Kühlfach 4 - Jutta Profijt - E-Book

Kühlfach 4 E-Book

Jutta Profijt

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Beschreibung

Halt die Klappe, du bist tot! »Wer bist du?«, fragte er flüsternd. »Ich bin Pascha, der Kerl aus dem Kühlfach vier.« »Aber du bist tot, du kannst nicht mit mir sprechen«, wandte er ein. »Hast du noch nie was von Nahtod gehört? Die Seele verlässt dem Körper und macht sich dann irgendwann auf den Weg durch den Tunnel. Aber hier ist kein Tunnel, ich weiß nicht, wo ich hin soll.«  Dr. Martin Gänsewein trägt Dufflecoat, fährt Ente und sammelt Stadtpläne. Außerdem hat er täglich mit Leichen zu tun, denn er ist Rechtsmediziner - und zwar ein gewissenhafter. Wo die Seelen der Verstorbenen bleiben, überlässt er den Glaubenseinrichtungen der Angehörigen. Bis die Seele eines kleinkriminellen Prolls sich im Institut einnistet und behauptet, ermordet worden zu sein. Pascha verlangt von Gänsewein die Aufnahme der Ermittlungen ...   

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Seitenzahl: 287

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Jutta Profijt

Kühlfach 4

Roman

Deutscher Taschenbuch Verlag

Originalausgabe

© 2009 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München

Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.

eBook ISBN 978-3-423-40122-7 (epub)ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-21129-1

Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de/ebooks

Inhaltsübersicht

Prolog

Kapitel EINS

Kapitel ZWEI

Kapitel DREI

Kapitel VIER

Kapitel FÜNF

Kapitel SECHS

Kapitel SIEBEN

Kapitel ACHT

Kapitel NEUN

Danksagung

[Informationen zum Buch]

[Informationen zum Autor]

PROLOG

Ich hoffe, dass Sie diesen Bericht von Anfang bis Ende lesen werden, denn es ist die ganze Wahrheit und nichts als die Wahrheit, und so weiter, Sie kennen den Spruch bestimmt. Mir persönlich wäre es ja egal, was Sie über die Dinge denken, die sich in den letzten zwei Wochen ereignet haben, aber für meinen Freund Martin ist es wichtig, dass Sie den ganzen Quatsch, den Sie über ihn gehört haben, endlich als das erkennen, was es ist: ein Haufen gemeiner Unterstellungen und voreiliger Analysen von Hobbypsychiatern, also prasseldummer Psychokram– ich hätte normalerweise Psychokacke geschrieben, aber Martin ist ein Verfechter gehobener Ausdrucksweisen und so gebe ich mir halt Mühe. Überhaupt sind wir so verschieden, wie zwei Menschen nur sein können. Wie Feuer und Wasser, wie Himmel und Erde. Den tieferen Sinn des letzten Vergleichs werden Sie später noch verstehen, also lesen Sie rapido weiter! Dies ist der Versuch, den Ruf meines Freundes Martin Gänsewein wiederherzustellen. Des einzigen Freundes, den ich habe und den ich– aufgrund der besonderen Umstände meiner jetzigen Existenz– wohl je haben werde.

EINS

Der Tag, an dem, wie ich heute weiß, alles anfing, begann übel, sozusagen auf dem untersten Level, ich hätte also gewarnt sein müssen. Allerdings, und das muss ich zu meiner Entschuldigung sagen, fingen die meisten Tage so an. Sowieso nie vor Mittag und mit einem widerlichen Geschmack im Mund, einem dicken, flusigen Otterpelz auf der Zunge, einem quälenden Heimwerkerwetthämmern im Kopf und dem üblichen Schmacht nach einer Zigarette, einem Bier und einer Frau.

Bier war keins da, für die Zigarette musste ich aufstehen und eine Frau hatte ich schon länger nicht mehr gehabt. Während ich noch ein bisschen im Restschlaf vor mich hin dämmerte, fiel es mir plötzlich ein: Ich war verdammt spät dran. Das war an den meisten Tagen kein Problem, aber an diesem Tag hatte ich einen wichtigen Termin. Einen Auftrag. Einen wichtigen Auftrag von einem wichtigen Mann. Und ich wollte alles richtig machen und hatte schon verpennt! Ich konnte von Glück sagen, dass der Druck in meinem Ablassrohr meinen seligen Schlaf unterbrochen hatte. Natürlich war es nicht der Druck im Rohr, sondern in der Blase, würde Martin jetzt sagen, denn Martin ist gern präzise. Aber damals kannte ich ihn noch gar nicht. Ich sollte ihn erst ein paar Tage später unter für mich ausgesprochen unerfreulichen Umständen kennenlernen und formulierte daher biologische Gesetzmäßigkeiten noch reichlich laienhaft und somit unpräzise.

Hätte ich geahnt, dass an diesem Tag die Weichen für den Rest meines Lebens gestellt wurden, wäre ich natürlich liegen geblieben. Aber ich hatte keine Ahnung, sehe auch jetzt im Rückblick keine Anzeichen, die auf die kommende Katastrophe hingedeutet hätten. Ich stand also auf und genauso blind, wie ich ins Bad schlurfte, lief ich in mein Verderben.

Normalerweise riskiere ich um diese Uhrzeit noch keinen Blick in den Spiegel, aber da ich schließlich noch etwas vorhatte, unterzog ich meine Erscheinung einer kritischen Inspektion. Nicht dass Sie jetzt meinen, ich würde kurz nach dem Aufwachen schon in Worten wie »kritisch« und »Inspektion« denken, auch diese Worte habe ich erst durch Martin wieder in meinen aktiven Wortschatz zurückgeholt. Ich denke kurz vor dem Duschen überhaupt nicht viel und wenn, dann nur in einsilbigen Grunz- und Brummlauten.

