Die Kreuzzüge - Thomas Asbridge - E-Book
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Die Kreuzzüge E-Book

Thomas Asbridge

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Beschreibung

Zeitreise ins Mittelalter: Eine andere Betrachtung der Kreuzzüge

In seinem Monumentalwerk rückt Thomas Asbridge die Geschichte der Kreuzzüge zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert in ein neues Licht: Denn im Gegensatz zur gängigen Vorstellung war dies keineswegs ein unvermeidlicher Kampf des Westens gegen den Orient. So erzählt der britische Historiker erstmals gleichberechtigt von den von Christen und Muslimen verübten Grausamkeiten und erduldeten Leiden. Auf Basis einer Vielzahl von Quellen entfaltet der Mittelalterexperte ein gewaltiges Panorama, das sowohl die politischen als auch die religiösen Motive aller Seiten beleuchtet. Dabei rekonstruiert er die Brutalität der Kämpfe und spürt den militärischen Strategien von Feldherren wie Sultan Saladin und Richard Löwenherz nach. Asbridge schildert nicht nur überraschend friedliche Begegnungen zwischen Kreuzfahrern und Sarazenen, sondern erzählt auch von Gesten der Freundschaft und der religiösen Toleranz über die feindlichen Lager hinweg. Eine Darstellung, die neue Maßstäbe setzt.

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Seitenzahl: 1379

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Zeitreise ins Mittelalter: Eine andere Betrachtung der Kreuzzüge

In seinem Monumentalwerk rückt Thomas Asbridge die Geschichte der Kreuzzüge zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert in ein neues Licht: Denn im Gegensatz zur gängigen Vorstellung war dies keineswegs ein unvermeidlicher Kampf des Westens gegen den Orient. So erzählt der britische Historiker erstmals gleichberechtigt von den von Christen und Muslimen verübten Grausamkeiten und erduldeten Leiden. Auf Basis einer Vielzahl von Quellen entfaltet der Mittelalterexperte ein gewaltiges Panorama, das sowohl die politischen als auch die religiösen Motive aller Seiten beleuchtet. Dabei rekonstruiert er die Brutalität der Kämpfe und spürt den militärischen Strategien von Feldherren wie Sultan Saladin und Richard Löwenherz nach. Asbridge schildert nicht nur überraschend friedliche Begegnungen zwischen Kreuzfahrern und Sarazenen, sondern erzählt auch von Gesten der Freundschaft und der religiösen Toleranz über die feindlichen Lager hinweg. Eine Darstellung, die neue Maßstäbe setzt.

Thomas Asbridge, geboren 1969 in Großbritannien, lehrt Mittelalterliche Geschichte am Queen Mary College der University of London. Asbridge, der 2004 in England schon eine umfassende Geschichte des ersten Kreuzzugs vorgelegt hat, ist nicht nur einer der besten Kenner der Quellen. Er kennt auch die geografischen Gegebenheiten aus eigener Anschauung: Denn über 500 Kilometer des alten Kreuzfahrerwegs von der Türkei bis Jerusalem hat er selbst erwandert.

Thomas Asbridge

Die Kreuzzüge

Aus dem Englischen von Susanne Held

Pantheon

Die Originalausgabe erschien 2010

unter dem Titel The Crusades: The War for the Holy Land

bei Simon & Schuster UK Ltd., London

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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Pantheon-Ausgabe Oktober 2021

Copyright © 2010 by Thomas Asbridge

Copyright © 2010 by Simon & Schuster UK Ltd., London

Copyright © dieser Ausgabe by Pantheon Verlag 2021 in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Redaktion: Brigitte Wormer

Karten: Rudolf Hungreder, Leinfelden-Echterdingen

Umschlaggestaltung: Büro Jorge Schmidt, München

Umschlagabbildung: Schlacht zwischen Kreuzfahrern und Moslems aus Le Roman de Godefroi de Bouillon (Pergament) © Bridgeman Images

Lithoanstalt: Horst Lorenz und Hubert Lechner GbR, Inning a. Ammersee

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-27715-4V001

www.pantheon-verlag.de

Für meinen Vater Gerald Asbridge

Inhalt

Einleitung Die Welt der Kreuzzüge

Europa im Mittelalter

Die muslimische Welt

Erster Teil Aufbruch der Kreuzfahrer

1 »Heiliger Krieg«, Heiliges Land

Papst Urban und der Kreuzzugsgedanke

Byzanz

Der Zug durch Kleinasien

2 Syrisches Martyrium

Ein Zermürbungskrieg

Verrat

Die Belagerten

Verzögerung und Verirrung

3 Die Heilige Stadt

Im Himmel und auf Erden

Die Erstürmung Jerusalems

Nachwirkungen

Erinnerung und Vorstellung

4 Die Entstehung der Kreuzfahrerstaaten

Beschützer der Heiligen Stadt

Das Königreich Gottes

Die Konfrontation mit dem Islam

Die Krise im lateinischen Syrien (1101–1108)

Herrscher im heiligen Königreich

Oberster Herr von Outremer (1113–1118)

5 Outremer

Das Blutfeld

Der Umgang mit Niederlagen

Eine Kreuzfahrergesellschaft?

Zangi – Tyrann des Ostens

6 Die Wiedergeburt der Kreuzzugsidee

Der Kreuzzugsgedanke im frühen 12. Jahrhundert

Der Aufruf zum zweiten Kreuzzug

Ein Heiliger spricht – Bernhard von Clairvaux und der zweite Kreuzzug

Das Ideal wird ausgeweitet

Das Werk der Könige

Unterwegs ins Heilige Land

Zweiter Teil Die Antwort des Islam

7 Wiedererwachen des Islam

Zangi, Vorkämpfer des Islam

Widerstand gegen den Kreuzzug

8 Nur ad-Din – Licht des Glaubens

Die Schlacht von Inab

Die Straße nach Damaskus

Neue Aufgaben

Versuch und Erfolg

Der Traum von Jerusalem

9 Der Reichtum Ägyptens

Ägypten im Mittelalter

Ein neues Schlachtfeld

Saladin, Herrscher Ägyptens (1169–1174)

Heerführer oder Herrscher

10 Erbe oder Usurpator

Ein Held für den Islam

Der Nachfolger Nur ad-Dins

Saladins ajjubidisches Reich

Der Leprakönig

Konfrontation

11 Der Sultan des Islam

Herrschaftsdrang

Der Krieg gegen die Franken

Der Stachel lateinischer Aggression

Verwandlung

12 Der heilige Krieger

Ein vereinter Islam?

Ein Königreich in Scherben

Zu den Hörnern von Hattin

Der Sturz des Kreuzes

Saladins Absichten im September 1187 

Das wiedergewonnene Jerusalem

Dritter Teil Kampf der Titanen

13 Zum Kreuzzug gerufen

Predigten für den dritten Kreuzzug

Cœur de Lion

Die Könige nehmen das Kreuz

Verzögerungen in England und Frankreich

Vorbereitungen: Finanzen und Logistik

Aufbruch ins Heilige Land

14 Neue Herausforderungen für den Eroberer

Nach dem Sieg

Die große Belagerung von Akkon

Kriegssturm

Stillstand

15 Die Ankunft der Könige

Die Reise ins Heilige Land

Die Könige greifen ein

Richard Löwenherz vor Akkon

Das Schicksal Akkons

Der Einzige König

Kaltblütig

16 Löwenherz

Die größte Stunde

Die Schlacht von Arsuf

17 Jerusalem

Entscheidungen und Enttäuschungen

Die Einnahme der Heiligen Stadt

Neuorientierung

Krise und Verwandlung

18 Schwere Entscheidungen

Die ajjubidische Strategie Anfang 1192 

Der zweite Vormarsch auf Jerusalem

Endspiel

Das Ergebnis des dritten Kreuzzugs

Vierter Teil Der Kampf ums Überleben

19 Erneuerung

Wandel im lateinischen Westen

Papst Innozenz III.

