Halt mir nur still - Peter Zimmermann - E-Book

Halt mir nur still E-Book

Peter Zimmermann

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Beschreibung

Glanzmann, der Philosoph, hat den Faden verloren. In seinem Seminar sitzen drei Burschen, die niemand sonst zu sehen scheint, und behaupten, er habe nichts verstanden. Martin, der Handwerker, baut in seinem Garten einen Fischteich. Es könnte ein Paradies sein, wäre da nicht diese aufdringliche Ente. Monika, die Köchin, erhält Besuch. Sie weiß, um wen es sich bei dem Mann handelt, der im langen Mantel vor ihr steht. Am besten, sie bietet ihm einen Schnaps an. Dreizehn Menschen, von der Ärztin zur Bettlerin, vom Jäger zum Kaufmann, begegnen in diesem literarischen Zyklus über Sein und Vergehen dem Tod. Wie in den klassischen Totentänzen gestalten sich die Begegnungen mal tragisch, mal skurril, mal mit verborgenem Witz. Auch wenn am Sterben kein Weg vorbeiführt, handeln die Geschichten in erster Linie von der Zeit davor: von Streben und Begehren, Straucheln und Scheitern, und davon, was es braucht, um ein Leben gelingen zu lassen.

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Peter Zimmermann

HALT MIR NUR STILL

Ein Totentanz

Vorwort

Glanzmann muss gehen – Der Philosoph

Gamsblut – Der Jäger

Unter der Haut – Die Ärztin

Sonnenbarsch – Der Handwerker

Kalte Platte – Die Köchin

Wo die Augen waren – Der Jüngling

Antons Versuch – Der Tanz der Toten

Strom der Dinge – Der Sterndeuter

Als wären sie Geister – Das Brautpaar

Betrug – Die Bettlerin

Riccarda – Der Kaufmann

Pikoy – Die Edelfrau

Dreizehn – Der Schriftsteller

Tanzende Skelette. Eines zupft am Gewand der Äbtissin, ein anderes gießt Wasser über den Kopf des Gärtners, ein drittes wirbt um die Gunst der jungen Frau und hält eine Sichel hinter dem Rücken versteckt. Wer die Spreuerbrücke in Luzern überquert und zu den bemalten Holztafeln im Dachgebälk hochblickt, mag sich wundern. Darf der Tod so unverfroren in Szene gesetzt werden?

Der Totentanz auf der Spreuerbrücke ist einer von zahlreichen Bilderzyklen, die sich im europäischen Kulturraum seit dem 14. Jahrhundert verbreitet haben. Üblicherweise erscheint der Tod in personifizierter Gestalt, tritt Vertreterinnen und Vertretern verschiedener Stände gegenüber und weist sie mehr oder weniger sanft darauf hin, dass die Zeit gekommen ist, sich vom irdischen Dasein zu verabschieden. Die Angesprochenen antworten mit Klagen oder gestehen reumütig Fehler ein, die sie in ihrem Leben begangen haben. Es hilft nichts. So reich oder mächtig oder jung sie auch sein mögen: Am Ende müssen sie gehen.

Auch die dreizehn Erzählungen von Halt mir nur still handeln von der Grenze unseres Daseins. Dabei greifen sie Motive und Elemente aus verschiedenen historischen Totentänzen auf. Sie sind jedoch freier gestaltet, zeigen nicht nur den Moment des Todes, sondern erzählen vor allem vom Leben, das die jeweiligen Menschen geführt haben.

Zur Tradition der Totentänze gehört das Zusammenspiel von Bild und Text. So wie sich zum typischen Totentanz-Bild jeweils einige Zeilen Text gesellen, werden die hier versammelten Geschichten durch sechs Illustrationen aus der Feder von Karin Widmer ergänzt.

Peter Zimmermann

Bern, im Juli 2021

Glanzmann muss gehen – Der Philosoph

Diese drei hat er noch nie gesehen. In der hintersten Reihe sitzen sie, Bücher haben sie keine dabei. Der erste kreuzt die Beine, der zweite gähnt und zupft Fäden aus dem Pullover. Der dritte glotzt nach vorne, das Kinn auf die Hände gestützt. Ihn wird er aufrufen, wenn sie die schwierigen Passagen besprechen.

