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Im Juni 2012 fand in Rio de Janeiro die fünfte große Umwelt- und Nachhaltigkeitskonferenz der Vereinten Nationen statt. Der Erdgipfel „Rio+20“ steht symbolisch als Meilenstein für 40 Jahre internationale und nationale Umweltpolitik. Auch wenn die Konferenz nun schon einige Zeit zurückliegt, reflektieren die mit ihr verbundenen Ziele noch immer den „Zeitgeist“ und damit auch die aktuellen Inhalte von Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik. 40 Jahre Umweltpolitik scheinen ein angemessener Anlass für eine Standortbestimmung zu sein. Die Umweltbewegung hat in dieser Zeitspanne viele notwendige gesellschaftliche Veränderungsprozesse bewirkt. Macht- und Einflussgewinn in den letzten 40 Jahren ihres gesellschaftlichen Wirkens haben mittlerweile jedoch zur Erstarrung ihrer inhaltlichen Positionen und zum Verlust ihrer thematischen Autonomie geführt. Unterlässt sie es weiterhin, so die von den Autoren vertretene These, ihre Position im Hinblick auf den allenthalben stattfindenden gesellschaftlichen Wandel von der untergehenden Industriegesellschaft hin zu einer Zukunftsgesellschaft zu reflektieren, wird sie sich vom einstigen Motor gesellschaftlicher Entwicklung in einen Hemmschuh für diese Entwicklung verwandeln. Die in dieser Schrift skizzierte Standortbestimmung macht die Herkunft und den aktuellen Entwicklungsstatus nationaler und internationaler Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik zum Gegenstand der Betrachtung. Sie bezieht sich im Kern auf die Fragen: Wo stehen nationale und internationale Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik heute, wo liegen ihre wesentlichen Wurzeln, welche Bilanz ihres bisherigen Wirkens lässt sich insgesamt ziehen, welche Leitideen und Leitbilder dominieren das Denken und Tun ihrer Hauptakteure und welche Schlüsse lassen sich aus den Ergebnissen der Standortbestimmung für die weitere Entwicklung der Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik im Allgemeinen und für die Zukunft der Umweltbewegung im Besonderen ziehen? Das Buch ist Bestandteil eines umfassenderen Projektes, dessen Ergebnisse unter der Dachüberschrift „Argumente für eine evolutionäre Umwelt- und Nachhaltigkeitsstrategie“ in einer dreibändigen Buchreihe erscheinen.
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Seitenzahl: 263
Veröffentlichungsjahr: 2016
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In memoriam
Arnim Bechmann
(1943 – 2014)
Vorwort
Abkürzungen
Einführung
1.1 Anlass und Fragestellung
1.2 Grenzen, Aufbau und Vorgehensweise
Von der Umweltpolitik zur Nachhaltigkeitspolitik
2.1 Einführung
2.2 Eine kurze Bilanz der bisherigen Umweltpolitik
2.2.1 Vorbemerkung
2.2.2 Vorgeschichte
2.2.3 Entwicklungsphasen
2.2.4 Das Instrumentarium
2.2.5 Die Sachbilanz
2.2.6 Die Flankierung staatlicher Umweltpolitik durch gesellschaftliche Akzeptanz, Partizipation und Lobbyismus
2.3 Die Ausweitung von Umweltpolitik zu Nachhaltigkeitspolitik
2.3.1 Zur Entstehungsgeschichte
2.3.2 Die expansive Dynamik des Umwelt- und Ressourcenschutzes
2.3.3 Nachhaltigkeitspolitik
2.3.3.1 Vorbemerkung
2.3.3.2 Das Konzept
2.3.3.3 Strategien
2.3.3.4 Operationalisierung
2.3.4 Nachhaltigkeitsakteure
2.3.4.1 Vorbemerkung
2.3.4.2 Die Bundesregierung
2.3.4.3 Der Rat für nachhaltige Entwicklung
2.3.4.4 Umweltbewegung und Zivilgesellschaft
2.3.4.5 Wirtschaft
2.3.4.6 Wissenschaft
2.3.5 Kommentar und Einschätzung bisheriger Nachhaltigkeitspolitik
2.4 Die Zukunft der Umwelt- und Ressourcenkrise
2.4.1 Zur Charakteristik des Bedrohungspotenzials
2.4.2 Ausmaß, Qualität und Entwicklung des ökologischen Bedrohungspotenzials
2.4.2.1 Die Gesellschaft-Natur-Beziehung und das ökologische Bedrohungspotenzial
2.4.2.2 Das globale Existenzbedrohungspotenzial
2.4.2.3 Zukunftsperspektiven durch die Brille von Globalmodellen
2.4.3 Kommentar
2.5 Erstes Zwischenfazit
Exemplarische Beispiele zum Stand der Dinge
3.1 Vorbemerkung - zur Repräsentativität der Beispiele
3.2 Der Rio+20-Gipfel
3.2.1 Der Weg zum Rio+20-Gipfel: Globale Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik - von der Innovation zur Routine
3.2.1.1 Vorbemerkung
3.2.1.2 Die erste globale UN-Umweltkonferenz - Stockholm 1972
3.2.1.3 Eine erste ernüchternde Zwischenbilanz - Nairobi 1982
3.2.1.4 Der globale Durchbruch - Rio 1992
3.2.1.5 Das „thematisierte“ Vollzugsdefizit und der „Plan of Implementation“-Johannesburg 2002
3.2.2 Rio+20 - Der UN-Nachhaltigkeitsgipfel 2012
3.2.3 Kommentar
3.3 Die Millenniums-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen
3.3.1 Die Millenniumskonferenz
3.3.2 Die Millenniums-Entwicklungsziele
3.3.3 Der Fortschrittsbericht 2010
3.3.4 Kommentar
3.4 Das WBGU-Konzept der „Großen Transformation“
3.4.1 Vorbemerkung
