Die Kreutzersonate - Lew Tolstoj - E-Book

Die Kreutzersonate E-Book

Lew Tolstoj

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Beschreibung

Während einer nächtlichen Zugreise macht Posdnyschew, der Held von Tolstojs Erzählung, einem Mitreisenden ein aufwühlendes Geständnis: in seiner maßlosen Eifersucht - noch zusätzlich durch Beethovens Kreutzersonate geschürt - sah er keinen anderen Weg mehr, als seine vermeintlich untreue Frau umzubringen. Schritt für Schritt gerät er stärker in den Sog seiner heftigen Gefühle.

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Seitenzahl: 191

Veröffentlichungsjahr: 2014

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Während einer nächtlichen Zugreise macht Posdnyschew, der Held von Tolstojs Erzählung, einem Mitreisenden ein aufwühlendes Geständnis: In seiner maßlosen Eifersucht – noch zusätzlich durch Beethovens Kreutzersonate geschürt – sah er keinen anderen Weg mehr, als seine vermeintlich untreue Frau umzubringen. Schritt für Schritt gerät er stärker in den Sog seiner heftigen Gefühle.

In dieser meisterhaften Erzählung aus Tolstojs Spätwerk – einer seiner meistgelesenen – erzählt er die Geschichte einer tragisch mißglückten Ehe. Tolstoj analysiert die Problematik des Geschlechterverhältnisses und der Institution Ehe, entfaltet im beigefügten Nachwort aber auch Mçglichkeiten, die Verbindung von Mann und Frau nach dem Ideal der Liebe zu gestalten.

Die Kreutzersonate erschien im Jahr 1891, zwölf Jahre nach seiner Wendung zu einer urchristlich inspirierten Lebenshaltung.

Lew Tolstoj wurde am 9. September 1823 auf dem Landgut Jasnaja Poljana geboren. Er entstammte einem alten russischen Adelsgeschlecht. An der Universität Kasan begann er 1844 das Studium orientalischer Sprachen. Nach einem Wechsel zur juristischen Fakultät brach er das Studium 1847 ab. Im Jahr 1862 heiratete er die 18jährige deutschstämmige Sofja Andrejewna Behrs. In den folgenden Jahren schrieb er die monumentalen Romane Krieg und Frieden sowie Anna Karenina, die seinen literarischen Weltruhm begründeten. Er starb am 20. November 1910 in Astapowo.

LEW N. TOLSTOJ

DIE KREUTZERSONATE

Erzählung

Aus dem Russischen von Arthur Luther

Insel Verlag

eBook Insel Verlag Berlin 2014

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage des insel taschenbuchs 4517.

© Insel Verlag Berlin 2011

© Insel Verlag Frankfurt am Main 1961

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

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Hinweise zu dieser Ausgabe am Schluß des Bandes

Umschlag: bürosüd, München

eISBN 978-3-458-75870-9

www.insel-verlag.de

Ich aber sage euch: Wer ein Weib ansieht,

ihrer zu begehren, der hat schon mit ihr

die Ehe gebrochen in seinem Herzen.