Ich blinzelte also einfach so lange mit den verklebten Augen, bis ich erstens erkennen konnte, wo der Spiegel hing, und zweitens einen mittleren Schock erlitt, als die Visage, die mich anstarrte, klarer wurde.

Mit dem schärferen Blick kam die Erinnerung an Bennies neues Messer zurück. Er hatte mit dem Ding herumgefuchtelt und etwas gesucht, das er zerschneiden konnte, um zu beweisen, wie scharf die Klinge ist. Seine suchenden Augen fanden– mich. Ich stand in Reichweite, er griff mit der linken Hand in meine Haare, und mit einem blitzschnellen Schnitt hatte er mir eine neue Frisur verpasst. Weil ich zuckte, und nur deshalb, betonte Bennie später, schlitzte die Klinge im Anschluss an den Haarschnitt auch noch meine linke Augenbraue auf. Eine dünne Spur getrockneten Blutes zog sich also auf dem Gesicht im Spiegel von der Augenbraue bis zum Kinn, und bei der Erkenntnis, dass diese hässliche Fratze dort meine eigene war, erschrak ich wirklich sehr.

Ich verplanschte eine Menge warmes Wasser, bis ich wieder einigermaßen zivilisiert aussah, wobei ich die letzten Jahre darauf verwendet hatte, mir genau diese, aus meinem Elternhaus stammende Zivilisation abzutrainieren. Aber mein wichtiger Auftrag erforderte ein unauffälliges Äußeres, und daher wählte ich nach der Dusche eine blaue Jeans, eine dunkle Jacke und eine Dachpappe, die das Ergebnis der Messerstecherei auf meinem Kopf einigermaßen verbarg. Ein prüfender Blick in den staubigen Spiegel meines wackeligen Kleiderschranks zeigte das Bild, für das ich mir solche Mühe gegeben hatte: Einen mittelgroßen, unauffälligen, etwas dürren Typen mit halblangen Haaren, die ich auch noch unter die Mütze steckte. Straßenköterblond mit unauffälligem Profil, gerader Nase, schwach ausgeprägtem Kinn und hängenden Schultern. Ein Allerweltstyp, den auch die neugierigsten Augenzeugen nicht konkret würden beschreiben können. So wollte ich aussehen, weil ich dachte, dass mir das irgendwie helfen würde. Alles Blödsinn!

Ich machte mich zu Fuß auf den Weg zum Parkplatz des »Congress-Centrum Coeln«, wie das auf Neudeutsch heißt. Wenn man ein Auto klauen will, ist es nicht ratsam, mit dem eigenen Wagen hin- und mit dem geklauten Auto wegzufahren. Die Bullen sind nicht so doof, wie manche Leute meinen. Die kommen schnell auf die Idee, die in der Nähe des Tatortes abgestellten Karren zu überprüfen, und dann kriegen sie dich schneller, als du gucken kannst. Sollten Sie sich merken, ist ein guter Rat vom Fachmann.

Öffentliche Verkehrsmittel sind vollkommen unerträglich. Deshalb ging ich ging zu Fuß, lief mir die Gehwerkzeuge platt und bekam langsam Blasen an den Fersen, weil ich das Herumpudeln nicht gewöhnt bin. Wofür hat der liebe Herrgott schließlich die Autos erfunden? Endlich kam ich also zu dem genannten Parkplatz und tatsächlich stand der voll mit den schärfsten Orgeln, die die Schwaben oder die Bayern oder welche Trachtenjodler auch immer in ihren schicken High-Tech-Fabriken zusammenschrauben. Ein Ding dicker als das nächste, tiefer, schneller, geiler. Sonderausstattungen, limitierte Editionen und Einzelmodelle nach Kundenwunsch. Fünfzig feuchte Träume auf einem halböffentlichen Parkplatz ohne nennenswerte Bewachung. Ein Parkplatz, dessen Qualifikation nicht die Sicherheit ist, sondern die Nähe zum Haupteingang. Ein Parkplatz, dessen Benutzung nur den VIP-Gästen offensteht. Ein Parkplatz mit einem einzigen Videoauge für mehrere Hundert Quadratmeter, einer Schranke, die jeder halbwegs clevere Primelkopf mit Mamis Super-Fitness-Kundenkarte öffnen kann, also die typisch deutsche Sicherheitskatastrophe. Kein Problembewusstsein, obwohl jedes Jahr in Deutschland über fünfzigtausend Autos geklaut werden. Vor Einführung der Wegfahrsperre waren es übrigens fast doppelt so viele. Und ich gehöre zu denen, die auch die kniffligen Fälle erledigen.

Ich ging also in der einsetzenden Abenddämmerung in meinem unauffälligen Outfit mit unauffälligem Schritt möglichst unauffällig über den Parkplatz und blickte mich um– natürlich unauffällig. Und tatsächlich, da war er. Bis zu diesem Moment hätte ich nicht geglaubt, dass es wirklich Menschen gibt, die so durch und durch unterirdisch dämlich sind. Menschen, die einen Mercedes SLR auf dem unbewachten Parkplatz vor einem Kongresszentrum abstellen und sich einbilden, dass ihre Karre noch da steht, wenn sie ihre Mister-Wichtig-Convention abgenudelt haben und vor die Tür treten, um sich in ihre Halbe-Million-Euro-Schüssel zu klemmen und nach Hause zu Mutti zu gondeln. Aber tatsächlich, zwischen den dicken Daimlern, Jaguars, BMWs und sogar einem Bentley stand er, der SLR, von dem der Auftraggeber mir berichtet hatte. Den wollte Olli haben.

