Die Kränkungen des Dichters - Peter Zimmermann - E-Book

Die Kränkungen des Dichters E-Book

Peter Zimmermann

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Beschreibung

Der Dichter, er kämpfte Jahrzehnte als Pazifist für Frieden, für Gewaltfreiheit und jetzt dieser letzte Versuch, die Selbstzerstörung der Menschheit zu verhindern. Er geht in diesem Roman der Frage nach: Was haben persönliche Kränkungen mit den Kränkungen von Nationen, mit den Kriegen und der Zerstörung der gesamten Menschheit zu tun? Welches Bewusstsein, welche Moralität und welche Ethik könnten die Basis für das Gemeinwohl aller Menschen sein? Genau, das sind doch die Fragen, die viele von uns beschäftigen. Was will der Dichter der Menschheit hinter-lassen?

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Inhalt

Vorwort

Der Dichter und sein Plan

Erste Sitzung - Praxis von Frau Mariccioni in Wien

Reflexionen zur Sitzung mit Frau Mariccioni

Reflexionen Mariccioni zur Sitzung mit dem Dichter

Briefe Dichter und Friedrich

Des Dichters Grübeleien

Des Dichters Gedanken

Sitzung in der Praxis von Frau Mariccioni

Reflexionen des Dichters

Reflexionen der Therapeutin

Die Kanzlerin und der Dichter

Sitzung in der Praxis von Frau Mariccioni

Brief Friedrich an Dichter

Brief Dichter an Friedrich

Des Dichters Reflexionen

Die Kanzlerin und der Dichter

Sitzung in der Praxis von Frau Mariccioni

Reflexion Dichter - Mariccioni

Briefe von Friedrich

Des Dichters innere Dialoge

Sitzung in der Praxis von Frau Mariccioni

Briefe Friedrich und Dichter

Sitzung in der Praxis von Frau Mariccioni

Briefe Friedrich und Dichter

Erste Vorlesung Dichter

Der Dichter und die Malerin

Anna

Reflexionen der Therapeutin Frau Mariccioni

Meditationen des Dichters

Zweite Vorlesung Dichter

Briefe Friedrich und Dichter

Reflexionen des Dichters

Sitzung in der Praxis von Frau Mariccioni

Dritte Vorlesung Dichter

Finale Reflexionen des Dichters

Das Manifest

Der folgende gesellschaftspolitische Roman und deren Protagonisten*innen, Orte, Handlungen und Dialoge sind eine fiktive Erzählung. Autor und Verlag übernehmen keinerlei Haftungen.

Vorwort

Lieber Clemens Maria Erndt-Wallmann (im folgenden Roman alias Friedrich), ich danke Dir für Deine wertvollen Beiträge, die erhellenden Diskussionen mit Dir waren immer eine Bereicherung, mein lieber und geschätzter Freund (fast hätte ich Freud geschrieben… ich kann jetzt das Lächeln in Deinem Gesicht erahnen). Aber nicht nur unsere Gespräche, auch der Briefwechsel mit Dir bestätigte mir, dass in unserem Welt- und Menschenbild viel Übereinstimmung wahrnehmbar ist. Als Freigeister und Lebensphilosophen haben wir den Blick auf das Wesentliche gefunden. Freundschaft und Vertrauen sind nicht nur sehr hohe Güter, sie sind auch heilsam und schwer zu finden, hab auch Dank dafür! Ich umarme Dich! Herzlichst! Der Dichter (Peter Zimmermann)!

Es fällt mir schwer, es in die richtigen Worte zu fassen: Ich fühle mich meiner Frau Renate aus tiefstem Herzen zu großem Dank verpflichtet für den Freiraum, den Du mir, liebste Renate, gewährt hast, um meine Studien der menschlichen Entwicklung zu erforschen. Es hat fast dreißig Jahre in Anspruch genommen, um den Gefühlen und Gedanken einen literarischen Raum zu ermöglichen. Danke dafür, ich liebe dich, mein Schatz!! Dein Dichter!

Mein Dank, auch an Dich liebe Dr. Margarete Bründl! Ohne deine grammatikalische Unterstützung und inhaltlichem Überblick, könnte ich so einen Roman nicht schreiben. Herzlichen Dank!!

Der Dichter und sein Plan

„Ist der Tod doch das bessere Leben?“, fragt sich der Dichter. Verzweifelt geht er zum Schrank in der Küche, nimmt ein Glas, füllt es mit Marillenschnaps und trinkt es in einem Zug aus, danach noch ein zweites. Eilig läuft er in sein Zimmer, sein Gesicht ist sehr angespannt, Hände und Knie zittern, er sucht in der Reisetasche nach seiner Pistole, die er auf dem Schwarzmarkt organisierte, entsichert sie, lädt durch und steckt sich diese Pistole in den offenen Mund. Er zittert jetzt am ganzen Körper, Schweiß tropft von seiner Stirn. Seine Augen sind fest geschlossen, der Atem laut, ein Keuchen, Speichel läuft ihm aus dem Mund. Der Tinnitus wird immer intensiver. Seine Hände sind sehr verkrampft, er wippt mit dem ganzen Oberkörper. Schreckensbilder ziehen an seinem inneren Auge vorbei: Der schreiende, betrunkene Vater, seine starken Arme, sein wütendes Gesicht, seine sexuellen Übergriffe an seinem Sohn, diese Übergriffe machten selbst vor seinem Enkel nicht halt – dann die Mutter, die vom Vater, der von der Trunksucht befallen war, immer wieder vergewaltigt wurde. Seine Mutter, die während des Vergewaltigungsaktes weinte, die ohnmächtige, die erbärmliche, die duldende, die an Demenz sterbende. Der Verlust ihres Bewusstseins befreite sie von Demütigungen und Kränkungen, die sie in ihrem Leben erdulden musste. Für den jungen Dichter haben sich die Bilder der weinenden, der hilflosen Mutter in sein Gedächtnis eingebrannt.

„Ab meiner Pubertät drängen sich Bilder von sterbenden Kindern, Frauen und Soldaten einer kriegerischen Welt immer wieder in mein Bewusstsein. Bilder einer Welt, in der die Gewalt regiert. Bilder der Angst, Bilder der Ohnmacht, der Verzweiflung, Bilder einer kranken Familie in einem kranken Dorf, in einem kranken Land, in einem kranken Kontinent, in einer kranken Menschheit. Später, während meiner Therapieausbildung, wurde mir klar, dass keine globalen Einsichten und Reflexionen über das selbstzerstörerische Handeln der Menschheit möglich sind. Gefühle der Einsamkeit, ein Überschneiden, ein Überlagern, ein Durcheinander, die Klarheit verrinnt, verschwommenes Licht, heftiger Atem, Nebelfetzen, Granatfeuer, kein Gefühl mehr – totstellen“, denkt der Dichter mit angstverzerrtem Gesichtsausruck.

Das Zittern des Dichters wird immer stärker, er legt sich auf sein Bett, sein Zittern geht in heftiges Schütteln über. Die Pistole immer noch im Mund beugt er den Kopf vor und weint, das Zittern hört allmählich wieder auf. Der Dichter nimmt die Pistole aus seinem Mund, schreit laut: „Zu spät, es ist alles zu spät! Warum konnte ich meiner Mutter nicht helfen in ihrer qualvollen Situation?“

Er drückt sein Gesicht in das Polster, setzt sich wieder auf und trinkt noch ein Glas Marillenschnaps.

„Wieso schaffe ich es nicht, ich darf es doch tun, ich bin doch verrückt. Was ist ein glückliches Leben? Was? Ich will nicht mehr!“, schreit der Dichter. „Sinnlos! Es ist einfach alles sinnlos“, flüstert der Dichter, kaum hörbar. „Ich will in das Reich der Seelen. Lasst mich doch gehen, ich hasse euch, ihr Vergewaltiger der Menschheit…“, schreit der Dichter wieder in seiner Verzweiflung. Er nimmt noch einen Schluck vom Marillenschnaps.

„Es gibt kein Erbarmen, es gibt keine göttliche Gnade, alles Lüge, ihr Verbrecher an der Menschheit, ihr Mörder, ihr blinden Heuchler! Warum muss ich auch noch für euch sterben, wann ist es genug, wann ist genug Blut geflossen, ihr erbärmlichen Existenzen …, nein, nein, bevor ich diese Welt verlasse, muss noch was passieren.“, sind die von Wut erfüllten Worte des Dichters.