3.4.2 Der neue Gesellschaftsvertrag und die Dekarbonierungsstrategie als Kernpunkte der „Großen Transformation“
3.4.3 Kommentar
3.5 Leitbild und Grundsatzprogramm des Deutschen Naturschutzringes (DNR)
3.5.1 Vorbemerkung
3.5.2 Das DNR-Grundsatzprogramm (2002)
3.5.3 Das DNR-Leitbild (2013)
3.5.4 Kommentar
3.6 Die Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität“
3.6.1 Anlass und Aufgabe
3.6.2 Arbeitsweise und Ergebnisse
3.6.3 Kommentar
3.7 Der Berliner Transformationskongress
3.7.1 Anlass und Zielsetzung
3.7.2 Ergebnisse
3.7.3 Kommentar
3.8 Der Worldwatch-Bericht „Zur Lage der Welt 2012“
3.8.1 Hintergrund
3.8.2 Themenspektrum
3.8.3 Kommentar
3.9 Zweites Zwischenfazit
Beobachtungen und Einschätzungen zur Situation und Entwicklung der Umweltbewegung
4.1 Einführung
4.2 Die Wurzeln der Umweltbewegung und ihre konservative Grundorientierung
4.2.1 Vorbemerkung
4.2.2 Zu den Wurzeln der Naturschutzbewegung
4.2.3 Zu den Wurzeln der Umweltschutzbewegung
4.2.4 Die gegenwärtige Umweltbewegung
4.3 Der Trend des gesellschaftlichen Leitbildwandels und die Entwicklung der Umweltbewegung
4.3.1 Vorbemerkung
4.3.2 Der Zusammenbruch der Zukunftsvision der Industriegesellschaft
4.3.3 Die gesellschaftlichen Konfliktpotenziale in der Konstitutionsphase von Umweltpolitik
4.3.4 Der Weg der Umweltbewegung
4.3.4.1 Vorbemerkung
4.3.4.2 Die Orientierungs-Zwickmühle der Umweltbewegung: Rebellion oder Einpassung?
4.3.4.3 Integration durch Konventionalisierung unter den Vorzeichen des gesellschaftlichen Wandels
4.3.4.3.1 Vorbemerkung
4.3.4.3.2 Der Weg der Konventionalisierung
4.3.4.3.3 Integrationsförderliche Trends des gesellschaftlichen Wandels
4.3.4.3.3.1 Vorbemerkung
4.3.4.3.3.2 Der postindustrielle wirtschaftliche Strukturwandel
4.3.4.3.3.3 Der postindustrielle Wertewandel
4.3.5 Die Uniformierung des Denkens, Wahrnehmens und Argumentierens
4.3.6 Zum Stand der Dinge - Machtgewinn, Erstarrung und Autonomieverlust
4.4 Dominierende Leitideen und Leitbilder sowie die Folgen der Konventionalisierung
4.4.1 Vorbemerkung
4.4.2 Die Argumentationsfigur der „Untergangsdrohung“
4.4.3 Die Dämonisierung des Fortschrittes und die Fokussierung auf Technologiekonzepte der Industriegesellschaft des 20. Jahrhunderts
4.4.4 Die ideologische Vereinnahmung von Biologie und Ökologie
4.4.5 Die Fokussierung auf den gestaltenden Staat, die formierte Gesellschaft und die Dominanz der „Richtigdenker“
4.4.6 Die immanenten technologischen und sozialen Grenzen der Effizienz-, der Konsistenz- und der Suffizienzstrategie
4.4.7 Die Vision einer plan- und steuerbaren gesellschaftlichen Entwicklung
4.4.8 Die Formel der „relativen Nachhaltigkeit“ - der Weg des Mainstreams
4.4.9 Interne Kritiker und neue Hoffnungsverkünder
4.4.10 Die enge Bindung an das materialistische naturwissenschaftliche Weltbild
4.5 Drittes Zwischenfazit
Impulse für eine Neuorientierung von Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik
5.1 Einführung
5.2 Zum Hintergrund und Kontext von Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik
5.2.1 Vorbemerkung
5.2.2 Globale Großtrends
5.2.3 Der Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft
5.2.4 Die „Neue Praxis“: unkonventionelle, emergente Umgangsformen mit Natur und Leben verbreiten sich im Alltag unserer Gesellschaft
5.2.5 Emergente Entwicklungsimpulse durch komplementäres Wissen und transmateriale Technologien
5.2.6 Der sich allgemein ankündigende naturwissenschaftliche Paradigmenwandel
5.2.7 Zur Bedeutung des gesellschaftlichen Wandels für die Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik
5.3 Wege aus dem Konventionalisierungsprozess
5.3.1 Vorbemerkung
5.3.2 Die Restaurationsfalle oder der Fluch des Tüchtigen
5.3.3 Die Weltbildfrage als Kontext von Orientierungsimpulsen für Zukunftshandeln
5.3.4 Die Sinnhaftigkeit einer angemessenen Erweiterung der IPAT-Formel
5.4 Ausblick
Literatur
Websites
Nehmen wir uns nicht die Zeit, die Vergangenheit nochmals Revue passieren zu lassen, so werden wir kaum genügend Einsicht haben, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu beherrschen; denn die Vergangenheit verlässt uns niemals, und die Zukunft hat bereits begonnen.
Lewis Mumford (1977, S. 25)
2009 beschloss die Mitgliederversammlung des Deutschen Naturschutzringes (DNR) eine interne Leitbilddiskussion zu starten. Sie setzte dafür drei Arbeitsgruppen (Wachstumskritik, Nachhaltigkeit und Biodiversität) ein. Das Zukunfts-Zentrum Barsinghausen (ZZB) beteiligte sich als DNR-Mitglied an den Arbeitsgruppen Wachstumskritik und Nachhaltigkeit.
Wir brachten in beide Arbeitsgruppen, insbesondere in der zur Wachstumskritik, in der insgesamt viele anregende Beiträge vorgetragen und diskutiert wurden, das von uns seit längerem vertretene Konzept einer „Evolutionären Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik“ ein.