Der vierte Kreuzzug

Das Feuer bewachen

Outremer im 13. Jahrhundert

20 Neue Wege

Der fünfte Kreuzzug

Der Kreuzzug Friedrichs II.

Ein neuer Horizont

21 Ein Heiliger im Krieg

König Ludwig IX. von Frankreich

Kriegsvorbereitungen

Sturmangriff am Nil

Der Niedergang der Ajjubiden

Die Eroberung Ägyptens

Zwischen Sieg und Niederlage

Der Büßerkönig

Fünfter Teil Sieg im Orient

22 Der Löwe von Ägypten

Neue Mächte im Vorderen Orient

Baibars und das Mameluckensultanat

Der Krieg gegen die Franken

23 Rückgewinnung des Heiligen Landes

Der zweite Kreuzzug Ludwigs IX.

Die Schlinge wird enger gezogen

Versuche und Triumphe

1291 – Die Belagerung von Akkon

Nachwort Das Fortleben der Kreuzzüge

Gründe und Folgen

Auswirkungen auf die Welt des Mittelalters

Ein langer Schatten

Die Kreuzzüge und ihr Ort in der Geschichte

Anhang

Zeittafel

Dank

Verzeichnis der Karten

Register

Anmerkungen

Bildteil

EinleitungDie Welt der Kreuzzüge

Vor 900 Jahren führten die Christen Europas eine Reihe von »heiligen Kriegen« gegen die muslimische Welt, die sogenannten Kreuzzüge. Sie kämpften um die Herrschaft über eine Region, die beiden Religionen heilig ist: das Heilige Land. Durch diese blutigen Kämpfe, die über zwei Jahrhunderte wüteten, nahm die Geschichte der islamischen Welt wie des Abendlands eine grundlegend neue Richtung. Im Verlauf dieser Feldzüge durchquerten Hunderttausende von Kreuzfahrern weite Teile der damals bekannten Welt, um einen schmalen Streifen Landes zu erobern und anschließend zu verteidigen, in dessen Zentrum die Heilige Stadt Jerusalem lag. Angeführt von Männern wie Richard Löwenherz, dem englischen Krieger-König, und Ludwig IX. von Frankreich, genannt der Heilige, erlebten die Kreuzfahrer zermürbende Belagerungen und mörderische Schlachten; sie durchquerten Wälder und Wüsten, litten an Hunger und Krankheit, begegneten den sagenumwobenen Kaisern von Byzanz und den angsteinflößenden Tempelrittern. Wer bei dieser Unternehmung den Tod fand, galt als Märtyrer, und die Überlebenden stärkte der Glaube, ihre Seelen hätten in der Hitze des Kampfes und durch die Strapazen des Pilgerns für ihre Sünden gebüßt.

Die Ankunft der ersten Kreuzfahrer zwang die islamische Seite zu handeln und ließ die Idee des Dschihad, des »heiligen Krieges«, wieder lebendig werden. Muslime aus Syrien, Ägypten und dem Irak kämpften mit dem Ziel, ihre christlichen Feinde aus dem Heiligen Land zu vertreiben – angeführt von dem gnadenlosen Kriegsherrn Zangi und dem mächtigen Saladin, bestärkt durch den Aufstieg des Sultans Baibars und seiner Mamelucken, der Elitetruppe aus Sklaven-Soldaten, von Zeit zu Zeit auch unterstützt durch die Machenschaften der grausamen Assassinen. Die fortwährende Konfrontation brachte es unvermeidlich mit sich, dass man miteinander in Berührung kam, einander zeitweise sogar grollend respektierte und, während die Waffen ruhten, auch friedliche Kontakte knüpfte und miteinander Handel trieb. Doch die Konflikte tobten weiter, und das Blatt wendete sich langsam zugunsten des Islam. Während die Christen weiter von einem Sieg träumten, gewann die muslimische Welt die Oberhand und errang auf Dauer die Vorherrschaft über Jerusalem und den Vorderen Orient.

Diese dramatische Geschichte hat schon immer die Fantasie beflügelt und Diskussionen angeheizt. Über Jahrhunderte waren die Kreuzzüge Gegenstand verblüffend unterschiedlicher Interpretationen: Sie wurden herangezogen als Beweis für den Wahnsinn religiöser Überzeugungen und die Grundschlechtigkeit der menschlichen Natur, aber auch als triumphaler Beleg für christliche Ritterlichkeit und die zivilisierende Kraft des Kolonialismus. Sie wurden dargestellt als eine düstere Episode der europäischen Geschichte, als beutegierige Barbaren aus dem Westen ohne Anlass über die hochzivilisierte Welt des Islam herfielen, oder verteidigt als gerechte Kriege, ausgelöst durch muslimische Aggression und geführt mit dem Ziel, ursprünglich christliches Gebiet zurückzuerobern. Die Kreuzfahrer selbst wurden als Rohlinge dargestellt, denen es einzig um die Eroberung von Land gegangen sei, oder als von heiligem Eifer erfüllte Pilger-Soldaten; und in ihren muslimischen Gegnern sah man lasterhafte, tyrannische Unterdrücker, glühende Fanatiker oder den Inbegriff von Frömmigkeit, Ehre und Mildtätigkeit.

Auch als Spiegel der modernen Welt mussten die Kreuzzüge herhalten, indem man wenig tragfähige Vergleiche zwischen aktuellen Ereignissen und der fernen Vergangenheit anstellte oder zweifelhafte historische Parallelen zog. So diente im 19. Jahrhundert die Erinnerung an die Kreuzzüge den Franzosen und Engländern dazu, sich ihres imperialen Erbes zu versichern, während im 20. und 21. Jahrhundert bei einigen Gruppen der muslimischen Welt eine zunehmende Tendenz erkennbar ist, politische und religiöse Auseinandersetzungen der Moderne mit den »heiligen Kriegen« zu vergleichen, die vor neun Jahrhunderten ausgetragen worden sind.

Dieses Buch erkundet die Geschichte der Kreuzzüge sowohl aus christlicher als auch aus muslimischer Perspektive. Es konzentriert sich vor allem auf den Kampf um die Herrschaft über das Heilige Land, und es untersucht, wie die Zeitgenossen im Mittelalter die Kreuzzüge erlebten und erinnerten.1 Es stützt sich auf den wunderbar reichen Bestand an uns zur Verfügung stehenden mittelalterlichen Schriftzeugnissen wie Chroniken, Briefen, Rechtsdokumenten, Gedichten und Liedern, verfasst in Latein, Altfranzösisch, Hebräisch, Armenisch, Syrisch und Griechisch. Darüber hinaus hat das Studium materieller Zeugnisse – von imposanten Burgen bis hin zu filigraner Buchmalerei und winzigen Münzen – neues Licht auf die Epoche der Kreuzzüge geworfen. Durchgängig wurden die eigenen Forschungen um die Ergebnisse moderner Forschung ergänzt, die auf diesem Gebiet in den letzten 50 Jahren geleistet wurde.2

Die Geschichte der Kreuzzüge zwischen 1095 und 1291 in einem einzigen Band darzustellen ist eine immense Herausforderung. Doch bietet das Vorhaben auch enorme Chancen: die große Linie der Ereignisse nachzuzeichnen, die elementare Dimension der menschlichen Erfahrungen aufzudecken – in Verzweiflung und Jubel, Entsetzen und Triumph – und die wechselhaften Geschicke und sich wandelnden Sichtweisen in Islam und Christentum nachzuverfolgen. All das eröffnet uns die Möglichkeit, eine Reihe von Fragen zu dieser von »heiligen Kriegen« gekennzeichneten Epoche neu zu stellen.

