Pascha geht der Flohzirkus um ihn herum mächtig auf den Geist. Aber auch kriminalistisch ist er ziemlich in Anspruch genommen, denn gemeinsam mit den Kindern sucht er die verschwundene Lehrerin. Schließlich braucht er die Hilfe von Dr. Gänsewein, der eigentlich ganz anderes im Kopf hat: Er wird Vater! Knast oder Kühlfach: Dr. Martin Gänseweins Freund Gregor steht unter Mordverdacht. Alle Indizien sprechen gegen ihn und Gregor schweigt zu den Vorwürfen. Auf der Suche nach der Wahrheit stößt Pascha bald auf eine heiße Spur: Die Ermordete war Journalistin und recherchierte wegen mysteriöser Todesfälle in der Seniorenresidenz, in der ihr Vater lebt. Gleichzeitig geraten Gregors Kontakte zu einem zwielichtigen Nachtclubbesitzer in den Fokus der Ermittlungen. Martin ist bei der Aufklärung des Falls keine große Hilfe, denn der werdende Vater ist völlig ausgelastet mit Geburtsvorbereitungskursen, Kreißsaalbesichtigungen, Babyausstattungskatalogen und nicht enden wollender Namenssuche.

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Seitenzahl: 1730

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Kühlfach 4:

Dr. Martin Gänsewein trägt Dufflecoat, fährt Ente und sammelt Stadtpläne. Außerdem hat er täglich mit Leichen zu tun, denn er ist Rechtsmediziner – und zwar ein gewissenhafter. Wo die Seelen der Verstorbenen bleiben, überlässt er den Glaubenseinrichtungen der Angehörigen. Bis die Seele eines kleinkriminellen Prolls sich im Institut einnistet und behauptet, ermordet worden zu sein. Pascha verlangt von Gänsewein die Aufnahme der Ermittlungen …

Im Kühlfach nebenan:

Pascha aus Kühlfach 4 macht genau da weiter, wo er aufgehört hat: Rechtsmediziner Dr. Martin Gänsewein erholt sich im Krankenhaus von seiner schweren Verletzung. Pascha geistert durch die Gänge, bis er auf Ordensschwester Marlene trifft, die nach ihrem Ableben bei einem Brand im baufälligen Kloster den Weg in den Himmel noch nicht gefunden hat. Pascha ist hocherfreut über die Gesellschaft, auch wenn »die Tussi ausgerechnet eine Nonne ist«. Dass es bei dem Klosterbrand nicht mit rechten Dingen zugegangen ist, wittert seine Spürnase natürlich sofort. Gemeinsam mit dem noch rekonvaleszenten Rechtsmediziner und seiner Nun-endlich-Freundin Birgit will Pascha die Wahrheit ans Licht bringen und gerät dabei schnell in eine brenzlige Situation.

Kühlfach zu vermieten:

Eine Hitzewelle rollt über Köln. Die Leute sterben wie die Fliegen und die Stadt weiß nicht mehr, wohin mit den Leichen. Da hat der profitgierige neue Leiter des Rechtsmedizinischen Instituts eine folgenschwere Idee: Er will Kühlfächer an Bestattungsunternehmen vermieten. Ab sofort hält das Chaos Einzug in die sonst so geordnete Welt von Rechtsmediziner Dr. Martin Gänsewein: Unbefugte gehen am RMI ein und aus, Leichen oder Teile von ihnen verschwinden und dubiose Obduktionsbefunde bei anonymen Toten häufen sich. Daher beauftragt Martin den prollig-nervigen Geist Pascha, der Sache auf den Grund zu gehen. Das passt dem gerade gar nicht, wo er doch auf Liebespfaden wandelt …

Kühlfach Betreten verboten:

Pascha, der prollige Autoknacker-Geist, widmet sich mit Hingabe dem Abhören des Polizeifunks und ist sofort bei einem schweren Unfall zur Stelle. Ein Auto ist abends von der Straße abgekommen. Vier Kinder wurden schwer verletzt, die Fahrerin ist verschwunden. Im Krankenhaus werden die Kinder ins künstliche Koma versetzt, sodass ihre Seelen munter durch die Gegend schweifen können. Die Kurzen erzählen Pascha, dass die Lehrerin entführt wurde. Pascha geht der Flohzirkus um ihn herum mächtig auf den Geist. Aber auch kriminalistisch ist er ziemlich in Anspruch genommen, denn gemeinsam mit den Kindern sucht er die verschwundene Lehrerin. Schließlich braucht er die Hilfe von Dr. Gänsewein, der eigentlich ganz anderes im Kopf hat: Er wird Vater!

Knast oder Kühlfach:

Dr. Martin Gänseweins Freund Gregor steht unter Mordverdacht. Alle Indizien sprechen gegen ihn und Gregor schweigt zu den Vorwürfen. Auf der Suche nach der Wahrheit stößt Pascha bald auf eine heiße Spur: Die Ermordete war Journalistin und recherchierte wegen mysteriöser Todesfälle in der Seniorenresidenz, in der ihr Vater lebt. Gleichzeitig geraten Gregors Kontakte zu einem zwielichtigen Nachtclubbesitzer in den Fokus der Ermittlungen. Martin ist bei der Aufklärung des Falls keine große Hilfe, denn der werdende Vater ist völlig ausgelastet mit Geburtsvorbereitungskursen, Kreißsaalbesichtigungen, Babyausstattungskatalogen und nicht enden wollender Namenssuche.

Jutta Profijt

Die komplette Kühlfach-Krimi-Reihe

Buch 1: Kühlfach 4 Buch 2: Im Kühlfach nebenan Buch 3: Kühlfach zu vermieten Buch 4: Kühlfach betreten verboten Buch 5: Knast oder Kühlfach

Die komplette Kühlfach-Krimi-Reihe

Band 1: Kühlfach 4

PROLOG

Ich hoffe, dass Sie diesen Bericht von Anfang bis Ende lesen werden, denn es ist die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, und so weiter, Sie kennen den Spruch bestimmt. Mir persönlich wäre es ja egal, was Sie über die Dinge denken, die sich in den letzten zwei Wochen ereignet haben, aber für meinen Freund Martin ist es wichtig, dass Sie den ganzen Quatsch, den Sie über ihn gehört haben, endlich als das erkennen, was es ist: ein Haufen gemeiner Unterstellungen und voreiliger Analysen von Hobbypsychiatern, also prasseldummer Psychokram – ich hätte normalerweise Psychokacke geschrieben, aber Martin ist ein Verfechter gehobener Ausdrucksweisen und so gebe ich mir halt Mühe. Überhaupt sind wir so verschieden, wie zwei Menschen nur sein können. Wie Feuer und Wasser, wie Himmel und Erde. Den tieferen Sinn des letzten Vergleichs werden Sie später noch verstehen, also lesen Sie rapido weiter! Dies ist der Versuch, den Ruf meines Freundes Martin Gänsewein wiederherzustellen. Des einzigen Freundes, den ich habe und den ich – aufgrund der besonderen Umstände meiner jetzigen Existenz – wohl je haben werde.

EINS

Der Tag, an dem, wie ich heute weiß, alles anfing, begann übel, sozusagen auf dem untersten Level, ich hätte also gewarnt sein müssen. Allerdings, und das muss ich zu meiner Entschuldigung sagen, fingen die meisten Tage so an. Sowieso nie vor Mittag und mit einem widerlichen Geschmack im Mund, einem dicken, flusigen Otterpelz auf der Zunge, einem quälenden Heimwerkerwetthämmern im Kopf und dem üblichen Schmacht nach einer Zigarette, einem Bier und einer Frau.

Bier war keins da, für die Zigarette musste ich aufstehen und eine Frau hatte ich schon länger nicht mehr gehabt. Während ich noch ein bisschen im Restschlaf vor mich hin dämmerte, fiel es mir plötzlich ein: Ich war verdammt spät dran. Das war an den meisten Tagen kein Problem, aber an diesem Tag hatte ich einen wichtigen Termin. Einen Auftrag. Einen wichtigen Auftrag von einem wichtigen Mann. Und ich wollte alles richtig machen und hatte schon verpennt! Ich konnte von Glück sagen, dass der Druck in meinem Ablassrohr meinen seligen Schlaf unterbrochen hatte. Natürlich war es nicht der Druck im Rohr, sondern in der Blase, würde Martin jetzt sagen, denn Martin ist gern präzise. Aber damals kannte ich ihn noch gar nicht. Ich sollte ihn erst ein paar Tage später unter für mich ausgesprochen unerfreulichen Umständen kennenlernen und formulierte daher biologische Gesetzmäßigkeiten noch reichlich laienhaft und somit unpräzise.

Hätte ich geahnt, dass an diesem Tag die Weichen für den Rest meines Lebens gestellt wurden, wäre ich natürlich liegen geblieben. Aber ich hatte keine Ahnung, sehe auch jetzt im Rückblick keine Anzeichen, die auf die kommende Katastrophe hingedeutet hätten. Ich stand also auf und genauso blind, wie ich ins Bad schlurfte, lief ich in mein Verderben.

Normalerweise riskiere ich um diese Uhrzeit noch keinen Blick in den Spiegel, aber da ich schließlich noch etwas vorhatte, unterzog ich meine Erscheinung einer kritischen Inspektion. Nicht dass Sie jetzt meinen, ich würde kurz nach dem Aufwachen schon in Worten wie »kritisch« und »Inspektion« denken, auch diese Worte habe ich erst durch Martin wieder in meinen aktiven Wortschatz zurückgeholt. Ich denke kurz vor dem Duschen überhaupt nicht viel und wenn, dann nur in einsilbigen Grunz- und Brummlauten.

Ich blinzelte also einfach so lange mit den verklebten Augen, bis ich erstens erkennen konnte, wo der Spiegel hing, und zweitens einen mittleren Schock erlitt, als die Visage, die mich anstarrte, klarer wurde.