Die verdrängte Wut und der verdrängte Hass provozieren im Dichter die Sehnsucht nach einer Abrechnung mit jenen Menschen, die ihn zutiefst gekränkt haben: Menschen in seiner Ursprungsfamilie oder falsche Freunde und Berufskollegen*innen. Bilder, wie sein Neffe dem Heroin verfallen ist, wie er dann durch eine Überdosis Heroin diese Welt verlassen hat, ein anderer Neffe durch Drogensucht und suizidale Fehlversuche der psychiatrischen Behandlung überlassen wurde. Er muss darüber schreiben, wie Lieblosigkeit ganze Familien, nicht nur die des Dichters, in die Depression trieb. Schmerzhafte Erinnerungen plagen den Dichter, Erinnerungen, wie die Heuchelei von vielen Familien in diesem Land eine Maskerade von Bildung, Besitz und Anstand aufrecht hielt. Verdrängung und Verleugnung, der alte Sigmund Freud hat es erkannt und in Folge nicht nur er. Es sind aber nicht nur Familien in einem bestimmten Dorf, es gibt sie überall in den Dörfern, den Städten, den Ländern und Kontinenten. Kränkungen und Abwertungen sind das global-virale Problem, die den ganzen Planeten verseuchen. Wie lächerlich, wie armselig, wie peinlich. Ein Erwachen aus einem Traum, der kein Traum war, wäre heilsam.

„Die Rechtsradikalen, ihr Credo ist die Spaltung der Menschheit, die Abwertung von Menschenleben, die Konstruktion von Feindbildern. Es hört nicht auf, ob Juden, Afghanen oder Syrier, oder, oder...! Die Faschisten, die Rassisten, sie werden nicht die Macht in diesem Land, in diesem Kontinent, auf dieser Erde übernehmen, dafür müssen wir sorgen, wir, der kleine Rest, der für Gleichberechtigung, der für einen Realistischen Humanismus kämpfen muss. Ja, wir, die Linken, die Humanisten, die für Gerechtigkeit kämpfen…, genau, das werden wir tun! Die Kanzlerin, meine Freundin aus Schweden, wird uns dabei helfen. Dafür schreibe ich diese Zeilen. Dafür werden sie mich hassen, diese unreflektierten pathologischen Existenzen. Soll sein…, nur ich werde aufrecht und lauthals für Gerechtigkeit und eine neue Aufklärung kämpfen. Mit meinen Worten und meinen Texten werde ich den Faschismus bekämpfen. Dann hat mein Leben vor seiner Auslöschung doch noch einen Sinn! Der Kapitalismus, die Macht, die Gier und das Geld sind die Nutten auf diesem Planeten, sind einfach nur zerstörender Müll. Sie sind und werden weiterhin die Ursachen der Selbstzerstörung der Menschheit sein! Ich liebe meinen Zynismus! Die Wallstreet produziert täglich Aktionäre und Spekulanten, die einen werden reich und die anderen begehen Suizid! Die Menschen in den ärmeren Ländern werden immer mehr Opfer der Gier, sie verhungern oder verdursten! Katastrophen, Katastrophen! Kriege und Kriege! Was für eine wunderbare Welt! Nur: eines solltet ihr bedenken“, schreit der Dichter mit einem zynischen, wütenden Lächeln, während er sich aufrichtet und mit der Faust mit antifaschistischer Wut gegen seine Brust klopft. „Nicht mit mir, nein - mit mir macht ihr das nicht, einen Dichter beugt niemand, ich werde mich wehren, ich und viele andere Menschen wollen nicht mehr Opfer sein. Ja, das mache ich, Auge um Auge, das wollt ihr doch. Bitte sehr, das könnt ihr haben. Wir werden siegen! Freiheit und Gerechtigkeit werden siegen! Ich habe den Oberbefehl, ich mache es, ich werde es schaffen, Vater, du würdest stolz sein auf deinen betrunkenen Sohn, du bist nicht umsonst im Suff gestorben. Wir werden leben. Das tapfere Blut der Freiheit – es wird fließen, so wird es sein – genauso! Wo sind die Zeiten der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts? Wir Studenten*innen lallten in den Kneipen, vom Wein beseelt, das Freiheitslied vom chilenischen Widerstand:

Venceremos! Wir werden siegen!

Aus dem blühenden Herzen des Landes dringt die Stimme des Volkes empor.

Seht, es zeigt sich ein besseres Morgen und es jubelt ganz Chile im Chor.

Fest entschlossen die Arbeiter, Bauern, fest entschlossen die Frauen im Land,

die Studenten, Soldaten und Kumpels geben sich im Vertrauen die Hand.

Venceremos, venceremos, sprengt die Ketten, in denen ihr liegt.

Venceremos, venceremos, so nur wird unser Elend besiegt.

Venceremos, venceremos, sprengt die Ketten, in denen ihr liegt.

Venceremos, venceremos, so nur wird der Faschismus besiegt.

Der Dichter nimmt wieder die Flasche Marillenschnaps und macht noch einen kräftigen Schluck. Der Marillenschnaps erinnert den Dichter an seine Kindheit. In den Sommerferien half er immer bei der Ernte der Marillen. Seine Eltern hatten hunderte Marillenbäume gepflanzt. Es war eine anstrengende, aber auch schöne Zeit für den jungen Dichter. Seine Mutter wurde ganz euphorisch, wenn die Marillenernte endlich begann. Die Frucht der Marille war ihre „Droge“. Sie war streng, sie konnte nicht genug davon haben, um sie dann zu verkaufen. Von früh bis spät musste der junge Dichter in den Marillenbäumen hoch hinauf klettern, um die schönsten Früchte zu pflücken. Tausende Kilogramm Marillen hatte die Mutter an Händler verkauft, ihre Augen funkelten dabei vor Freude. Aus den überreifen Marillen, der Erlös war das Taschengeld des jungen Dichters, wurde Schnaps gebrannt. Da war sie einfach glücklich, es war Mutters Beitrag zum Familienbudget. Des Dichters Vater kam immer nur zur Kontrolle, er pflückte seinen Hut mit den Marillen voll, er lobte den Fleiß von seiner Frau und seinen Kindern. Das war dann sein Beitrag.

Diese Erinnerungen an seine Kindheit vor mehr als fünfzig Jahren stimmten den Dichter etwas traurig. Jetzt ist jetzt, wir leben im Jahr 2023 und die Menschheit fährt gegen die Wand, denkt der Dichter. Wütend setzt er sich an seinen Laptop und mobilisiert seine Freunde über alle Sozial Media Kanäle mit einem Aufruf zum Widerstand. Der Schatten in seiner Seele hat jetzt die Macht über sein Denken und Handeln übernommen. Betrunken wackelt der Dichter hinaus in den Park vor seiner Wohnung in Wien Favoriten und schreit laut:

Widerstand, Widerstand,

Kauft nicht sinnlose Konsumgüter,

Legt die Waffen nieder,

Kämpft nicht gegen eure Schwestern und Brüder,

Beendet die Lohnarbeit,

Lohnarbeit ist Sklavenarbeit,

Solidarität der Arbeiter*innen, Student*innen und Landarbeiter*innen

Venceremos, wir werden siegen!

Der Dichter, er kämpfte Jahrzehnte als Pazifist für den Frieden, für Gewaltfreiheit …, und jetzt dieser letzte Versuch, die Selbstzerstörung der Menschheit zu stoppen. In Förlivet (Schweden) lernte der Dichter die Kanzlerin kennen. Ihr bürgerlicher Name war Answin Lundgren. Es war ein Pilotprojekt für mehr Frieden und Gerechtigkeit. Die Kanzlerin, kämpft nach wie vor auf der Insel Förlivet in Schweden für mehr Gerechtigkeit, für einen Realistischen Humanismus. Förlivet bedeutet Lebensfreude.

Die Wahlen stehen in Europa vor der Tür, und nicht nur in Europa. Die Rechtsradikalen mit ihrem Führer aus Wien, dem K.G. (Klein Goebbels, wie er im Volksmund genannt wird) sind laut Umfragen weit über der 30% Marke. Und das nicht nur in Mitteleuropa. Der Faschismus wird wieder salonfähig. Es gibt einfach zu viele gekränkte und von Armut betroffene Menschen in ganz Europa und dem Rest der Welt. Diese Gekränkten, sie suchen immer wieder einen Führer. K.G. ist in der Propaganda-Rhetorik bestens geschult, er ist auch ein Freund von Blutin, der gerade durch kriegerische Gewalt Osteuropa einkassieren will. Die Palästinenser wollen ihren eigenen Staat und mobilisieren Terrororganisationen, um Israel auszulöschen. Die Israelis wollen im Gegenzug diese Terrororganisationen auslöschen. Berichte über Gewalt und Grausamkeiten füllen nun die Zeitungen und Nachrichten.