Olli ist ein Autoschieber. Natürlich steht er nicht in den Gelben Seiten unter dem Eintrag »Autoschieber«. Er steht unter »Kfz-Werkstatt, An- und Verkauf«, und das ist im Prinzip auch richtig. Nur vertickt er weitaus mehr Autos als er ankauft, weil die Beschaffung der Differenz ohne Kaufvertrag und ähnlich lästigem Papierkram vonstatten– geht. Olli ist eine ganz große Nummer mit Kontakten in den Osten. Bestimmt denken Sie jetzt sofort an Russland oder Polen, aber das sind nicht seine Abnehmerländer. Jede Putzfrau macht inzwischen Geschäfte mit den Russen und den Polen, die sind so etabliert, dass sie schon wieder spießig sind. Olli macht Geschäfte mit einer Gang aus einem der kleinen Länder, ich kenne mich in der Ecke nicht so gut aus, den Namen habe ich mir nicht gemerkt. Ist ja auch egal. Jedenfalls kennt Olli die gesamte Nord-Süd-Ost-West-Autoschieber-Szene wie seine eigene Gesäßtasche. Mich kennt er auch gut, ich habe nämlich mal für ihn gearbeitet, bis wir wegen einer dummen Sache aneinandergeraten sind. Normalerweise wäre es weit unter seiner Würde, meine Existenz jemals wieder zur Kenntnis zu nehmen, aber gestern Abend hat er mir einen seiner Handlanger vorbeigeschickt. Der gab mir den Auftrag, in dessen Ausführung ich mich gerade befand.

Ich will keine Details verraten, denn einen SLR zu klauen ist eine heikle Kiste, und ich bilde mir etwas darauf ein, als einer der wenigen die notwendigen Tricks und Kniffe zu kennen. Deshalb verrate ich sie auch nicht weiter, obwohl mir das Wissen ja nun leider nichts mehr nützen wird. Aber um die Sache kurz zu machen: Ich hab das Ding vom Parkplatz weggeklaut. Leider war es durch meinen gesegneten Schlaf und den langen Fußweg inzwischen schon etwas später als geplant und die Geldsäcke, deren fahrbare Untersätze auf dem Parkplatz standen, traten gerade in Zinnsoldatenmanier und dreiteiliger Einheitskleidung vor die Tür, als ich den Motor startete. Nun ist der Sound, den ein SLR macht, nicht mit dem eines beliebigen Zweit- oder Drittwagens zu verwechseln, also drehten sich fünfzig Köpfe zu mir um, als ich die Kiste aus der Parkbucht jagte. Im Rückspiegel konnte ich noch eine angedeutete La-Ola-Welle erkennen, als neunundvierzig Arme in meine Richtung zeigten und eine Hand in die Jacketttasche fuhr, vermutlich um ein Handy rauszuholen und die Bullen zu rufen. Aber dann verlor ich das Interesse an der Szene hinter mir und konzentrierte mich darauf, mein neues Gefährt zügig, aber nicht zu schnell durch die dunkle Innenstadt Richtung Autobahnauffahrt zu lenken. In der Rushhour an einem Winterabend bei Dunkelheit und eisigem Nieselregen verschwindet selbst ein Vierzigtonner schneller im Gewühl als ein Nichtschwimmer im Niagarafall, und in dem Moment hätte ich glatt glauben können, dass alles gut wird.

Ich widerstand der Versuchung, zu schnell zu fahren, andere Fahrer zu nötigen, rechts zu überholen, die Spur im letzten Moment vor dem Abbiegen zu wechseln und allen anderen Verlockungen, die Autofahren erst richtig hypertonisch krokofantös machen, denn ich wollte ja nicht auffallen. Wenn man in einem geklauten Auto sitzt, sollte man korrekter fahren als bei der Führerscheinprüfung. Ich hielt mich dran. Ich brauchte siebenundzwanzig Minuten bis zu dem vereinbarten Treffpunkt, war fünfundvierzig Sekunden vor der vereinbarten Zeit da. Mist! Ich hätte noch ein paar Minuten Zeit gebraucht, denn bevor man eine geklaute Karre weiterreicht, macht man sie leer. Man sucht alles aus Handschuhfach, Ablagen, Kofferraum und unter den Sitzen hervor, was man noch selbst brauchen oder anderweitig verticken kann. Jetzt war der Turbodurchgang gefragt. Handschuhfach: Straßenkarten, Knebelsäcke, Sonnenbrille, Schreibset. Unter den Sitzen: ein Bündel Geldscheine, Summe auf die Schnelle nicht feststellbar, egal, einstecken. Im Kofferraum: eine nackte Frau.

Ich schlug den Kofferraumdeckel zu, hyperventilierte ein bisschen, öffnete die Klappe wieder und sah sie immer noch dort liegen. Halb auf dem Rücken, die Knie voll angewinkelt, die Arme neben dem Körper, den Kopf etwas zur Seite gedreht. Sie war klein und zierlich, füllte den winzigen Kofferraum aber total aus. Ich stupste sie mit dem Finger an, sie war eiskalt. Ich schob den einen Arm ein bisschen zur Seite und bekam einen riesigen Schreck, als ich die violette Unterseite des Arms sah. Ich legte einen Finger an die Stelle, an der ich die Halsschlagader vermutete: nichts. Sie hatte Tätowierungen um die Fußknöchel, sie war ziemlich hübsch, wenn auch leider dick geschminkt, und sie war mausetot. Ich schloss den Kofferraumdeckel wieder über ihr, vorsichtig, als ob es ihr etwas ausgemacht hätte, wenn ich das Ding mit einem lauten Knall zuschlug. Dann lehnte ich mich an die Fahrertür, fummelte eine Zigarette aus der Jacke, zündete sie an und inhalierte so tief, dass die halbe Fluppe mit einem Mal weg war.