Matthäus 5, 28

Da sprachen die Jünger zu ihm: »Steht

die Sache eines Mannes mit seinem Weibe

also, so ist’s nicht gut, ehelich werden.«

Er sprach aber zu ihnen: »Das Wort faßt

nicht jedermann, sondern denen es

gegeben ist.«

Matthäus 19, 10.11

1

Es war im Frühling. Wir waren schon den zweiten Tag unterwegs. Allerlei Reisende, die nur kurze Strecken zu fahren hatten, betraten und verließen den Eisenbahnwagen; nur drei Personen hatten gleich mir die Reise von der Ausgangsstation an mitgemacht: eine häßliche, nicht mehr junge Dame, die sehr viel rauchte, mit einem müden, gequälten Gesicht, in einem Mantel, dessen Schnitt an einen Herrenpaletot erinnerte, und einem Pelzmützchen; ein Bekannter von ihr, ein sehr redseliger Herr von etwa vierzig Jahren, mit ganz neuen, sehr gut gehaltenen Koffern und Reisetaschen, und noch ein Herr, der sich abseits hielt, klein, mit hastigen Bewegungen, noch nicht alt, aber mit offenbar vorzeitig ergrautem, krausem Haar und mit auffallend blitzenden Augen, die mit großer Geschwindigkeit von einem Gegenstand zum andern liefen. Er hatte einen abgetragenen, doch offenbar von einem sehr guten Schneider stammenden Mantel mit einem Persianerkragen an und eine hohe Pelzmütze auf dem Kopfe. Wenn er den Mantel aufknöpfte, sah man darunter eine Poddiowka* und ein russisches Hemd mit bunten Stickereiborten. Eine Eigentümlichkeit dieses Herrn war, daß er hin und wieder seltsame Töne ausstieß, die halb wie ein Hüsteln, halb wie ein abgebrochenes Lachen klangen.

Dieser Herr ging während der ganzen Fahrt jeder Unterhaltung und Bekanntschaft mit den Reisenden geflissentlich aus dem Wege. Auf die Anreden seiner Nachbarn antwortete er kurz und scharf; er las entweder und rauchte, oder er sah aus dem Fenster oder trank Tee und aß von dem Mundvorrat, den er aus seinem alten Reisesack nahm.

Und doch schien mir, als quäle ihn seine Einsamkeit, und ich dachte ein paarmal daran ihn anzureden, aber jedesmal, wenn unsere Blicke sich begegneten – was recht oft geschah, da er mir schräg gegenübersaß –, wandte er sich ab und nahm sein Buch vor oder sah aus dem Fenster.

Als der Zug am Abend des zweiten Tages längere Zeit auf einer größeren Station hielt, stieg der nervöse Herr aus, holte sich heißes Wasser und brühte sich frischen Tee auf. Der Herr mit dem eleganten Reisegepäck – ein Advokat, wie ich später erfuhr – ging mit seiner Nachbarin, der rauchenden Dame, in die Bahnhofsrestauration, um dort Tee zu trinken.

In der Abwesenheit des Herrn und der Dame betraten einige neue Personen den Wagen, darunter ein hochgewachsener alter Mann mit glattrasiertem, runzligem Gesicht, allem Anschein nach ein Kaufmann, in einem Iltispelz und einer Tuchmütze mit mächtigem Schirm. Er setzte sich auf den freien Platz gegenüber der Dame und dem Advokaten und knüpfte sofort ein Gespräch mit einem jungen Mann an, der wie ein Handlungsgehilfe aussah und ebenfalls auf dieser Station eingestiegen war.

Ich saß ihm schräg gegenüber und konnte, da der Zug hielt, in den Augenblicken, wo niemand durch den Wagen ging, Bruchstücke ihres Gesprächs hören. Der Kaufmann teilte erst mit, daß er auf ein Gut reise, das nur eine Station von hier entfernt sei; dann redete man wie immer zuerst von den Preisen, von Geschäften, von dem Handel in Moskau und endlich von der Messe in Nischnij Nowgorod. Der Handlungsgehilfe erzählte von den Zechgelagen, die ein überall bekannter reicher Kaufmann auf der Messe veranstaltete, der Alte ließ ihn aber nicht zu Ende reden, sondern erzählte selber von den Zechereien in Kunawino, an denen er in jungen Jahren teilgenommen hatte. Er war offenbar sehr stolz darauf und erzählte mit unverhohlener Freude, wie er mit einem seiner Bekannten in Kunawino einen tollen Streich gemacht habe, den man nur mit gedämpfter Stimme erzählen konnte. Der Handlungsgehilfe brach in ein schallendes Gelächter aus, das im ganzen Wagen widerhallte, und auch der Alte lachte laut und ließ dabei zwei lange gelbe Zähne sehen.

Da ich nicht erwarten konnte, etwas Interessantes zu hören, stand ich auf, um bis zum Abgang des Zuges auf dem Bahnsteig auf und ab zu gehen. In der Tür stieß ich auf den Advokaten und die Dame, die sich lebhaft unterhielten.