Erste Sitzung - Praxis von Frau Mariccioni in Wien

„Sie wollen anonym bleiben, wollen Dichter genannt werden, wenn ich Sie richtig verstanden habe. Sie haben bei unserem Telefonat den Wunsch geäußert, dass wir unsere Sitzungen aufzeichnen, natürlich zur beidseitigen Verfügung und in absoluter Vertraulichkeit. Ist das korrekt?“, fragte Frau Doktorin Mariccioni, die Therapeutin des Dichters.

„Korrekt, ja, Frau Doktorin… das wäre mir sehr recht, danke, herzlichen Dank!“. „Das mit der Doktorin lassen wir weg, Mariccioni ist ausreichend.“

„Mariccioni, italienisch? Was für ein Klang! Großartig!“

„Danke, ja, meine Ursprungsfamilie lebte im Umfeld von Florenz. Gut, lieber Dichter, nur noch kurz zu den Rahmenbedingungen: Die Sitzungen finden zweimal wöchentlich statt, jeweils am Montag und am Donnerstag um 15 Uhr; Dauer: 50 Minuten, Absagen einer Sitzung bitte 24 Stunden vor dem Termin, das ist dann kostenfrei. Begründen müssen Sie eine Absage natürlich nicht. Das Honorar überweisen Sie monatlich, das war auch ein Wunsch von Ihnen. Ein weiterer Wunsch von Ihnen war, dass Sie die von Ihnen geschriebenen Texte in die Sitzungen einbringen wollen. Das kann ich nur begrüßen!

Dann möchte ich Sie noch kurz zu meiner Person und zur Gestaltung der Sitzungen informieren: Ich sehe mich als ganzheitliche Gestaltungstherapeutin, die klientenzentriert arbeitet, d.h. ich bemühe mich immer, dem Klienten dienlich zu sein, und begleite daher den Klienten und seine Anliegen und werde mich bemühen nicht zu interpretieren. Ich versuche immer wieder authentisch und empathisch zu bleiben. Die Triade Körper, Geist und Seele als Menschenbild war Ihnen ein Anliegen, was mich sehr freut. Daher möchte ich Ihnen hier für Ihre Anliegen einen Freiraum anbieten, der offen ist für alle Wünsche, alle Emotionen, alle Belastungen, aber auch für alles, was Ihnen jemals Freude bereitet hat; auch für jegliche Kritik und Fragen, auch was meine Person betrifft. Es gibt nur ein Tabu und das sind physische Übergriffe, was meine Person betrifft; ich erwähne dies nur der Vollständigkeit halber. Noch kurz zum Setting: Die absolute Vertraulichkeit ist Ihnen ein besonderes Anliegen. Dazu nur eines: Es gibt kein Gesetz, das mich zwingen kann, Informationen aus dem Setting mit Klienten weiter-zugeben. Falls Sie, lieber Dichter, die therapeutische Begleitung mit mir beenden wollen, aus welchen Gründen auch immer, ist das jederzeit möglich; ich würde Sie nur bitten… und das ist mein Angebot, dass wir im Falle einer Beendigung noch für eine letzte Stunde einen Termin vereinbaren, der ist dann natürlich kostenlos. Ich bin der Meinung, dass ein abschließendes Gespräch für jede Beziehung ein Gewinn ist.“

„Ja, ja, das passt alles für mich.“

Der Dichter studierte Philosophie und hat auch eine Ausbildung zum Gestaltungstherapeuten und Supervisor abgeschlossen. Weitere Interessen von ihm sind Quantenphysik und Spiritualität im Kontext zu einem universellen Bewusstsein. Der Dichter war ein extrem neugieriger Mensch, sehr belesen, hunderte Fachbücher und an die sechzig Seminare im therapeutischem Kontext rundeten seinen Bildungsdurst ab. Er unterrichtete auch an einer Akademie für Kunst- und Gestaltungstherapeut-en*innen und verhalf so hunderten Studenten*innen, ihr Diplom als Kunst- und Gestaltungstherapeuten*innen zu bekommen. Leider musste der Dichter eine bittere Erfahrung machen: Dem Leiter der Akademie wurde bei der Scientology-Sekte beigebracht, wie man Menschen manipulieren kann. Er hat in Folge manipulativen Missbrauch an den Studierenden ausgeübt. Der Dichter suchte diesbezüglich das Gespräch mit dem Leiter der Akademie, leider ohne Erfolg. Der Direktor war nicht einsichtig ob seines missbräuchlichen Verhaltens. Selbst die Gerichte konnten dem Direktor die Berechtigung Therapeutinnen auszubilden nicht absprechen. Das war mit ein Grund, warum die Kunsttherapie bis heute keine Akkreditierung vom Ministerium bekam. Und das zurecht! Deshalb musste sich der Dichter als Therapeut und Supervisor von der Akademie trennen. Des Dichters hohe ethische Ansprüche konnten unter der Leitung eines Sektenführers nicht realisiert werden. Wieder so eine schmerzliche Erfahrung. Es sind nur wenige Künstler*innen für den Beruf als Kunst- und Gestaltungstherapeuten*innen geeignet. Diese Erfahrungen belasteten den Dichter sehr. Sein Fazit: narzisstisch gestörte Menschen, ob Künstler*in oder Diktatoren*innen haben meist traumatische Kränkungen in ihren frühen Kindesjahren erlebt; sie unterscheiden sich nur an ihren Taten. Die Abwertung ist die häufigste Ursache für neurotisches oder pathologisches Verhalten. Sie erzeugen, ganz einfach, immer Kränkungen!

Der Dichter sitzt nun in einem gepolsterten Sessel, schräg gegenüber von Frau Doktorin Mariccioni, eine anerkannte Therapeutin im ganzheitlichen Kontext. Ein kleiner Tisch, gerade mal Platz für zwei Wassergläser und eine Box für Taschentücher, symbolisiert Distanz zwischen Klienten*innen und Therapeut-en*innen. Der Raum vermittelt eine angenehme Atmosphäre. An der Wand zu seiner rechten Seite hängt ein Diplom einer Privatuniversität in Wien, das Frau Mariccioni zur Professur für Psychotherapie und Parapsychologie auszeichnet. Das beeindruckt den Dichter und gibt ihm ein Gefühl, dass er hier richtig ist. Mariccioni: Therapeutin Nummer Sieben. Ihre Therapiepraxis ist im vierten Stock in einem Haus, das so um die Jahrhundertwende in den Jahren 1900-1910 im typischen Wiener Jugendstil erbaut wurde. Fast vier Meter hohe Räume mit Stuckdecken, Parkettböden und Kachelöfen. Der Praxisraum mit zwei gepolsterten Sesseln, Bücherregalen und einem Sofa, welches auch in der Praxis von Sigmund Freud in der Berggasse, ebenfalls im 9. Wiener Bezirk, stehen könnte, wirkt einladend für vertrauensvolle Gespräche. Auffallend ist ein großes Bild an einer Wand im expressionistischen Stil der 1960er Jahre, so als „Gegenpol“ zum Jugendstil.

„Gut, ja, dann lieber Dichter, seien Sie herzlich willkommen. Sie sind am Wort, bitte erzählen Sie mir über Ihre dringlichsten Anliegen.“

Der Dichter, merklich etwas unruhig, schließt kurz seine Augen, bevor er mit gepresster Stimme einen doch eher unüblich beginnt: „Die Russen sind im Anmarsch“, sagte mein Großvater mütterlicherseits zu seiner Frau Magda. Das war irgendwann im Jahr 1945 in einem kleinen Dorf im östlichsten Österreich. Ich möchte die wahre Identität der betroffenen Personen und Örtlichkeiten aus Respekt hier nicht nennen. Das hat eigentlich keine Bewandtnis, dachte ich vorerst. Das Burgenland ist das jüngste Bundesland von Österreich. Jetzt im Rückblick ist auffallend, dass dieses Burgenland von zwei Adelsfamilien, den Batthyánys und den Esterházys zum großen Teil, als das Burgenland noch zu Ungarn gehörte, in Besitz genommen wurde. Ladislaus Batthyány, ein Augenarzt, er hat seinen Reichtum in den Bau eines Krankenhauses investiert. Dort behandelte er seine Patienten kostenfrei, was seine Verwandtschaft nicht sehr erfreute. Mein Vater, mein Großvater und meine Großmutter, die mir gegenüber sehr mütterlich und warmherzig war, waren allesamt sehr ergebene Diener der Batthyánys im Schloss im Nordburgenland.