Es gilt, nach den Ursprüngen und Gründen des Krieges um das Heilige Land zu fragen: Wie konnte es geschehen, dass zwei Weltreligionen Gewalt im Namen Gottes billigten? Wie konnten sie ihre Anhänger davon überzeugen, dass der Kampf für den Glauben ihnen die Tore zum Himmel oder zum Paradies öffnen würde? Und warum folgten Tausende und Abertausende Christen und Muslime dem Aufruf zum Kreuzzug bzw. zum Dschihad, in dem vollen Bewusstsein, dass ihnen große Entbehrungen und womöglich der Tod bevorstanden? Es gilt auch zu fragen, ob der erste Kreuzzug, der am Ende des 11. Jahrhunderts ausgerufen wurde, ein Akt christlicher Aggression war und warum der Teufelskreis religiös motivierter Gewalt im Vorderen Orient zwei Jahrhunderte lang nicht durchbrochen wurde.

Auch die Folgen und Nachwirkungen dieser »heiligen Kriege« sind umstritten: War die Zeit der Kreuzzüge eine Epoche uneingeschränkter Zwietracht – das Produkt eines unvermeidlichen »Zusammenstoßes der Kulturen« –, oder deutete sich in dieser Zeit die Möglichkeit von Koexistenz und konstruktivem, kulturübergreifendem Nebeneinander von Christentum und Islam an? Zu fragen ist, wer am Ende den Krieg um das Heilige Land gewann und warum; wichtiger aber ist die Frage, wie sich dieses Zeitalter der Konfrontation auf die Geschichte auswirkte und warum diese lang zurückliegenden Kämpfe ihre Schatten noch auf die heutige Welt werfen.

Europa im Mittelalter

Im Jahr 1000 wurde die Grafschaft Anjou im Westen Frankreichs von Fulko Nerra (987–1040), einem brutalen, raubgierigen Kriegsherrn, regiert. Fulko verbrachte den Großteil seiner 53-jährigen Herrschaft mit Machtkämpfen: Kämpfe an allen Fronten, um die Kontrolle über seine ungebärdige Grafschaft nicht zu verlieren, Intrigen zur Aufrechterhaltung seiner Unabhängigkeit vom schwachen König von Frankreich und Überfälle auf seine Nachbarn, deren Ländereien er plünderte und in seine Grafschaft eingliederte. Er war ein Mann der Gewalt, nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch im privaten Bereich – sogar fähig, seine Frau wegen Ehebruchs auf dem Scheiterhaufen verbrennen und ein Mitglied des königlichen Hofes skrupellos ermorden zu lassen.

Obwohl so viel Blut an seinen Händen klebte, war Fulko auch ein bekennender Christ, der erkannte, dass seine Gewalttätigkeit gemessen an den Grundsätzen seines Glaubens zutiefst sündig war und ihm ewige Verdammnis einbringen konnte. Der Graf selbst gestand in einem Brief, dass er »in mehreren Schlachten furchtbares Blutvergießen angerichtet« habe und dass ihn deshalb »die Angst vor der Hölle« quäle. In der Hoffnung, seine Seele reinzuwaschen, unternahm er drei Pilgerreisen ins 3000 Kilometer entfernte Jerusalem. Bei seiner letzten Reise, so heißt es, sei er, inzwischen ein alter Mann, mit einem Strick um den Hals nackt zum Heiligen Grab – dem Ort von Tod und Auferstehung Jesu – geführt worden, und ein Knecht habe ihn mit einer Peitsche geschlagen, während er selbst Christus um Vergebung bat.3

Was trieb Fulko Nerra zu derart drastischen Bußhandlungen, und warum war sein ganzes Leben von so wildem Aufruhr geprägt? Selbst die Menschen im 11. Jahrhundert waren schockiert von dem ungezügelten Sadismus und den befremdlichen Demutsakten des Grafen, seine Laufbahn war also offenbar ein eher ungewöhnliches Beispiel für ein Leben im Mittelalter. Doch seine Erfahrungen und seine geistige Haltung veranschaulichen die Kräfte, die diese Epoche prägten und den Nährboden für die Kreuzzüge bildeten. Und es sollten Männer wie Fulko sein – darunter viele seiner leiblichen Nachkommen –, die in diesen »heiligen Kriegen« an vorderster Front kämpften.

Westeuropa im 11. Jahrhundert

Viele Zeitgenossen des Grafen Fulko Nerra waren von der Furcht umgetrieben, dass sie die letzten düsteren, verzweifelten Tage der Menschheit erlebten. Die Panik vor der Apokalypse erreichte kurz nach 1030 ihren Höhepunkt, als allgemein angenommen wurde, die tausendste Wiederkehr des Jahrestages von Jesu Tod sei der Vorbote des Jüngsten Gerichts. Ein Chronist schrieb von dieser Zeit: »Die Regeln, die die Welt regierten, wurden durch Chaos ersetzt. Die Menschen wussten damals, dass das [Ende der Tage] gekommen war.« Diese greifbare Angst allein erklärt schon Fulkos Büßergesinnung. Doch auch nach der damaligen kollektiven Erinnerung hatte es friedlichere, glücklichere Tage gegeben, ein Goldenes Zeitalter, als christliche Kaiser von Gottes Gnaden regiert und im Einklang mit seinem göttlichen Willen Ordnung in die Welt gebracht hatten. Dies war nur eine vage Vorstellung, kein präzises Bild von der Geschichte Europas, doch es enthielt einige Körnchen Wahrheit.

Die römische Kaiserherrschaft hatte im Westen bis ins späte 4. Jahrhundert unserer Zeitrechnung für Stabilität und Wohlstand gesorgt. Im Osten lebte das römische Imperium bis 1453 weiter; der Kaiser herrschte von der großen Stadt Konstantinopel aus, die im Jahr 324 von Konstantin dem Großen gegründet worden war – dem ersten Kaiser, der sich zum Christentum bekehrt hatte. Historikerinnen und Historiker bezeichnen diese lang währende Herrschaftsperiode als »Byzantinisches Reich«. Im Westen ging die Macht zwischen dem 5. und dem 7. Jahrhundert auf eine verwirrende Vielzahl »barbarischer« Stämme über, doch um das Jahr 500 herum errang einer dieser Stämme, der der Franken, die Herrschaft über den nordöstlichen Teil Galliens, und es entstand das Fränkische Reich (daher noch der heutige Name Frankreich).4 Um 800 herum hatte ein Nachfahre dieser Franken, Karl der Große (768–814), ein derart umfangreiches Territorium – das einen Großteil des heutigen Frankreich, aber auch Teile Deutschlands, Italiens und der Niederlande umfasste – auf sich vereint, dass er einen Anspruch auf den längst nicht mehr gebräuchlichen Titel eines Kaisers des Weströmischen Reiches erheben konnte. Karl der Große und seine Nachfolger, die Karolinger, herrschten in einer kurzen Periode wiederhergestellter Sicherheit, doch brach ihr Reich unter den Nachfolgestreitigkeiten und den wiederholten Überfällen durch Wikinger aus Skandinavien und Magyaren aus Osteuropa zusammen. Seit den 850er-Jahren war Europa wieder durch politische Zerstückelung, Kriege und Unruhen zerrissen. Die kriegerischen deutschen Könige versuchten weiterhin einen Anspruch auf den Kaisertitel aufrechtzuerhalten, und in Frankreich überlebte eine verzweifelt kraftlose Karolingerdynastie. Im 11. Jahrhundert waren Konstantin I. und Karl der Große zu Legenden geworden, und im weiteren Verlauf der europäischen Geschichte versuchte noch so mancher christliche König, ihre vermeintlichen Leistungen nachzuahmen. Unter diesen Königen befanden sich auch einige, die in den Kreuzzügen kämpfen sollten.