Glanzmann geht zum Fenster. Es dämmert und Blätter wirbeln im Kreis. Eine Weile schaut er zu. Als es klingelt, legt er seine Notizen aufs Pult und setzt sich hin.

Kapitel sechs, Abschnitt C, sagt er. Der seiner selbst gewisse Geist. Wer will sich dazu äußern?

Im Mai kommen die Käfer. Markus holt Tennisschläger aus dem Keller und dann geht es los. Er streckt den Schläger in die Luft und dreht sich im Kreis. Er dreht sich im Abendlicht, dreht sich und die Tiere fallen auf die Erde wie Trauben bei der Ernte. Manchmal klingt es, als dresche er Bälle, meistens aber schmatzt es. Die Eltern haben es erlaubt. Das sind Schädlinge, haben sie gesagt.

Du auch!, ruft Markus und zeigt auf den Schläger.

Glanzmann schüttelt den Kopf. Er sitzt auf dem Boden und hält einen Käfer zwischen Daumen und Zeigefinger.

Sein Bruder kniet sich neben ihn. Was machst du?, fragt er.

Ich zähle die Schläge.

Welche Schläge?

Die des Käfers, sagt Glanzmann und streckt das Tier in die Höhe. Er hat ihm den Panzer entfernt. Er hat ihm das Herz freigelegt.

Und?, fragt Markus.

Glanzmann blickt auf seine Armbanduhr. Er schnalzt mit der Zunge. Vierundzwanzig, sagt er. Jetzt wissen wir es. Vierundzwanzig mal die Minute.

Das kann man so interpretieren, sagt Glanzmann. Kann man, wenn man unbedingt will. Die Studenten sehen ihn an wie immer, wenn sie überfordert sind. Nur die drei in der hintersten Reihe blicken über ihn hinweg. Er dreht sich um und sieht nach oben. Aber da ist nichts, da hängt bloß eine Uhr an der Wand. Er beugt sich wieder über den Text.

Weitere Vorschläge?, fragt er.

Jemand schnippt mit den Fingern.

Glanzmann hebt den Kopf. Ja?

Der Glotzer legt die Hände auf den Tisch und lehnt sich nach vorne. Seine Stimme ist leise. Er sagt: Du weißt nichts. Nichts hast du verstanden. Er lehnt sich wieder zurück und verschränkt die Arme.

Was fällt Ihnen ein?, will Glanzmann sagen, und: Seit wann duzen wir uns? Seine Stimme zittert. Was …?, sagt er. Die Studenten sehen ihn an. Der Glotzer steht auf, zieht die Jacke an, kommt auf Glanzmann zu und bleibt vor ihm stehen. Er hält die schlaffe Hand vor Glanzmanns Stirn. Dann lässt er die Finger nach vorne schnellen, als wollte er eine Fliege verscheuchen. Glanzmann weicht zurück.

Der Glotzer lächelt. Ich warte im Wagen, ruft er den beiden anderen zu und verlässt den Raum.

Glanzmann schüttelt den Kopf. Hegel kann einen ganz schön aus der Fassung bringen, sagt er. Niemand lacht.

In der Sakristei ist es düster. Touristen drängen vor den Gräbern, Glanzmann legt die Arme um Zoes Schultern. Ihr Haar riecht nach Orangen.

Diese Skulptur steht für den Tag, flüstert er in ihr Ohr. Und die hier steht für die Nacht.

Woher weißt du das?

Es gibt Zeichen. Die Eule neben ihrem Fuß.

Und weshalb die Maske? Zoe zeigt auf ein Gesicht im Stein.

Moment. Glanzmann löst sich von ihr und blättert im Führer.

Nicht so wichtig, sagt sie. Sie streichelt seinen Arm. Es ist egal, sagt sie. Sie sind schön, die Figuren.

Natürlich ist das wichtig, sagt er. Man muss es verstehen, sagt er und sucht weiter. Er blickt nicht auf, bis er es gefunden hat. Träume, sagt er. Die Maske steht für die Träume.

Der Stuhl, auf dem Glanzmann sitzt, ist gepolstert. Es riecht nach Rauch, die Bücher in den Regalen sind gelb. Auf dem Schreibtisch steht ein Foto. Honegger mit Mann und Kindern.