Der Großvater mütterlicherseits war ein bekennender Nationalsozialist. „Sie werden mich und alle aufrechten Deutschen umbringen, diese Kommunisten! Aber mich, nein, mich erwischen sie nicht, verstehst du Magda? Mich nicht!“. Das waren angeblich seine letzten Worte, bevor er sein Gewehr nahm und durch einen Schuss in seinen Mund sein Leben auslöschte, also …, das erzählte man sich im Dorf. Die Tragödie meiner Familie hat durch diesen Suizid erst begonnen.“

„Was macht das Suizid-Thema mit Ihrer Gefühlswelt jetzt, in diesem Moment?“, fragt Frau Mariccioni.

Des Dichters Körpersprache wirkt verkrampft, er greift zum nächsten Taschentuch, reinigt seine Nase und atmet tief durch … er bleibt vorerst ruhig … sein Blick ist auf den Parkettboden gerichtet … die Minuten vergehen … seine Hände reiben sich aneinander, er stützt seine Ellenbogen auf seine Knie, hebt sein Haupt und sucht den Blickkontakt zur Therapeutin. Sein Mund signalisiert ein trauriges „Lächeln“, bevor er zu sprechen beginnt.

„Gefühlswelt? … Ich spüre, ich bin wieder einmal in einer tiefen Depression gelandet, keine Lebensfreude mehr … der Tinnitus nervt auch noch; suizidale Gedanken sind täglich präsent … ich sehe keinen Ausweg … ja, deshalb bin ich hier. Ich brauche Hilfe! Auch Therapeuten brauchen Hilfe! Frau Mariccioni, können Sie mir erklären, weshalb Eltern auf Grund ihrer Liebesunfähigkeit ihre eigenen Kinder in den Suizid treiben?“

„Ein großes Thema: Eltern wurden meist auch Opfer von Gewalt und Lieblosigkeit. Lieber Dichter, sind Sie suizidgefährdet?“

„Potenziell ist das doch jeder Mensch, aber ich … ja das könnte schon sein. Ich bleibe im Konjunktiv, sonst müssten Sie mich in die Psychiatrie einweisen – oder?“

„Ich denke, das wird nicht notwendig sein, wir werden andere Wege finden, damit Sie in Ihr Leben zurückfinden. Zwei Fragen: Welche Alternativen sehen Sie für Ihren Weg zurück in Ihr Leben? Was ist Ihr Familiengeheimnis?“

„Familiengeheimnis? Sehr gute Frage! Ganz spontan: Missbrauch und Suizid! Mein Vater, meine Mutter, meine Geschwister, sie alle waren höchstwahrscheinlich Missbrauchsopfer.

Meine Mutter ist Opfer geblieben, da sie mein Vater in seinem Suff immer wieder missbraucht hat – ich war ja dabei, mein Gitterbett stand im Elternschlafzimmer. Der erste Fehler! Ich wurde auch Opfer von Vaters Geilheit im Suff, zuerst bei meiner Zeugung und dann als junger hübscher kleiner blonder Engel! Danke, lieber Papa, das hast du gut gemacht! Dieser Zynismus musste jetzt sein. Lieber Vater, deine Übergriffigkeit auf meinem Körper hat mein ganzes Leben sehr belastet. Mehr ist nicht zu sagen!

Was war jetzt die zweite Frage? Ach, ja, die Alternativen zurück ins Leben. Welches Leben? Wer bin ich? In welches Leben zurück, Frau Mariccioni? Ins vorgeburtliche Leben? Frau Mariccioni, es ist… ja, es sind meine Gedanken, sie rotieren im Universum meiner verlorengegangen Unversehrtheit. Sie erzeugen ein Unverständnis, ja, auch jetzt als Erwachsener. Sie sind immer präsent! Welchen Sinn hat mein Leben noch? Der homo sapiens ist doch eine Fehlgeburt…, darüber denke ich oft nach. Ist die Menschheit überlebensfähig? Ich denke sie ist es nicht!

Die Angst vor dem Sterben! Das ist das wahre Drama der Menschheit. Diese Angst betrifft nicht nur mich. Sie sehen doch sicher auch, was in dieser Welt passiert. Kriege, Gewalt und Elend, und, und, und, die Details kennen wir doch alle. Die Frage, die mich daher beschäftigt, ist: Was mache ich aus der mir noch verbleibenden Lebenszeit, wie lange sie auch noch sein wird? Wie reagiere ich auf die Erwartung eines vorzeitigen Endes – gewollt oder nicht gewollt? Welches Ende ist tatsächlich gemeint? Das rein physische? Lebt die Seele weiter? Ist das wirklich wichtig? In welchem Zwischenstadium befinde ich mich? Welches Sein wird beendet? Nochmals: Wer bin ich? Ist mir die Tragweite, die Konsequenz meiner suizidalen Gedanken tatsächlich bewusst? Was bedeutet Bewusstsein wirklich? Über welches Sein muss ich mir bewusst werden? Wenn ich tot bin, weiß ich nichts mehr vom Leben, und wenn ich lebe, weiß ich nichts vom Tod, hat irgendein Philosoph einmal gesagt; wer, ist mir jetzt entfallen. Fragen über Fragen – ich suche immer noch Antworten, obwohl ich dachte, ich habe sie schon gefunden. Sie fragten vorhin nach dem Zurück ins Leben. Die Künste, sie haben mich immer schon in ihren Bann gezogen; anfangs versuchte ich es mit der Malerei … ich liebe Bilder mit einem starken Ausdruck. Der künstlerische Ausdruck ist die wahre Sprache der Seele. Als expressionistisch würde ich meine Malerei einordnen..., dieser Ausdruck ist die Sprache meiner Seele, Sie verstehen sicher, wie ich das meine. Wie soll ich es formulieren … egal, mir fehlte anscheinend das Talent …, oder es hat sich kein Galerist oder keine Galeristin für meine Werke interessiert; wie auch immer; ich denke, ich konnte im Bild nicht das vermitteln, was meine Seele ausdrücken wollte.

Der Adolf Hitler wurde als Künstler auch nicht anerkannt, es hatte fatale Folgen für die Menschheit. Bitte, jetzt verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe mit dem Hitler-Faschismus nichts zu tun; ich sehe mich eher im linken politischen Feld …, also eher als Marxisten, obwohl ich einem Schubladendenken nichts abgewinnen kann. Ich suche auch keine Sündenböcke für die mangelnde Anerkennung meines Schaffens. Soviel nur zur Klarstellung meiner Haltung, das ist mir sehr wichtig. Mein Menschenbild und mein Weltbild sind ein gänzlich anderes, weit entfernt von rassistischem oder faschistischem Gedankengut. Ich empfinde die heuchlerische Rhetorik der Autokraten aber auch mancher Demokraten zum Kotzen! Daran darf ich gar nicht denken! „Versuche deine Gegner zu umarmen, versuche sie nicht zu töten“, hat mir ein befreundeter Franziskaner bei einem Seminar versucht zu vermitteln.

Zurück zur Kreativität: Parallel zu den Bildern schrieb ich immer schon Texte über meine Befindlichkeiten und die Wahrnehmung der „Menschlichkeit“. Und so wechselte ich das Medium.

Ich schrieb und schreibe immer noch gerne. Gerne? Ich weiß nicht, vielleicht eher ein Zwang. Ich brauche ein Ziel auf der Suche nach dem Sinn meiner Restlebenszeit. Sicher, ich wäre gerne ein anerkannter Dichter, dazu reicht aber mein Talent anscheinend auch nicht, … also, wie soll ich… ich versuche trotzdem zu schreiben, ich muss es tun, es ist für mich überlebenswichtig, wenn Sie verstehen, wie ich das meine. Ich wurde als Sohn von Großvaters Tochter, also von meiner Mutter, das wird noch ein großes Thema, geboren, im März 1954, als drittes Kind im Pförtnerhaus des Schlosses Batthyány, ich wuchs unter sehr widrigen Umständen auf. Mein Vater war für mich kaum anwesend, er verbrachte seine Freizeit in einem Dorfgasthaus und kam dann immer betrunken mit einer Tafel Schokolade für uns Kinder nach Hause. Immerhin! Aber: Meine Vermutung ist, dass ich das Kind einer rauschigen Vergewaltigung wurde. Ich war kein Wunschkind. Als ich noch malte, da tauchten fast in jedem Bild embryonale Gestalten auf. Warum wohl? Meine Interpretation: Es entwickelte sich schon im Mutterleib ein pränatales Trauma, eine große Last und Kränkung meiner Seele. Wie Sie merken, habe ich meine Hausaufgaben in Psychopathologie gemacht.“

„Lieber Dichter, erzählen Sie weiter, Sie bringen sehr viel mit, ich schätze Ihre Offenheit, sie wird für unsere Arbeit sehr wertvoll sein. Ich möchte gerne… wie soll ich es ausdrücken, ich möchte gerne Ihre emotionale Welt in all ihrer Tiefe nachempf-inden.“

Der Dichter holte tief Luft, versuchte seinen Körper in eine etwas entspanntere Position zu bringen.