Zur Zeit des Fulko Nerra ließ das Abendland diese nachkarolingische Phase des Niedergangs (trotz der Vorhersagen, der Jüngste Tag werde bald anbrechen) allmählich hinter sich, doch im Blick auf politische und militärische Macht sowie auf die Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft waren die meisten Regionen noch immer hochgradig zersplittert. Europa war nicht in Nationen im modernen Sinn des Wortes aufgeteilt. Die Gebiete des heutigen Deutschland, Spanien, Italien und Frankreich bestanden vielmehr aus zahlreichen kleineren Gemeinwesen und wurden von kriegerischen Feudalherren regiert, die zum größten Teil nur durch lose Treuevereinbarungen mit einem gekrönten Monarchen verbunden waren. Wie Fulko trugen diese Potentaten Titel wie dux (Herzog) oder comes (Graf), die an römische und karolingische Zeiten erinnerten, und sie entstammten der immer mächtiger werdenden Klasse von gut ausgerüsteten, halbprofessionellen Kämpfern, der neu entstandenen Militäraristokratie der Ritter.

Europa befand sich im 11. Jahrhundert zwar nicht in einem Zustand vollständiger Anarchie, doch blutige Fehden und Rachekämpfe waren allgegenwärtig und Gesetzlosigkeit weit verbreitet. Die Gesellschaft war stark ortsgebunden. Noch immer hatte die Natur den europäischen Westen fest im Griff: Weite Landstriche waren von dichtem Wald bedeckt, und die meisten größeren Straßen stammten aus der römischen Kaiserzeit. Kaum jemand entfernte sich damals weiter als 70 Kilometer von seinem Geburtsort – was Fulkos wiederholte Reisen nach Jerusalem und später die Popularität der Kreuzzüge ins Heilige Land umso erstaunlicher macht. Massenkommunikation, wie wir sie heute kennen, gab es nicht, weil die meisten Menschen weder lesen noch schreiben konnten und der Buchdruck noch nicht erfunden war.

Trotzdem wurden im Lauf des Hochmittelalters (zwischen 1000 und 1300) in der abendländischen Kultur deutliche Zeichen von Entwicklung und Entfaltung spürbar. So entstanden immer mehr Städte, und das Bevölkerungswachstum trug dazu bei, den wirtschaftlichen Aufschwung und die Wiederaufnahme einer Volkswirtschaft auf Geldbasis zu befördern. Italienische Seehandelskaufleute, vor allem aus Amalfi, Pisa, Genua und Venedig, belebten den Fernhandel wieder. Andere verlegten sich auf militärische Expansion. Die Normannen Nordfrankreichs, Nachfahren der Wikinger, waren Mitte des 11. Jahrhunderts besonders aktiv: Sie siedelten sich in England an und eroberten Süditalien und Sizilien von den Byzantinern und den Sarazenen Nordafrikas. Gleichzeitig gewannen auf der Iberischen Halbinsel christliche Reiche Territorien von den Muslimen zurück.

Handel und militärische Eroberungen brachten die Westeuropäer, als sie über ihren frühmittelalterlichen Horizont hinauszublicken begannen, in engeren Kontakt mit der übrigen bekannten Welt, vor allem mit den großen Mittelmeerkulturen: dem Byzantinischen Reich und der sich ausbreitenden arabisch-islamischen Welt. Diese alteingesessenen »Großmächte« waren historische Zentren von Wohlstand, hoher Kultur und militärischer Stärke. Als solche pflegten sie im europäischen Westen lediglich tiefste Provinz zu sehen – die trostlose Heimat wilder Stämme, unter denen es vielleicht tapfere Kämpfer gab, die aber ein Haufen unregierbaren Pöbels waren und daher keine ernst zu nehmende Gefahr darstellten. Mit den Kreuzzügen wurde diese Hierarchie umgestoßen, auch wenn sich viele der Vorurteile bestätigten.5

Das lateinische Christentum

Das antike Rom hat zweifellos sämtliche Aspekte der abendländischen Geschichte beeinflusst, doch das nachhaltigste Vermächtnis war sicher die Christianisierung Europas. Der Entschluss Konstantins des Großen, nach einer »Vision« im Jahr 312 den christlichen Glauben anzunehmen, der damals lediglich von einer unbedeutenden Sekte aus dem Orient vertreten wurde, katapultierte diesen Glauben auf die Bühne des Weltgeschehens. In nicht einmal 100 Jahren hatte das Christentum als Staatsreligion die nicht christlichen Religionen im Imperium verdrängt, und durch diesen römischen Einfluss verbreitete sich das Evangelium über ganz Europa. Selbst als die Macht des Staates, der dieser neuen Religion den Antrieb gegeben hatte, zu bröckeln begann, nahm der christliche Glaube an Stärke weiter zu. Die neuen »barbarischen« Stammesfürsten Europas traten zum Christentum über und beriefen sich bald darauf, dass sie das von Gott garantierte Recht hätten, über ihre Stämme als Könige zu herrschen. Der mächtige Vereiniger Karl der Große verstand sich als »sakraler« Herrscher – ihm oblagen das Recht und die Verantwortung, den Glauben zu schützen und zu verteidigen. Im 11. Jahrhundert war die lateinische Christenheit (so genannt aufgrund der in Schrift und Ritus verwendeten Sprache) fast in jeden Winkel des Abendlands vorgedrungen.6

Eine zentrale Rolle kam in diesem Prozess dem Papst in Rom zu. Nach christlicher Tradition gab es über den Mittelmeerraum verteilt fünf große Väter oder Patriarchen: in Rom, Konstantinopel, Antiochia, Jerusalem und Alexandria. Der Bischof von Rom – der sich »papa« (Vater, Papst) nennen ließ – strebte unter diesen fünf nach der Vormachtstellung. Während des gesamten Mittelalters kämpfte das Papsttum nicht nur um seine ökumenischen (weltweiten) »Rechte«, sondern auch um eindeutige, klare, unbestrittene Autorität über die kirchliche Hierarchie des lateinischen Westens. Der Untergang des Römischen und des Karolingerreichs hatte die Machtstruktur innerhalb der Kirche ebenso wie diejenige im weltlichen Bereich zerstört. In ganz Europa genossen die Bischöfe jahrhundertelang Autonomie und Unabhängigkeit von der päpstlichen Oberaufsicht; die meisten kirchlichen Würdenträger sahen ihre Beziehung zu den lokalen politischen Machthabern und den »sakralen« Königen des Abendlands als ihre wichtigste Loyalitätsbindung an. Und im frühen 11. Jahrhundert waren die Päpste fast ausschließlich damit befasst, ihre Autorität in Mittelitalien durchzusetzen; in den darauffolgenden Jahrzehnten mussten sie sich mitunter sogar mit einem Exil außerhalb Roms abfinden.

Dennoch war es dann ein römischer Papst, der den Anstoß zu den Kreuzzügen gab und Zehntausende lateinischer Christen dazu brachte, zu den Waffen zu greifen und im Namen der Christenheit zu kämpfen. Das erweiterte und stärkte natürlich auch die päpstliche Macht, doch darf der in Predigten eingebettete Aufruf zu diesen »heiligen Kriegen« nicht nur als zynischer, eigennütziger Akt interpretiert werden. Die Rolle des Papsttums als Urheber des Kreuzzugsgedankens vermochte die Autorität der römischen Kirche vor allem in Frankreich zu festigen, zumindest anfänglich schienen die Scharen der Kreuzfahrer den Befehlen des Papstes zu folgen, als wären sie päpstliche Armeen. Doch spielten auch weniger eigennützige Motive eine Rolle. Die Päpste betrachteten es als ihre Aufgabe, die Christenheit zu beschützen. Sie rechneten damit, dass sie sich nach ihrem Tod vor Gott für das Schicksal jeder einzelnen ihrem Schutz anvertrauten Seele rechtfertigen mussten. Indem das Papsttum das Ideal eines christlichen »heiligen Krieges« ersann, in welchem alle Akte sanktionierter Gewalt dazu dienen sollten, die Seele des Kriegers von Sünde zu befreien, erschloss es für seine lateinische »Herde« einen neuen Weg zum Heil.