Ich musste sie wegschalten. Die Frau, nicht die Kippe. Man gibt einem Autoschieber kein Auto mit einer Leiche im Kofferraum, noch nicht einmal, wenn es ein SLR ist. Oder erst recht nicht einen SLR? Ich war verwirrt, aber ich wusste, dass die Frau verschwinden musste. Freiwillig würde sie mir den Gefallen nicht tun, also war es Zeit, dass ich mir eine wirklich schlaue Lösung für dieses wirklich ungewöhnliche Problem einfallen ließ, und zwar rapido. Ich nahm noch einen sehr tiefen Zug, warf die Kippe weg und wollte einsteigen, als ich eine Hand auf der Schulter spürte. Ich zuckte so heftig zusammen, dass ich mir das Kinn am Wagendach anschlug.

»Hey, Pascha, du bist pünktlich. Das ist gut.«

Der Typ, der mich da begriffelte und mir mit seinem Pädagogengewäsch kam, hieß Kevin, trug einen Kinnbart, der aussah, als hätte seine Freundin ihm den mit einem feinen Eyeliner auf den Kiefer gemalt und grinste ständig. Vielleicht litt er an Gesichtslähmung. Ich fand ihn jedenfalls immer widerlich und jetzt erst recht. Er hielt die Hand auf.

Ich japste nach Luft und jaulte auf, weil ich mir nicht nur das Kinn angestoßen, sondern auch noch auf die Zunge gebissen hatte, und überlegte krampfhaft, was ich noch tun könnte, um erst die Leiche aus dem Auto verschwinden zu lassen, bevor Kevin die Kiste zu Olli brachte. Es half nichts, mein Laufwerk hatte einen Hänger, die Gedanken wollten keine klare Form oder Richtung annehmen, also ließ ich völlig entkräftet die Schlüssel in Kevins Hand fallen und schüttelte den Kopf, als er mir anbot, dass sein Kumpel mich zurück in die Stadt mitnehmen könnte. Ich stand geschlagene fünf Minuten unbeweglich auf dem Parkplatz, bis ich mich dazu durchringen konnte, die Überbleibsel meines fettigen Mitternachtsburgers in die Schüssel des Raststättenklos zu kotzen. Danach ging es mir etwas besser und ich machte mich auf den Weg nach Hause.

Diesmal mussten es doch die öffentlichen Verkehrsmittel sein und ich dachte, was jetzt wohl passieren würde. Kevin hatte mehrere Hundert PS unter dem Hintern und würde einen Unfall bauen, bei dem das Auto Feuer fing, das sowohl Kevin als auch die Tote in feine Asche verwandelte. Das war meine Lieblingsvision. Es gab aber auch andere. Kevin fuhr direkt zu Olli, der blickte in den Kofferraum, ärgerte sich darüber, dass ich ihm eine Mumie mitgeliefert hatte, die nicht bestellt war, und kippte die Leiche umgehend bei mir vor der Haustür ab. Oder er verteilte Handzettel mit einem Foto der Toten, auf denen stand: »Sie vermissen diese Frau? Fragen Sie Pascha, Telefon…«. Am wahrscheinlichsten allerdings war wohl, dass entweder Kevin oder Olli die Leiche im Kofferraum entdeckten, zum nächsten Waldweg fuhren, sie dort ausluden und dann den Wagen, ganz wie geplant, Richtung Osten vertickten. Immerhin hatte ich keine Blutlachen oder sonstige Verunreinigungen im Kofferraum gesehen, also konnte das Geschäft mit dem fast nigelnagelneuen SLR ganz normal über die Bühne gehen.

Bei diesem beruhigenden Gedanken angekommen, stieg ich aus dem überfüllten Bus, ging die kurze Strecke zu meiner Lieblings-Spielhalle und warf ein paar Münzen in die Automaten. Langsam konnte ich wieder normal atmen, nur die Zunge tat höllisch weh, als der heiße Kaffee mit vier Löffeln Zucker daran entlanglief.

Ich zockte fünf Stunden lang und besaß danach keinen einzigen Cent mehr. Nicht nur mein ganzes Geld einschließlich der fünfhundert Peitschen aus dem SLR war draufgegangen, schlimmer noch: Ich hatte Mehmet, der den Laden führt, mehrere Kredite aus der Tasche geleiert, sodass meine Schulden sich am Ende des Tages auf schlappe neunzehnhundert Euro beliefen. Nicht nur Automatenschulden, aber das dürfte den Cleveren unter Ihnen bereits klar geworden sein. Mehmet war wütend, weil er offiziell keine Kredite geben darf und jetzt selbst für den Verlust geradestehen musste. Ich hatte ihm dauernd von einem großen Deal erzählt und musste nun versprechen, ihm die Kohle zu bringen, sobald ich meinen Anteil an dem Geschäft erhalten hatte. Ich versprach’s und hoffte, die versprochene Kohle von Olli tatsächlich zu bekommen. Achtundvierzig Stunden betrug meine Schonzeit, danach würde Mehmet auf die Jagd gehen. Der Tag hatte beschissen begonnen, er hatte einen katastrophalen Höhepunkt gehabt, und er endete im Desaster.