„Ja, ich… ja, ich verstehe… aber: Das Gefühl, nicht gewollt zu sein, ist schon sehr brutal, das kann man nicht so einfach nachempfinden; die Welt um mich fühlte sich mein ganzes Leben fremd an. Beziehungslos! Da trägt ein Mensch ein Kind im Bauch und will es nicht, das ist wahrscheinlich die früheste Beziehungs-störung, die es gibt, eine schwere Hypothek! Was für eine Erkenntnis! Ich fragte mich oft: Wie viele Menschen gibt es, die ein Trauma in ihrer Kindheit erlebten; wie viele Kränkungen und Demütigungen mussten Kinder erleben? Ich bin kein Einzelfall, wir sind viele, vielleicht zu viele. Das ist die Situation, in der wir heute leben; in einer Welt von Kränkungen, Gier und Hass. Ich fühle mich wie ein Seismograf, ein Seismograf, der diese Signale der Gekränkten aufspürt. Ich wusste es schon vor mehr als fünfzig Jahren: Diese Menschheit hat ein großes Problem. Verstehen Sie, wie ich das meine? Eigentlich sollte ich schon längst in der Psychiatrie sein, na ja, manchmal hat nicht viel gefehlt, meine Suizidversuche konnte ich immer gut verbergen. Wer nimmt nicht mal zu viele Drogen? Da gab es schon Exzesse vor allem mit dem Alkohol. Mein Vater hat mit mir, als ich kaum sechzehn Jahre war, bis in die Morgenstunden gesoffen. Das war doch die Legitimation, der Start in die Suchtkrankheit. Die Suchtproblematik betrifft meine ganze Familie. Ich bin auf dieser Welt, weil es die damalige katholische Moral meiner Mutter nicht erlaubt hat, dass ich im Entsorgungskübel einer Abtreibungsklinik landete. Nach mir wurde Mutter wieder schwanger, schon wieder so ein Rauschkind, unterstelle ich jetzt nicht, es war so! Da wurde die moralische Hürde genommen. Der Embryo nach mir hat es nicht geschafft, sonst hätte ich noch einen Bruder oder eine Schwester. Was mich betrifft: Im Rausch des Alkohols durch Gewalt gezeugt, im Rausch des Alkohols gestorben: Alles liegt im Anfang!

Bei meiner Geburt bin ich mit dem Kopf stecken geblieben, ich wollte oder durfte nicht raus in die Welt … oder Mutter wollte mich immer noch nicht haben – wie auch immer. Ich denke, dieses Verkrampfen des Geburtskanals war wahrscheinlich der letzte verzweifelte Versuch von Mutter, meine Geburt doch noch zu verhindern, mich zu töten. Leider ein misslungener Versuch, ich habe überlebt. Da gab es eine Kraft, die mir den Weg ins Leben ermöglichte. Deshalb sitze ich hier, deshalb lebe ich noch, deshalb muss ich schreiben. Zwei, drei Minuten länger in dieser Enge des Geburtskanals, und ich hätte mir viel erspart. Manchmal denke ich, ob ich da was nachholen muss, etwas zu Ende bringen muss, das, was damals vor neunundsechzig Jahren nicht sein sollte. War ich als drittes Kind schon um eines zu viel? „Warum, Mutter, verdammt, warum hast du mich nicht gewollt?“, schreie ich oft schweißgebadet, wenn ich wieder einmal aus meinem Alptraum erwache. Wie nahe beieinander sind Geburt und Tod wirklich? Was ist das Dazwischen, das wir Leben nennen? Mit der Geburt beginnt schon der Sterbeprozess, bei jedem Menschen. Ein Großteil der Menschheit kann oder will diese Erkenntnis nicht wahrhaben. Dieser Verdrängungsprozess bleibt somit ein ganzes Leben aktiv und wird durch Überlebensstrategien wie Arbeit, Spiele, Drogen und diverse Events unterstützt.“

„Lieber Dichter, Ihr analytisches Denken, Ihre Reflexionen sind beeindruckend, aber bitte versuchen Sie nicht zu rational zu werden, bleiben wir bei Ihrer Gefühlswelt. Ihre Mutter, die Geburt, was macht das mit Ihrer Seele?“

Der Dichter beugt sich nach vor, stützt mit beiden Händen seinen Kopf und wendet dadurch den Blick auf den Parkettboden. Der Versuch, seine Tränen zu verbergen, misslingt.

„Das ist doch offensichtlich! Verdammte Scheiße! Sorry! Ja! Wut! Zorn! Ja, auch Hass aus tiefstem Herzen! …, aber auch …, Trauer … ja, ich bin sehr oft sehr traurig. Die Antidepressiva wirken nicht mehr!

Alkohol mit Beruhigungstabletten helfen mir zu überleben. Ja, ich bin abhängig oder suchtkrank, seit meiner Geburt, ist meine Hypothese, oder wie auch immer man es …, egal! Was ist das für ein Leben? Ich komme nicht raus aus diesem Gefühlskarusell und den Abhängigkeiten. Wer bin ich? Frau Mariccioni, das sind doch wesentliche Fragen! Und, ich habe ein Recht, verdammt nochmal, eine Antwort zu bekommen! Wer bin ich, wer sind wir Menschen, Menschen, die belügen, die betrügen, die morden? Was sind das für Kreaturen? Und: Was ist meine Bestimmung? Leiden? Das meint sogar der Dalai Lama: Das Leben ist leiden, hat er gesagt. Solange das Begehren das Leben bestimmt, das hat er auch gesagt“

Des Dichters Blick wendet sich kurz fragend, hilfesuchend Frau Mariccioni zu, während er aus der Box, die am Tisch bereitsteht, ein Papiertaschentuch nimmt, um sich damit Augen und Nase zu reinigen. Die Tränen waren dem Dichter sichtlich etwas peinlich.

„Daran werden wir auch arbeiten. Ist das Ihre zentrale Frage, wer Sie denn sind?“

„Ja, sicher, sehr zentral, aber nicht nur für mich; ich versuchte und versuche immer noch durch meine Schreiberei eine Antwort zu finden. Vielleicht ist das Schreiben an sich die Antwort? Ich gehe hin und wieder zum Grab meiner Mutter oder denke an sie. Wenn ich dann vor ihrem Grab stehe, dann spüre ich so eine Genugtuung; ja, es tut mir gut, es laut und deutlich auszusprechen: „Ich liebe dich, Mutter, und ich hasse dich und meine ganze verlogene Familie!“ Ich spüre dann wieder diese Riesenwut und diese beschissene Trauer, alles scheint so vernebelt. Trauer ist gut, ohne Trauer keine Wut! Steht in jedem Psychologielexikon. Trotzdem! Es ist alles so lächerlich, so absurd. Mein Leben, meine Ängste, meine Depressionen wurden ab meiner Zeugung manifestiert. Mein Überlebenskampf hat ab diesem Zeitpunkt begonnen. Die Perversion ist, dass Ängste und Depressionen heute ja schon zum Livestyle gehören.

„Ach, weißt du, ich habe heute wieder meine Depressionen, wird auf den Vernissagen geschwafelt!“ Wie peinlich ist das denn, und wie kränkend für Menschen, die wirklich an Depressionen leiden. Wenn du daliegst, auf dem Sofa und jede Bewegung nicht mehr möglich ist; die Tränen fließen und fließen… was für ein Leben, denkst du nur, was für eine Sinnlosigkeit! Auferstehen und ins Leben wieder eintauchen, ein paar Zeilen schreiben. Meine Sensibilität zu allem Leben und Sterben um mich wurde immer größer. Mein größter Wunsch ist, nicht als Patient sterben zu müssen. Ich möchte nicht, dass ein Schulmediziner über mein Leben entscheiden darf. Dieser Eid ist doch Schwachsinn. Hochsensibel sei ich, sagten mir manche schlaue Fachleute aus dem Bereich der Psychologie. Was soll ich mit dieser Schublade anfangen? Ich bin doch selbst Therapeut. Ja, darüber will ich mich jetzt nicht auslassen. Zurück zur Schreiberei: Schreiben wurde zu meinem Lebenselixier, vor allem auch, was die Entwicklung der Menschheit betrifft. Dichter, du bist der Zeit voraus, sagte eine Kollegin, die meine Schriften genau studierte. Größenwahn? Meine Werke verkauften sich trotzdem nicht gut, warum auch immer. Der Kafka hat zu seinen Lebzeiten kein einziges Buch verkauft und lebt noch immer. Trotz allem, trotz aller Belastungen, die sich durch meine Zeilen in mein Bewusstsein bohren, werde ich froh sein, wenn der Tod mich heimsucht und ich meine Ruhe finden kann!“

„Was wiederholt sich da, lieber Dichter? Stichworte: Ungewolltes Kind, nicht anerkannt als Dichter oder Künstler … bin ich da auf einer richtigen Spur?“ Frau Mariccioni unterstützt die Frage mit ihrer Körpersprache, beugt ihren Oberkörper Richtung Dichter.