Die Kreuzzüge waren nur eines von mehreren Indizien für einen wesentlich weiterreichenden Versuch, das lateinische Christentum zu erneuern: in der sogenannten Reformbewegung, die seit der Mitte des 11. Jahrhunderts von Rom ausging. Für das Papsttum waren sämtliche Fehler und Schwächen innerhalb der Kirche lediglich Symptome eines tieferliegenden Übels: des verderblichen außerkirchlichen Einflusses weltlicher Herrscher. Und die einzige Möglichkeit, den Würgegriff abzuschütteln, mit dem Kaiser und Könige die Kirche gefangen hielten, sah der Papst darin, endlich sein von Gott verliehenes Recht auf höchste kirchliche Autorität durchzusetzen. Der entschiedenste Vertreter dieser Auffassung war Papst Gregor VII. (1073–1085). Er war zutiefst überzeugt, dass er auserwählt und in diese Welt gekommen war, die Christenheit zu verwandeln, indem er allein die Herrschaft über die Belange der lateinischen Kirche übernahm. Um dieses Ziel zu erreichen, war er bereit, fast alle Mittel einzusetzen – sogar Gewalt durch Truppen im Dienst des Papstes, die er als »Soldaten Christi« bezeichnete. Obwohl Gregor zu rasch zu weit gegangen war und das Ende seiner päpstlichen Herrschaft im Exil in Süditalien erleben musste, haben seine kühnen Schritte viel dazu beigetragen, die ineinandergreifenden Ziele einer Reform der Kirche und einer Stärkung der päpstlichen Autorität voranzutreiben, und er schuf ein Fundament, von dem aus einer seiner Nachfolger (und einst sein Ratgeber), Papst Urban II. (1088–1099), zum Kreuzzug aufrufen konnte.7

Urbans Aufruf zum »heiligen Krieg« wurde in ganz Europa gehört und begeistert aufgenommen. Denn hier war der christliche Glaube fast durchgängig fest verwurzelt, und im Unterschied zur heutigen europäischen Gesellschaft war das 11. Jahrhundert eine zutiefst spirituell geprägte Zeit. Die christliche Lehre wirkte sich auf praktisch jeden Bereich des menschlichen Lebens aus – auf Geburt und Tod, Schlafen und Essen, Heirat und Gesundheit –, und die Zeichen für die Allmacht Gottes waren für jeden klar erkennbar: Sie erschienen in »wunderbaren« Krankenheilungen, in göttlichen »Offenbarungen« und in Vorzeichen auf der Erde und am Himmel. Begriffe wie Nächstenliebe, Pflicht und Tradition vermochten im Menschen des Mittelalters eine Grundhaltung der Ergebenheit auszubilden, doch der wohl prägendste Einfluss ging von der Angst aus, ebenjener Angst, die in Fulko Nerra die Überzeugung nährte, seine Seele sei in Gefahr. Die lateinische Kirche des 11. Jahrhunderts lehrte, dass auf jeden Menschen am Ende der Tage ein Augenblick des Gerichts wartete – das sogenannte Wiegen der Seelen. Ein Leben in Reinheit führte zum ewigen Lohn himmlischer Erlösung, der Sünder jedoch endete in Verdammnis und ewiger Höllenqual. Den Gläubigen wurde die physisch erfahrbare Realität der damit verbundenen Gefahren durch Bilder und Skulpturen von den Bestrafungen nähergebracht, die verderbte Seelen zu erdulden hatten: Arme Sünder wurden von Dämonen erwürgt, und die Verdammten wurden von grauenhaften Teufeln scharenweise ins lodernde Höllenfeuer gestoßen.

Unter diesen Umständen konnte es kaum überraschen, dass die meisten lateinischen Christinnen und Christen besessen waren von den Gedanken an Sünde und Unreinheit und an das Leben nach dem Tod. Ein extremer Ausdruck der Sehnsucht, ein unbeflecktes christliches Leben zu führen, war das Mönchtum: Männer und Frauen gelobten Armut, Keuschheit und Gehorsam und lebten in geordneten Gemeinschaften in völliger Hingabe an Gott. Im 11. Jahrhundert bot das Kloster Cluny in Burgund eine besonders anziehende Form monastischen Lebens. Die cluniazensische Bewegung wuchs auf 2000 Konvente an, die sich dem Geist von Cluny verpflichtet fühlten, von England bis nach Italien, und beeinflusste nachhaltig die Ideale der Reformbewegung. Einen Höhepunkt erreichte dieser Einfluss, als Urban II., früher selbst Mönch in Cluny, das Amt des Papstes übernahm.

Natürlich waren die meisten Christinnen und Christen des Mittelalters den Anforderungen des Klosterlebens nicht gewachsen. Für die Laien war der Weg zu Gott gespickt mit Gefahren der Übertretung, denn zahlreiche unvermeidliche Aspekte des menschlichen Lebens – Stolz, Gier, Wollust und Gewalt – galten als Sünde. Doch es stand auch ein entsprechendes System von Hilfen zur Erlösung zur Verfügung (wobei deren theoretische und theologische Begründung noch nicht vollständig ausgearbeitet war). Die lateinischen Christinnen und Christen waren eingeladen, ihre Übertretungen einem Priester zu beichten, der ihnen eine Buße auferlegte, mit der der Makel der Sünde getilgt werden konnte. Am häufigsten wurde als Buße das Gebet empfohlen, doch auch Almosen für die Armen oder Spenden an geistliche Einrichtungen sowie eine reinigende Pilgerreise waren übliche Sühneakte. Solche verdienstvollen Aktivitäten konnten auch außerhalb des Beichtkontextes unternommen werden, sei es als spirituelle Anzahlung oder um Gott oder einen seiner Heiligen um Beistand zu bitten.

Fulko Nerra bewegte sich also ganz im Rahmen dieser bewährten Glaubensstruktur, als er sich um sein Seelenheil bemühte. In diesem Geist gründete er auch ein Kloster in seiner Grafschaft Anjou, in Beaulieu. Er selbst soll gesagt haben, dass er dies tat, »damit die Mönche dort zusammenkommen und Tag und Nacht für die Rettung meiner Seele beten«. Diese Vorstellung, die in Klöstern entstehende spirituelle Energie zu nutzen, war auch 1091 noch lebendig, als der südfranzösische Adlige Gaston IV. von Béarn dem zu Cluny gehörigen Kloster Sainte-Foy, Morlaàs, in der Gascogne einige seiner Besitztümer überließ. Gaston war ein erklärter Förderer der päpstlichen Reformbewegung; er hatte 1087 auf der Iberischen Halbinsel gegen die Mauren gekämpft und sollte später auch zu den Kreuzfahrern gehören. Die Urkunde, in der seine Schenkung an Sainte-Foy festgehalten ist, bezeugt, dass er dies für sein eigenes Seelenheil, das seiner Frau und das seiner Kinder tat, in der Hoffnung, dass »Gott uns in dieser Welt in all unseren Nöten hilft und uns nach dem Tod das ewige Leben schenkt«. Zur Zeit Gastons hatten die meisten Adligen im christlichen Abendland ähnlich gute Kontakte zu Klöstern, was nach dem Jahr 1095 auf das Tempo, mit dem sich die Begeisterung für den Gedanken eines Kreuzzugs in ganz Europa ausbreitete, erkennbaren Einfluss hatte. Teilweise lag das daran, dass das Gelübde, das die Ritter ablegten, die sich in den Dienst des »heiligen Krieges« stellten, an das Gelübde der Mönche erinnerte – eine Ähnlichkeit, die die Wirksamkeit des Kampfes für Gott zu bestätigen schien. Noch wichtiger war, dass sich das Papsttum mit seinen Beziehungen zu Klöstern wie Cluny darauf verlassen konnte, dass diese den Aufruf zum Kreuzzug verbreiten und unterstützen würden.