Mit dem schärferen Blick kam die Erinnerung an Bennies neues Messer zurück. Er hatte mit dem Ding herumgefuchtelt und etwas gesucht, das er zerschneiden konnte, um zu beweisen, wie scharf die Klinge ist. Seine suchenden Augen fanden – mich. Ich stand in Reichweite, er griff mit der linken Hand in meine Haare, und mit einem blitzschnellen Schnitt hatte er mir eine neue Frisur verpasst. Weil ich zuckte, und nur deshalb, betonte Bennie später, schlitzte die Klinge im Anschluss an den Haarschnitt auch noch meine linke Augenbraue auf. Eine dünne Spur getrockneten Blutes zog sich also auf dem Gesicht im Spiegel von der Augenbraue bis zum Kinn, und bei der Erkenntnis, dass diese hässliche Fratze dort meine eigene war, erschrak ich wirklich sehr.

Ich verplanschte eine Menge warmes Wasser, bis ich wieder einigermaßen zivilisiert aussah, wobei ich die letzten Jahre darauf verwendet hatte, mir genau diese, aus meinem Elternhaus stammende Zivilisation abzutrainieren. Aber mein wichtiger Auftrag erforderte ein unauffälliges Äußeres, und daher wählte ich nach der Dusche eine blaue Jeans, eine dunkle Jacke und eine Dachpappe, die das Ergebnis der Messerstecherei auf meinem Kopf einigermaßen verbarg. Ein prüfender Blick in den staubigen Spiegel meines wackeligen Kleiderschranks zeigte das Bild, für das ich mir solche Mühe gegeben hatte: Einen mittelgroßen, unauffälligen, etwas dürren Typen mit halblangen Haaren, die ich auch noch unter die Mütze steckte. Straßenköterblond mit unauffälligem Profil, gerader Nase, schwach ausgeprägtem Kinn und hängenden Schultern. Ein Allerweltstyp, den auch die neugierigsten Augenzeugen nicht konkret würden beschreiben können. So wollte ich aussehen, weil ich dachte, dass mir das irgendwie helfen würde. Alles Blödsinn!

Ich machte mich zu Fuß auf den Weg zum Parkplatz des »Congress-Centrum Coeln«, wie das auf Neudeutsch heißt. Wenn man ein Auto klauen will, ist es nicht ratsam, mit dem eigenen Wagen hin- und mit dem geklauten Auto wegzufahren. Die Bullen sind nicht so doof, wie manche Leute meinen. Die kommen schnell auf die Idee, die in der Nähe des Tatortes abgestellten Karren zu überprüfen, und dann kriegen sie dich schneller, als du gucken kannst. Sollten Sie sich merken, ist ein guter Rat vom Fachmann.

Öffentliche Verkehrsmittel sind vollkommen unerträglich. Deshalb ging ich ging zu Fuß, lief mir die Gehwerkzeuge platt und bekam langsam Blasen an den Fersen, weil ich das Herumpudeln nicht gewöhnt bin. Wofür hat der liebe Herrgott schließlich die Autos erfunden? Endlich kam ich also zu dem genannten Parkplatz und tatsächlich stand der voll mit den schärfsten Orgeln, die die Schwaben oder die Bayern oder welche Trachtenjodler auch immer in ihren schicken High-Tech-Fabriken zusammenschrauben. Ein Ding dicker als das nächste, tiefer, schneller, geiler. Sonderausstattungen, limitierte Editionen und Einzelmodelle nach Kundenwunsch. Fünfzig feuchte Träume auf einem halböffentlichen Parkplatz ohne nennenswerte Bewachung. Ein Parkplatz, dessen Qualifikation nicht die Sicherheit ist, sondern die Nähe zum Haupteingang. Ein Parkplatz, dessen Benutzung nur den VIP-Gästen offensteht. Ein Parkplatz mit einem einzigen Videoauge für mehrere Hundert Quadratmeter, einer Schranke, die jeder halbwegs clevere Primelkopf mit Mamis Super-Fitness-Kundenkarte öffnen kann, also die typisch deutsche Sicherheitskatastrophe. Kein Problembewusstsein, obwohl jedes Jahr in Deutschland über fünfzigtausend Autos geklaut werden. Vor Einführung der Wegfahrsperre waren es übrigens fast doppelt so viele. Und ich gehöre zu denen, die auch die kniffligen Fälle erledigen.

Ich ging also in der einsetzenden Abenddämmerung in meinem unauffälligen Outfit mit unauffälligem Schritt möglichst unauffällig über den Parkplatz und blickte mich um – natürlich unauffällig. Und tatsächlich, da war er. Bis zu diesem Moment hätte ich nicht geglaubt, dass es wirklich Menschen gibt, die so durch und durch unterirdisch dämlich sind. Menschen, die einen Mercedes SLR auf dem unbewachten Parkplatz vor einem Kongresszentrum abstellen und sich einbilden, dass ihre Karre noch da steht, wenn sie ihre Mister-Wichtig-Convention abgenudelt haben und vor die Tür treten, um sich in ihre Halbe-Million-Euro-Schüssel zu klemmen und nach Hause zu Mutti zu gondeln. Aber tatsächlich, zwischen den dicken Daimlern, Jaguars, BMWs und sogar einem Bentley stand er, der SLR, von dem der Auftraggeber mir berichtet hatte. Den wollte Olli haben.

Olli ist ein Autoschieber. Natürlich steht er nicht in den Gelben Seiten unter dem Eintrag »Autoschieber«. Er steht unter »Kfz-Werkstatt, An- und Verkauf«, und das ist im Prinzip auch richtig. Nur vertickt er weitaus mehr Autos als er ankauft, weil die Beschaffung der Differenz ohne Kaufvertrag und ähnlich lästigem Papierkram vonstatten – geht. Olli ist eine ganz große Nummer mit Kontakten in den Osten. Bestimmt denken Sie jetzt sofort an Russland oder Polen, aber das sind nicht seine Abnehmerländer. Jede Putzfrau macht inzwischen Geschäfte mit den Russen und den Polen, die sind so etabliert, dass sie schon wieder spießig sind. Olli macht Geschäfte mit einer Gang aus einem der kleinen Länder, ich kenne mich in der Ecke nicht so gut aus, den Namen habe ich mir nicht gemerkt. Ist ja auch egal. Jedenfalls kennt Olli die gesamte Nord-Süd-Ost-West-Autoschieber-Szene wie seine eigene Gesäßtasche. Mich kennt er auch gut, ich habe nämlich mal für ihn gearbeitet, bis wir wegen einer dummen Sache aneinandergeraten sind. Normalerweise wäre es weit unter seiner Würde, meine Existenz jemals wieder zur Kenntnis zu nehmen, aber gestern Abend hat er mir einen seiner Handlanger vorbeigeschickt. Der gab mir den Auftrag, in dessen Ausführung ich mich gerade befand.

Ich will keine Details verraten, denn einen SLR zu klauen ist eine heikle Kiste, und ich bilde mir etwas darauf ein, als einer der wenigen die notwendigen Tricks und Kniffe zu kennen. Deshalb verrate ich sie auch nicht weiter, obwohl mir das Wissen ja nun leider nichts mehr nützen wird. Aber um die Sache kurz zu machen: Ich hab das Ding vom Parkplatz weggeklaut. Leider war es durch meinen gesegneten Schlaf und den langen Fußweg inzwischen schon etwas später als geplant und die Geldsäcke, deren fahrbare Untersätze auf dem Parkplatz standen, traten gerade in Zinnsoldatenmanier und dreiteiliger Einheitskleidung vor die Tür, als ich den Motor startete. Nun ist der Sound, den ein SLR macht, nicht mit dem eines beliebigen Zweit- oder Drittwagens zu verwechseln, also drehten sich fünfzig Köpfe zu mir um, als ich die Kiste aus der Parkbucht jagte. Im Rückspiegel konnte ich noch eine angedeutete La-Ola-Welle erkennen, als neunundvierzig Arme in meine Richtung zeigten und eine Hand in die Jacketttasche fuhr, vermutlich um ein Handy rauszuholen und die Bullen zu rufen. Aber dann verlor ich das Interesse an der Szene hinter mir und konzentrierte mich darauf, mein neues Gefährt zügig, aber nicht zu schnell durch die dunkle Innenstadt Richtung Autobahnauffahrt zu lenken. In der Rushhour an einem Winterabend bei Dunkelheit und eisigem Nieselregen verschwindet selbst ein Vierzigtonner schneller im Gewühl als ein Nichtschwimmer im Niagarafall, und in dem Moment hätte ich glatt glauben können, dass alles gut wird.

Ich widerstand der Versuchung, zu schnell zu fahren, andere Fahrer zu nötigen, rechts zu überholen, die Spur im letzten Moment vor dem Abbiegen zu wechseln und allen anderen Verlockungen, die Autofahren erst richtig hypertonisch krokofantös machen, denn ich wollte ja nicht auffallen. Wenn man in einem geklauten Auto sitzt, sollte man korrekter fahren als bei der Führerscheinprüfung. Ich hielt mich dran. Ich brauchte siebenundzwanzig Minuten bis zu dem vereinbarten Treffpunkt, war fünfundvierzig Sekunden vor der vereinbarten Zeit da. Mist! Ich hätte noch ein paar Minuten Zeit gebraucht, denn bevor man eine geklaute Karre weiterreicht, macht man sie leer. Man sucht alles aus Handschuhfach, Ablagen, Kofferraum und unter den Sitzen hervor, was man noch selbst brauchen oder anderweitig verticken kann. Jetzt war der Turbodurchgang gefragt. Handschuhfach: Straßenkarten, Knebelsäcke, Sonnenbrille, Schreibset. Unter den Sitzen: ein Bündel Geldscheine, Summe auf die Schnelle nicht feststellbar, egal, einstecken. Im Kofferraum: eine nackte Frau.