Weder am nächsten noch am übernächsten Tag hörte ich von Kevin oder Olli, und das machte mich langsam nervös. Die achtundvierzig Stunden, die Mehmet mir gewährt hatte, liefen bald aus und ich wusste nicht, wie ich die Schulden bezahlen sollte. In der Wohnung hatte ich noch fünfzig Euro gefunden, meine eiserne Reserve in den zusammengerollten Sportsocken, die ich schon seit Jahren nicht mehr trug, aber wenn ich Mehmet mein Sockengeld gab, war ich völlig blank und er war immer noch sauer, das war also keine Lösung. Ich hockte abwechselnd bei mir zu Hause und in meinen liebsten Kneipen rum, wartete darauf, dass Kevin oder ein anderer Laufbursche von Olli auftauchte, um mir die versprochenen zweitausend Euronen zu geben, und wurde kurz vor Ablauf des Ultimatums nervös. Noch nervöser, als ich ohnehin schon war. Ich wollte nicht wie ein Schlachtvieh dumm rumstehen und auf den Typ mit dem Bolzenschussgerät warten, also setzte ich mich in die nächstbeste Straßenbahn, fuhr einfach drauflos, wechselte Linie und Richtung, fuhr zurück, nahm dann den Bus und fuhr kreuz und quer durch die Stadt. Ich wechselte wieder in die Straßenbahn, wo es abwechselnd eiskalt oder brüllend heiß war, und als ich einen Sitzplatz am Fenster ergatterte und den Beschlag von der Scheibe wischte, lagen schon zwei Zentimeter Schnee. Auch das noch. Ich hasse Schnee. Wer schnelle Autos liebt, muss Schnee hassen. Ich stieg an einem belebten Platz mit einem Kiosk aus, legte das Sockengeld in alkoholischen Getränken an, nahm eine Bahn Richtung Innenstadt und fing schon während der Fahrt an, mich volllaufen zu lassen. Irgendwo stieg ich aus, natürlich hatte ich das große Glück, mitten in einer Straßenbaustelle zu landen. Hatte gar nicht gewusst, dass in unserem Land noch in Infrastruktur investiert wird. Ich kraxelte provisorische Holztreppen hoch, drängelte mich mit anderen Fahrgästen durch Engstellen, verlief mich und nahm irgendwann eine Überführung, an der ein Schild »Richtung Innenstadt« hing. Mein Sichtfeld hatte sich inzwischen dramatisch verkleinert, die Geräusche aus der Umgebung erreichten meine Horchbretter wie aus weiter Ferne, aber immerhin machte ich mir keine allzu großen Sorgen mehr wegen meiner Schulden.

Den Stoß in den Rücken spürte ich trotz Vollrausch. Er erwischte mich in einem denkbar ungünstigen Moment. Vor mir lagen zwei abwärtsführende Stufen und ein provisorisches Geländer. Mein Schritt wurde durch den Stoß etwas weiter als geplant, dadurch verpasste ich die erste Stufe. Die zweite war schneebedeckt, deshalb glatt, und so rutschte mein profilloser Schuh über die Kante. Das dünne Brett, das als Geländer dienen sollte, hatte ungefähr so viel Halt wie ein Abschleppseil aus Hosengummi. Der Nagel, der an der linken Seite die Verbindung zum Pfeiler herstellen sollte, gab sofort und ohne sich zu zieren nach, der rechte folgte kurz darauf. Meine Beobachtungsgabe war in diesen Sekunden so unbeschreiblich gut wie nie zuvor, und vielleicht hätte das allein mich schon stutzig machen sollen, aber dazu hatte ich gar keine Zeit. Ich rutschte mit den Füßen voran durch das Geländer, kippte nach hinten und schlug mit dem Hinterkopf unglaublich hart auf dem Holz der Brücke auf, bevor ich komplett absemmelte. Meinen Sturz in die Tiefe erlebte ich in Slow Motion. Um irgendeine Achse kreiselnd donnerte ich auf den sechs Meter tiefer liegenden Plattenweg. Das Geräusch, das mein Körper und vor allem meine Denkschüssel beim Aufprall machte, erschreckte sogar die Leute, die meinen Sturz gar nicht hatten sehen können, weil sie mir den Rücken zuwandten. Ich konnte, da ich auf dem Bauch, aber mit dem Gesicht zur Seite lag, noch kurz einen Blick auf Gesichter erhaschen, die sich mir zuwandten, dann sah ich nichts mehr.

Die Dunkelheit währte nur einen kurzen Moment, denn plötzlich, nach schätzungsweise zehn Sekunden, konnte ich die ganze Szenerie sehr klar beobachten– und zwar von oben. Nun haben wir ja alle schon zur Genüge diese Nahtod-Gespenster gesehen, die von Talkshow zu Talkshow geistern, um von ihren geheimnisvollen Erfahrungen zu berichten. Sie betrachten ihren Körper von außen, dann kommt der Tunnel und das Licht, blablabla. Ich dachte mir also noch nicht viel dabei, als ich über meiner verrenkt herumliegenden äußeren Hülle schwebte, und wartete auf den Tunnel, das Licht und darauf, endlich wieder in meinem eigenen Körper aufzuwachen. So haben diese wiedergeborenen Fernseh-Fuzzis das schließlich immer beschrieben.

Ich hing also so herum und wartete. Beobachtete, wie Leute meinen Körper anstießen, wie jemand sich wichtig machte, etwas von Rettungssanitäter faselte, mir ans Handgelenk und die Halsschlagader fasste und dann mit wichtigem Gesichtsausdruck dem Mann, der die Polizei informierte, das Handy aus der Hand nahm und hineinsagte, der Verunfallte sei tot.