„Ja, ich denke, das könnte eine mögliche Erklärung sein.“

„Dichter, Sie bleiben im Konjunktiv, ist das korrekt?“

„Korrekt!“

„Gut, dann lassen wir das so mal stehen.“

„Nein, nein, ich möchte ergänzen: Die Anerkennung als menschliches Wesen ist kein individuelles Problem, ist eben nicht nur mein Problem! Es ist ein kollektives Problem, dessen Auswüchse wir noch nicht kennen, vielleicht erahnen.“, sagt der Dichter sehr emotional, während er seine Sitzposition verlässt, sich dominant hinter den Stuhl stellt und in aufrechter Position sein Referat fortsetzt:

„Der Punkt ist: Es ist das Problem der gesamten Menschheit. Das habe ich vorhin gemeint. Nochmals: es ist ein kollektives Problem! Ja, verdammt! In einem holografischen Weltbild bin ich nur das Abbild von Allem – sie verstehen? Ich halte nichts von Verschwörungstheorien, …, nur, es ist, …, dass Sie mich nicht falsch verstehen. Die Erde brennt! Es gibt fast keinen Kontinent, in dem es keine kriegerischen Gewalttaten gibt. Ich weiß, ich rationalisiere wieder, aber, wie gesagt, ich lebe nicht isoliert von all den Gräueltaten, die zurzeit auf diesem Planeten ablaufen. Mein Bewusstsein ist eingebettet in das Bewusstsein der gesamten Menschheit und dieses ist wiederum eigebettet in das grenzenlose Bewusstsein alles Seienden. Es gibt Nächte, da spüre ich im Halbschlaf diese Nähe zum Universellen Sein, ich sehe Bilder über die Entwicklung der Menschheit, Bilder über die Selbstauslöschung, die fast die gesamte Menschheit betreffen. Ist die Apokalypse in der Evolution der Menschheit, des homo sapiens vorprogrammiert? Ich denke, ja, ich spüre, solange der Egoismus Macht über die Menschheit hat, kann die Selbstauslöschung der Menschheit nicht gestoppt werden. Wie krank ist das? Bin nur ich paranoid? Sind Sie der Meinung, ich sei paranoid?“

„Nein, das sind Sie sicher nicht.“

„Danke, das ist beruhigend, wissen Sie, der Großteil der Menschheit ist sich über die Manipulation ihres Bewusstseins eben nicht bewusst. Sie leben als sinnentleerte Konsum-Kreaturen, bis sie dann meist durch schwere Erkrankungen, von dieser Welt gehen. Was soll das? Ist die Selbstzerstörung der Auftrag des homo sapiens?“, fragt der Dichter, kopfschüttelnd mit düsterem Blick aus dem Fenster. Er sieht im Park spielende Kinder, vor dem Park rasen die Autos vierspurig vorbei. Der Dichter setzt sich wieder in seinen Sessel und schaut mit fragendem Blick aber immer noch kopfschüttelnd zur Therapeutin.

„Lieber Dichter, das kann ich Ihnen nicht seriös beantworten. Ich verstehe sehr wohl Ihre Frustration, aber: Bevor wir hier eine Antwort suchen, wie die Menschheit zu retten ist, möchte ich Sie einladen, dass wir an Ihrer Bestimmung arbeiten. Was fühlen Sie, was könnte Ihr Auftrag für Ihre Restlebenszeit sein? Wir haben noch ein paar Minuten. Versuchen Sie hier jetzt spontan irgendein Ziel zu nennen, ein Ziel, für das es sich sehr wohl lohnt, noch eine geraume Zeit zu leben. Hypothese: Lieber Dichter, nur einmal angenommen, die Menschheit würde sich tatsächlich auslöschen, was würden sie noch retten wollen? Welches Ziel hätten sie noch? Wollen Sie das versuchen?“

„Oh, Gott…, das klingt jetzt sehr egoistisch… ist es auch: ich würde alle meine Romane gut verpacken und sie unter einem Baum ganz tief vergraben. Es muss ein sehr kräftiger Baum sein, ich habe da ein Bild vor mir, ich kenne diesen Baum aus meiner Kindheit. In seine Rinde würde ich einen Pfeil einritzen mit dem Hinweis: BÜCHER! Ja, das wäre mein letzter Wille! Sigmund Freud hätte dazu sicher eine passende Deutung! Ja, das wäre meine Reaktion, zum Ende der Menschheit! Anerkennung kann man dann ja abhaken. Meine Schreiberei ist mir sehr wichtig, ich weiß, ich weiß, ich wiederhole mich. Meine Bücher haben wahrscheinlich nicht einmal meine Geschwister gelesen und schon gar nicht anerkannt, …, eher schon ignoriert, kein einziges Wort, schon gar kein Satz zu einem meiner Bücher. Das schmerzte mich, überraschte mich aber nicht! Trotzdem, schon wieder so eine Kränkung. Ja, vielleicht wollten sie mich schonen? Hofräte*innen sind ja sehr sensible Wesen, da hat sich seit dem Ende der Monarchie nichts verändert. Ignoranz ist eine sehr subtile Form der Abwertung. Frau Mariccioni, diese Ignoranz, sie hat sich tief in mein Herz gebrannt. Ignoranz ist für mich die höchste Stufe der Aggression! Schon wieder so eine Kränkung! Aber, dank meiner therapeutischen Ausbildung konnte ich die Psychodynamik, die da zwischen uns Geschwistern und meinen Eltern abläuft, gut reflektieren. Es ist diese Ambivalenz zu meinen Geschwistern und zu meinen Eltern, die mich belastete. Ja, … diese beschissene Wut, aber auch die Sehnsucht nach Umarmung. Konnte ich wirklich verzeihen, aus meinem Herzen, meiner Seele? Lange konnte ich das nicht, die Kränkung war zu groß. Jetzt im hohen Alter und mit einem liebevollen Blick auf meine Geschwister und meine Eltern, kann ich das…, ja, …, nein, ich weiß nicht ob das stimmt oder ob ich nur Frieden will? Dennoch: Emotionslos aus therapeutischer Sicht betrachtet: Meine Herkunftsfamilie ist psychisch und jetzt im Alter auch physisch krank – eine ganz nüchterne Feststellung. Es geht nicht mehr um Rache, schon eher um Trauer und Sprachlosigkeit! Irgendwie schon ein Drama, im Kleinen wie im Großen.“

Der Dichter senkt seinen Kopf, stützt ihn mit beiden Händen, versucht seine Emotionen zu kontrollieren, was ihm nicht gelingt, und weint.

„… Ja, es ist… wie soll ich… alles so absurd, ich bin ja kein Einzelfall. Es gibt nur wenige in meiner Herkunftsfamilie, die nicht eine Herzerkrankung hatten. Da wurde zu viel verdrängt und nur unzureichend reflektiert. Im Herzen da wohnt die Seele! Wahrscheinlich gibt es nur ganz wenige Familien, die Wertschätzung und Anerkennung leben können. Ich hatte keine Wahl! Schreiben, ich kann nichts anderes als schreiben, mir alle Dramatik, die ich mit meiner Familie erleben musste, von der Seele schreiben. Alles Sinnige und Unsinnige von der Seele schreiben. Stellvertretend für viele Menschen, die ihrem Leben hinterherlaufen, bis der Tod das Ziel ist. Die Schreiberei und der Dialog mit Ihnen, Frau Mariccioni, helfen mir, die Einsamkeit zu ertragen. Das Gefühl der Einsamkeit ist nicht vermittelbar. Die Menschheit zu retten wäre vermessen …, aber: vielleicht einen kleinen Beitrag zur Bewusstseinsbildung zu leisten. Das ist doch, … ach Gott, …einerseits wahrscheinlich ohnehin vergeblich, das mache ich nun schon seit dreißig Jahren, andererseits, wenn ich es nicht versuche, mir und vielleicht noch ein paar anderen Menschen zu helfen, wird sich gar nichts ändern!“

„Lieber Dichter, das ist ein guter Schlusssatz, bleiben Sie dran! Wir sehen uns bei der nächsten Sitzung. Bis dahin alles Gute!“

„Danke!“, sagt der Dichter, „Bitte gestatten Sie mir noch einen Satz! Ich glaube, mir fehlt die Kraft …, mich, geschweige die Menschheit, zu retten.“