Ich schlug den Kofferraumdeckel zu, hyperventilierte ein bisschen, öffnete die Klappe wieder und sah sie immer noch dort liegen. Halb auf dem Rücken, die Knie voll angewinkelt, die Arme neben dem Körper, den Kopf etwas zur Seite gedreht. Sie war klein und zierlich, füllte den winzigen Kofferraum aber total aus. Ich stupste sie mit dem Finger an, sie war eiskalt. Ich schob den einen Arm ein bisschen zur Seite und bekam einen riesigen Schreck, als ich die violette Unterseite des Arms sah. Ich legte einen Finger an die Stelle, an der ich die Halsschlagader vermutete: nichts. Sie hatte Tätowierungen um die Fußknöchel, sie war ziemlich hübsch, wenn auch leider dick geschminkt, und sie war mausetot. Ich schloss den Kofferraumdeckel wieder über ihr, vorsichtig, als ob es ihr etwas ausgemacht hätte, wenn ich das Ding mit einem lauten Knall zuschlug. Dann lehnte ich mich an die Fahrertür, fummelte eine Zigarette aus der Jacke, zündete sie an und inhalierte so tief, dass die halbe Fluppe mit einem Mal weg war.

Ich musste sie wegschalten. Die Frau, nicht die Kippe. Man gibt einem Autoschieber kein Auto mit einer Leiche im Kofferraum, noch nicht einmal, wenn es ein SLR ist. Oder erst recht nicht einen SLR? Ich war verwirrt, aber ich wusste, dass die Frau verschwinden musste. Freiwillig würde sie mir den Gefallen nicht tun, also war es Zeit, dass ich mir eine wirklich schlaue Lösung für dieses wirklich ungewöhnliche Problem einfallen ließ, und zwar rapido. Ich nahm noch einen sehr tiefen Zug, warf die Kippe weg und wollte einsteigen, als ich eine Hand auf der Schulter spürte. Ich zuckte so heftig zusammen, dass ich mir das Kinn am Wagendach anschlug.

»Hey, Pascha, du bist pünktlich. Das ist gut.«

Der Typ, der mich da begriffelte und mir mit seinem Pädagogengewäsch kam, hieß Kevin, trug einen Kinnbart, der aussah, als hätte seine Freundin ihm den mit einem feinen Eyeliner auf den Kiefer gemalt und grinste ständig. Vielleicht litt er an Gesichtslähmung. Ich fand ihn jedenfalls immer widerlich und jetzt erst recht. Er hielt die Hand auf.

Ich japste nach Luft und jaulte auf, weil ich mir nicht nur das Kinn angestoßen, sondern auch noch auf die Zunge gebissen hatte, und überlegte krampfhaft, was ich noch tun könnte, um erst die Leiche aus dem Auto verschwinden zu lassen, bevor Kevin die Kiste zu Olli brachte. Es half nichts, mein Laufwerk hatte einen Hänger, die Gedanken wollten keine klare Form oder Richtung annehmen, also ließ ich völlig entkräftet die Schlüssel in Kevins Hand fallen und schüttelte den Kopf, als er mir anbot, dass sein Kumpel mich zurück in die Stadt mitnehmen könnte. Ich stand geschlagene fünf Minuten unbeweglich auf dem Parkplatz, bis ich mich dazu durchringen konnte, die Überbleibsel meines fettigen Mitternachtsburgers in die Schüssel des Raststättenklos zu kotzen. Danach ging es mir etwas besser und ich machte mich auf den Weg nach Hause.

Diesmal mussten es doch die öffentlichen Verkehrsmittel sein und ich dachte, was jetzt wohl passieren würde. Kevin hatte mehrere Hundert PS unter dem Hintern und würde einen Unfall bauen, bei dem das Auto Feuer fing, das sowohl Kevin als auch die Tote in feine Asche verwandelte. Das war meine Lieblingsvision. Es gab aber auch andere. Kevin fuhr direkt zu Olli, der blickte in den Kofferraum, ärgerte sich darüber, dass ich ihm eine Mumie mitgeliefert hatte, die nicht bestellt war, und kippte die Leiche umgehend bei mir vor der Haustür ab. Oder er verteilte Handzettel mit einem Foto der Toten, auf denen stand: »Sie vermissen diese Frau? Fragen Sie Pascha, Telefon …«. Am wahrscheinlichsten allerdings war wohl, dass entweder Kevin oder Olli die Leiche im Kofferraum entdeckten, zum nächsten Waldweg fuhren, sie dort ausluden und dann den Wagen, ganz wie geplant, Richtung Osten vertickten. Immerhin hatte ich keine Blutlachen oder sonstige Verunreinigungen im Kofferraum gesehen, also konnte das Geschäft mit dem fast nigelnagelneuen SLR ganz normal über die Bühne gehen.

Bei diesem beruhigenden Gedanken angekommen, stieg ich aus dem überfüllten Bus, ging die kurze Strecke zu meiner Lieblings-Spielhalle und warf ein paar Münzen in die Automaten. Langsam konnte ich wieder normal atmen, nur die Zunge tat höllisch weh, als der heiße Kaffee mit vier Löffeln Zucker daran entlanglief.

Ich zockte fünf Stunden lang und besaß danach keinen einzigen Cent mehr. Nicht nur mein ganzes Geld einschließlich der fünfhundert Peitschen aus dem SLR war draufgegangen, schlimmer noch: Ich hatte Mehmet, der den Laden führt, mehrere Kredite aus der Tasche geleiert, sodass meine Schulden sich am Ende des Tages auf schlappe neunzehnhundert Euro beliefen. Nicht nur Automatenschulden, aber das dürfte den Cleveren unter Ihnen bereits klar geworden sein. Mehmet war wütend, weil er offiziell keine Kredite geben darf und jetzt selbst für den Verlust geradestehen musste. Ich hatte ihm dauernd von einem großen Deal erzählt und musste nun versprechen, ihm die Kohle zu bringen, sobald ich meinen Anteil an dem Geschäft erhalten hatte. Ich versprach’s und hoffte, die versprochene Kohle von Olli tatsächlich zu bekommen. Achtundvierzig Stunden betrug meine Schonzeit, danach würde Mehmet auf die Jagd gehen. Der Tag hatte beschissen begonnen, er hatte einen katastrophalen Höhepunkt gehabt, und er endete im Desaster.

Weder am nächsten noch am übernächsten Tag hörte ich von Kevin oder Olli, und das machte mich langsam nervös. Die achtundvierzig Stunden, die Mehmet mir gewährt hatte, liefen bald aus und ich wusste nicht, wie ich die Schulden bezahlen sollte. In der Wohnung hatte ich noch fünfzig Euro gefunden, meine eiserne Reserve in den zusammengerollten Sportsocken, die ich schon seit Jahren nicht mehr trug, aber wenn ich Mehmet mein Sockengeld gab, war ich völlig blank und er war immer noch sauer, das war also keine Lösung. Ich hockte abwechselnd bei mir zu Hause und in meinen liebsten Kneipen rum, wartete darauf, dass Kevin oder ein anderer Laufbursche von Olli auftauchte, um mir die versprochenen zweitausend Euronen zu geben, und wurde kurz vor Ablauf des Ultimatums nervös. Noch nervöser, als ich ohnehin schon war. Ich wollte nicht wie ein Schlachtvieh dumm rumstehen und auf den Typ mit dem Bolzenschussgerät warten, also setzte ich mich in die nächstbeste Straßenbahn, fuhr einfach drauflos, wechselte Linie und Richtung, fuhr zurück, nahm dann den Bus und fuhr kreuz und quer durch die Stadt. Ich wechselte wieder in die Straßenbahn, wo es abwechselnd eiskalt oder brüllend heiß war, und als ich einen Sitzplatz am Fenster ergatterte und den Beschlag von der Scheibe wischte, lagen schon zwei Zentimeter Schnee. Auch das noch. Ich hasse Schnee. Wer schnelle Autos liebt, muss Schnee hassen. Ich stieg an einem belebten Platz mit einem Kiosk aus, legte das Sockengeld in alkoholischen Getränken an, nahm eine Bahn Richtung Innenstadt und fing schon während der Fahrt an, mich volllaufen zu lassen. Irgendwo stieg ich aus, natürlich hatte ich das große Glück, mitten in einer Straßenbaustelle zu landen. Hatte gar nicht gewusst, dass in unserem Land noch in Infrastruktur investiert wird. Ich kraxelte provisorische Holztreppen hoch, drängelte mich mit anderen Fahrgästen durch Engstellen, verlief mich und nahm irgendwann eine Überführung, an der ein Schild »Richtung Innenstadt« hing. Mein Sichtfeld hatte sich inzwischen dramatisch verkleinert, die Geräusche aus der Umgebung erreichten meine Horchbretter wie aus weiter Ferne, aber immerhin machte ich mir keine allzu großen Sorgen mehr wegen meiner Schulden.