Also, sagt sie. Herr Glanzmann. Wie letztes Semester. Wie vorletztes Semester, Herr Glanzmann. Moment. Sie hebt die Unterlagen hoch, damit er nicht sehen kann, was dort steht. Macht sich über Beiträge der Studierenden lustig, liest sie. Herablassend, liest sie und sieht ihn an.

Glanzmann räuspert sich.

Warum ändert sich das nicht?, fragt Honegger.

Wer genau beschwert sich denn?

Das werde ich Ihnen nicht sagen.

Die kapieren überhaupt nichts, sagt Glanzmann. Nicht die einfachsten Texte.

Honegger legt die Unterlagen zur Seite. Sie schaden dem Institut, sagt sie.

Glanzmann blättert. Er hat den Faden verloren.

Seite vierhundertdreiundfünfzig, hört er aus der ersten Reihe.

Danke! Die Verstellung. Genau. Wer hat etwas verstanden?

Die Studenten beugen sich über den Text.

Irgendetwas?, fragt er und rückt näher ans Pult. Lassen Sie uns den dritten Satz genauer unter die Lupe nehmen, sagt er, und während er spricht, bewegt sich etwas hinter seinem Rücken. Glanzmann erschrickt. Er dreht sich um. Da sind schwarze Buchstaben an der Wand, gleich unter der Uhr. Er setzt die Brille auf und liest.

Dort steht: Glanzmann dreht sich um.

Er liest weiter.

Dort steht: Glanzmann liest.

Er liest weiter.

Dort steht: Glanzmann muss gehen.

Was soll das?, fragt er. Niemand antwortet. Er steht auf, holt sein Smartphone aus der Tasche und fotografiert die Wand. Wer war das?

Wer war was?, fragt eine Studentin, die ganz vorne sitzt.

Glanzmann öffnet den Brief. Zoe hat ihn auf die Kommode gelegt.

Es klappt nicht mit uns, schreibt sie. Du weißt es selbst.

Das Fenster steht offen, Hitze dringt ins Haus. Glanzmann schwitzt und seine Kehle ist trocken. Er faltet den Brief und geht ins Arbeitszimmer. Privates, steht auf dem schwarzen Ordner. Er schlägt ihn auf und schiebt den Brief in eine Sichthülle. Er schenkt sich einen Grappa ein und trinkt. Er trinkt, bis nichts mehr da ist, taumelt in die Küche und vergisst, was er dort will. Es klappt nicht mit ihm, er weiß es selbst. Er denkt und denkt und sein Leib ist trocken.

Bist du überhaupt ein Lebewesen?, hat Zoe gefragt und den Finger in seine Seite gestoßen. Sie hat den Kopf zurückgeworfen. Ist das Fleisch?, hat sie gefragt und ihn am Oberschenkel gezwickt und gelacht hat sie, damals.

Was ich diesen Sommer erlebt habe, schreibt Glanzmann und unterstreicht den Titel. Markus kommt ins Zimmer und schaut ihm über die Schulter.

Was schreibst du?, fragt er.

Hau ab!, sagt Glanzmann. Lass mich in Ruhe!

Am nächsten Tag gibt er seinen Aufsatz ab. Die Lehrerin lächelt, als er ihr die Mappe in die Hand drückt. Fünf Seiten lang ist der Text. Die Lehrerin zieht die Blätter heraus, sieht sie sich an, dreht sie um und sagt: Aber da steht ja gar nichts drauf.

Er sucht in seiner Tasche, breitet alles aus, was sich darin befindet. Markus hat den Aufsatz gestohlen. Er hat die Blätter ausgetauscht. Der Text ist weg und der Sommer auch. Glanzmann setzt sich auf den Boden, mitten im Schulzimmer.

Der Wagen steht in der Tiefgarage. Glanzmann presst die Stirn gegen das Lenkrad. Er atmet. Er atmet tief. Dann nimmt er das Smartphone aus der Tasche und wählt Zoes Nummer.

Du sollst mich nicht anrufen, sagt sie.

Ich weiß.

Also?

Es geht mir nicht gut. Etwas stimmt nicht. Die Studenten haben …

Bitte lass dir helfen, sagt sie und hängt auf. Glanzmann starrt auf das Display. Er öffnet die Galerie. Zweimal hat er die Wand fotografiert. An der Wand hängt eine Uhr. Keine Schrift, nichts. Glanzmann startet den Wagen.