Unsere Vorschläge, bei der vom DNR angestrebten Leitbildformulierung den tiefgreifenden strukturellen, globalen gesellschaftlichen Wandel, den zunehmenden Individualisierungsprozess der Menschen, das sich immer weiter verbreitende, neuartige unkonventionelle Wissen hinsichtlich des Umgangs mit Natur und Leben sowie den sich anbahnenden paradigmatischen Wandel des naturwissenschaftlichen Weltbildes einschließlich seiner Konsequenzen für die weitere Entwicklung des wissenschaftlich-technischen Fortschrittes einzubeziehen, lösten vielleicht Verwunderung, aber keineswegs Interesse aus. Sie wurden zwar wahrgenommen, nicht aber wirklich gehört. Sie lagen - so unsere Einschätzung - zu weit außerhalb des geläufigen Diskussionsrahmens. Das war sehr enttäuschend für uns, wenn auch nach den Erfahrungen, die wir im vorangehenden Jahrzehnt gemacht hatten, nicht völlig überraschend.
Wir beschlossen, aufgrund dieses Misserfolgs am Zukunfts-Zentrum ein Projekt mit dem Arbeitstitel „Impulsgeber und Konturen der Zukunftsgesellschaft“ zu starten. In ihm wollten wir - so gut wie uns dies möglich war - eine Art Bilanz zur aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung, zum Stand der Dinge von Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik und zu Vorstellungen über die ökologischen und sonstigen Zukunftsperspektiven unserer Gesellschaft ziehen. Dieses Projekt lief - wenn auch mit Unterbrechungen - von Ende 2010 bis Ende 2013. In ihm wurde sehr viel Material zusammengetragen und gesichtet. Es entstand eine erhebliche Anzahl an internen Arbeitspapieren und kleineren Dokumentationen.
Da das Projekt von seiner sehr offenen, weitgespannten Themenzusammensetzung her immer mehr Dynamik und Komplexität entfaltete, beschlossen wir Anfang 2013, es auf dem bis dahin erreichten Stand zu beenden und aus dem bis zu diesem Zeitpunkt geschaffenen Arbeitsmaterial ein Fazit zu ziehen, ohne weiter ins Detail zu gehen oder gar den Umfang des Materials zu erweitern.
Unsere im Folgenden vorgetragene Argumentation für eine evolutionäre Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik fasst die wichtigsten Ergebnisse und Einsichten aus dem o. g. Projekt zusammen. Wir habe sie auf drei Buchtexte verteilt, die unter der Dachüberschrift „Argumente für eine evolutionäre Umwelt- und Nachhaltigkeitsstrategie“ erscheinen. Der vorliegende Text ist Band I dieser Buchreihe. Die Bücher der Reihe tragen die Titel
> Die Konventionalisierung der Nachhaltigkeitspolitik - Beobachtungen, Einschätzungen und Versuch einer Standortbestimmung (Band I),
> Konturen der Zukunftsgesellschaft - Ergebnisse einer Erkundungsstudie zur Bedeutung des strukturellen gesellschaftlichen Wandels für eine zukunftsfähige Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik (Band II, vgl. Bechmann, Steitz 2016).
> Evolutionäre Nachhaltigkeitspolitik - Leitbildwandel durch paradigmatische Neuorientierung (Band III, vgl. Bechmann, Steitz 2014),
Der erste Band dient der Bestandsaufnahme der gängigen Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik und ihrer zunehmenden Konventionalisierung sowie der Rolle, die die Umweltbewegung dabei spielt.
Im zweiten Band skizzieren wir den von uns behaupteten gesellschaftlichen Wandel anhand von Trends, Entwicklungsgradienten, sich andeutenden Strukturbrüchen und emergenten Zukunftspotenzialen gesellschaftlicher Entwicklung soweit wir Letztere zu erkennen vermögen und schildern einige der möglichen Konsequenzen des sich anbahnenden naturwissenschaftlichen Weltbildwandels sowie unser methodisches Konzept und einige Arbeitstechniken, dieses Themenfeld zu erschließen.
Im dritten Band entwickeln und begründen wir unser Konzept einer evolutionären Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik.
Einige thematische/textliche Überschneidungen zwischen den einzelnen Bänden ließen sich leider nicht gänzlich vermeiden und sind dem Gang unserer Argumentation geschuldet. Wir haben uns bemüht, sie gering zu halten.
Für das Tippen von großen Teilen des Manuskriptes danken wir Frau Ilona Großmann von Herzen.
Barsinghausen, Putbus, 6. November 2014
Arnim Bechmann, Matthias Steitz
War es Arnim Bechmann und mir noch möglich, den Band III der Reihe „Argumente für eine evolutionäre Umwelt- und Nachhaltigkeitsstrategie“ im Jahr 2014 gemeinsam fertigzustellen, so gelang dies für das Manuskript des hier nun vorgelegten Bandes I der oben genannten Reihe leider nicht mehr. Kurz vor der endgültigen Fertigstellung, noch während der letzten Arbeiten am Manuskript, verstarb Arnim Bechmann nach schwerer Krankheit.
Es war sein ausdrücklicher Wunsch - noch auf seinem Krankenlager von ihm geäußert - dass die von uns gemeinsam begonnene Schriftenreihe zu Ende geführt und veröffentlicht werden soll. Noch immer voller Trauer über den plötzlichen Verlust eines aus tiefstem Herzen geschätzten Menschen fällt mir nun die Aufgabe zu, ihm seinen Wunsch zu erfüllen.
Ich tue dies gern, wenn auch schweren Herzens, da ein wesentliches Element der Tätigkeit in den Projekten des Zukunfts-Zentrums nun für immer fehlen wird: Gerade in der bewussten Gestaltung einer produktiven, von gegenseitigem Respekt der Meinung des jeweils anderen geprägten Zusammenarbeit lag eine der großen Stärken unserer gemeinsamen Projektarbeit der letzten mehr als zwanzig Jahre.