Den Stoß in den Rücken spürte ich trotz Vollrausch. Er erwischte mich in einem denkbar ungünstigen Moment. Vor mir lagen zwei abwärtsführende Stufen und ein provisorisches Geländer. Mein Schritt wurde durch den Stoß etwas weiter als geplant, dadurch verpasste ich die erste Stufe. Die zweite war schneebedeckt, deshalb glatt, und so rutschte mein profilloser Schuh über die Kante. Das dünne Brett, das als Geländer dienen sollte, hatte ungefähr so viel Halt wie ein Abschleppseil aus Hosengummi. Der Nagel, der an der linken Seite die Verbindung zum Pfeiler herstellen sollte, gab sofort und ohne sich zu zieren nach, der rechte folgte kurz darauf. Meine Beobachtungsgabe war in diesen Sekunden so unbeschreiblich gut wie nie zuvor, und vielleicht hätte das allein mich schon stutzig machen sollen, aber dazu hatte ich gar keine Zeit. Ich rutschte mit den Füßen voran durch das Geländer, kippte nach hinten und schlug mit dem Hinterkopf unglaublich hart auf dem Holz der Brücke auf, bevor ich komplett absemmelte. Meinen Sturz in die Tiefe erlebte ich in Slow Motion. Um irgendeine Achse kreiselnd donnerte ich auf den sechs Meter tiefer liegenden Plattenweg. Das Geräusch, das mein Körper und vor allem meine Denkschüssel beim Aufprall machte, erschreckte sogar die Leute, die meinen Sturz gar nicht hatten sehen können, weil sie mir den Rücken zuwandten. Ich konnte, da ich auf dem Bauch, aber mit dem Gesicht zur Seite lag, noch kurz einen Blick auf Gesichter erhaschen, die sich mir zuwandten, dann sah ich nichts mehr.

Die Dunkelheit währte nur einen kurzen Moment, denn plötzlich, nach schätzungsweise zehn Sekunden, konnte ich die ganze Szenerie sehr klar beobachten – und zwar von oben. Nun haben wir ja alle schon zur Genüge diese Nahtod-Gespenster gesehen, die von Talkshow zu Talkshow geistern, um von ihren geheimnisvollen Erfahrungen zu berichten. Sie betrachten ihren Körper von außen, dann kommt der Tunnel und das Licht, blablabla. Ich dachte mir also noch nicht viel dabei, als ich über meiner verrenkt herumliegenden äußeren Hülle schwebte, und wartete auf den Tunnel, das Licht und darauf, endlich wieder in meinem eigenen Körper aufzuwachen. So haben diese wiedergeborenen Fernseh-Fuzzis das schließlich immer beschrieben.

Ich hing also so herum und wartete. Beobachtete, wie Leute meinen Körper anstießen, wie jemand sich wichtig machte, etwas von Rettungssanitäter faselte, mir ans Handgelenk und die Halsschlagader fasste und dann mit wichtigem Gesichtsausdruck dem Mann, der die Polizei informierte, das Handy aus der Hand nahm und hineinsagte, der Verunfallte sei tot.

Moment mal, dachte ich mir, jetzt übertreibt der Typ aber. Er darf sich gern wichtig machen, wenn er meint, dass er die Weiber damit beeindruckt, aber irgendwo muss doch bitteschön die Grenze sein. Zumal seine theatralische Aufführung noch nicht einmal dazu führte, dass die holde Weiblichkeit sich ihm schluchzend an den Hals warf. Die Umstehenden taten einfach das, was Umstehende so tun: Sie standen umher und glotzten.

Ich will Sie nicht mit allen Details langweilen, nur das Wichtigste in Kürze: Die Polizei kam, registrierte, dass ich von der provisorischen Baustellen-Überführung heruntergefallen war, stellte – wie ich immer noch meinte, unzutreffenderweise – meinen Tod fest und rief den Rechtsmediziner.

»Hallo Rolf«, begrüßte der kleine, pummelige Mann im dunkelblauen Dufflecoat (wirklich, ich schwör’s, der kam im Dufflecoat) den Schutzpolizisten, stellte seine Tasche ab und überprüfte meinen Körper nach Lebenszeichen. »Hallo Martin«, antwortete Rolf, der Polizist.

»Wie lange liegt er denn schon hier?«, fragte Duffie in die gaffende Menge, die jetzt hinter dem inzwischen angebrachten rot-weißen Absperrband mit den frierenden Füßen scharrte.

»Siebzehn Minuten«, antwortete der eifrige Held mit der Rettungserfahrung. Klugscheißer.

»Unfall oder Nachhilfe?«, fragte Duffie.

»Unklar«, entgegnete ein Typ in Zivil, der die Anweisungen gegeben hatte, wo die rot-weißen Bänder angebracht wurden, und der überhaupt den Eindruck machte, hier das Sagen zu haben.

Polizisten wuselten herum, machten tausend Fotos von mir, von der Brücke, dem Geländer und der Flasche, die mir aus der Hand gefallen war. Sie gingen den Weg ab, den ich gekommen war, maßen Längen und Winkel und taten alle furchtbar beschäftigt. Duffie, also Martin, kniete sich neben mich in den leise rieselnden Schnee, betrachtete mich von oben bis unten, zum Teil sogar durch eine Lupe, die er aus seinem großen Koffer holte. Er suchte jeden Zentimeter des Kopfes ab, betrachtete besonders aufmerksam die Stelle, an der der Hinterkopf auf die Holzbohlen gekracht war, kroch mit dem Gesicht fast auf dem Boden herum, als er versuchte, so viel wie möglich von der linken Gesichtshälfte zu sehen, auf der ich lag, bevor er mich endlich umdrehte. Dann lief die Untersuchung noch mal auf der jetzt sichtbaren Vorderseite ab, wieder mit Lupe, und endlich, endlich hatte er genug. Er legte das Glotzglas zurück in seinen Koffer, sah sich suchend um, entdeckte, was er gesucht hatte und machte ein Zeichen mit der linken Hand. Zwei Männer kamen, steckten meinen Körper in eine Horizontalsänfte und schleppten mich weg.

Ich war, wie Sie sich wohl denken können, komplett durch den Wind. Die Nahtod-Surfer hatten nie davon gesprochen, dass die ganze Geschichte so lange dauert. Dass Leute kommen, ihren Tod feststellen, dass Rechtsmediziner sie wie Insekten durch die Lupe anstarren, dass sie in Särge gesteckt und abtransportiert werden.

Abtransportiert – wohin?, fragte ich mich plötzlich und fühlte Panik aufkommen. Wie zum Teufel sollte ich zurück in meinen Körper finden, wenn ich nicht wusste, wo er war? Sie können sich meinen Schreck vorstellen. Ich sauste also hinter den zwei Gestalten her, die den Sarg mit meinem Körper gerade in ein Auto luden. Zum Glück schlitterte ich, im Gegensatz zu den Sargträgern, nicht über die schneeglatte Straße, sondern zischte einfach so durch die Luft und zack ins Auto rein. Auch das hätte mich vielleicht wieder stutzig machen müssen, aber das Thema hatten wir ja eben schon. Zum Stutzen blieb mir keine Zeit. Ich war einfach nur froh, dass ich bei meinem Körper war, als der Wagen auch schon anfuhr.

Ich habe nicht aus dem Fenster geschaut, es interessierte mich nicht wirklich, wohin sie mich brachten, solange ich nur bei meinem Körper war. Irgendwann ging es eine Rampe hinunter, dann wurde die Tür des Autos geöffnet, ein langer Gang erwartete uns und dann eine Tür. Eine Edelstahlschublade wurde aufgezogen, mein Körper hineingelegt, ich natürlich nix wie hinterher, dann ging die Schublade zu und wir lagen im Dunkeln, mein Körper und ich.

Wieder fehlte mir aufgrund meiner Verwirrung und vielleicht als Nachwirkung des Alkohols – wobei ich nicht wusste, ob man als Nahtod-Geist besoffen sein konnte – das Zeitgefühl, aber irgendwann öffnete sich die Schublade, mein Körper wurde auf eine Rollbahre gelegt, in einen gekachelten Raum gefahren, dort auf einen Edelstahltisch mit einem Ablaufsieb am Fußende gelegt, und dann trat Duffie-Martin zusammen mit einem anderen Mann an den Tisch. Der andere hielt ein Diktiergerät in der Hand und sprach die Einleitung. »Obduktion eines männlichen Leichnams im Auftrag der Staatsanwaltschaft Köln. Identität wurde polizeilich festgestellt als Sascha Lerchenberg, Alter: 24, Körpergröße 173cm, Körpergewicht 69kg.«

Ich war immer noch völlig durcheinander, aber das war auch durchaus angebracht, denn was danach kam, war wirklich grauenvoll. Meine anfängliche Verwirrung steigerte sich zu einer ausgewachsenen Panik, als ich sah, was Martin in der Hand hielt: Ein blitzendes, verflucht scharf aussehendes Skalpell. Er setzte es an und schlitzte mir den gesamten Oberkörper auf, vom Kinn abwärts in einem geraden Schnitt bis dahin, wo es wirklich nicht mehr weitergeht. Ich erwartete einen Schwall Blut, aber nichts geschah. Der Labersack kommentierte jeden Schnitt und jeden Befund in sein blödes Gerät, während ich in allerhöchster Aufregung über dem Obduktionstisch kreiste. Mir war schlecht. Lage um Lage wurde meine Haut abgeschält, das Fettgewebe darunter freigelegt, weggeklappt, ich kann mich an all die Details gar nicht mehr richtig erinnern, bis zu dem Punkt, wo die Sache anfing, wirklich eklig zu werden. Martin fasste mir an die Eier.

»Hey, nimm deine Wichsgriffel von meinem Sack«, brüllte ich in höchster Not, und Martin fuhr herum, wobei er so stark zusammenzuckte, dass ich dachte, er schlitzt gleich seinen Kollegen auf. Das war der Moment, in dem ich feststellte, dass er mich hören kann.

ZWEI

»Was ist?«, fragte der Typ mit dem Diktiergerät. Sein ganzes Gesicht konnte ich nicht sehen, weil die Schlitzer beim Zerlegen der Leichen diese lächerlichen Gesichtsmasken tragen, aber seine Augen waren ein bisschen größer geworden vor Schreck, als das Skalpell wenige Zentimeter vor seinem Bauch durch die Luft gezischt war.