»Sie kommen zu spät«, sagte der redselige Advokat zu mir, »gleich wird das zweite Glockenzeichen gegeben.«

Und in der Tat: ich war kaum den Zug entlanggegangen, da ertönte die Glocke. Als ich wieder einstieg, fand ich die Dame und den Advokaten immer noch in lebhaftem Gespräch. Der alte Kaufmann saß ihnen schweigend gegenüber, sah streng vor sich hin und machte mit ungehaltener Miene langsame Kaubewegungen.

»Dann erklärte sie ihrem Gatten geradeheraus«, erzählte der Advokat lächelnd, während ich an ihm vorüberging, »sie könnte und sie wollte nicht mit ihm leben, denn ...«

Und er erzählte weiter; ich konnte es aber nicht mehr hören. Zugleich mit mir kamen noch einige andere Fahrgäste, ein Schaffner ging durch den Wagen, ein Gepäckträger kam gelaufen, und eine Zeitlang ging es so laut her, daß das Gespräch völlig übertönt wurde. Erst als alles still geworden war, hörte ich wieder die Stimme des Advokaten. Man sprach nicht mehr von Einzelfällen, sondern erging sich in allgemeinen Erwägungen.

Der Advokat sprach davon, daß die Frage der Ehescheidung jetzt die öffentliche Meinung in ganz Europa beschäftige und daß sich auch bei uns Fälle in der Art des geschilderten häuften. Als er merkte, daß er ganz allein sprach, brach er seine Rede ab und wandte sich an den alten Kaufmann, der ihm gegenübersaß.

»In der guten alten Zeit kam so etwas nicht vor, was?« sagte er mit liebenswürdigem Lächeln. Der Alte wollte etwas erwidern, aber in diesem Augenblick setzte sich der Zug in Bewegung, und der Alte nahm die Mütze ab, schlug ein Kreuz und flüsterte ein Gebet. Der Advokat blickte zur Seite und wartete taktvoll. Als der Alte sein Gebet beendet und sich zum Schluß noch dreimal bekreuzigt hatte, setzte er seine Mütze wieder auf, schob sie gerade und tief in die Stirn, rückte sich auf seinem Platz zurecht und fing an zu reden.

»Früher hat es das auch gegeben, Herr, aber seltener«, sagte er. »In der heutigen Zeit kann das aber gar nicht anders sein. Die Leute sind gar zu gebildet geworden.«

Der Zug lief immer schneller und ratterte immer lauter, so daß ich die Redenden nur mit Mühe verstehen konnte. Da das Gespräch mich aber interessierte, setzte ich mich näher. Mein Nachbar, der nervöse Herr mit den blitzenden Augen, schien auch interessiert und horchte auf, ohne aber seinen Platz zu verlassen.

»Was haben Sie denn gegen die Bildung?« fragte die Dame und lächelte kaum merklich. »Ist es denn besser, wenn man so heiratet wie in der alten Zeit, wo Braut und Bräutigam einander vor der Hochzeit überhaupt nicht zu sehen bekamen?« fuhr sie fort, indem sie nach der Gewohnheit vieler Damen nicht auf die Worte ihres Partners antwortete, sondern auf das, was er ihrer Meinung nach sagen würde. »Sie wußten nicht, ob sie einander lieben, ob sie sich jemals liebgewinnen könnten; man heiratete den ersten besten und quälte sich dann sein Leben lang. War das Ihrer Meinung nach besser?« sagte sie und wandte sich mehr an mich und den Advokaten als an den alten Kaufmann, mit dem sie sich anfangs unterhalten hatte.

»Sehr gebildet sind die Leute geworden«, wiederholte der Kaufmann, sah die Dame verächtlich an und ließ ihre Frage unbeantwortet.

»Es wäre interessant zu erfahren, wie Sie den Zusammenhang zwischen Bildung und Uneinigkeit in der Ehe erklären«, sagte der Advokat mit einem kaum merklichen Lächeln.

Der Kaufmann wollte etwas sagen, aber die Dame fiel ihm ins Wort.

»Nein, diese Zeit ist schon vorüber«, sagte sie. Doch nun ließ der Advokat sie nicht weiterreden.

»Lassen Sie doch den Herrn seine Meinung sagen!«

»Von der Bildung kommen nur Dummheiten, weiter nichts«, sagte der Alte in bestimmtem Ton.