Der hier nun vorgelegte Manuskript-Text von Band I wurde gänzlich gemeinsam von Arnim Bechmann und mir verfasst. Nach seinem Tod blieben einige wenige Recherchearbeiten im Hinblick auf die von uns verwendete Literatur, die vor der Veröffentlichung des Buches noch bewältigt werden mussten. Ich hoffe und glaube, diese Arbeiten auch in seinem Sinne zu einem zufriedenstellenden Ergebnis gebracht zu haben. Eine wertvolle Hilfe und Unterstützung dabei war Martin Bechmann, dem ich herzlich für seinen Beitrag und sein Engagement danke.
Die Veröffentlichung dieses Werkes macht es zu einem für alle interessierten Menschen unmittelbar zugänglichen Teil des umfangreichen wissenschaftlichen Nachlasses von Arnim Bechmann.
Das hätte ihm gefallen.
Putbus, 23. Dezember 2014
Matthias Steitz
Im Juni 2012 fand in Rio de Janeiro die fünfte große Umwelt- und Nachhaltigkeitskonferenz der Vereinten Nationen statt.
Der Erdgipfel „Rio+20“ knüpft bewusst an die Programmatik und die Aufgabenstellung der im Rückblick oft glorifizierten Rio-Konferenz von 1992 an. Er steht zugleich - und das erscheint uns wesentlich bedeutsamer - symbolisch als Meilenstein für 40 Jahre internationale und nationale Umweltpolitik. Auch wenn die Konferenz nun schon einige Zeit zurückliegt, reflektieren die mit ihr verbundenen Ziele und Aussagen noch immer den „Zeitgeist“ und damit auch die aktuellen Inhalte von Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik.
40 Jahre Umweltpolitik scheinen uns ein angemessener Anlass für eine Standortbestimmung zu sein, und sei diese - wie die folgende - auch nur sehr fragmentarisch.
Die Umweltbewegung hat in dieser Zeitspanne insgesamt viele notwendige gesellschaftliche Veränderungsprozesse bewirkt.
Unterlässt sie es jedoch weiterhin - so die von uns vertretene und im Folgenden näher erläuterte und begründete These - ihre Position im Hinblick auf den gesellschaftlichen Wandel von der untergehenden Industriegesellschaft hin zu einer Zukunftsgesellschaft zu reflektieren, deren Konturen sich zunehmend klarer abzeichnen und in der für die Bewältigung der Umwelt- und Ressourcenkrise andere Möglichkeiten zur Verfügung stehen werden, und vermeidet sie es auch in Zukunft, sich den neuen anstehenden gesellschaftlichen Herausforderungen - vor allem im Hinblick auf den immer deutlicher sichtbar werdenden naturwissenschaftlichen Weltbildwandel - zu stellen, wird sie sich vom einstigen Motor gesellschaftlicher Entwicklung in einen Hemmschuh für diese Entwicklung verwandeln.
Die hier sehr plakativ und zunächst nur abstrakt formulierte These soll keinesfalls die unbestrittenen Leistungen der Umweltbewegung der Vergangenheit schmälern oder diese gar gänzlich in Abrede stellen. Der sich zunehmend deutlicher abzeichnende, bereits seit mindestens zwei Jahrzehnten stattfindende gesellschaftliche Umbruch fordert jedoch nach unserer Auffassung alle Akteure der Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik - im Besonderen jedoch die Vertreter und Vertreterinnen der Umweltbewegung - dazu auf, bestehende, rückblickend betrachtet durchaus erfolgreiche, in vielen Punkten aber auch mittlerweile überholte Konzepte zur Lösung der Umwelt- und Ressourcenkrise zu überdenken und nach neuen, in unserer Gesellschaft heute bereits erkennbaren Lösungsstrategien Ausschau zu halten und diese bei der Entscheidung über zukunftsbestimmende umwelt- und nachhaltigkeitspolitische Handlungsoptionen einzubeziehen. Warum wir diese Forderung vertreten und was sich hinter ihr verbirgt, werden wir im weiteren Verlauf der Schrift darlegen.
Uns ist dabei durchaus bewusst, dass das von uns geforderte Um- und Neudenken im Hinblick auf eine zukunftsfähige Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik kein einfacher Weg sein wird, weil er die Akteure der Umweltbewegung vor eine in ihrem Kern sehr grundsätzliche Entscheidung stellt, die letztlich auf „Machterhalt versus Entwicklungsfähigkeit“ hinausläuft.
Die Umweltbewegung hat die Anerkennung der von ihr in die Gesellschaft getragenen Anliegen vor allem durch die „Konventionalisierung“ (vgl. Kap. 4) ihrer Positionen erreicht. Was genau damit gemeint ist, skizzieren wir im weiteren Verlauf der vorliegenden Schrift. An dieser Stelle seien lediglich thesenartig vorweggenommen, dass
> die Umweltbewegung durch den gesellschaftlichen Integrationsprozess, den sie in den vergangenen ca. 40 Jahren durchlaufen hat, die programmatische Anschlussfähigkeit ihrer Themen herstellen und gesellschaftlichen Wandel bewirken konnte,
> dieser Integrationsprozess in bestehende Gesellschaftsstrukturen hinein insgesamt zu einem heute unbestrittenen Einflussgewinn der Umweltbewegung auf politische und gesellschaftlich wirksame Entscheidungsstrukturen und -prozesse geführt hat,
> dabei jedoch sowohl thematisch als auch „personell“ vieles auf der Strecke geblieben ist, was oder wer nicht „konventionalisierbar“ war oder sich nicht konventionalisieren ließ (die „fundamentalistischen“ Positionen mancher „Ur-Grüner“ zu Beginn der 80er Jahre können hier als exemplarisches Beispiel dieser Entwicklung dienen),
> diese „Ausgrenzung“ nicht konsensfähiger Themen und Personen rückblickend in der damaligen Situation möglicherweise unvermeidlich, vielleicht sogar sinnvoll und hilfreich gewesen ist, weil das Anliegen der Umweltbewegung umso leichter von der Gesellschaft wahr- und aufgenommen wurde, je mehr ihre Vertreter und Vertreterinnen bereit waren, die gesellschaftlich anerkannten Regeln bei ihrem Tun einzuhalten,
> Macht- und Einflussgewinn der Umweltbewegung in den letzten 40 Jahren ihres gesellschaftlichen Wirkens mittlerweile jedoch zur Erstarrung ihrer inhaltlichen Positionen und zum Verlust ihrer thematischen Autonomie geführt haben und sich uniformiertes, am gesellschaftlichen Mainstream ausgerichtetes Denken und Handeln mehr und mehr durchgesetzt haben (Letzteres ist allerdings nicht nur typisch für die Umweltbewegung sondern ein aktuell zu beobachtendes Phänomen politischen Handelns insgesamt),
> durch diese Erstarrung und das Festhalten an überkommenen, d. h. nicht mehr zeitgemäßen Leitbildern und -ideen, relevante gesellschaftliche Entwicklungen von der Umweltbewegung kaum mehr wahrgenommen, geschweige denn anerkannt oder gar im eigenen Handeln berücksichtigt werden.