»Ich, äh, ich weiß nicht«, stammelte Martin und ich spürte seine Unsicherheit. Da konnten wir uns ja die Hand reichen, und außerdem war ich wirklich empört (auch so ein schönes Wort, das Martin mir wieder beigebracht hat), das können Sie sich ja vorstellen. Was würden Sie wohl sagen, wenn ein Perverser in einem grünen Kittelchen Sie erst kunstgerecht filetiert und Ihnen dann die Eier abschneiden will? – Eben.

»Müssen wir die Hoden präparieren?«, fragte Martin, und es klang irgendwie kleinlaut.

»Nö«, kam es hinter dem Mundschutz hervor und die Augen wurden schmal. Der Kerl grinste sich einen. »Das machen nur die Kolleginnen gern. Lass man, ist schon in Ordnung. Todesursache ist klar, oder?«

Martin nickte. »Todesursache ist zentrales Regulationsversagen, hervorgerufen durch den harten Aufprall des Hinterkopfs beim Sturz von der Brücke.«

Der andere hob das Gerät wieder an den Mundschutz, sagte »Präparierung der Hoden nicht notwendig«, schaltete es ab und streckte sich. »Ich muss mal auf’s Klo.«

Martin nickte. Er blieb bei mir, trat aber einen Schritt vom Tisch zurück und sah den Helferlein zu, die die Stückchen, die Martin aus meinen Organen herausgeschnitten hatte, in Einmachgläser legten. Damals konnte ich damit noch nichts anfangen, inzwischen weiß ich, dass von jedem Organ eine feingewebliche Probe genommen wird, die im Instituts-Slang »Histo-Probe« heißt. Kommt von histologisch, aber das muss man nicht wissen. Das Aufschneiden der Leiche ist auch nur ein Teil einer Obduktion. Außerdem gibt es noch die toxikologische und eventuell sogar eine genetische Untersuchung.

Während meiner eigenen Obduktion jedenfalls glotzte ich einfach nur umher, verhielt mich aber ansonsten still. Martin wirkte auch unnatürlich still. Es war, als horche er angestrengt, wobei er sich nicht ganz sicher zu sein schien, ob er nach außen oder nach innen horchen sollte. Ich ließ ihn erst mal in Ruhe.

Die Obduktion an meiner Leiche wurde vorschriftsmäßig und ohne weitere Störungen abgeschlossen, das Schlachthaus, wie ich den weiß gefliesten Raum nannte, wurde gereinigt und ich, also meine inzwischen ziemlich übel ausgeweidete, aber immerhin wieder mit allen entnommenen Organen vollgestopfte und zugenähte körperliche Hülle, kam zurück in mein Kühlfach mit der Nummer vier. Im letzten Moment, bevor die Schublade ganz geschlossen wurde, entschloss ich mich anders, huschte aus dem letzten kleinen Schlitz heraus und begab mich in die Nähe der Deckenleuchte, von wo ich einen guten Überblick über den Raum hatte. Viel war nicht zu sehen, denn außer der Wand mit den Kühlfächern, in denen übrigens eine Temperatur von vier Grad Celsius herrscht, gab es nichts zu sehen. Eine Weile hing ich noch unentschlossen herum, dann wagte ich den Versuch, durch den schmalen Ritz der Schwingtür in den Flur zu gelangen. Bingo! Offenbar war inzwischen Feierabend hier unten, denn im ganzen Untergeschoss, das aus langen Fluren, dem Sektionssaal und wenigen Nebenräumen bestand, war keine Menschenseele. Bis auf mich, denn ich glaube, der Begriff »Menschenseele« trifft wohl auf niemanden so genau zu wie eben auf mich. Ich geisterte (auch ein Wort, das eine plötzliche Aktualität gewann) ziel- und planlos herum. Nachdem ich eine ganze Weile so verbracht hatte, langweilte ich mich irgendwann, traute mich aber auch nicht, das Untergeschoss zu verlassen, also zog ich mich vor meine Kühlfachtür zurück und döste vor mich hin. Zumindest diese Fähigkeit hatte ich nicht verloren, darin war ich schon immer ganz gut gewesen.

Martin war wieder der Erste, den ich am nächsten Morgen sah, und er strahlte eine deutlich spürbare ängstliche Unruhe aus. Wie vor einem Auftrag, von dem man eigentlich weiß, dass er eine Nummer zu groß ist.

»Hallo Martin«, sagte ich, und an seinem erschrockenen Gesichtsausdruck konnte ich sehen, dass er mich wieder gehört oder zumindest irgendwie gespürt hatte, denn wenn ich hier schreibe, dass ich etwas sage, dann hat das natürlich nichts mit der Erzeugung von Tönen zu tun, denn dafür bräuchte man ja Stimmbänder. Meine lagen allerdings zerschnipselt in der aufgeschnittenen Kehle der Gulaschleiche in Kühlfach vier.

»Ich bin Pascha, der Kerl aus Kühlfach Nummer vier. Du wolltest mir gestern die Eier abschneiden.«

Ich gebe zu, nicht die nervenschonendste Vorstellung, aber immerhin direkt und zutreffend. Er sollte gleich wissen, mit wem er es zu tun hat.

»Sascha«, flüsterte Martin. Er konnte natürlich nicht wissen, dass ich, seit es diesen Westfalen-Schnulzomat mit meinem Namen gibt, den ersten Buchstaben ausgetauscht habe und mich nun Pascha nenne. Das erklärte ich ihm netterweise.

Martin stand an der Wand, seine pummelige Gestalt zuckte und zappelte und seine Gesichtsfarbe ähnelte der seiner gekühlten Kunden. Er fuhr sich mit der zitternden Hand fahrig über seine Augen.

»Ich höre Stimmen.«

Das sagte er nicht, er dachte es, und ich konnte es hören! Geil!

»Wenn du mehrere Stimmen hörst, solltest du zum Arzt gehen, wenn du nur meine hörst, ist das in Ordnung, immerhin rede ich schon die ganze Zeit mit dir!«

»Wer bist du?«, fragte er flüsternd.

»Das habe ich dir doch gerade erklärt«, sagte ich leicht genervt. »Ich bin von dieser Brücke geschubst worden, du hast mich an Ort und Stelle begutachtet, und gestern hast du mich auf deinem Tisch fast püriert!«

»Aber du bist tot, du kannst nicht mit mir sprechen«, wandte er ein.

Okay, der Mann ist Naturwissenschaftler, aber trotzdem fand ich, dass er sich für einen Akademiker ganz schön blöd anstellte.

»Hast du noch nie diese Nahtod-Geschichten gehört? Die Seele verlässt den Körper, hängt noch eine Weile herum und macht sich irgendwann auf den Weg durch den Tunnel.«

»Ja«, hauchte er.

»Aber hier ist kein Tunnel, ich weiß nicht, wo ich hin soll.«

Er schwieg. Ich schwieg auch und so hingen wir unseren Gedanken nach, wobei seine ein wirres Durcheinander bildeten.

Plötzlich ordnete sich das Neuronenchaos in seinem Hirn und ein Gedanke formulierte sich klar und deutlich aus der Buchstabensuppe heraus: »Du hast gesagt, du wurdest gestoßen?«

»Na klar«, sagte ich, »denkst du, ich stürze mich einfach so von einer Behelfsbrücke, weil meine Socken leer sind?«

Ich konnte die Fragezeichen förmlich aus seinen grauen Zellen heraufploppen sehen, die Formel mit den Socken kannte der Naturwissenschaftler natürlich nicht.

»Du warst stark alkoholisiert«, wandte er vorsichtig ein. »Na ja«, gab ich gedehnt zu. »Ich hatte ein bisschen getrunken …«

»Du hattest drei Komma sieben Promille im Blut«, entgegnete Martin, er ist ja gern präzise, aber das sagte ich wohl schon.

»Drei Komma sieben! Alle Achtung!« Ich war von mir selbst schwer beeindruckt. Die Freude hielt allerdings nicht lange an, denn mein alkoholisierter Zustand sollte hier augenscheinlich gegen mich verwendet werden. Mein Mörder käme ungestraft davon, weil die amtliche Meinung meinen vorsätzlich herbeigeführten Rauschzustand als ursächlich für den Sturz von der Brücke betrachtete. Das durfte ja wohl nicht wahr sein! Und noch viel schlimmer war, dass meine Kumpels glauben würden, ich sei so besoffen gewesen, dass ich aus eigener Blödheit ums Leben gekommen war. Was ist das für ein Nachruf? Er ist besoffen von der Brücke gefallen! Also, an der Stelle packte mich die Eitelkeit, ein bisschen Ehrenrettung muss auch nach dem Tod noch drin sein.

»Ich wurde gestoßen«, betonte ich daher vielleicht etwas ausdrucksstärker, als unbedingt notwendig gewesen wäre, jedenfalls fasste Martin sich an die Schläfen und stöhnte auf.

»Schon gut«, jammerte er, »brüll mich bitte nicht so an.«

»Bleib geschmeidig«, sagte ich und bemühte mich um einen coolen Tonfall. »Sag mir doch mal ganz genau, welchen Spruch die Bullen auf meine Kiste meißeln.«

Ich spürte wieder diese Fragezeichen auftauchen wie Blasen in der Badewanne, wenn man einen fahren lässt, aber Martin hatte schon so ungefähr verstanden, was ich von ihm wollte.

»Die polizeilichen Ermittlungen haben keinen Verdacht auf Fremdeinwirkung ergeben, die Obduktion ebenfalls nicht. In Verbindung mit dem Alkoholisierungsgrad, dem Schnee auf der Treppe und dem schlechten Zustand des Geländers ergibt sich als Todesursache ein Unfall mit Todesfolge. Allerdings wird es wohl eine Untersuchung wegen des Geländers geben.«

»Das ist Bullenshit«, sagte ich klar und deutlich.

Martin zuckte zusammen.

»Du musst denen sagen, dass das nicht stimmt«, forderte ich.