Der zweite Weg zum Heil, den Fulko Nerra einschlug, war die Pilgerschaft. Hält man sich seine zahlreichen Reisen nach Jerusalem vor Augen, so war diese Form der Bußpraxis offenbar besonders überzeugend – er schrieb später, die reinigende Kraft seiner Erfahrungen habe seinen »Geist zu großem Jubel erhoben«. Lateinische Pilgerinnen und Pilger machten sich häufig zu weniger weit entfernten Orten auf den Weg – so zu den großen Zentren wie Rom und Santiago de Compostela, aber auch zu örtlichen Heiligtümern und Kirchen –, doch Jerusalem, die Heilige Stadt, entwickelte sich schnell zu dem am meisten verehrten Ort. Jerusalems unvergleichliche Heiligkeit drückte sich etwa in der allgemein verbreiteten mittelalterlichen Gewohnheit aus, die Stadt auf Weltkarten in der Mitte zu platzieren. All das beeinflusste die enthusiastische Reaktion auf den Aufruf zum Kreuzzug unmittelbar, wurde doch der »heilige Krieg« als eine Art bewaffnete Pilgerreise dargestellt, deren Endpunkt Jerusalem war.8

Krieg und Gewalt im lateinischen Abendland

Mit dem Aufruf zu den Kreuzzügen versuchte das Papsttum die Mitglieder vor allem einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht zu erreichen: die Ritter des lateinischen Abendlands. Diese Militärklasse befand sich zu Beginn des 11. Jahrhunderts noch am Anfang ihrer Entwicklung. Das entscheidende Merkmal mittelalterlicher Ritterschaft bestand darin, als berittener Krieger zu kämpfen.9 Ritter wurden meist von mindestens vier oder fünf Gefolgsleuten begleitet, die als Knechte dienten, sich also um das Pferd, die Waffen und das Wohlergehen ihres Herrn kümmerten, aber auch als Fußsoldaten kämpfen konnten. Als die Zeit der Kreuzzüge begann, dienten diese Ritter nicht in stehenden Heeren. Sie waren zwar Krieger, doch oft zugleich Feudalherren oder Lehnsmänner, Gutsbesitzer oder Bauern – Männer also, die nur wenige Monate im Jahr mit kriegerischen Aktivitäten zubringen konnten, und selbst die, die Zeit hatten, waren nicht an den Kampf in organisierten, gut ausgebildeten Truppen gewöhnt.

Zu den Methoden der Kriegsführung im Europa des 11. Jahrhunderts, wie sie die meisten Ritter zu praktizieren pflegten, gehörte eine Mischung aus Überfällen in der näheren Umgebung, Scharmützeln – meist stümperhaften Begegnungen in chaotischem Nahkampf – und der Belagerung der zahlreichen aus Holz oder Stein errichteten Burgen, die überall in Europa zu finden waren. Nur wenige lateinisch-christliche Soldaten hatten Erfahrung mit der offenen Feldschlacht größeren Ausmaßes, weil diese Form der Auseinandersetzung extrem unberechenbar war und deswegen nach Möglichkeit gemieden wurde. Und keiner wird zuvor an einer so langwierigen, geografisch so weit von der Heimat wegführenden Unternehmung wie den Kreuzzügen teilgenommen haben. Die »heiligen Kriege« im Orient verlangten also von den Kriegern der lateinischen Christenheit, ihre Kampftechniken von Grund auf umzustellen und zu verbessern.10

Vor dem Aufruf zum ersten Kreuzzug war für die meisten lateinischen Ritter Blutvergießen noch gleichbedeutend mit Sünde, doch hatten sie sich bereits an den Gedanken gewöhnt, dass vor Gott bestimmte Formen der Kriegsführung eher gerechtfertigt waren als andere. Auch hatte sich schon abgezeichnet, dass das Papsttum unter Umständen bereit sein könnte, Gewaltanwendung gutzuheißen.

Auf den ersten Blick scheint das Christentum eine pazifistische Religion zu sein. Die Evangelien berichten von zahlreichen Begebenheiten, bei denen Jesus Gewalt offensichtlich tadelte oder verbot: angefangen bei seiner Warnung, wer Gewalt anwende, werde durch Gewalt umkommen, bis zur Aufforderung in der Bergpredigt, bei einem Schlag auf die Wange auch die andere Wange hinzuhalten. Und das Alte Testament scheint zur Frage der Gewalt mit dem mosaischen Gebot: »Du sollst nicht töten!« ebenfalls eine eindeutige Handlungsmaxime vorzugeben. Im 1. Jahrhundert n. Chr. jedoch machten sich christliche Theologen Gedanken über die Verbindung ihres Glaubens mit der Militärherrschaft Roms, und sie stellten die Frage, ob die Heilige Schrift Krieg tatsächlich so entschieden ablehne. Das Alte Testament war in diesem Punkt nicht eindeutig; als Chronik der Geschichte des verzweifelten Überlebenskampfs der Juden beschrieb es mehrere Kriege, die Gott gutgeheißen hatte, was unter gewissen Bedingungen sogar Rache- oder Angriffskriege einschloss. Im Neuen Testament heißt es dann, Jesus sei nicht gekommen, den Frieden, sondern das Schwert zu bringen, und es wird erzählt, dass er mit einer Peitsche die Geldverleiher aus dem Tempel vertrieb.

Der einflussreichste frühe christliche Philosoph, der sich mit diesen Fragen auseinandersetzte, war der nordafrikanische Bischof Augustinus von Hippo (354–430 n. Chr.). Sein Werk bildete das Fundament, auf dem die Päpste später ihre Vorstellung vom Kreuzzug aufbauen konnten. Augustinus vertrat die These, ein Krieg sei unter bestimmten, streng definierten Voraussetzungen sowohl gerecht als auch zu rechtfertigen. Seine komplexe Theorie wurde später vereinfacht und reduziert auf lediglich drei Bedingungen für einen »gerechten Krieg«: die Kriegserklärung durch eine »rechtmäßige Autorität«, etwa einen König oder Bischof, einen »gerechten Grund«, wie die Verteidigung gegen einen feindlichen Angriff oder die Wiedereroberung von verlorenem Territorium, und die Durchführung mit »gerechter Absicht«, also unter Anwendung von so wenig Gewalt wie möglich. Auf diesen drei augustinischen Prinzipien fußte zwar auch das Ideal der Kreuzzüge; was sie aber durchaus nicht leisteten, war eine Rechtfertigung des Krieges.

Im frühen Mittelalter sah man in den Gedanken des Augustinus den Beweis dafür, dass bestimmte unvermeidliche Formen militärischer Konflikte »gerechtfertigt« und also in den Augen Gottes zulässig waren. Doch auch unter diesen Voraussetzungen war das Kämpfen nach wie vor eine Sünde. Dagegen hielt man einen christlichen »heiligen Krieg«, etwa einen Kreuzzug, für eine Unternehmung, die von Gott ausdrücklich unterstützt wurde und daher den Beteiligten geistlichen Lohn in Aussicht stellte. Beschleunigt wurde das Umdenken durch den martialischen Enthusiasmus der auf die römischen Kaiser folgenden »barbarischen« Machthaber Europas. Ihr neues Christentum vermittelte dem lateinischen Glauben eine neue »germanische« Ausprägung der Anerkennung von Krieg und kriegerischer Existenz. Unter den Karolingern etwa begannen Bischöfe, brutale Eroberungs- und Bekehrungsfeldzüge gegen die Nichtchristen Osteuropas zu unterstützen und sogar anzuführen. Zur Jahrtausendwende war es unter christlichen Geistlichen zur Gewohnheit geworden, Waffen und Rüstungen zu segnen, und man beging die Gedenktage diverser »Krieger-Heiliger«.