Moment mal, dachte ich mir, jetzt übertreibt der Typ aber. Er darf sich gern wichtig machen, wenn er meint, dass er die Weiber damit beeindruckt, aber irgendwo muss doch bitteschön die Grenze sein. Zumal seine theatralische Aufführung noch nicht einmal dazu führte, dass die holde Weiblichkeit sich ihm schluchzend an den Hals warf. Die Umstehenden taten einfach das, was Umstehende so tun: Sie standen umher und glotzten.

Ich will Sie nicht mit allen Details langweilen, nur das Wichtigste in Kürze: Die Polizei kam, registrierte, dass ich von der provisorischen Baustellen-Überführung heruntergefallen war, stellte– wie ich immer noch meinte, unzutreffenderweise– meinen Tod fest und rief den Rechtsmediziner.

»Hallo Rolf«, begrüßte der kleine, pummelige Mann im dunkelblauen Dufflecoat (wirklich, ich schwör’s, der kam im Dufflecoat) den Schutzpolizisten, stellte seine Tasche ab und überprüfte meinen Körper nach Lebenszeichen. »Hallo Martin«, antwortete Rolf, der Polizist.

»Wie lange liegt er denn schon hier?«, fragte Duffie in die gaffende Menge, die jetzt hinter dem inzwischen angebrachten rot-weißen Absperrband mit den frierenden Füßen scharrte.

»Siebzehn Minuten«, antwortete der eifrige Held mit der Rettungserfahrung. Klugscheißer.

»Unfall oder Nachhilfe?«, fragte Duffie.

»Unklar«, entgegnete ein Typ in Zivil, der die Anweisungen gegeben hatte, wo die rot-weißen Bänder angebracht wurden, und der überhaupt den Eindruck machte, hier das Sagen zu haben.

Polizisten wuselten herum, machten tausend Fotos von mir, von der Brücke, dem Geländer und der Flasche, die mir aus der Hand gefallen war. Sie gingen den Weg ab, den ich gekommen war, maßen Längen und Winkel und taten alle furchtbar beschäftigt. Duffie, also Martin, kniete sich neben mich in den leise rieselnden Schnee, betrachtete mich von oben bis unten, zum Teil sogar durch eine Lupe, die er aus seinem großen Koffer holte. Er suchte jeden Zentimeter des Kopfes ab, betrachtete besonders aufmerksam die Stelle, an der der Hinterkopf auf die Holzbohlen gekracht war, kroch mit dem Gesicht fast auf dem Boden herum, als er versuchte, so viel wie möglich von der linken Gesichtshälfte zu sehen, auf der ich lag, bevor er mich endlich umdrehte. Dann lief die Untersuchung noch mal auf der jetzt sichtbaren Vorderseite ab, wieder mit Lupe, und endlich, endlich hatte er genug. Er legte das Glotzglas zurück in seinen Koffer, sah sich suchend um, entdeckte, was er gesucht hatte und machte ein Zeichen mit der linken Hand. Zwei Männer kamen, steckten meinen Körper in eine Horizontalsänfte und schleppten mich weg.

Ich war, wie Sie sich wohl denken können, komplett durch den Wind. Die Nahtod-Surfer hatten nie davon gesprochen, dass die ganze Geschichte so lange dauert. Dass Leute kommen, ihren Tod feststellen, dass Rechtsmediziner sie wie Insekten durch die Lupe anstarren, dass sie in Särge gesteckt und abtransportiert werden.

Abtransportiert– wohin?, fragte ich mich plötzlich und fühlte Panik aufkommen. Wie zum Teufel sollte ich zurück in meinen Körper finden, wenn ich nicht wusste, wo er war? Sie können sich meinen Schreck vorstellen. Ich sauste also hinter den zwei Gestalten her, die den Sarg mit meinem Körper gerade in ein Auto luden. Zum Glück schlitterte ich, im Gegensatz zu den Sargträgern, nicht über die schneeglatte Straße, sondern zischte einfach so durch die Luft und zack ins Auto rein. Auch das hätte mich vielleicht wieder stutzig machen müssen, aber das Thema hatten wir ja eben schon. Zum Stutzen blieb mir keine Zeit. Ich war einfach nur froh, dass ich bei meinem Körper war, als der Wagen auch schon anfuhr.

Ich habe nicht aus dem Fenster geschaut, es interessierte mich nicht wirklich, wohin sie mich brachten, solange ich nur bei meinem Körper war. Irgendwann ging es eine Rampe hinunter, dann wurde die Tür des Autos geöffnet, ein langer Gang erwartete uns und dann eine Tür. Eine Edelstahlschublade wurde aufgezogen, mein Körper hineingelegt, ich natürlich nix wie hinterher, dann ging die Schublade zu und wir lagen im Dunkeln, mein Körper und ich.

Wieder fehlte mir aufgrund meiner Verwirrung und vielleicht als Nachwirkung des Alkohols– wobei ich nicht wusste, ob man als Nahtod-Geist besoffen sein konnte– das Zeitgefühl, aber irgendwann öffnete sich die Schublade, mein Körper wurde auf eine Rollbahre gelegt, in einen gekachelten Raum gefahren, dort auf einen Edelstahltisch mit einem Ablaufsieb am Fußende gelegt, und dann trat Duffie-Martin zusammen mit einem anderen Mann an den Tisch. Der andere hielt ein Diktiergerät in der Hand und sprach die Einleitung. »Obduktion eines männlichen Leichnams im Auftrag der Staatsanwaltschaft Köln. Identität wurde polizeilich festgestellt als Sascha Lerchenberg, Alter: 24, Körpergröße 173cm, Körpergewicht 69kg.«