Ich hielt diese Forderung für logisch und ganz einfach. Telefon nehmen, Bullen anrufen, Bescheid sagen, fertig. Aber natürlich ist bei Akademikern nichts einfach und schon gar nichts unkompliziert.

»Auf welcher Grundlage soll ich solch eine Behauptung aufstellen?«, fragte Martin.

Die Frage brachte mich gefährlich nahe an den Rand meiner Geduld. Da gab es den ultimativ besten Zeugen eines Mordes, nämlich das Opfer höchstselbst, und der Mediziner fragt, auf welcher Grundlage er sein Wissen um den Tathergang verbreiten solle. Ist es zu fassen?

»Auf Grundlage meiner Aussage«, formulierte ich vorsichtig und mit Bedacht, um nicht in Obszönitäten und Beleidigungen abzurutschen, denn ich wollte mir den guten Mann ja gewogen halten. Mit welchen Problemen man sich als Toter herumschlagen muss!

»Das geht nicht«, wandte Martin ein. »Das wird mir niemand glauben.« Und nach einer kurzen Pause: »Ich glaube es ja selbst nicht.«

Er griff sich wieder an die Stirn, fuhr dann mit der flachen Hand über seine korrekt gestutzte Frisur, mit der er aussah wie ein salbungsvoller Pädagoge in einem Kinderfilm aus den Sechzigerjahren, und verließ fluchtartig den Kühlraum. Ich ließ ihm einen Vorsprung und schlenderte, wenn man das langsame Dahingleiten ohne Hast und Eile so nennen mag, hinter ihm her.

Zunächst hielt ich mich eng an Martin, nutzte die Türen, die er öffnete, um selbst hindurchzuschlüpfen, aber damit war ich speedmäßig schwer von ihm abhängig. Also blieb ich weiter zurück und probierte meine Beweglichkeit aus. Durch schmalste Türspalte kam ich problemlos hindurch, sogar durch ein Schlüsselloch konnte ich zischen. Unter der Decke, knapp über dem Fußboden und sogar hinter Schränken streifte ich herum und stellte fest, dass nur der Blick von oben wirklich interessant ist. Hinter einem Schrank sieht man nicht viel.

Ich wurde mutiger und verließ das Kellergeschoss. Im Treppenhaus schwebte ich ein Stockwerk von Stufe zu Stufe, dann machte ich mir meinen eigenen Aufzug, indem ich dem Zickzack der Treppe nicht weiter folgte, sondern in der Mitte einfach senkrecht in die Höhe schoss. Als mir auch das zu langweilig wurde, betrat ich die oberste Etage und sah mich dort um. Auf der Etage befanden sich – wie im Rest des Gebäudes auch, aber das wusste ich ja damals noch nicht – Büros und Labore. Männer und Frauen, viele davon in ihren Onkel-Doktor-Kittelchen, saßen an Labor und Schreibtischen, standen in Teeküchen oder hockten vor irgendwelchen Apparaturen herum. Sie benahmen sich wie normale Menschen, plauderten, telefonierten, tranken Kaffee und Tee aus diesen unsäglichen Tassen in Schweinetrog-Größe mit gewollt witzigen Aufschriften, Horoskopen oder eigenen Babyfotos drauf. Eben die typisch deutsche Bürokultur, die jede Ufobesatzung, die jemals hier landen sollte, sofort zur vollständigen Vernichtung der menschlichen Rasse veranlassen wird. Und man kann es den schleimigen Viechern aus den unendlichen Weiten des Weltraums nicht einmal verübeln!

Die meisten Leute sahen, abgesehen von ihren blödsinnigen Tassen und den Kitteln, wie ganz normale Menschen aus. Man wäre also nicht notwendigerweise auf die Idee gekommen, dass alle diese Typen ihre Tage damit verbrachten, Leichen aufzuschlitzen, ihnen Herz, Leber, Nieren und sonstiges Zubehör zu entfernen, nachzusehen, was die Toten zuletzt gegessen und wann sie zuletzt gevögelt hatten und ob es vielleicht irgendwo einen Hinweis darauf gab, dass die Omi nicht an ihrem gesegneten Alter, sondern am hoffentlich bald mit einem fetten Erbe gesegneten Sohn, Schwiegersohn, Enkel oder Pflegedienstleiter zugrunde gegangen war. Pervers.

Bisher war ich durch kleinste Ritzen gekrochen, aber jetzt wollte ich es wirklich wissen: Ich nahm Aufstellung vor einer Wand, die zwei Büros trennte, konzentrierte mich und – zischte hindurch. Einfach so. Ich hatte noch nicht einmal den Eindruck, meine Frisur ordnen zu müssen. Natürlich hatte ich keine Frisur mehr, aber Sie verstehen, was ich sagen will, oder? Ich machte den gleichen Weg retour, und das Einzige, was dabei unangenehm ist, hat mit der visuellen Wahrnehmung zu tun. Also einfach gesagt: »Was guckst du?« Und genau das ist das Problem: »Nix guckst du.« Ich kann nämlich nicht sehen, was hinter einer Wand ist, durch die ich durch will. Es ist also eine Art Anlauf nehmen, mit Volldampf durch und dann bist du schon da. Wo du vielleicht gar nicht hin wolltest! Vorsichtig durch eine Tür zu schweben kam mir irgendwie sicherer vor. Nicht so abrupt.

Ich hatte keine Lust mehr, allein zu spielen, und ging auf die Suche nach Martin, den ich in der Teeküche fand. In seiner Tasse befand sich ein dünner Tee, das Papierschnippelchen des Beutels hing über den Rand und verdeckte gnädig den aufgedruckten Spruch eines Zen-Meisters.

Ich fragte mich spontan, welch grausames Schicksal mich gerade an diesen Mann gebunden hatte, denn, das hatte ich gleich beim Einschweben in die Teeküche festgestellt, nur von Martin empfing ich Gedankensignale. Dabei hätte ich jede Form von Signalen von der zweiten anwesenden Person vorgezogen. Die war eine Sie und granatengeil. Lange Beine in einer abgewetzten Jeans, ein enger Rollkragenpullover, ein großer, lachender Mund, dunkle Augen und eine schwarze, lockige Mähne, die sie nachlässig mit einem Gummiband im Nacken zusammengebunden hatte. Der weiße Kittel war ein bisschen affig, aber egal – hier stand eine echte Traumfrau. Mit dem pummeligen, Zen-Tee-schlürfenden Martin in der Teeküche. Hatte die nichts Besseres zu tun?

Martin brachte es tatsächlich fertig, ihr nicht ständig auf die wohlgeformten Hupen, sondern in die Augen zu schauen. Wie machte er das? Ich forschte in seinem Hirn nach der in fetten, schwarzen Großbuchstaben gedruckten Aufforderung: SCHAU IHR IN DIE AUGEN!, aber da war nichts. Er schaffte es einfach so. War der Typ schwul?

»Wie war dein Wochenende, Martin?«, fragte die Holde.

»Toll«, sagte Martin. »Und erfolgreich. Ich habe vier neue Karten gefunden.«

»Neue neue Karten oder neue alte Karten?«, fragte die Traumfrau.

»Alte«, entgegnete Martin und grinste blöd.

Was sabbelten die beiden da für einen Schwachsinn? Neue alte neue Karten?!?

»Und dein Wochenende, Katrin?«, fragte Martin.

»Anstrengend«, erwiderte sie, und ich wollte gerade anfangen, mir vorzustellen, wie ein anstrengendes Wochenende mit dieser Frau aussah, aber da sprach sie schon weiter. »Ich musste zusammen mit meinem Bruder das Haus meiner verstorbenen Eltern ausräumen.«

»Hat die keinen Lover?«, fragte ich Martin.

Martin murmelte gerade etwas, das wie eine Entschuldigung und eine Beileidsbezeugung klang, aber meine Zwischenfrage brachte ihn aus dem Konzept. Er stockte mitten im Satz und nippte schnell an seiner Tasse.

»Leg sie flach«, forderte ich ihn auf. »Ne Runde zipfeln hilft besser gegen Kummer als Beileidspalaver.«

Er prustete erschreckt in seinen Tee, der überschwappte und ihm auf Pullover und Hose lief.

Katrin hatte sich reaktionsschnell umgedreht und nach einem Handtuch gegriffen. JA!, dachte ich begeistert. Jetzt reibt sie Martin die Hose trocken. Das hatte er wohl auch kommen sehen, aber anstatt genüsslich die Augen zu schließen und den Dingen ihren Lauf zu lassen, nahm er ihr das Tuch aus der Hand und versuchte selbst mit hektischen Bewegungen, seine Kutte trocken zu wedeln. Wie kann man nur so blöd sein? Diese Gelegenheit, sich von flinken, kleinen weiblichen Händen mal so richtig abreiben zu lassen, lässt man sich doch nicht entgehen! An was für einen Problemo war ich hier nur geraten?

»Geht’s dir nicht gut?«, fragte Katrin.

Die Frage hatte sich mir auch schon gestellt, dabei hatte ich allerdings mehr an die geistige und hormonelle Gesundheit meines irdischen Freundes gedacht, aber sie fragte sicherlich, weil Martin um die Nase blass, auf den Wangen aber zart gerötet und recht hektisch war.

»Doch, doch«, antwortete Martin viel zu schnell. »Alles in Ordnung, danke.«

Katrin sah nicht überzeugt aus, und ich konnte es ihr nicht verdenken. Sie schien noch etwas sagen zu wollen, überlegte es sich aber anders und verabschiedete sich mit einem freundlichen »Bis heute Mittag?«. Martin nickte.