»Erst verheiratet man Leute miteinander, die sich nicht lieben, und dann wundert man sich, daß sie nicht in Einigkeit leben«, beeilte sich die Dame zu sagen und blickte dabei auf den Advokaten und mich, ja sogar auf den Handlungsgehilfen, der sich von seinem Platz erhoben hatte und, auf die Rücklehne der Bank gestützt, dem Gespräch lächelnd zuhörte.

»Man kann doch nur Tiere so paaren, wie es dem Besitzer gefällt, Menschen aber haben ihre Neigungen, ihre Sympathien«, sagte die Dame, augenscheinlich in der Absicht, dem Kaufmann einen Stich zu versetzen.

»Das sagen Sie mit Unrecht, meine Dame«, sagte der Alte, »das Tier ist ein Vieh, dem Menschen aber ist das Gesetz gegeben.«

»Wie soll man aber mit einem Menschen leben, wenn keine Liebe da ist?« beeilte sich die Dame wieder ihre Meinung vorzubringen, die sie anscheinend für ganz neu hielt.

»Darum kümmerte man sich früher nicht«, sagte der Alte in überlegen-belehrendem Tone, »das ist erst heutzutage Mode geworden. Kaum ist der Frau was nicht recht, so sagt sie: ›Ich geh weg von dir!‹ Sogar bei den Bauern ist diese Mode aufgekommen. ›Da‹, sagt sie, ›da hast du deine Hemden und Hosen; ich gehe jetzt zum Wanka, der hat krauseres Haar als du.‹ Was soll man mit den Leuten reden? Eine Frau muß man vor allem in Furcht halten.«

Der Handlungsgehilfe sah der Reihe nach den Advokaten, die Dame und mich an, offensichtlich ein Lächeln unterdrückend und bereit, über die Worte des Kaufmanns zu lachen oder ihnen beizustimmen, je nachdem wie wir sie aufnehmen würden.

»Was heißt Furcht?« sagte die Dame.

»Es steht geschrieben: das Weib sei untertan ihrem Manne. Das heißt Furcht.«

»Nun, Verehrtester, diese Zeit dürfte wohl vorbei sein«, sagte die Dame nicht ohne eine gewisse Erbitterung.

»Nein, meine Dame, diese Zeit geht nie vorbei. Wie die Eva, das Weib, aus der Rippe des Mannes geschaffen wurde, so wird es auch bleiben bis zum Ende der Welt«, sagte der Alte und schüttelte so streng und siegesbewußt den Kopf, daß der Handlungsgehilfe ihn sofort als Sieger anerkannte und laut zu lachen anfing.

»Ja, so denkt ihr Männer«, sagte die Dame, die sich nicht ergeben wollte, und sah sich nach uns um; »euch selbst gönnt ihr alle Freiheit, und die Frauen wollt ihr in Kemenaten einsperren. Und euch selbst erlaubt ihr alles.«

»Erlauben tut niemand was; der Unterschied ist nur, daß der Mann nichts ins Haus hineinbringt, die Frau und Gattin aber ein zerbrechliches Gefäß ist«, predigte der Kaufmann weiter. Sein lehrhafter Ton schien auf die Zuhörer zu wirken, sogar die Dame fühlte sich in die Enge getrieben, wollte aber doch noch nicht nachgeben. »Gewiß. Aber Sie werden doch zugeben müssen, daß die Frau auch ein Mensch ist und ebenso empfindet wie der Mann. Was soll sie denn machen, wenn sie ihren Mann nicht liebt?«

»Nicht liebt?« wiederholte der Kaufmann grimmig und zog die Augenbrauen zusammen. »Sie wird das Lieben schon lernen!«

Dieses unerwartete Argument gefiel dem Handlungsgehilfen ganz besonders, und er drückte durch ein behagliches Grunzen seine Zustimmung aus.

»Nein, das lernt sie nicht«, sagte die Dame; »wenn keine Liebe da ist, so kann sie auch nicht erzwungen werden.«

»Nun, und wenn die Frau dem Mann untreu wird, was dann?« fragte der Advokat.