Wir werden diesen hier zugegebenermaßen nur sehr knapp und holzschnittartig dargestellten Entwicklungsgang der Umweltbewegung sowie ausgewählte Aspekte der Entwicklung von Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik im weiteren Verlauf näher erläutern und sie im Rahmen der uns bei der Anfertigung dieser Schrift verfügbaren Möglichkeiten argumentativ unterlegen.
Die im Folgenden skizzierte Standortbestimmung macht die Herkunft und den aktuellen Entwicklungsstatus nationaler und internationaler Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik zum Gegenstand der Betrachtung. Sie bezieht sich im Kern auf die Fragen:
> Wo stehen nationale und internationale Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik heute, wo liegen ihre wesentlichen Wurzeln und welche Bilanz ihres nun schon 40jährigen Wirkens lässt sich insgesamt ziehen?
> Wo steht die „Umweltbewegung“ heute, d. h. wo stehen die umweltpolitisch aktiven Institutionen der Zivilgesellschaft innerhalb des Feldes der nationalen und internationalen Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik und welche Leitideen und Leitbilder dominieren das Denken und Tun ihrer Hauptakteure?
> Welche Schlüsse lassen sich aus den Ergebnissen der Standortbestimmung für die weitere Entwicklung von Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik im Allgemeinen und für die Zukunft der Umweltbewegung im Besonderen ziehen?
Im Rahmen dieser Schrift war es uns weder möglich, einer Standortbestimmung der Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik eine ausführliche Analyse der Ausgangssituation zugrunde zu legen noch eine ausführliche, stark differenzierende Argumentationsfigur aufzubauen. Wir werden uns daher in beiderlei Hinsicht auf das Wesentliche fokussieren und dabei allerdings - dort, wo möglich - auf einschlägige Arbeiten aus dem Zukunfts-Zentrum verweisen, in denen unsere im Folgenden skizzierten Argumente detaillierter ausgeführt sind.
Der anvisierten Standortbestimmung stellen wir zunächst eine kurze Analyse der Entwicklung von Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik voran (vgl. Kap. 3).
Nur wenn wir das Entwicklungsmuster von Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik verstehen, werden wir in der Lage sein, ihre gegenwärtige Situation angemessen zu begreifen und realistische Vorstellungen von ihrer möglichen Zukunft zu entwickeln.
In Kap. 4 skizzieren und kommentieren wir anhand von sieben, für die Jetzt-Zeit charakteristischen und repräsentativen Beispielen den derzeitigen Stand der von der aktuellen Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik vertretenen Leitbilder und -ideen.
Die Beispiele stehen zwar in keinem direkten organisatorischen Zusammenhang, repräsentieren aber durchaus zutreffend die Art und Weise, wie in unserer Gesellschaft politisch - und das im weitesten Sinn - über ökologische Zukunftsperspektiven gedacht und was in Bezug auf sie angestrebt wird. Trotz vieler Meinungsverschiedenheiten im Einzelnen zwischen den Institutionen in Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft hat sich ein relativ weit reichender Konsens über die Zukunftsrelevanz von Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik herausgebildet.
Die vorliegende Schrift schließt mit einigen pragmatischen Vorschlägen für eine Neuorientierung von Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik, die den stattfindenden gesellschaftlichen Wandel berücksichtigen, und einem Ausblick auf Richtung und Inhalt der dafür aus unserer Sicht erforderlichen Reform ihrer Leitbilder und -ideen (vgl. Kap. 5).
Vereinfachend, aber dennoch zutreffend kann man davon ausgehen, dass in der Moderne Umweltbelastungen und Umweltzerstörung in erster Linie Folgeprobleme von industrieller Produktion und von Armut sind, wobei Letztere auf globaler Ebene wiederum vor allem ein Folgeproblem der Herausbildung der Industriegesellschaften und der von ihnen ausgehenden Umgestaltung der Welt ist.
Beim heutigen Stand des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und der mehr oder weniger eindeutigen kapitalistischen Organisation der Wirtschaft der Industriegesellschaften sind Umweltbelastungen und Umweltzerstörung fest an die Entwicklung dieser Gesellschaften gekoppelte Folgeerscheinungen.
Nach bisheriger Erfahrung nehmen die Umweltbedrohungen mit dem wirtschaftlichen Wachstum der Industriegesellschaften und mit der globalen Ausweitung der Prozesse der nachholenden Industrialisierung zu.
Bereits im 19. Jahrhundert war offensichtlich, dass die industrielle Produktion und der Industriekapitalismus vielfältige und umfassende Naturzerstörungen auslösen und dass sie dadurch insbesondere auch menschliches Leben beeinträchtigen (vgl. z. B. Bechmann 1984).
Umweltpolitik, so wie wir sie heute kennen, entstand als eigenständiges Politikfeld jedoch erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wichtige Anstöße dafür gingen von den USA, von Schweden und Norwegen sowie von den Vereinten Nationen aus (vgl. Bechmann 1984).