Ich war immer noch völlig durcheinander, aber das war auch durchaus angebracht, denn was danach kam, war wirklich grauenvoll. Meine anfängliche Verwirrung steigerte sich zu einer ausgewachsenen Panik, als ich sah, was Martin in der Hand hielt: Ein blitzendes, verflucht scharf aussehendes Skalpell. Er setzte es an und schlitzte mir den gesamten Oberkörper auf, vom Kinn abwärts in einem geraden Schnitt bis dahin, wo es wirklich nicht mehr weitergeht. Ich erwartete einen Schwall Blut, aber nichts geschah. Der Labersack kommentierte jeden Schnitt und jeden Befund in sein blödes Gerät, während ich in allerhöchster Aufregung über dem Obduktionstisch kreiste. Mir war schlecht. Lage um Lage wurde meine Haut abgeschält, das Fettgewebe darunter freigelegt, weggeklappt, ich kann mich an all die Details gar nicht mehr richtig erinnern, bis zu dem Punkt, wo die Sache anfing, wirklich eklig zu werden. Martin fasste mir an die Eier.

»Hey, nimm deine Wichsgriffel von meinem Sack«, brüllte ich in höchster Not, und Martin fuhr herum, wobei er so stark zusammenzuckte, dass ich dachte, er schlitzt gleich seinen Kollegen auf. Das war der Moment, in dem ich feststellte, dass er mich hören kann.

ZWEI

»Was ist?«, fragte der Typ mit dem Diktiergerät. Sein ganzes Gesicht konnte ich nicht sehen, weil die Schlitzer beim Zerlegen der Leichen diese lächerlichen Gesichtsmasken tragen, aber seine Augen waren ein bisschen größer geworden vor Schreck, als das Skalpell wenige Zentimeter vor seinem Bauch durch die Luft gezischt war.

»Ich, äh, ich weiß nicht«, stammelte Martin und ich spürte seine Unsicherheit. Da konnten wir uns ja die Hand reichen, und außerdem war ich wirklich empört (auch so ein schönes Wort, das Martin mir wieder beigebracht hat), das können Sie sich ja vorstellen. Was würden Sie wohl sagen, wenn ein Perverser in einem grünen Kittelchen Sie erst kunstgerecht filetiert und Ihnen dann die Eier abschneiden will?– Eben.

»Müssen wir die Hoden präparieren?«, fragte Martin, und es klang irgendwie kleinlaut.

»Nö«, kam es hinter dem Mundschutz hervor und die Augen wurden schmal. Der Kerl grinste sich einen. »Das machen nur die Kolleginnen gern. Lass man, ist schon in Ordnung. Todesursache ist klar, oder?«

Martin nickte. »Todesursache ist zentrales Regulationsversagen, hervorgerufen durch den harten Aufprall des Hinterkopfs beim Sturz von der Brücke.«

Der andere hob das Gerät wieder an den Mundschutz, sagte »Präparierung der Hoden nicht notwendig«, schaltete es ab und streckte sich. »Ich muss mal auf’s Klo.«

Martin nickte. Er blieb bei mir, trat aber einen Schritt vom Tisch zurück und sah den Helferlein zu, die die Stückchen, die Martin aus meinen Organen herausgeschnitten hatte, in Einmachgläser legten. Damals konnte ich damit noch nichts anfangen, inzwischen weiß ich, dass von jedem Organ eine feingewebliche Probe genommen wird, die im Instituts-Slang »Histo-Probe« heißt. Kommt von histologisch, aber das muss man nicht wissen. Das Aufschneiden der Leiche ist auch nur ein Teil einer Obduktion. Außerdem gibt es noch die toxikologische und eventuell sogar eine genetische Untersuchung.

Während meiner eigenen Obduktion jedenfalls glotzte ich einfach nur umher, verhielt mich aber ansonsten still. Martin wirkte auch unnatürlich still. Es war, als horche er angestrengt, wobei er sich nicht ganz sicher zu sein schien, ob er nach außen oder nach innen horchen sollte. Ich ließ ihn erst mal in Ruhe.

Die Obduktion an meiner Leiche wurde vorschriftsmäßig und ohne weitere Störungen abgeschlossen, das Schlachthaus, wie ich den weiß gefliesten Raum nannte, wurde gereinigt und ich, also meine inzwischen ziemlich übel ausgeweidete, aber immerhin wieder mit allen entnommenen Organen vollgestopfte und zugenähte körperliche Hülle, kam zurück in mein Kühlfach mit der Nummer vier. Im letzten Moment, bevor die Schublade ganz geschlossen wurde, entschloss ich mich anders, huschte aus dem letzten kleinen Schlitz heraus und begab mich in die Nähe der Deckenleuchte, von wo ich einen guten Überblick über den Raum hatte. Viel war nicht zu sehen, denn außer der Wand mit den Kühlfächern, in denen übrigens eine Temperatur von vier Grad Celsius herrscht, gab es nichts zu sehen. Eine Weile hing ich noch unentschlossen herum, dann wagte ich den Versuch, durch den schmalen Ritz der Schwingtür in den Flur zu gelangen. Bingo! Offenbar war inzwischen Feierabend hier unten, denn im ganzen Untergeschoss, das aus langen Fluren, dem Sektionssaal und wenigen Nebenräumen bestand, war keine Menschenseele. Bis auf mich, denn ich glaube, der Begriff »Menschenseele« trifft wohl auf niemanden so genau zu wie eben auf mich. Ich geisterte (auch ein Wort, das eine plötzliche Aktualität gewann) ziel- und planlos herum. Nachdem ich eine ganze Weile so verbracht hatte, langweilte ich mich irgendwann, traute mich aber auch nicht, das Untergeschoss zu verlassen, also zog ich mich vor meine Kühlfachtür zurück und döste vor mich hin. Zumindest diese Fähigkeit hatte ich nicht verloren, darin war ich schon immer ganz gut gewesen.