Sie erheben sich gleichzeitig, alle drei. Auf der Hinterbank hatten sie sich versteckt. Glanzmann tritt auf die Bremse. Raus hier!, schreit er.

Da schlingen sich von hinten Arme um seinen Hals, drücken gegen seinen Kehlkopf. Der Glotzer steigt aus, öffnet die Tür und setzt sich auf den Beifahrersitz. So, Herr Glanzmann, sagt er und hält ihm den Zeigefinger an die Schläfe. Wir übernehmen.

Die Sonne glüht. Wasser umspielt seine Füße. Glanzmann sitzt am See und liest. Zoe öffnet den Picknickkorb.

Lass uns essen, sagt sie.

Moment. Noch dieses Kapitel, sagt er. Noch zwei Seiten.

Kann das nicht warten?

Nein. Zoe umarmt ihn von hinten und liest mit.

Ich verstehe kein Wort, sagt sie.

Man muss es mehrmals lesen. Man muss alles lesen. Man muss sich Mühe geben.

Ist das Fleisch?, fragt der Glotzer und zwickt ihn am Oberschenkel.

Glanzmann schwitzt. Er hat sich in die Hose gemacht. Er fragt: Was wollt ihr von mir?

Lass uns Bilanz ziehen, sagt der dritte. Er legt die Hand auf Glanzmanns Schulter.

Was soll das? Seid ihr verrückt?

Tritt aufs Gas!

Glanzmann schüttelt den Kopf. Der andere drückt noch fester zu. Glanzmann bekommt keine Luft.

Tritt aufs Gas!, wiederholt der Glotzer. Glanzmann gehorcht. Also, sagt der mit der Hand auf Glanzmanns Schulter. Dein Leben. Was fällt dir dazu ein? Jetzt lachen sie, alle drei. Die Tachonadel steigt. Glanzmann wird schwarz vor Augen. Dann reißt der Glotzer das Lenkrad herum.

Kreisel, Kreisel, tanz geschwind!, ruft er, und der Wagen dreht sich. Er dreht sich und dreht sich und prallt gegen einen Pfeiler aus Beton. Glanzmanns Herz wird freigelegt.

Gamsblut – Der Jäger

Lussi steht am Dorfbrunnen und kaut auf einem Stumpen. Daneben Gander und Niederberger, unrasiert und in grünen Faserpelzjacken. Sie haben die Arme verschränkt. Ruth dreht den Kopf weg, als sie an ihnen vorübergeht.

Warst du einkaufen?, ruft Lussi.

Sie hebt die Papiertüten in die Höhe.

Hast du Lust auf einen kleinen Schwatz?

Nein.

Warum so bockig? Er nimmt die Hände aus den Hosentaschen und kommt auf sie zu. Er senkt die Stimme und sagt: Früher warst du nicht so.

Du auch nicht. Sie will weiter, Lussi fasst sie am Oberarm. Kommt Georg morgen zur Chilbi?, fragt er. Das wäre schön. Da könnten wir auf alte Freundschaft anstoßen.

Ruth spürt, wie ihr das Blut in die Wangen schießt.

Aha, sagt Lussi. Hat er also Besseres zu tun.

Lass mich in Ruhe! Sie schlägt seine Hand weg. Die Tüten fallen zu Boden, Äpfel kullern über das Pflaster. Einen hebt Lussi hoch, wischt mit dem Ärmel darüber und beißt hinein. Er spricht mit vollem Mund. Georg solle sich in Acht nehmen, sagt er. Richtest du ihm das aus?

Ruth kniet nieder, sammelt die Äpfel ein und steckt sie zurück in die Tüte. Ja, sagt sie.

Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen. Maria öffnet die Augen und Georg legt ihr ein Stück Schokolade in die Hand. Schlaf gut, sagt er.

Gestern hab ich von Oma geträumt. Sie hat mir den Garten gezeigt.

Wie ist es dort gewesen?

Die Blumen hatten Farben, die ich noch nie gesehen habe.

Was für Farben?

Eben! Maria zieht die Nase kraus. Solche, die es nicht gibt. Grot und belb und glau! Sie kichert.

Da wäre ich gern dabei gewesen, sagt Georg. Das nächste Mal weckst du mich und nimmst mich mit. In Ordnung?