»Hast du gar keinen Anstand?«, zischte Martin mich an. Und er zischte wirklich, obwohl denken ja auch gereicht hätte. »Ich wäre dir wirklich dankbar, wenn du dich aus meinen Unterhaltungen heraushalten würdest.«

Ich wollte ihn darauf aufmerksam machen, dass jemand in der Tür der Teeküche stand, aber Martin schimpfte schon weiter.

»Besonders möchte ich dich bitten, keine unflätigen Ausdrücke oder sexuellen Anspielungen von dir zu geben, wenn ich mit Kolleginnen spreche.«

Der Mann, der immer noch in der Tür stand, reckte den Hals ein bisschen vor, damit er die ganze Teeküche überblicken konnte. Natürlich konnte er außer Martin niemanden entdecken.

»Hallo Martin, alles klar?«, fragte der Weißkittel, als er reinkam.

Martin fuhr herum, jetzt war jede Blässe aus seinem Gesicht verschwunden, er war puterrot. »Was? Ach so, ja ja, alles klar. Und bei dir?«

Der Weißkittel nickte, ging zur Kaffeemaschine, warf Martin noch einen schrägen Blick zu und goss seinen Becher voll. Dann fiel ihm offenbar etwas ein.

»Hast du schon den neuesten Knaller von unserem Lieblingsabgeordneten Dr.Heilig gehört?«, fragte er.

»Nein«, entgegnete Martin und nippte an seinem Tee.

»Er will Obduktionen verbieten lassen.«

»Das ist ein Scherz«, stammelte Martin fassungslos.

»Leider nicht«, sagte der Kollege. »Es sei gegen die Würde des Leichnams, ihn aufzuschneiden.«

Na ja, ich konnte dem Mann folgen, aber woher wusste der das? Gab es sogar Abgeordnete, die schon tot waren?, fragte ich mich. Und wenn ja, wie war dieser Sack wieder in seinen Körper gekommen?

Martin schüttelte den Kopf, ob aus Widerwillen gegen die Ideen des Lieblingsabgeordneten oder um meine Gedanken loszuwerden, konnte ich nicht riffeln. »Hatten wir diese Diskussion nicht schon einmal?«, fragte Martin. »Vor ungefähr tausend Jahren?«

»Sie ist wieder ganz aktuell«, sagte der Kollege. »Seine Partei, die ›Wahrhaftigen Christen Deutschlands‹, haben in der letzten Meinungsumfrage siebzehn Prozent bekommen.«

»Warum sind wir mit so einem Abgeordneten geschlagen?«, murmelte Martin.

»Weil die Kölner ihn gewählt haben«, entgegnete der Kollege. »Denen ist der Dom wichtiger als die Rechtsmedizin.«

»Der Typ soll seine Autosammlung vervollständigen und anständige Menschen ihre Arbeit tun lassen«, knurrte Martin.

Der Kollege nickte, schlug Martin auf die Schulter, nahm seine Kaffeetasse und verließ die Teeküche.

Martin schüttete den Rest seines Tees in den Ausguss und stürmte mit langen Schritten den Flur entlang, ins Treppenhaus, übersprang jede zweite Stufe und kam schließlich leicht außer Atem im Kühlraum an. Er zog die Schublade Nummer vier auf und starrte mich, genauer gesagt meinen Körper an.

»Wieso bist du nicht tot?«, fragte er die Leiche, die so tot aussah, dass es töter nun wirklich nicht ging. Vor allen Dingen wegen der recht grob zusammengestichelten Naht, die vom Kinn bis zum – na ja, Sie wissen schon – reichte. Sein Tonfall war irgendwie genervt und das passte mir ganz und gar nicht. Erstens war ich, entgegen seiner gerade geäußerten Behauptung, sehr wohl tot, insofern hatte der präzise Martin unrecht, und außerdem war ich derjenige, der in einer wirklich beschissenen Situation war und nicht er. Wenn also einer genervt sein durfte, dann war eindeutig ich das.

»Geh mir nicht auf den Sack«, ranzte ich ihn an. »Ich bin tot und das weiß keiner so gut wie du, immerhin hast du mich von oben bis unten aufgeschlitzt, mir jedes Organ einzeln aus dem Körper gerissen, nachher alles wieder reingestopft und so unelegant zugenäht, dass selbst Doktor Frankenstein sich schämen würde für die Naht.«

Martin lehnte inzwischen an den Kühlfächern neben mir, er konnte sich kaum noch aufrecht auf den Beinen halten. »Aber du sprichst mit mir«, wandte er ein.

»Ja, weil es ganz allein und ohne Unterhaltung ziemlich langweilig ist«, entgegnete ich, obwohl ich genau wusste, worauf er hinauswollte. Aber ich hatte ja selbst keine Erklärung. Ich konnte mich nicht erinnern, an irgendeiner Stelle die Abzweigung verpasst zu haben. Es hatte keine Wahl gegeben, ob ich hier herumschimmeln oder auf den Zug der lieben Englein aufspringen soll, damit sie mich vor die Himmelspforte fahren, wo Petrus mir die Tür aufmacht und fragt, ob ich auch immer schön artig war. Was hätte ich da antworten sollen? Jedenfalls wusste ich selbst nicht, warum ich hier herumhing und nicht dort war, wo die anderen Seelen auch waren. Wenn es so einen Ort überhaupt gab. Ein Seelenheim, ein Geister-Haus, eine Art himmlisches Halloween-Hotel. Also konnte ich dem großen Durchblickologen Martin auch nichts erklären, da hatte er halt Pech gehabt.

»Glaubst du an Gott?«, fragte Martin.

»An welchen?«, fragte ich, weil ich mir diese Antwort früher irgendwann angewöhnt hatte und sie immer noch cool fand. Zumal ich aus den oben genannten Gründen bisher keinen Anlass sah, sie zu ändern. Wenn es einen Häuptling in der ganzen Weltbude gab, hatte er sich mir jedenfalls noch nicht vorgestellt.

Martin sagte jetzt zwar nichts mehr, aber seine Gedanken ordneten sich langsam zu einer ernsthaften Überlegung. Wie, so fragte er sich, werde ich den Kerl wieder los? Die Frage war durchaus berechtigt. Stellen Sie sich vor, Sie sind jeden Tag von ungefähr dreißig Leichen umgeben. Das ist Ihr Job und Sie haben sich daran gewöhnt. Ist ja eigentlich auch wirklich nicht so schlimm, denn die Toten schwaddeln Sie wenigstens nicht dauernd mit irgendwelchen lächerlichen Zipperlein voll wie lebende Patienten ihren Hausarzt. Also eigentlich alles ganz easy. Bis zu dem Tag, an dem plötzlich eine Leiche auftaucht, die nicht ganz so tot ist, wie sie sein sollte. Das allein ist für einen Naturwissenschaftler sicher schon eine schwere Prüfung, aber die Vorstellung, dass diese eine umherirrende Seele vielleicht erst der Anfang einer neuartigen Entwicklung ist, kann selbst härteren Kerlen, als Martin einer ist, den Angstschweiß unter die Achseln treiben. Die Vision von Legionen ihn umwabernder Geister blitzte kurz in seinem Hirn auf, und er fing tatsächlich an zu zittern.

Natürlich erkenne ich heute im Rückblick, dass Martins Besorgnis ihre Berechtigung hatte, dass er mit der Situation einfach überfordert war und dass es ganz natürlich ist, sich zu fragen, wie man den Geist, den man ja noch nicht einmal gerufen hat, wieder los wird. In dem Moment, in dem wir aber in so trauter Zweisamkeit an meinem Kühlfach standen, fand ich seine Überlegungen einfach nur widerlich. Ich war tot, ich hatte ein Problem, und er fragte sich, wie er mich am einfachsten wieder loswürde. Ekelhaft, oder?

»Glaubst du, dass deine Seele Frieden finden kann, wenn wir den Mord an dir aufklären?«, formulierte er vorsichtig.

Ha! Glaubte der wirklich, dass ich mich so leicht hinter’s Licht führen lasse? Ob meine Seele Frieden fände, ging dem doch völlig am Rüssel vorbei. Er wollte, dass meine Seele verschwindet, ob nun in den Himmel oder die Hölle war egal, Hauptsache weg. So dachte ich zumindest damals.

»Ich denke ja«, sagte ich, denn wenn er hoffte, mich durch die Aufklärung des Verbrechens wieder loszuwerden, dann würde er sich wohl Mühe geben, den Mörder zu finden und meinen Ruf wiederherzustellen. Meinen Ruf als Mensch, der wichtig genug war, dass man ihn umbrachte. Der nicht einfach aus purer Dummheit von der Brücke plumpst. Ein Märtyrer, ein Kriegsopfer in der harten Kölner Unterwelt.

Martin seufzte. »Okay, dann berichte mir bitte den Hergang der Tat, die Vorgeschichte, einfach alles, was du weißt.«

Jetzt hatte ich ein Problem, denn auch wenn ich ganz gern mal ordentlich pegeln gehe, sind drei Komma sieben Promille selbst für mich relativ viel, und an manche Details hatte ich nur noch verschwommene Erinnerungen. Aber ich berichtete Martin von meinem letzten Tag so ausführlich wie möglich.

»Gesehen hast du niemanden in der Bahn oder auf der Überführung?«, fragte Martin.

»Klar habe ich da Leute gesehen«, sagte ich. »Aber keinen, den ich kannte.«

»Und den, der dich gestoßen hat, hast du auch nicht gesehen? Auch nicht –« Martin zögerte. »Auch nicht nach dem Sturz?«

»Du meinst, als ich schon tot im Schnee lag und meine Seele langsam anfing zu schweben, da hätte ich den Mörder doch von meinem Beobachtungsposten aus gut sehen müssen?«

Er nickte.