Martin war wieder der Erste, den ich am nächsten Morgen sah, und er strahlte eine deutlich spürbare ängstliche Unruhe aus. Wie vor einem Auftrag, von dem man eigentlich weiß, dass er eine Nummer zu groß ist.

»Hallo Martin«, sagte ich, und an seinem erschrockenen Gesichtsausdruck konnte ich sehen, dass er mich wieder gehört oder zumindest irgendwie gespürt hatte, denn wenn ich hier schreibe, dass ich etwas sage, dann hat das natürlich nichts mit der Erzeugung von Tönen zu tun, denn dafür bräuchte man ja Stimmbänder. Meine lagen allerdings zerschnipselt in der aufgeschnittenen Kehle der Gulaschleiche in Kühlfach vier.

»Ich bin Pascha, der Kerl aus Kühlfach Nummer vier. Du wolltest mir gestern die Eier abschneiden.«

Ich gebe zu, nicht die nervenschonendste Vorstellung, aber immerhin direkt und zutreffend. Er sollte gleich wissen, mit wem er es zu tun hat.

»Sascha«, flüsterte Martin. Er konnte natürlich nicht wissen, dass ich, seit es diesen Westfalen-Schnulzomat mit meinem Namen gibt, den ersten Buchstaben ausgetauscht habe und mich nun Pascha nenne. Das erklärte ich ihm netterweise.

Martin stand an der Wand, seine pummelige Gestalt zuckte und zappelte und seine Gesichtsfarbe ähnelte der seiner gekühlten Kunden. Er fuhr sich mit der zitternden Hand fahrig über seine Augen.

»Ich höre Stimmen.«

Das sagte er nicht, er dachte es, und ich konnte es hören! Geil!

»Wenn du mehrere Stimmen hörst, solltest du zum Arzt gehen, wenn du nur meine hörst, ist das in Ordnung, immerhin rede ich schon die ganze Zeit mit dir!«

»Wer bist du?«, fragte er flüsternd.

»Das habe ich dir doch gerade erklärt«, sagte ich leicht genervt. »Ich bin von dieser Brücke geschubst worden, du hast mich an Ort und Stelle begutachtet, und gestern hast du mich auf deinem Tisch fast püriert!«

»Aber du bist tot, du kannst nicht mit mir sprechen«, wandte er ein.

Okay, der Mann ist Naturwissenschaftler, aber trotzdem fand ich, dass er sich für einen Akademiker ganz schön blöd anstellte.

»Hast du noch nie diese Nahtod-Geschichten gehört? Die Seele verlässt den Körper, hängt noch eine Weile herum und macht sich irgendwann auf den Weg durch den Tunnel.«

»Ja«, hauchte er.

»Aber hier ist kein Tunnel, ich weiß nicht, wo ich hin soll.«

Er schwieg. Ich schwieg auch und so hingen wir unseren Gedanken nach, wobei seine ein wirres Durcheinander bildeten.

Plötzlich ordnete sich das Neuronenchaos in seinem Hirn und ein Gedanke formulierte sich klar und deutlich aus der Buchstabensuppe heraus: »Du hast gesagt, du wurdest gestoßen?«

»Na klar«, sagte ich, »denkst du, ich stürze mich einfach so von einer Behelfsbrücke, weil meine Socken leer sind?«

Ich konnte die Fragezeichen förmlich aus seinen grauen Zellen heraufploppen sehen, die Formel mit den Socken kannte der Naturwissenschaftler natürlich nicht.

»Du warst stark alkoholisiert«, wandte er vorsichtig ein. »Na ja«, gab ich gedehnt zu. »Ich hatte ein bisschen getrunken…«

»Du hattest drei Komma sieben Promille im Blut«, entgegnete Martin, er ist ja gern präzise, aber das sagte ich wohl schon.

»Drei Komma sieben! Alle Achtung!« Ich war von mir selbst schwer beeindruckt. Die Freude hielt allerdings nicht lange an, denn mein alkoholisierter Zustand sollte hier augenscheinlich gegen mich verwendet werden. Mein Mörder käme ungestraft davon, weil die amtliche Meinung meinen vorsätzlich herbeigeführten Rauschzustand als ursächlich für den Sturz von der Brücke betrachtete. Das durfte ja wohl nicht wahr sein! Und noch viel schlimmer war, dass meine Kumpels glauben würden, ich sei so besoffen gewesen, dass ich aus eigener Blödheit ums Leben gekommen war. Was ist das für ein Nachruf? Er ist besoffen von der Brücke gefallen! Also, an der Stelle packte mich die Eitelkeit, ein bisschen Ehrenrettung muss auch nach dem Tod noch drin sein.

»Ich wurde gestoßen«, betonte ich daher vielleicht etwas ausdrucksstärker, als unbedingt notwendig gewesen wäre, jedenfalls fasste Martin sich an die Schläfen und stöhnte auf.

»Schon gut«, jammerte er, »brüll mich bitte nicht so an.«

»Bleib geschmeidig«, sagte ich und bemühte mich um einen coolen Tonfall. »Sag mir doch mal ganz genau, welchen Spruch die Bullen auf meine Kiste meißeln.«

Ich spürte wieder diese Fragezeichen auftauchen wie Blasen in der Badewanne, wenn man einen fahren lässt, aber Martin hatte schon so ungefähr verstanden, was ich von ihm wollte.