Maria nickt. Georg zieht die Decke hoch zu ihrem Kinn und gibt ihr einen Kuss auf die Stirn. Die Holztür knarrt, als er sie zuzieht.

Im Bad wäscht er sich das Gesicht. Er geht ins Schlafzimmer, hängt Hose und Hemd über den Stuhl und legt sich ins Bett.

Schläft sie?, fragt Ruth.

Ja.

Hast du ihr Schokolade gebracht?

Ja.

Es ist nicht gut für die Zähne.

Ich weiß. Er dreht sich zu Ruth, küsst ihren Hals, lässt die Hand langsam über ihre Brüste gleiten.

Heute habe ich den Lussi gesehen, sagt sie, schiebt seine Hand zur Seite und sitzt auf.

Was hat er gesagt?

Du sollst dich in Acht nehmen. Er weiß, was du vorhast. Es ist besser, wenn du daheimbleibst.

Georg reibt sich das Kinn. Er sagt: Morgen tanzt Lussi auf der Chilbi. Jagt dem Zopfwild nach und säuft sich unter eine Festbank.

Dieses Mal nicht. Ich spüre es. Bitte geh nicht.

Ich muss. Georg löscht das Licht. Ich kann nicht anders.

Um halb sechs in der Früh poltert es gegen die Haustür. Ruth geht nach unten. Ruedi steht in der Stube. Den Hut in den Händen starrt er auf Ruths Nachthemd, nickt ihr verlegen zu, als sie ihm in die Augen sieht. Bleib hier, sagt sie zu Georg, der eine Taschenlampe im Rucksack verstaut. Er blickt auf, nimmt sie in den Arm, küsst sie auf den Mund, aber sagen tut er nichts. Er schüttet den Rest Kaffee in die Spüle und schnürt sich die Schuhe. Ruth holt die Benediktus-Medaille aus der Schublade.

Nimm sie dieses Mal mit, sagt sie und legt die Hand auf seinen Arm. Mir zuliebe.

Georg steckt die Medaille ein, dann ziehen die beiden Männer los.

Sie setzt sich an den Tisch. Fahles Morgenlicht dringt durch die Fenster. Auf dem Foto, das neben den Trophäen hängt, ist der junge Georg zu sehen. Umringt von bärtigen Männern hält er einen Rehbock an den Läufen und lacht in die Kamera. Sein Vater gab ihm Gamsblut zu trinken, da war er noch ein Kind. Danach hatte sie ihn, die Leidenschaft. Es liegt in seiner Familie: Der Drang, die Sucht. Georgs Vater erwischten sie auf frischer Tat. Seine Flucht endete unter einer Felswand, auf der anderen Seite des Berges, die gewilderte Gams lag zwei Meter weiter im Geröll. Einem Onkel schoss der Kumpan in die Brust, als sie die Waffen reinigten. Die Tiere treffen sie, den Rest haben sie nie gelernt. Dem Vater wurde der Jagdschein verweigert, Georg hat keinen beantragt. Ich bin ein Sohn der Berge, sagt er. Ich bin ein freier Mann.

Nebelschwaden ziehen die Bergflanken hoch. Georg greift nach dem Feldstecher und blickt zum Hang hinüber, Ruedi nestelt am Riemen seines Rucksacks, flucht leise vor sich hin. Hör auf, sagt Georg. Dann sieht er sie. Ihm wird heiß, die Hände beginnen zu zittern. Er reicht Ruedi das Fernglas. Zwischen Wald und Felsband, sagt er.

Ja, sagt Ruedi nach einer Weile. Fast zwanzig Stück.

Sie setzen sich neben einen Felsblock, halbieren den Laib Brot, den Georg eingepackt hat, schneiden dicke Scheiben vom Käse, brechen zwei Reihen aus einer Tafel dunkler Schokolade. Sie essen hastig und ohne zu reden. Danach klopfen sie Schnupftabak auf die Handrücken, jeder aus seiner Dose. Das Bockfieber hat Georg ergriffen, viel zu heftig schnupft er das Pulver. Mit Tränen in den Augen spuckt er einen dunkelbraunen Batzen aus.

Lass uns gehen, sagt Ruedi. Der Wind ist gut.