„Geben Sie nicht auf, lieber Dichter, wir finden einen Weg, davon bin ich überzeugt.“

Reflexionen zur Sitzung mit Frau Mariccioni

Die Therapeutin, ich schätze ihr Alter so um die 50 Jahre, sehr sympathisch: Mariccioni, was für ein Name, was für eine Ausstrahlung! Klar in ihrer Sprache, großartiges Outfit. Mit ihr könnte es funktionieren, sie wäre dann Therapeutin Nummer 7, stimmt nicht ganz, zwei Männer waren auch darunter; Psychoanalytiker, das konnte nicht gut gehen; ich kann mit weißen Wänden nicht kommunizieren. Sie waren sicher sehr bemüht, muss ich fairerweise sagen; für meine Befindlichkeiten aber zu viel Interpretation. Klientenzentriert, sagte Frau Mariccioni, klingt nach Carl Rogers – passt gut! Ich spüre starke Gefühle zu dieser Frau. Vor gut zwanzig Jahren hätte ich sie begehrt. Als Klient darf ich so denken oder fühlen; ja, sie ist eine tolle Frau, ganz einfach! Ohne mein Erbteil könnte ich mir sie nicht leisten, habe aber das Gefühl, dass sie jeden Euro wert ist! Einhundertzwanzig Euro für die Stunde – danke, lieber Vater! Mein Vater war trotz seiner politisch eher konservativen Prägung ein sehr sozialer Mensch. Als Vizebürgermeister half er jedem Menschen, der Hilfe benötigte; hauptsächlich kamen diese Menschen eher aus dem bäuerlichen Umfeld. „Der Hitler hat auch viel Gutes getan“, hat Vater des Öfteren erwähnt. Der Antisemitismus blitzte bei seinen Äußerungen über die Juden immer wieder durch; meine Mutter bestätigte diese Haltung mit zustimmender Gestik. Ich wollte diesbezüglich keinen Streit provozieren, sie waren meine Eltern. Ich hatte ihnen sehr viel zu verdanken. Die Schläge meiner Mutter, wenn sie tobte, und die Wut meines Vaters, als er im Rausch mit einem Messer in der Hand auf mich losging (ich war zu lange mit meinen Freunden beim Saufgelage), konnten interessanterweise meine Liebe zu ihnen nicht trüben. Eltern!! Mit meinem Vater habe ich ab der Pubertät immer wieder – oft bis zwei Uhr früh - die eine oder andere Flasche Wein geleert. Voll vom Wein konnte er dann meine langen Haare und meine marxistische Einstellung akzeptieren. Wenn ich ein neues Auto brauchte, hat er es einfach bezahlt. Papa hat mich geliebt, vielleicht viel zu sehr!

Schön, endlich wieder Zeit für Besinnliches. Zeit für mich, um mir meine Erfahrungen und meine Wahrheiten von der Seele zu schreiben. Es ist irgendwie anders als sonst, die Schreiberei, und das gleich nach der ersten Sitzung mit Frau Mariccioni! Interessant! Die Anerkennung war gleich das Thema bei der ersten Sitzung. Ich vertraute ihr sofort. Es kommt immer die gleiche Erkenntnis beim Thema der Anerkennung. Wenn dich die eigene Mutter nicht wollte, ist die Anerkennung ein lebenslanges Ringen um zu überleben. In dieser Klarheit habe ich das der Therapeutin nicht gesagt. Aber: Was ist da passiert? Die Schreiblust, sie ist wieder da! Warum? Der alte Sigmund Freud hätte sicher eine Antwort: „Sublimierung der Libido“, typisch Analytiker halt, bei allem Respekt! Diese Frage „Warum?“ ist doch irrelevant. Ich will schreiben, will mich ausdrücken, will mich erleichtern, mitteilen, festhalten … einfach raus damit!!! Befreiung aus der Einsamkeit … - ja, das könnte passen.

Reflexionen Mariccioni zur Sitzung mit dem Dichter

Der Dichter erinnert mich immer wieder an meine Zeit als Therapeutin in der Psychiatrie. Viele von den Klienten*innen waren künstlerisch begabt. Die einen malten, andere schrieben Gedichte. Die Ausdruckskraft ihrer Werke war oft sehr berührend. Ich kann des Dichters Reflexionen gut nachempfinden und bin neugierig auf seine Texte. Ich hatte schon Klienten*innen, welche die Fähigkeit verlernt hatten, ihre Gefühle zu kontrollieren, sie fühlten sich verfolgt oder hatten Wahnvorstellungen, litten unter Zwangsvorstellungen oder hatten das Gefühl, sich aufzulösen, hielten sich für Jesus, die heilige Maria Mutter Gottes oder Cäsar. Andererseits gab es in dieser Klinik auch Menschen, die keine Patienten waren, aber ähnliche Verhaltensweisen an den Tag legten. Der Spiegelungseffekt! Manche Psychiater*innen hielten sich für die Größten und Besten, andere verhielten sich still und klein wie eine Maus. Manche wurden von einem Machtgefühl beherrscht, stellten die Fütterung ihres EGOs über das Gemeinsame. Andere wieder waren extrem gestresst und unruhig, gaben sich der Fresssucht hin oder nahmen zu viele Drogen, um den Alltag bewältigen zu können. Diese Menschen gibt es überall, nicht nur in einer psychiatrischen Klinik. Davon leben wir Psycho-therapeuten*innen, manche besser, manche schlechter. Ich begegne zu oft Menschen, die sich wichtigtuerisch, rücksichtslos, gleichgültig, berechnend, verantwortungslos, narzisstisch oder selbstzerstörerisch verhalten, manches Mal endet das in der Bereitschaft zu Gewalttätigkeit, wie wir es bei autokratischen Führungs-personen in der Politik und der Wirtschaft beobachten können. Erstaunlich für mich ist, dass nur sehr wenige dieser Menschen einsichtig sind in ihre gestörte Gefühls- und Handlungssituation.

Der Dichter ist suizidgefährdet, keine Frage. Diese Beziehungsstörungen werden im Frühstadium der Kindheit oder auch schon vorgeburtlich manifestiert, sie erzeugen im sozialen Miteinander starke Irritationen, zum Leidwesen vieler Mitmenschen – im Extremfall bis hin zu Fremd- und Selbsttötungsfantasien, denen viel zu oft reale Handlungen in Form von Gewalt folgen. Der Dichter ist ein Mensch mit hohem Reflexionsvermögen. Ich spürte eine starke Resonanz bei unserer ersten Begegnung. Begegnungen entstehen durch Resonanzen, diese kongruenten Schwingungen tragen eine Beziehung. Ich bin schon sehr gespannt, wie sich unsere Beziehung entwickeln wird.

Briefe Dichter und Friedrich

Lieber Dichter,

was hat sich im letzten Monat getan? Ich habe einen OP-Termin für meine Schulter am 19. Jänner in der Klinik Ottakring. Mein Vater hat eine schwere Operation an der Bauchspeicheldrüse am 2. Dezember. Mithilfe der Medizin wird unser Leben erleichtert bzw. verlängert. Ich weiß die moderne Medizin zu schätzen, da ich ohne sie, als HIV-Positiver, vielleicht nicht mehr leben würde. Die Entwicklung moderner Medizin hat mich so positiv gestimmt, dass ich Impfbefürworter erster Stunde war. Leider bin ich das nun nicht mehr. Ich habe Thrombose-Fälle in der Familie, und sogar einen Todesfall in der Familie, der vielleicht von Impfung und Covid herrührt. Auch du berichtetest mir, dass dein Tinnitus stärker wurde nach der Impfung. Wie geht´s Dir heute damit? Noch hinzu kommt, dass die Impfung nicht wirklich wirkt. Also wozu noch impfen? Dreimal sollte reichen. Ich habe es nämlich satt, Covid und die Impfung. Am besten ich schütze mich überall wo mehrere Personen Zusammentreffen mit einer FFP2-Maske. Ich hoffe, dieser verdammte Virus schwächt sich dermaßen ab, dass ich im Frühjahr wieder ins Fitness-Studio gehen kann. Im Übrigen habe ich viel vor für das Frühjahr. Ich werde meine Kochkurse für Jugendliche wieder eröffnen. Des Weiteren bietet sich für mich und meine Lebensgefährtin eine Möglichkeit, am Land Gemüse anzubauen und eine Bibliothek zu errichten. Alles über den Verein Young Art Work. Das muss sich doch fördern lassen. Ist dir fad, zahlt´s der Staat, ist mein Spruch dazu.