In der sich neu herausbildenden Umweltpolitik ergriff daher zunächst der Staat die Initiative, wohingegen sich die Wirtschaft dessen umweltpolitischen Aktivitäten widersetzte. In einigen Ländern, so z. B. in den USA oder in der Bundesrepublik Deutschland, mischten sich neu entstehende Bürgergruppierungen und bereits bestehende Naturschutzverbände in die umweltpolitischen Diskussionen ein. Sie erweiterten und radikalisierten die umweltpolitischen Zielvorstellungen, was wiederum zu erheblichen Konflikten mit dem Staat und insbesondere auch mit der Wirtschaft führte. In der Folge kam es - allerdings nur in einigen Staaten - zur Bildung ökologischer Bewegungen und hin und wieder auch zur Gründung „grüner“ Parteien.
Der Umweltschutz als Ganzes wurde innerhalb von ca. zwei Jahrzehnten weltweit zu einem - zumindest im Grundsatz allgemein akzeptierten - gesellschaftlichen Anliegen. Parallel dazu entschärften sich die umweltpolitischen Konflikte zwischen Staat, Wirtschaft und Umweltbewegung - auch dort, wo sie anfangs ein „systemgefährdendes“ Ausmaß anzunehmen schienen - schließlich soweit, dass sie im Rahmen der betroffenen Gesellschaftssysteme gehandhabt und routinemäßig ausgetragen werden können.
Der global wirksame Prozess der Umweltzerstörung konnte durch nationale und internationale Umweltpolitik zwar beeinflusst und verändert, nicht aber wirklich reguliert oder gar gestoppt werden.
Staatliche Umweltpolitik schuf weltweit nationales - allerdings international durchaus vergleichbares - Umweltrecht sowie die für dessen Umsetzung benötigten Institutionen. Sie bedient sich heute eines vielfältigen Instrumentariums.
Internationale Umweltpolitik ist vor allem auf Freiwilligkeit angewiesen, d. h. sie wird durch Abkommen und Verträge, transnationale Institutionen oder durch UN-Institutionen sowie durch nationalstaatliche Selbstbindungen implementiert.
Da Umweltpolitik - ihrer Natur nach - eng mit den technologischen und wirtschaftlichen Kernprozessen der Industriegesellschaft verkoppelt ist, kann sie nicht isoliert betrieben werden. Sie prägt - so oder so - stets auch die gesellschaftliche Entwicklung und ist damit allemal auch eine wichtige Komponente gesellschaftlicher Entwicklungspolitik. Dies gilt sowohl auf nationalstaatlicher als auch auf internationaler Ebene.
Umweltschutz und Umweltpolitik besitzen offensichtlich einen starken inneren Antrieb, den Umgang mit Natur in Bezug auf die gesamte Entwicklung einer Gesellschaft oder auch hinsichtlich der globalen Entwicklung insgesamt beeinflussen zu wollen. In ihnen scheint die Ausweitung zu Nachhaltigkeitspolitik de facto immanent angelegt zu sein.
Die heutige, global anerkannte Leitidee für Umweltpolitik wurde Anfang der 70er Jahre in den USA, in Deutschland und durch die erste UN-Umweltkonferenz, die 1972 in Stockholm stattfand, in die Welt getragen (vgl. Bechmann 1984, Bechmann u.a. 1981). Anlässlich der UN-Umweltkonferenz von Rio im Jahre 1992 wurde sie grundsätzlich von allen Staaten adaptiert.
Das Konzept einer ökonomisch machbaren Nachhaltigkeit und die Forderung einer angemessenen Grundakzeptanz ökologischer Risiken wurden 1987 durch eine UN-Kommission („Brundtland-Kommission“) ins Gespräch gebracht. Nachhaltigkeit ist seither die „regulative Leitidee“, an der sich Umweltpolitik orientiert. Sie wird durch die verschiedenen umweltpolitischen Akteure allerdings sehr unterschiedlich interpretiert und konkretisiert.
Wir bezeichnen den bis heute vorherrschenden Typ einer (reinen) Umweltpolitik als „Umweltpolitik der 1. Generation“. Er charakterisiert die Umweltpolitik der Phase ihrer Entstehung und ihrer gesellschaftlichen Etablierung. Er ist in seinem Kern medial (Boden, Wasser, Luft, ...) und sektoral (Energiesektor, chemische Industrie, Verkehr, Naturschutz usw.) strukturiert sowie vor allem auf die ökologische Belastungs-, Risiko- und Folgenbewältigung des wissenschaftlich-technischen Fortschrittes des 20. Jahrhunderts angelegt (vgl. Bechmann 2003/1).
Die Strategie der Umweltpolitik der 1. Generation wurde in Deutschland nach 1992 („Erdgipfel“ in Rio) - tendenziell aber auch in anderen Staaten und auf internationaler Ebene - durch Nachhaltigkeitspolitik ergänzt bzw. in deren Richtung erweitert.
Obwohl Umweltpolitik ein erst in den 60er- und 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts geschaffenes Politikfeld ist, hat es doch gewichtige Vorläufer und Weggefährten (vgl. Radkau 2000). Dies sind
> der im 19. Jahrhundert aus der Landschafts-Verschönerungsbewegung und dem Heimatschutz hervorgegangene Naturschutz,
> die aus der als Reaktion auf die im 19. Jahrhundert zutage getretene erste Umweltkrise sich etablierende Hygienebewegung (vgl. Radkau 2000, S. 274ff).
Sie richtete ihr Augenmerk vor allem auf die Verminderung der Boden- und Gewässerverunreinigung, auf die Reduzierung der Freisetzung von Rauchgasen und auf die Beseitigung bzw. die Minimierung der durch Fäkalien und Abwässer entstehenden Gefahren.
Der Naturschutz blieb allerdings bis in die 70er Jahre des zurückliegenden Jahrhunderts ein Thema, das die Gesellschaft als Ganzes nur sehr beschränkt beschäftigte und das aus Sicht des herrschenden Fortschrittsoptimismus der Industriekultur mehr belächelt als wirklich ernst genommen wurde.