Die Wege haben sie längst verlassen. Sie überqueren einen Bach, Georg gerät mit dem Fuß ins Wasser. Für einen Moment halten sie inne. Kühle Luft streicht Georg über den feuchten Nacken. Bald sind sie den Gämsen nahe genug. Der Nebel hat sich aufgelöst, der Himmel ist blau wie Borretsch. Auf einmal hebt Ruedi die Hand, sieht sich um, blickt hinunter ins Tal.

Da ist nichts, sagt Georg. Weiter jetzt!

Sie gelangen zu einem schmalen Gürtel aus Kiefern und Fichten. Das Gelände ist steil und doch gehen sie schnell. Georg schnauft, sein Tritt ist schwer. Schließlich tut sich eine Lücke zwischen den Bäumen auf. Dort setzen sie sich ins Gras, legen die Büchsen auf die Rucksäcke und warten. Es ist halb zehn.

Ruedi hat Wein mitgebracht. Georgs Kopf wird warm, nach jedem Schluck ist er durstiger als zuvor. Durch das Fernglas beobachtet er einen Tannenhäher, der Vorräte für den Winter versteckt. Als Ruedi hustet, fliegt er weg. Eine Stunde vergeht. Noch immer sind sie im Gegenwind. Alles ist still.

Vorsichtig zieht Ruth an den Ketten der Pendeluhr, die Gewichte gleiten nach oben. Sie schließt das Gehäuse, setzt sich an den Tisch und schreibt einen Brief an ihre Schwester. Ruths Hand zittert, die Buchstaben geraten durcheinander. Sie schraubt die Kappe auf den Füllhalter und lauscht dem Ticken der Uhr. Dann knüllt sie das Papier zusammen und setzt neu an. Der zweite Versuch gerät ihr noch schlechter, also legt sie die Schreibwaren zurück in den Sekretär, öffnet die Haustür und tritt nach draußen. Gejohle dringt die Straße herauf. Die Festgemeinde hat die Kirche verlassen, jetzt zieht sie fahnenschwingend zum Dorfplatz. Für einen Moment steht Ruth auf der Schwelle, mit klopfendem Herzen und einem Ziehen in den Gliedern. Dann ruft sie Maria zu sich. Hol deine schönen Schuhe! Wir gehen zur Chilbi.

Ruedi sieht sie zuerst. Er tippt Georg gegen den Arm und legt den Zeigefinger auf den Mund. Die Geiß äst am Hang. Kaum vierzig Meter ist sie entfernt. Lautlos steht Georg auf, lehnt den Bergstock gegen einen Baum, umgreift den Stock mit der Linken, legt die Büchse zwischen Daumen und Zeigefinger auf. Er blickt zu Ruedi, der mit seinem Gewehr im Anschlag am Boden liegt. Ruedi schüttelt den Kopf, er hat keine freie Sicht. Die Geiß gehört Georg.

Der Schuss sitzt knapp hinter dem Blatt. Die Gams springt auf, macht kehrt und verendet nach kurzer Flucht. Georg schließt die Augen, sein Atem geht ruhig. Eine Weile verharren sie. Schließlich packen sie die Rucksäcke und steigen hinab, um das Tier zu bergen.

Neben dem Hirschen, leicht erhöht, stellen sich Ruth und Maria in die hinterste Reihe. Es riecht nach Bratwürsten und Käseschnitten. Maria zerrt an der Hand ihrer Mutter. Ich will nach vorne!

Das geht nicht, sagt Ruth, streicht ihr übers Haar und hebt sie Huckepack. Sie schauen zum Dorfplatz. Frauen in blauen Röcken. Rote Tücher lugen aus den Hosentaschen der ledigen Männer. Eltern, die ihre Kinder an der Hand halten, glückliche Familien. Wo sich die beiden Hauptstraßen kreuzen, ist eine Holzbühne aufgebaut. Zu dritt stehen sie oben, in bestickten Hemden, verkünden den Älplerspruch, nehmen den Gemeindepräsidenten auf die Schippe. Ruths Blick schweift umher. Sie kann Lussi nicht entdecken, auch den Gander und den Niederberger nicht. Warum bloß hat Georg ihre Warnung in den Wind geschlagen? Ein Schrei reißt sie aus ihren Gedanken. Maria zeigt auf den moosbehangenen Butzi. Er trägt eine schaurige Holzlarve, heult wie ein Wolf und mit einem Tannenast zwickt er Jungen und Mädchen, die vor ihm fliehen wollen. Als er näher kommt, nimmt Ruth ihre Tochter von der Schulter und legt den Arm um sie. Lass uns nach Hause gehen.