In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts näherte sich die lateinische Christenheit der positiven Einschätzung des »heiligen Krieges« immer mehr an. In den frühen Phasen der Reformbewegung zeichnete sich für das Papsttum immer deutlicher ab, dass es eines militärischen Armes bedurfte, mit dem es seinen Vorstellungen Nachdruck verleihen und seine Absichten unterstreichen konnte. Daher ließen sich mehrere Päpste in Folge auf das Experiment ein, Kriege zu unterstützen, indem sie ihre Anhänger als Gegenleistung für verschwommen formulierte Aussichten auf geistlichen Lohn aufforderten, die Kirche zu verteidigen. Unter der energischen Leitung von Papst Gregor VII. nahmen die Lehre und der Einsatz von geheiligter Gewalt neue Formen an. Gregor war fest entschlossen, ein päpstliches, Rom treu ergebenes Heer aufzustellen, deshalb unterzog er die christliche Tradition einer Neuinterpretation. Jahrhundertelang hatten Theologen den inneren, geistigen Kampf, den fromme Christinnen und Christen gegen die Sünde austrugen, als »christlichen Krieg« bezeichnet; manchmal wurden auch Mönche die »Soldaten Christi« genannt. Gregor modifizierte diese Vorstellungen, damit sie zu seinen Zielen passten, und verkündete, jegliche Laiengesellschaft habe vor allem eine Verpflichtung: als »Soldaten Christi« die lateinische Kirche durch tatsächliche, physische Kriegsführung zu verteidigen.

In seinen ersten Jahren als Papst schmiedete Gregor Pläne für ein gewaltiges militärisches Unternehmen, das man als ersten echten Prototyp eines Kreuzzugs verstehen kann. 1074 versuchte er, im östlichen Mittelmeerraum einen »heiligen Krieg« zu beginnen, um den griechisch-orthodoxen Christinnen und Christen in Byzanz zu Hilfe zu kommen, die, wie er erklärte, von den Muslimen Kleinasiens »täglich abgeschlachtet werden wie Vieh«. Den Lateinern, die bei diesem Feldzug mitkämpften, wurde »himmlischer Lohn« versprochen. Sein grandioser Plan war nicht durchführbar, er vermochte nur sehr wenige Gefolgsleute zu mobilisieren, vielleicht wegen seiner verwegenen Ankündigung, den Feldzug höchstselbst anzuführen. Die Formulierung, die der Papst im Jahr 1074 für den militärischen Einsatz für Gott und den daraus resultierenden geistigen Lohn gefunden hatte, war noch zu unspezifisch. Nach 1080 dagegen, als der Streit mit dem deutschen König in vollem Gang war, unternahm Gregor einen entscheidenden Schritt in Richtung Eindeutigkeit. Er schrieb, seine Anhänger sollten gegen den König kämpfen und in der »Gefahr der kommenden Schlacht die Vergebung all ihrer Sünden« erwarten. Das schien darauf hinzudeuten, dass die Teilnahme an diesem »heiligen Streit« die gleiche Macht hatte, die Seele zu reinigen, wie andere Formen der Buße, versprach sie doch, ebenso wie eine Pilgerfahrt, so schwierig wie gefährlich zu sein. Noch hatte sich diese Erklärung für die Heil bringende Wirkung sanktionierter Gewalt nicht durchgesetzt, aber sie lieferte eine wichtige Argumentationsgrundlage für spätere Päpste. Tatsächlich löste Gregors radikaler Versuch, die lateinische Christenheit zu militarisieren, unter einigen Zeitgenossen strikte Ablehnung aus, in kirchlichen Kreisen wurde ihm vorgeworfen, sich »an neuen Praktiken zu versuchen, von denen man noch nie zuvor gehört« habe. Er ging in seinen Vorstellungen so weit, dass sein Nachfolger Papst Urban II., als er ein maßvolleres und sorgfältiger durchdachtes Leitbild vorgab, im Vergleich mit ihm fast konservativ erschien und daher auch auf weniger Kritik stieß.11

Gregor VII. brachte die römisch-katholische Theologie bis dicht an den Rand einer Rechtfertigung des »heiligen Krieges«, indem er postulierte, dass der Papst eindeutig das Recht habe, Heere aufzubieten, um für Gott und die Kirche zu kämpfen. Außerdem unternahm er entscheidende Schritte, um das Konzept sanktionierter Gewalt mit einem bußtheologischen Rahmen zu versehen – eine Vorstellung, die zum Kernbestand des Kreuzzugsgedankens gehört. Dennoch kann dieser Papst nicht als der eigentliche Architekt der Kreuzzüge bezeichnet werden, weil es ihm offensichtlich nicht gelang, eine zwingende, überzeugende Vorstellung des »heiligen Krieges« auszuarbeiten, die bei den Christen Europas Anklang gefunden hätte. Dies sollte die Leistung Papst Urbans II. sein.

Die muslimische Welt

Seit dem Ende des 11. Jahrhunderts wurden die westeuropäischen Franken durch die Kreuzzüge mit den Muslimen des östlichen Mittelmeerraums konfrontiert: nicht weil diese Kriege vor allem mit dem Ziel begonnen worden waren, den Islam zu beseitigen, auch nicht, um Muslime zum christlichen Glauben zu bekehren, sondern weil Muslime das Heilige Land und die Heilige Stadt Jerusalem beherrschten.

Die Anfänge des Islam

Nach muslimischer Tradition schlug die Geburtsstunde des Islam 610 n. Chr., als Mohammed – ein des Schreibens und Lesens unkundiger, 40-jähriger Araber aus Mekka (im heutigen Saudi-Arabien) – eine Reihe von »Offenbarungen« von Allah (Gott) empfing, die ihm vom Erzengel Gabriel überbracht wurden. Diese »Offenbarungen« wurden als heilige, unveränderliche Worte Gottes angesehen; in ihrer späteren schriftlichen Form wurden sie zum heiligen Buch, dem Koran. Mohammed brachte sein Leben damit zu, die polytheistischen Araber Mekkas und des umliegenden Hedschas (an der Westküste der Arabischen Halbinsel) zum monotheistischen Islam zu bekehren. Das war keine einfache Aufgabe. Im Jahr 622 war der Prophet gezwungen, in die nahe gelegene Stadt Medina zu fliehen; diese Reise gilt als Anfangsdatum für den muslimischen Kalender. Mohammed führte dann einen langen, blutigen Religionskrieg gegen Mekka und eroberte die Stadt schließlich kurz vor seinem Tod im Jahr 632.

Die von Mohammed begründete Religion – der Islam, was »Unterwerfung unter den Willen Gottes« bedeutet – hat gemeinsame Wurzeln mit dem Judentum und dem Christentum. Der Prophet kam im Lauf seines Lebens in Arabien und im Byzantinischen Reich mit Anhängern dieser beiden Religionen in Kontakt, und seine »Offenbarungen« wurden als die Vollendung dieser älteren Religionen dargestellt. Aus diesem Grund erkannte Mohammed auch Moses, Abraham und sogar Jesus als Propheten an, und eine ganze Sure im Koran ist der Jungfrau Maria gewidmet.