»Nö«, erwiderte ich nach einem Augenblick Nachdenken. »Vielleicht habe ich ihn gesehen, aber nicht erkannt. Man wird nicht allwissend, nur weil man tot ist.«

Schade, dachte Martin, und da musste ich ihm recht geben. Überhaupt war mein Zustand ziemlichen Beschränkungen unterworfen. Ich konnte nur zu einem einzigen Menschen Kontakt aufnehmen und auch dessen Gedanken spüren, aber ich konnte nicht laut sprechen. Außerdem musste ich mich von Ort zu Ort bewegen, konnte also nicht beamen, und Gegenstände bewegen ging auch nicht. So hatte ich mir das alles nicht vorgestellt.

»Dann müssen wir anders an die Sache herangehen«, sagte Martin. Er zitterte nicht mehr, war aber immer noch blass. »Wer könnte denn einen Grund gehabt haben, dich umzubringen?«

Ich hätte damit rechnen müssen, dass die Frage kommt, aber trotzdem brachte sie mich erst mal aus der Fassung. Testen Sie das mal selbst: Fragen Sie sich in einer ruhigen Minute Ihres Lebens, wer wohl Bock drauf hätte, Sie einzutüten. Na? Ist nicht witzig, was? Mir fielen natürlich auf Anhieb die üblichen Verdächtigen ein. Meine Ex, die ich um ein paar Hundert Mäuse beschissen hatte. Mehmet von der Spielhalle, dem ich Geld schuldete. Pablo, der nicht so hieß, mir aber nur unter diesem Namen bekannt war und der mein Dealer gewesen war, bevor er in den Knast kam – wofür er mich verantwortlich machte! Sicher würden mir bei längerem Nachdenken auch noch weitere Namen einfallen, und natürlich konnte es durchaus sein, dass der Diebstahl des SLR mit der Leiche im Kofferraum zu einem gewissen Unmut an betroffener Stelle geführt hatte. Fraglich war nur, an welcher Stelle. Beim Besitzer des Wagens? Bei Olli? Seinem osteuropäischen Abnehmer?

»Meine Ex hat mehrfach und vor Zeugen gedroht, mich eines Tages kaltzumachen«, ließ ich betont lässig fallen. »Die Schlampe meint, ich hätte sie beschissen.«

»Ha-hast du?«, fragte Martin, wobei er vor Nervosität stotterte.

»Na ja«, begann ich langsam und sofort blinkte in Martins Hirn die Information auf: Also er hat!

»Schick ihr die Bullen auf den Hals, dann werden wir sehen, was dabei herauskommt«, sagte ich. Eine gewisse Vorfreude ergriff mich. Ich malte mir gruselig-schöne Bilder aus, wie die Herren von der staatlichen Trachtengruppe an Ninas Tür klopfen, sie grob in den Flur zurückdrängen, sobald sie geöffnet hat, und ihr dann immer wieder dieselbe Frage stellen: »Warum haben Sie Ihren ehemaligen Liebhaber umgebracht?«

Sie würde rauchen, bis sie keine Kippen mehr hätte, die Grünen würden sie nicht rauslassen, um neue zu holen, und Stunde um Stunde müsste sie immer wieder dieselbe Frage beantworten. Dackelscharf.

»Wir können die Polizei nicht einschalten«, erklärte Martin.

»Warum nicht?«, fragte ich.

»Weil der Obduktionsbericht keinen Anhaltspunkt für ein Verbrechen gibt und auch die Polizei von einem Unfall ausgeht. Die Untersuchungen im Fall deines Todes sind abgeschlossen.«

»Dann müsst ihr sie wieder aufnehmen«, sagte ich.

»Das Thema haben wir bereits erörtert«, entgegnete Martin. »Ich kann der Polizei nicht sagen, dass das Mordopfer mir erzählt hat, es sei umgebracht worden.«

»Dann musst du mit meiner Ex sprechen«, sagte ich, aber meine Begeisterung war verflogen. Martin war ein Warmduscher. Er würde Nina in seiner vorsichtigen Art höflich fragen, ob sie vielleicht eventuell ihren Exlover umgebracht hätte, und sie würde ihn fragen, ob ihm sein Hirn in den Sack gerutscht sei. Dann käme ihr eine Idee, sie würde sich mit der Zunge über die Lippen fahren, eine Haarsträhne um den Finger wickeln und sich unauffällig nach der versteckten Kamera umsehen. Und wenn sie schnallt, dass es keine Kamera gibt, würde sie ihn ansehen, als sei er eine Ratte mit Furunkel am Schwanzansatz, und ihn schlicht und einfach rausschmeißen. Ade, du schönes Folterverhör. Martin ließ sich von mir Ninas Namen und ihre Adresse geben. Er wollte sich heute nach Feierabend auf den Weg machen, und ich beschloss, ihn nicht darauf hinzuweisen, dass ich selbstverständlich mitzukommen gedächte.

Der restliche Tag verlief ohne weitere nennenswerte Zwischenfälle, wenn man davon absieht, dass ein Selbstmörder zwecks Feststellung der Todesursache eingeliefert wurde. Angesichts der Tatsache, dass der Körper des Mannes direkt oberhalb des Bauchnabels von einem Güterzug mit fabrikneuen Autos eines großen Kölner Werkes sauber durchtrennt war, konnte ich die Notwendigkeit einer eingehenden Obduktion nicht erkennen, denn ich hätte als Todesursache auf – Überraschung! – Zerstückelung getippt, aber Martin und die Kollegen sind da echt eisern. Eine Leiche, die nicht an Herzversagen, Altersschwäche oder einer anderen natürlichen Todesursache eingegangen ist, wird genauestens untersucht, Punktum.

Ich hielt mich bei der Obduktion im Hintergrund, meine eigene war mir noch zu präsent, und das systematische Auseinandernehmen von Leichen erschien mir damals noch ziemlich abstoßend. Im Laufe der Zeit habe ich diese Scheu abgelegt, aber davon später mehr.

Nach Feierabend verabschiedete Martin sich von den Kolleginnen und Kollegen. Die Traumfrau hatten wir den ganzen Tag nicht wiedergesehen, was ich sehr bedauerte. Der Weißkittel, der Martin in der Teeküche bei seinem lauthals mit sich selbst ausgetragenen Streitgespräch überrascht hatte, betrachtete ihn noch einmal skeptisch, konnte aber offenbar keine Anzeichen von Geistes-Gestörtheit mehr erkennen. (Haben Sie den kleinen Wortwitz bemerkt? Klasse, oder? Den Sinn für die Feinheiten der Sprache hat mir Martin wieder nähergebracht, aber ich glaube, das sagte ich schon.) Er hängte seinen weißen Bürokittel, im Gegensatz zu dem grünen Schlachthauskittel, ordentlich auf einen Bügel, verließ das Institut für Rechtsmedizin des Klinikums der Universität zu Köln, wie der ganze, lähmend lange Titel dieser Einrichtung lautete, zog seinen Dufflecoat über und ging zu seiner … Ente. Echt, nicht gelogen! Er fährt eine dieser Schunkelbüchsen, die man als Gondel an einen Skilift hängen oder auf Gleisen durch die Geisterbahn schubsen sollte, denen aber die Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr unbedingt untersagt sein sollte. Sie fahren ja auch nicht mit Ihrem Rasenmäher durch die Gegend oder schrauben einen Hilfsmotor an Ihren fünfrolligen, höhenverstellbaren und lendenwirbelpflegenden Bürostuhl, um damit die Innenstadt unsicher zu machen. Na also.

Wir jedenfalls machten uns in diesem lächerlichen Schächtelchen auf den Weg zu Nina, meiner Ex. Die Notwendigkeit, mich dem peinlichsten Gefährt seit Fred Feuersteins Steinzeit-Cabrio anzuvertrauen, war eine größere Demütigung als der Befund der Schulzahnärztin, dass ich von Geburt an keine Weisheitszähne habe. Zum Glück, und in diesem Moment wusste ich die Körperlosigkeit, die mein Tod mir aufgenötigt hatte, zum ersten Mal richtig zu schätzen, konnte mich ja niemand mit Martin in diesem Ding sitzen sehen.

»Weißt du, wofür dieses Gefährt erfunden worden ist?«, fragte ich Martin, als er die Schüssel anwarf.

Er erlitt einen mittleren Herzklabaster und es dauerte eine Weile, bis ich begriff, dass er nicht mit meiner Anwesenheit gerechnet und mich nicht bemerkt hatte. Er bekam die schaukelnde Kiste wieder in den Griff, bevor er den Laternenpfahl rammte, und atmete mehrmals tief ein und aus. »Na, wofür?«, nahm ich den Gesprächsfaden wieder auf.

»Zum Autofahren«, gab er zurück. Lächerlich!

»Zum Eierschaukeln«, korrigierte ich. »Die Entwicklungsaufgabe lautete, ein Auto zu bauen, in dem auch bei schlechter Wegstrecke die Eier im Korb heil bleiben. Damals, also kurz nach dem zweiten Weltkrieg, transportierte man Eier nämlich noch im Korb und nicht im Eierkarton.« »Aha«, sagte Martin, aber er klang nicht richtig interessiert.

»Außerdem sollte auch eine ungeübte Fahrerin damit zurechtkommen.«

»Interessant«, murmelte Martin.

»Also«, führte ich meine Überlegungen zu einem logischen Schluss, »was willst du mit der Karre? Du bist keine Tussi und kein Hühnerei.«

»Ich mag das Auto, und es ist sparsam.«

Ja, das waren natürlich sehr wichtige Gründe für die Wahl eines fahrbaren Untersatzes. Kriterien wie Motorleistung, Karosseriedesign, Coolnessfaktor oder einfach das geile Gefühl, den lackierten Kampfhund von der Leine zu lassen, sobald der rechte Fuß das Gaspedal anstupst, sind ja albern. Wir mögen unsere Autos, und sparsam sollen sie sein. Leute wie Martin sollten Fahrrad fahren. Oder noch besser: Dreirad.