Am Mittag dreht der Wind. Sie müssen weiterziehen. Georg schultert die Gams und sie steigen hoch zum Grat. In einer Kuhle finden sie Schutz, die Sonne hält ihre Körper warm. Erst am späten Nachmittag werden die Gämsen wieder aus der Ruhe kommen. Ein wenig Brot ist übrig geblieben, Ruedi zieht Landjäger aus dem Rucksack, danach trinken sie aus dem versilberten Flachmann. Georg betrachtet das erlegte Tier, zählt die Ringe an den Hörnern. Die Geiß hat sechs Jahre lang gelebt. Eine Fliege setzt sich auf Ruedis Unterarm. Sogar hier oben plagen sie einen, sagt er, fängt das Insekt und schüttelt es in der hohlen Hand. Georg schlägt ihm auf die Finger, Ruedi gibt die Fliege frei.

Die Hände hinter dem Kopf verschränkt legt sich Georg auf den Rücken. Alpendohlen kreisen. Er schließt die Augen. Im Traum drückt ihm Ruth die Benediktus-Medaille in die Hand. Hinter ihr sitzt Maria am Tisch und malt ein Bild. Als er wieder erwacht, zieht er die Medaille aus der Brusttasche seiner Weste, dreht sie hin und her, hält sie so, dass sie einen Sonnenstrahl zurückwirft. Sie wird ihn beschützen.

Ruth blättert in der Schweizer Illustrierten. Audrey Hepburn hat einen Oscar gewonnen, weit weg in Amerika. Mit den Fingern gleitet sie über das Bild der Schauspielerin. Ruth will den Text lesen, kann sich aber nicht konzentrieren. Sie legt die Zeitschrift weg und blickt zu ihrer Tochter. Maria kniet auf dem Stuhl und summt vor sich hin. Sie hält den Kopf schief, zieht die Augenbrauen zusammen. Dann hellt sich ihr Gesicht auf. Fertig, sagt sie und stellt den Pinsel ins Wasserglas. Sie hat einen Butzi im grünen Gewand und mit einem riesigen Hut auf dem Kopf gemalt.

Der sieht aber böse aus, sagt Ruth.

Ja. Maria pustet auf das Papier.

Was hält er da in der Hand?

Ein Gewehr.

Ein Butzi hat doch kein Gewehr!

Dieser aber schon. Maria schiebt das Blatt von sich weg. Ich bin draußen, sagt sie und rennt los.

Eine Weile steht Ruth vor dem Bild, dann legt sie das Papier auf die offene Hand und trägt es zusammen mit Pinsel und Farbkasten in Marias Zimmer. Noch einmal fällt ihr Blick auf den Butzi. Das Herzklopfen kehrt wieder, das Ziehen in den Gliedern. Sie setzt sich auf Marias Bett. Es dämmert, obwohl es noch früh am Abend ist. Bald kommt der Winter. Dann sind auch sie eine glückliche Familie. Georg lässt das Wild in Ruhe. Die Tiere haben es schwer in dieser Zeit, sagt er. Da will ich sie schonen.

Wenn du es im Winter sein lassen kannst, warum nicht im Rest des Jahres?

Du hast gewusst, wen du heiratest, hat er zur Antwort gegeben. Sie streicht mit der Hand über die Decke. Ja, sie hat es gewusst. Schon immer hat sie die Wärme hinter seiner Schroffheit gespürt. Schon immer hat sie gespürt, dass er ein guter Vater sein würde. Doch damit war sie allein. Niemand im Dorf hat ihre Entscheidung verstanden und am allerwenigsten der Lussi. Nach der Hochzeit hat er zwei Jahre lang nicht mehr mit ihr geredet. Wie eifersüchtig er gewesen ist, wie sehr er Georg hasst! Musste ausgerechnet Lussi der neue Wildhüter werden? Ruth steht auf, öffnet das Fenster und blickt auf das Feld hinter dem Haus, auf den schmalen Trampelpfad, der sich im Wald verliert. Dort wird Georg herunterkommen, wenn es dunkel ist. Auf diesem Weg wird er heimkommen.