Die Anliegen der Hygienebewegung wurden in der zweiten Hälfte des 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts schrittweise zu staatlichen Aufgaben, die mehr oder weniger gut gelöst wurden.
Die allgemeine Umweltbelastung durch Emissionen und Abwässer behielt aber dennoch ein hohes, tendenziell sogar steigendes Niveau.
Die in den 60er- und frühen 70er Jahren des 20. Jahrhunderts sehr vitale und kreative Zukunftsforschung zeichnete das Bild einer attraktiven, anstrebenswerten gesellschaftlichen Zukunft. So vermuteten z. B. die „Opinionleader“ dieser Zunft (vgl. Kahn, Wiener 1971), dass
> sich der wissenschaftlich-technische Fortschritt mit großem Tempo weiter entwickeln und die modernen Gesellschaften prägen wird,
> das Muster der Industriegesellschaft sich weltweit immer weiter ausbreiten und damit zum globalen Entwicklungsmodell werden würde,
> der globale Demokratisierungsprozess - zumindest auf formaler Ebene - voranschreiten würde,
> Bevölkerungsentwicklung und Verstädterung zu erwarten sei, ohne dass darin allerdings ein zukunftsbedrohendes Problem gesehen wurde,
> aufgrund des technischen Fortschritts und der immer „kleiner“ werdenden Welt (Vernetzung) der allgemeine Wohlstand wachsen würde,
> aufgrund der Steigerung des allgemeinen Lebensstandards und des Rückgangs der Arbeitszeit der Stellenwert von Freizeit, Bildung und Erziehung erheblich zunehmen würden.
> aufgrund der neuen Lebensumstände ein gesellschaftlicher Orientierungs- und Wertewandel zu erwarten sei.
Insgesamt wurde von der damaligen Zukunftsforschung eine auf technischen Fortschritt aufbauende, zu Wohlstand führende und allen Menschen bessere Lebensbedingungen bringende Entwicklung erwartet. Dieser generell sehr angenehmen Mission stand eine große Gefahr gegenüber: die auf modernen Massenvernichtungsmitteln und der Ost-West-Konfrontation beruhende Kriegsgefahr.
War in den 50er- und 60er Jahren die Gestaltung des Alltags in den Industriegesellschaften noch weitgehend durch die Arbeitswelt bestimmt, so vermuteten Kahn und Wiener, dass spätestens zum Ende des 20. Jahrhunderts der Freizeitbereich zu einer eigenen Lebenswelt werden würde.
Die Zukunftsforschung der 50er- und 60er Jahre hat in vielen Bereichen die Entwicklung der folgenden Jahrzehnte zumindest teilweise recht gut vorausgesehen. Im Nachhinein mag jedoch verwundern, warum damals die Frage, wie die Folgen des technischen Fortschritts ihrerseits den technischen Fortschritt und damit die Entwicklung der Welt insgesamt verändern würden, nicht aufgeworfen wurde.
In ihrem Computermodell „World-Dynamics“ simulierten Dennis Meadows und Mitarbeiter ab Ende der 60er Jahre die Weltentwicklung der jeweils kommenden Jahrzehnte (vgl. Meadows, Meadows 1972). Sie konzentrierten sich dabei auf folgende fünf Hauptindikatoren, die durch eine Vielzahl von Variablen und Gleichungen (ca. 150) beschrieben wurden:
> Bevölkerung,
> Nahrungsmittelproduktion (pro Kopf),
> Industrieproduktion (pro Kopf),
> Ressourcen (Vorrat und Verbrauch) und
> Umweltbelastungen.
Der Gruppe um Meadows kam es darauf an, die Entwicklung dieser Indikatoren und die zwischen ihnen stattfindenden Wechselwirkungen zu untersuchen. Die Ergebnisse derartiger Betrachtungen führten zu einer neuen, sehr viel pessimistischeren Sicht auf die Zukunft, als in den Jahrzehnten zuvor von der Zukunftsforschung prognostiziert wurde. Sie veränderten das Bild, das die damalige Zukunftsforschung von der Zukunft zeichnete, grundlegend. Alvin Toffler sprach sogar von einem „Zukunftsschock“ (vgl. Toffler 1970).
Als Bedrohung für die weitere Entwicklung der industriellen Gesellschaften und der Welt als Ganzes wurden vor allem drei Faktoren gesehen:
> das schnelle Wachstum der Weltbevölkerung,
> die zunehmende breitbandige Umweltverschmutzung,
> der schnelle, unaufhaltsame Ressourcenverbrauch, insbesondere im Energiesektor.
Diese radikale Neuausrichtung von Zukunftsperspektiven blieb nicht ohne Folgen. Sie löste einen weltweiten gesellschaftlichen Umorientierungs- und Lernprozess aus.
Die Entwicklung von Umweltpolitik kann als ein gesellschaftlicher Lernprozess interpretiert werden. Umweltpolitik war und ist nicht nur staatliche Aktivität, sondern sie muss als Ergebnis von gesellschaftlichen Interaktionen begriffen werden.
Die Diskussion über Ziele und Inhalte von Umweltpolitik begann in der Bundesrepublik der späten 60er Jahre. Sie hat sich seither zu einem der zentralen gesellschaftspolitischen Themen entwickelt. Dabei haben in verschiedenen Phasen der Umweltpolitik verschiedene Akteure dominiert. Desgleichen haben sich Themenfelder und Themenschwerpunkte in einer nicht immer sofort verständlichen Form abgelöst oder wiederholt.
Umweltpolitik als gesellschaftlicher Lern- und Entwicklungsprozess wurde und wird von unterschiedlichen Akteuren getragen. Ihre Interaktionen, sei es in Form von Kooperation, von gegenseitiger Ignoranz oder von Konflikten, haben nicht nur auf den realen umweltpolitischen Prozess einen wesentlichen Einfluss, sondern sie prägen auch die Debatte und die Praxis der programmatischen ebenso wie der handlungsbezogenen Prioritätensetzung in der Umweltpolitik.