»Das darf nicht sein«, sagte der Alte, »da muß man aufpassen.«

»Und wenn es doch geschieht, was dann? Es kommt doch vor.«

»Bei anderen Leuten kommts vor, bei uns nicht«, sagte der Alte.

Alle schwiegen. Der Handlungsgehilfe rückte näher und begann lächelnd, um nicht hinter den anderen zurückzubleiben: »Ja, bei einem von unseren jungen Leuten hat es neulich auch Krach gegeben. Es ist wirklich schwer, die Sache richtig zu beurteilen. Die Frau war auch so eine leichtsinnige Person und trieb es ganz toll. Der Mann aber hielt auf Ehre und Würde und war auch recht gebildet. Erst hatte sie’s mit dem Schreiber. Da redete der Mann ihr noch gut zu. Aber es half nichts. Sie machte immer neue Geschichten, fing an, ihm sein Geld zu mausen. Geprügelt hat er sie auch. Aber es wurde nur noch schlimmer mit ihr. Schließlich hat sie, mit Verlaub zu sagen, mit einem ungetauften Juden ein Techtelmechtel angefangen. Was sollte der Mann machen? Er hat sie laufen lassen. Und nun lebt er als Junggeselle, und sie treibt sich herum.«

»Ein Dummkopf ist er«, sagte der Alte. »Hätte er von Anfang an nicht lockergelassen, sondern sie ordentlich stramm gehalten, so wäre sie heute noch bei ihm. Man muß ihnen gleich von vornherein die Flügel stutzen. Trau keinem Pferd im Felde und keinem Weib im Hause!«

In diesem Augenblick kam der Schaffner und sammelte die Fahrkarten der Reisenden ein, die bei der nächsten Station aussteigen wollten. Der Alte gab seine Karte ab.

»Jawohl, man muß das Weibervolk rechtzeitig in seine Schranken weisen, sonst geht alles schief.«

»Aber Sie haben ja selbst erzählt, wie sich die Ehemänner auf der Messe in Kunawino amüsieren«, konnte ich mich nicht enthalten zu sagen.

»Das ist eine Sache für sich«, sagte der Kaufmann und sprach von da an kein Wort mehr.

Als der Pfiff der Lokomotive ertönte, stand er auf, zog seinen Sack unter der Bank hervor, schlug die Enden seines Pelzes übereinander, lüftete die Mütze und ging auf die Plattform hinaus.

* Leibrock.

2

Als der Alte draußen war, redeten alle durcheinander.

»Ein altväterischer Herr«, sagte der Handlungsgehilfe.

»Ein lebender Domostroj*«, sagte die Dame. »Was für eine barbarische Vorstellung von Weib und Ehe!«

»Ja, von der europäischen Anschauung über die Ehe sind wir noch weit entfernt«, sagte der Advokat.

»Vor allem können diese Leute eins nicht begreifen«, fing die Dame wieder an, »daß eine Ehe ohne Liebe keine Ehe ist, daß nur die Liebe die Ehe heiligt und daß eine Ehe nur dann eine wahre Ehe ist, wenn die Liebe durch sie geheiligt wird.«

Der Handlungsgehilfe hörte lächelnd zu, augenscheinlich bemüht, möglichst viel von den klugen Reden zu behalten, um sie später anzubringen.

Mitten in der Rede der Dame vernahm ich hinter mir einen Ton, der wie ein verhaltenes Lachen oder Schluchzen klang; alle wandten sich um und erblickten meinen Nachbarn, den grauhaarigen, einsamen Herrn mit den blitzenden Augen. Er war während des Gesprächs, das ihn offenbar interessierte, leise herangekommen und stand nun da, die Arme auf die Rücklehne der Bank gestützt und anscheinend sehr erregt: sein Gesicht war stark gerötet, und auf der Wange zuckte ein Muskel.

»Was ist denn das für eine Liebe ... die die Ehe heiligt?« fragte er stotternd. Als die Dame seine Erregung sah, bemühte sie sich, ihm eine möglichst milde und eingehende Antwort zu geben.

»Die wahre Liebe. Ist eine solche Liebe zwischen Mann und Weib vorhanden, so ist auch eine Ehe möglich«, sagte sie.