Was beschäftigt mich sonst noch? Ich lese jetzt sehr viel und fülle meine Bildungslücken. Dabei bin ich auf Anarchismus und des Weiteren auf verschiedene Mythologien gestoßen. Oft habe ich überlegt, noch ein Studium anzuknüpfen. Beim Durchlesen der Vorlesungsverzeichnisse ist mir schnell übel geworden. Ich brauche keine Anwesenheitspflicht, sondern eine Abwesenheitspflicht! Alles entsteht, weil etwas abwesend ist, aus dem Chaos. Warum dann dem Universum in den Plan scheißen? Man muss ja auch fühlen können, was Leere ist, bevor man stirbt. Dazu ist Nichtstun und Meditation nötig. Und, wenn nichts ist, dann melden sich in uns die schrillen Teufelsgesänge. Die kennst du sehr gut, lieber Dichter. Also lehnen wir uns zurück und tun nichts, und horchen den schrillen Teufelsgesängen in unseren Ohren zu. Vielleicht haben sie uns etwas zu sagen.

Alles Liebe, Friedrich

Lieber Friedrich,

danke für Deine Zeilen! Deine Pläne für die Zukunft gefallen mir. Kochen empfinde ich auch als sehr entspannend. Die ayurvedische Küche habe ich in letzter Zeit des Öfteren probiert, sie ist gesund und vor allem die Gewürze erfreuen meinen Gaumen.

Eine OP am Pankreas ist nicht ohne, aber sie kann helfen. Ich werde am 2. Dezember positive Energien ins AKH zu deinem Vater schicken. Die Schulmedizin ist in vielen Akutbereichen sehr wirksam, bei Weitem nicht für alle gesundheitlichen Probleme. Aus ganzheitlicher bzw. seelischer Sicht ist der Pankreas das Organ der Freude und zuständig für alle Verdauungsprozesse im Geistigen wie im Materiellen. In Zeiten wie diesen ist es oft schwer alle Ereignisse im Leben gut zu verdauen, geschweige denn wahre Freude zu empfinden. Meine Verdauung war auch schon besser. Frei nach Karl Valentin habe ich folgenden Satz: „Ich freue mich über den Tinnitus, würde ich mich nicht freuen, habe ich ihn doch auch!“.

Das Schreiben hilft mir sehr, ich arbeite gerade an einem “neuen Buchprojekt“, habe ich Dir schon mitgeteilt – oder? Egal! Es wird eine Zusammenschau aus Texten und Erkenntnissen der Vergangenheit mit einem Ausblick auf die Zukunft der Menschheit. Ich schicke dir im Vertrauen Texte aus meinem neuen Werk.

Hypothese: Zurzeit befindet sich die Menschheit in einer Heilkrise. Es werden noch viele Leidensprozesse auf die Menschheit zurollen. Die Gier- und Machtbesessenheit der Autokraten und Oligarchen werden noch viele Opfer fordern. Corona und der ganze Impfwahnsinn werden sich in einer Rückschau als das kleinere Übel darstellen.

Kurzer Textauszug aus meinem neuen Roman: „Schreie, laute Schreie! Es waren diese Schreie der Nacht, die mich erwachen ließen, schweißgebadet, benommen, einsam, voller Angst. Angst? Wovor? Was sagten mir meine Traumbilder? Welche Energien mussten sich in meinen Träumen entladen? Welches Sein „erwacht“ im Traum? Immer diese Orientierungslosigkeit nach dem „Erwachen“, immer wieder dieses Navigieren hin zu einer Realität, welche vielleicht auch nur den Wachzustand der nächsten Traumstufe einleitet. In welchem traumhaften Leben träumte ich, in einem Traum zu sein? Was war da noch unklar, manchmal auch dämonisch und verschlüsselt?“

Ja, jede Seite Text ist für mich sinnvolle Lebenszeit. Leere finde ich auch gut, in der meditativen Leere im Geiste ist alles zu finden, ein scheinbares Paradoxon als Eingangstor zur Kreativität.

Lieber Friedrich, genug für heute; wünsche Dir eine entspannte Zeit; mögen sich deine Projekte gut entwickeln …

Beste Grüße! Dichter

Des Dichters Grübeleien

Der Dichter hat es sich in seiner Wohnung gemütlich gemacht, sofern Gemütlichkeit in einer 32 Quadratmeter großen Sozialwohnung in Wien Favoriten möglich ist. Favoriten ist der 10. Wiener Gemeindebezirk, hier leben ca. 180 Tausend Menschen aus fast allen Kulturkreisen. Seinen Laptop vor sich, schreibt der Dichter seinen Lebensroman und versucht, in der Topografie seines Lebens einen Platz zu finden. Mit Blick auf einen Park, einige Hunde, einige Kinder, etwas Lärm, etwas zu viel Migrantenhass unter den Bewohner*innen versucht er zu überleben. Die meisten Menschen in diesem Bezirk versuchen nur ihr Überleben zu meistern. So auch der Dichter. Zuerst immer ein Gedanke, gefolgt von Wörtern, versucht er „Ordnung“ zu finden:

In meinem Kopf, da gibt es so viele Ideen, sie wollen wachsen, sprachlich übersetzt werden, sie wollen entzaubert werden, wollen sich „reale“ Räume erobern, entdecken, ja das ist gut, dort können sie gedeihen, die Ideen, sie haben in dieser Welt noch keinen Ort. Meine Ideen können nur durch meine Sprache eine differenzierte Form annehmen, da entwickelt sich eine eigene Sprachkultur. Sprache ist der „Schauplatz des Unsichtbaren“, schrieb Elazar Benyoetz sehr poetisch. „Ich schreibe über das, was man nicht sieht, das Unsichtbare“, sagte Thomas Bernhardt, frei übersetzt. Dieser Satz gefällt mir besonders gut.

Im Raum der Vergänglichkeit bleiben sie erhalten, die Bilder der Sprachlosigkeit. Wie sagte mein Alter EGO bei einer der vielen Begegnungen: Wie tief muss der Schmerz sein, um das zu erfahren, was andere bewegt, um wirklich zu verstehen, zu spüren, was mein Gegenüber verletzt? Wie tief muss mein Schmerz sein, damit ich erfahre, was mich in meinem tiefsten Inneren bewegt? Darüber muss ich schreiben und mit der Mariccioni reden!

Der Mensch, der das Sterben im meditativen Abgleiten übt, bevor er stirbt, der stirbt nicht, wenn er stirbt! Die Tiefe dieser Gedanken berühren mich. Mein Altes EGO wollte damit zum Ausdruck bringen, dass wir in der Meditation das Sterben „vorerleben“ können, dem nachspüren, was da noch offen sein könnte, vor dem Tod. Die Verwandlung als Naturgesetz erkennt eine angstfreie Begegnung mit dem scheinbar Unbekannten, dem Geistigen. An welchem Haken baumelt da mein Leben? „Oft ist ein guter Tod der beste Lebenslauf“, sagte der schlesische Barockdichter Johann Christian Günther. Was ist ein guter Tod? Das Leben kann doch nur aus der Perspektive des nahenden Todes in seiner ganzen Tiefe empfunden werden. Wann ist die Liste der letzten Bedürfnisse abgearbeitet? Ein Leben ohne die Reflexion des Sterbens kann nicht schmerzlos beendet werden. Es gab Momente, da überkam mich das Gefühl, ich müsse diesen Planeten von meiner Existenz befreien, ich bin eine Belastung geworden. Der Tod ist das Steuerrad, das Ruder des Lebens, das kann ich so stehen lassen, so empfinde ich es. Ja, ich muss schreiben, so wie früher, ja, ich muss alles – und vor allem diesen verdammten geliebten Roman – endlich fertig schreiben. Wer schreibt, ringt dem Tod einen Tag nach dem anderen ab. Wo ist der Gewinn? „Das Bewusstsein der Sterblichkeit ist das Einzige, was dem Menschen Würde verleiht“, sagt Friedrich Adolf Muschg. Der Mensch ist das einzige Tier, das über seinen Tod nachdenken muss. Könnten Tiere über uns Menschen abstimmen, sie würden wahrscheinlich diesen Planeten von uns befreien. Menschen sind skandalös, sie dürfen über ihre eigene Vernichtung nicht nur philosophieren. Ich muss schreiben. Die Buchstaben, Wörter und Sätze müssen durch eine Umsortierung aus dem Chaos in eine neue Ordnung geführt werden. Ein Satz, ein Wort erklärt sich nur über das emotionale Bild dahinter. Wie viel Gewicht hat ein Wort, ein Satz, wenn nicht alles gesagt werden darf, und wie viel Gewicht, wenn alles Gesagte erlaubt wird? In einer Bewertungsgesellschaft wird jeder Mensch auf- oder abgewertet. Die einen werden Narzissten, die anderen depressiv.