Hauptakteure von Umweltpolitik sind neben dem Staat und neben speziellen umweltpolitisch ausgerichteten Interessengruppierungen, wie z. B. den Umweltverbänden, den Bürgerinitiativen und individuellen Umweltaktivisten, in erster Linie die gesellschaftlichen Gruppierungen, deren Interessen auf Naturnutzung gerichtet sind.
Umweltpolitik in der Bundesrepublik war keine Erfindung der Bürgerinitiativbewegung. Sie zählte bereits im Jahre 1969 zu den Reformkonzepten der sozial-liberalen Regierung Brandt/Scheel.
Die Entwicklung der bundesrepublikanischen Umweltpolitik war - wie nicht anders zu erwarten - in ihrem ersten Jahrzehnt vor allem durch staatliche Aktivitäten geprägt.
Zu einer vertieften gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung um Umweltpolitik kam es erst in der zweiten Hälfte der 70er Jahre.
In der Zeit von ca. 1978 bis in die Mitte der 80er Jahre wurden von Umweltverbänden, Bürgerinitiativen und der Partei der GRÜNEN wesentliche neue Impulse in die Umweltpolitik hineingetragen.
Die Endachtziger- und die beginnenden 90er Jahre waren durch eine - zumindest politische - Entschärfung der Umweltthematik gekennzeichnet. Das bedeutet allerdings nicht, dass die anstehenden Umweltprobleme gelöst sind.
Die bisherige Entwicklung von Umweltpolitik in der Bundesrepublik lässt sich - zumindest grob - in sechs Phasen gliedern:
> Vorphase;
In der Vorphase von Umweltpolitik, die in der zweiten Hälfte der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts anzusetzen ist, wurden Umweltprobleme vermehrt medial und sektoral behandelt ohne ihren inneren Zusammenhang politisch wahrzunehmen. Gleichzeitig bildete sich, insbesondere bei staatlichen Verwaltungen, ein sachbezogenes Problembewusstsein über Umweltbelastungen und Ressourcenübernutzungen heraus.
> Thematisierungsphase;
Die Thematisierungsphase der bundesrepublikanischen Umweltpolitik dauerte ungefähr von 1969 bis 1971. In ihr wurde ein medial-sektorales Konzept von Umweltpolitik entwickelt. Es hat sich im gesellschaftlichen Alltag durchaus bewährt und wird auch heute noch praktiziert. Dieses Konzept wurde im Umweltprogramm der Bundesregierung von 1971 fixiert (vgl. Bundesregierung 1971). Da viele heutige umweltpolitische Akteure dieses Umweltprogramm zumeist nicht mehr kennen, wird seine faktische Wirkung immer wieder unterschätzt.
> Konstitutionsphase;
In der Konstitutionsphase von Umweltpolitik, die ungefähr von 1971 bis 1977 dauerte, wurden die wichtigsten bundesrepublikanischen Umweltgesetze erlassen. Es handelte sich im Wesentlichen um mediale und sektorale Umweltgesetze. Erst mit dem Gesetz zur Umweltverträglichkeitsprüfung (UVPG), dem Umwelthaftungsgesetz (UmweltHG) oder dem Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz (KrW/AbfG, seit 2012 Kreislaufwirtschaftsgesetz) wurden erste systemare Umweltgesetze geschaffen.
> Implementations- und Konfliktphase;
Die Implementations- und Konfliktphase von Umweltpolitik begann mehr oder weniger deutlich bereits 1972. Sie wurde jedoch erst ab der zweiten Hälfte der 70er Jahre gesellschaftlich wahrgenommen. In den ersten Jahren der Umweltpolitik bezogen sich Konflikte vor allem auf das Verhältnis von Staat und Wirtschaft. Sie wurden auf der Ebene von Lobby-Politik ausgetragen. Mit dem Anwachsen der Anti-Atomkraftbewegung verschob sich das Konfliktmuster. Nun kritisierten noch nicht lobbymäßig organisierte Gruppierungen (Bürgerinitiativen, Umweltverbände, Einzelpersonen usw.) die staatliche Umweltpolitik nach Spielregeln einer außerparlamentarischen Opposition. Sie wiesen auf die beträchtlichen ökologischen Risiken und das große Ausmaß von Umweltzerstörung hin, die von der Industriegesellschaft verursacht werden. Die von ihnen ausgelösten Auseinandersetzungen spitzten sich zu Beginn der 80er Jahre massiv zu. Der Einzug der Partei der GRÜNEN in den Deutschen Bundestag war einer der Höhepunkte dieser Konfliktphase. Er läutete allerdings auch das Ende dieser Phase ein.
> Integrationsphase;
In der zweiten Hälfte der 80er Jahre hat sich zumindest auf verbaler Ebene die ökologische Programmatik der staatlichen Umweltpolitik und mit ihr zugleich auch weitgehend die der Umweltverbände in unserer Gesellschaft durchgesetzt. Nahezu jedermann versteht sich als Umweltschützer. Umweltschutz ist eine weit verbreitete Zielsetzung in staatlichen Institutionen, in Unternehmen und in Haushalten. Die Integration von Umweltschutz in den gesellschaftlichen Alltag ist formal und programmatisch vollzogen. In der Praxis reicht jedoch der derart integrierte Umweltschutz nicht aus, um die Natur und die Menschen vor weiteren und steigenden Umweltbelastungen zu schützen.
> Routinephase;
Seit Beginn der 90er Jahre ist Umweltschutz formal und de jure in alle umweltrelevanten Gesellschaftsbereiche integriert und zur Routine geworden, ohne jedoch in der gesellschaftlichen Alltagspraxis die Struktur der vorhandene Nutzungssysteme (wie z. B. die der Land- und Forstwirtschaft, der industriellen Produktion, der Wassernutzung, des Energieverbrauchs oder des Verkehrssystems) generell in Frage zu stellen. Diese Routinephase währt nunmehr bereits mehr als 20 Jahre.
In den bisherigen Phasen der Herausbildung von Umweltpolitik erfüllten unterschiedliche Akteure vorantreibende oder bremsende Funktionen.