»Jawohl. Aber was versteht man unter wahrer Liebe?« fragte der Herr mit den blitzenden Augen, verlegen lächelnd.

»Jeder weiß, was Liebe ist«, sagte die Dame, die augenscheinlich nicht den Wunsch hatte, sich mit ihm in ein Gespräch einzulassen.

»Ich weiß es nicht«, sagte der Herr. »Es muß festgestellt werden, was Sie darunter verstehen.«

»Was? Das ist doch sehr einfach«, sagte die Dame, stockte aber und dachte nach. »Liebe? Liebe ist die ausschließliche Bevorzugung eines oder einer vor allen anderen«, sagte sie endlich.

»Bevorzugung für wie lange, einen Monat, zwei Tage oder eine halbe Stunde?« fragte der grauhaarige Herr und lachte.

»Nein, erlauben Sie, Sie reden wohl von etwas anderem ...«

»Nein, durchaus nicht ...«

»Die Dame meint«, mischte sich nun der Advokat ein, »daß die Ehe vor allem auf gegenseitige Zuneigung, oder nennen wir es Liebe, gegründet sein muß, und nur wenn Liebe da ist, erscheint die Ehe als etwas sozusagen Heiliges. Ferner bedeutet eine Ehe, die sich nicht auf der Grundlage der natürlichen Zuneigung, der Liebe aufbaut, keine sittliche Bindung. Habe ich Sie richtig verstanden?« wandte er sich an die Dame.

Die Dame gab durch Kopfnicken zu verstehen, daß sie diese Auslegung ihrer Gedanken billige.

»Ferner ...« wollte der Advokat seine Rede fortsetzen, aber der nervöse Herr, dessen Augen jetzt geradezu Flammen sprühten und der sich offenbar kaum noch beherrschen konnte, ließ ihn nicht weiterreden, sondern begann: »Nein, ich meine dasselbe, die Bevorzugung eines oder einer vor allen anderen, ich frage nur: Bevorzugung für wie lange?«

»Wie lange? Sehr lange, manchmal das ganze Leben«, sagte die Dame achselzuckend.

»Das gibts doch nur in Romanen, im Leben aber niemals. Im Leben dauert eine solche Bevorzugung des einen vor allen anderen bestenfalls ein paar Jahre, häufiger nur Monate oder auch nur Wochen, Tage, Stunden«, sagte er; er schien sehr wohl zu wissen, daß er alle durch seine Anschauung in Verwunderung setzte, und war darüber sehr befriedigt.

»Ach, was Sie reden! ... Nicht doch. Nein, erlauben Sie ...«, sagten wir alle drei zugleich. Sogar der Handlungsgehilfe gab einen mißbilligenden Laut von sich.

»Ja, ich weiß«, schrie der grauhaarige Herr, »Sie reden von dem, was als vorhanden gilt, und ich von dem, was wirklich vorhanden ist. Jeder Mann empfindet das, was Sie Liebe nennen, für jedes hübsche Frauenzimmer.«

»Ach, das ist ja entsetzlich, was Sie da reden. Aber das Gefühl, das man Liebe nennt, ist bei den Menschen doch vorhanden, und es kann nicht nur Monate und Jahre, sondern auch ein ganzes Leben lang dauern!«

»Nein, das gibt es nicht. Selbst wenn ein Mann einer bestimmten Frau für sein ganzes Leben den Vorzug geben könnte, so würde die Frau doch aller Wahrscheinlichkeit nach einen andern vorziehen – so war es immer auf dieser Welt, und so ist es heute noch«, sagte er, zog seine Zigarettentasche hervor und steckte sich eine Zigarette an.

»Das Gefühl kann aber auch wechselseitig sein«, meinte der Advokat.

»Nein, das kann es nicht«, sagte er, »ebenso wie es nicht möglich ist, daß in einer Wagenladung voll Erbsen zwei vorher bezeichnete Erbsen nebeneinander zu liegen kommen. Außerdem handelt es sich nicht nur um Wahrscheinlichkeit, sondern auch um Übersättigung. Sein Leben lang eine oder einen lieben – das ist dasselbe, wie wenn ich sagen wollte, daß eine Kerze mein ganzes Leben lang brennen könnte«, erklärte er, gierig an seiner Zigarette saugend.

»Sie reden immer nur von der körperlichen Liebe. Lassen Sie denn keine Liebe gelten, die auf der Gemeinsamkeit der Ideale, auf seelischer Verwandtschaft gegründet ist?« fragte die Dame.

»Seelenverwandtschaft! Gemeinsame Ideale!« rief er, seinen üblichen Laut hervorstoßend. »Wozu braucht man dann aber zusammen zu schlafen (verzeihen Sie den derben Ausdruck!)? Um der gemeinsamen Ideale willen müssen die Leute in einem Bett schlafen!« sagte er und lachte nervös.

»Erlauben Sie«, sagte der Advokat, »die Tatsachen widersprechen Ihren Behauptungen. Wir sehen doch, daß die Ehe besteht, daß die ganze Menschheit oder doch ihr größter Teil in der Ehe lebt und viele ihren sittlichen Pflichten in der Ehe ihr ganzes langes Leben hindurch ehrlich nachkommen.«

Der grauköpfige Herr lachte wieder.

»Erst sagen Sie, daß die Ehe sich auf der Liebe aufbaut, und wenn ich nun bezweifle, daß es eine andere Liebe außer der sinnlichen gibt, wollen Sie mir das Vorhandensein der Liebe dadurch beweisen, daß es Ehen gibt! Heutzutage ist die Ehe nichts anderes als Betrug!«

»Nein, erlauben Sie mal«, fiel der Advokat ihm ins Wort, »ich sage nur, daß die Institution der Ehe von jeher bestanden hat und heute noch besteht.«

»Besteht! Ja warum besteht sie denn? Sie bestand und besteht bei jenen Menschen, die in der Ehe etwas Mystisches sehen, ein Sakrament, das den Menschen Gott gegenüber verpflichtet. Bei diesen Menschen gibt es eine Ehe, bei uns nicht. Bei uns heiraten die Leute, ohne in der Ehe etwas anderes als den Geschlechtsverkehr zu sehen, und darum erscheint die Ehe als Betrug oder Vergewaltigung. Ist sie Betrug, so läßt sie sich noch leichter ertragen. Mann und Frau betrügen die Leute und machen ihnen vor, daß sie monogam leben, in Wirklichkeit aber leben sie beide polygam. Das ist schändlich, aber es ist noch zu ertragen. Wenn aber, wie es meistens der Fall ist, Mann und Frau die äußerliche Verpflichtung auf sich genommen haben, sich ihr ganzes Leben lang nicht zu trennen, und sich schon im zweiten Monat der Ehe hassen und wünschen auseinanderzugehen und doch beisammen bleiben, so wird die Ehe zu jener entsetzlichen Hölle, durch die der Mensch dem Trunk verfällt, zur Pistole greift, sich selbst und seinen Partner erschlägt oder vergiftet ...« Er sprach immer schneller, ließ keinen andern zu Worte kommen und erhitzte sich immer mehr. Alle schwiegen, alle fühlten sich peinlich berührt.

»Ja, unzweifelhaft gibt es kritische Episoden im ehelichen Leben«, sagte der Advokat, um der bis zur Unschicklichkeit erregten Auseinandersetzung ein Ende zu machen.

»Sie haben wohl erraten, wer ich bin?« fragte der grauhaarige Herr leise und anscheinend ruhig.

»Nein, ich habe nicht das Vergnügen.«

»Das Vergnügen ist nicht groß. Ich bin Posdnyschew, der Held jener Episode, auf die Sie anspielen, der Episode, die darin bestand, daß er seine Frau ermordete«, sagte er, uns alle der Reihe nach mit hastigen Blicken musternd.

Niemand wußte, was er dazu sagen sollte, und so schwiegen alle.

»Na, es bleibt sich gleich«, sagte er, seinen charakteristischen Ton ausstoßend. »Übrigens entschuldigen Sie! Ah! ich will Sie nicht weiter belästigen.«

»Nicht doch, ich bitte Sie ...« sagte der Advokat, ohne zu wissen, worum er ihn eigentlich bitten könnte.