Zu Lebzeiten Mohammeds und in den Jahren unmittelbar nach seinem Tod waren die kriegerischen Stämme der Arabischen Halbinsel unter dem Banner des Propheten vereint. In den nächsten Jahrzehnten erwiesen sich diese muslimischen Araber unter der Führung einiger fähiger und ehrgeiziger Kalifen (der Nachfolger des Propheten) als eine Kriegsmacht, gegen die jeglicher Widerstand fast zwecklos schien. Diese kämpferische Dynamik ging mit einem offenbar unstillbaren Eroberungshunger einher – einem Hunger, der durch die ausdrückliche Forderung im Koran unterstützt wurde, der muslimische Glaube und die Geltung des islamischen Gesetzes sollten unermüdlich über die ganze Erde verbreitet werden. Auch die Art, wie der arabische Islam sich neu eroberte Gebiete unterwarf, trug zu seiner ungewöhnlich raschen Verbreitung bei. Die Muslime verlangten nicht totale Unterwerfung und sofortige Konversion zum Islam, sondern sie erlaubten den »Völkern des Buches«, wie sie die Christen und die Juden nannten, gegen Entrichtung von Steuern an ihrem Glauben festzuhalten.

Um 635 ergossen sich Scharen hochmobiler berittener arabischer Stammesangehöriger über die gesamte Arabische Halbinsel. Bis zum Jahr 650 hatten sie enorme Erfolge errungen. Mit atemberaubender Geschwindigkeit wurden Palästina, Syrien, der Irak, Iran und Ägypten dem neuen arabisch-islamischen Staat einverleibt. Im folgenden Jahrhundert ließ das Eroberungstempo ein wenig nach, doch die Expansionsbewegung war nicht aufzuhalten: Bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts erstreckte sich die muslimische Welt vom Indus und von den Grenzen Chinas im Osten über Nordafrika bis nach Spanien und Südfrankreich im Westen.

Der kritische Punkt im Zusammenhang mit der Geschichte der Kreuzzüge war die Eroberung Jerusalems, das bis dahin zum Byzantinischen Reich gehört hatte. Diese uralte Stadt wurde von den Musliminnen und Muslimen nach Mekka und Medina als drittheiligste Stätte des Islam verehrt, was am abrahamitischen Erbe des Islam lag, aber auch auf der Überlieferung beruhte, dass Mohammed von Jerusalem aus bei seiner »nächtlichen Reise« in den Himmel aufgestiegen sei; damit hing die Tradition zusammen, die Heilige Stadt als Ort des Jüngsten Gerichts anzusehen.

Früher wurde häufig die Auffassung vertreten, dass der Islam über ganz Europa hinweggefegt wäre, wenn die Muslime nicht zweimal bei ihren Versuchen aufgehalten worden wären, Konstantinopel einzunehmen (673 und 718), und wenn nicht der Franke Karl Martell, der Großvater Karls des Großen, die Mauren 732 bei Poitiers besiegt hätte. Diese Niederlagen spielten zwar eine wichtige Rolle, aber schon damals zeichnete sich eine fundamentale Schwäche innerhalb des Islam deutlich ab, die sein Wirken nachhaltig einschränkte: hartnäckige, verbitterte religiöse und politische Spaltung. Im Kern ging es um Kontroversen bezüglich der Rechtmäßigkeit der Kalifen, der Nachfolger Mohammeds, aber auch um die Interpretation seiner »Offenbarungen«.

Diese Probleme machten sich bereits im Jahr 661 bemerkbar, als die Linie der »rechtgeleiteten Kalifen« mit dem Tod Alis (des Vetters und Schwiegersohns des Propheten) und dem Aufstieg einer rivalisierenden Dynastie, der Omaijaden, abgeschnitten wurde. Die Omaijaden verlegten die Hauptstadt der muslimischen Welt erstmals in ein Gebiet jenseits der Grenzen des arabischen Raums: Sie ließen sich in der großen syrischen Metropole Damaskus nieder und waren bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts im Besitz der Macht. Zur selben Zeit bildete sich auch die Schia heraus (wörtlich »Partei«, »Gruppe«), eine muslimische Sekte, die ausschließlich die Nachfahren Alis und seiner Frau Fatima (der Tochter Mohammeds) als rechtmäßige Kalifen anerkannte. Die schiitischen Muslime bestritten zu Beginn lediglich die politische Autorität der Sunniten, die sich als Hauptströmung durchgesetzt hatten, doch da die Schiiten im Lauf der Zeit eine eigene Theologie, eigene religiöse Rituale und eine eigene Rechtsprechung entwickelten, erhielt die Spaltung zwischen den beiden Glaubensrichtungen auch eine dogmatische Dimension.12

Die Zersplitterung der muslimischen Welt

In den folgenden vier Jahrhunderten vertieften und vermehrten sich die Spaltungen in der muslimischen Welt. 750 beendete ein blutiger Aufstand die Herrschaft der Omaijaden, und eine andere arabische Dynastie – die Abbasiden – kam an die Macht. Sie verlegte das Zentrum des Sunni-Islam noch weiter vom arabischen Kernland weg: in die neu erbaute Stadt Bagdad. Dieser Schritt hatte weitreichende Konsequenzen: Er kündigte eine politische, kulturelle und wirtschaftliche Neuorientierung der herrschenden Elite der Sunniten an, die ihren Schwerpunkt von der Levante nach Mesopotamien verlagerte – in die Wiege der alten Kultur des Orients zwischen den großen Flüssen Euphrat und Tigris, die auch als Fruchtbarer Halbmond bezeichnet wird – und weiter östlich in Richtung persischer Iran und darüber hinaus. Die Herrschaft der Abbasiden verwandelte Bagdad in ein Zentrum wissenschaftlicher und philosophischer Gelehrsamkeit. In den folgenden 500 Jahren befand sich das Herz des sunnitischen Islam nicht in Syrien oder im Heiligen Land, sondern im Irak und Iran.

Der Aufstieg der Abbasiden ging allerdings mit der allmählichen Zerstückelung und Fragmentierung eines monolithischen islamischen Staates einher. Die muslimischen Herrscher auf der Iberischen Halbinsel (auch Mauren genannt) spalteten sich ab und gründeten im 8. Jahrhundert ein unabhängiges Reich, und die Kluft zwischen dem sunnitischen und dem schiitischen Strang des Islam wurde immer größer. Gemeinschaften von schiitischen Musliminnen und Muslimen lebten im Vorderen Orient nach wie vor größtenteils friedlich neben und unter Sunniten. 969 gelangte eine besonders entschlossene Gruppe von Schiiten in Nordafrika an die Macht. Sie wurden von der Dynastie der Fatimiden (die ihre Herkunft von Fatima, der Tochter Mohammeds, ableiten) unterstützt und setzten einen eigenen schiitischen Kalifen ein, womit sie sich von der Autorität der Sunniten in Bagdad lossagten. Die Fatimiden entpuppten sich bald als mächtige Gegner – sie entrissen den Abbasiden große Teile des Vorderen Orients, darunter Jerusalem, Damaskus und Teile der östlichen Mittelmeerküste. Im ausgehenden 11. Jahrhundert waren Abbasiden und Fatimiden unversöhnliche Gegner geworden. Zur Zeit der Kreuzzüge war der Islam also durch ein tiefgreifendes Schisma belastet, das die muslimischen Herrscher Ägyptens und des Irak daran hinderte, der christlichen Invasion einen koordinierten, gemeinsamen Widerstand entgegenzusetzen.

Während sich die Fronten zwischen Sunniten und Schiiten verhärteten, ging der Machteinfluss der abbasidischen und der fatimidischen Kalifen immer mehr zurück. Sie dienten nur noch als Repräsentationsfiguren, die zwar theoretisch die absolute Autorität in Fragen der Religion und der Politik hatten, faktisch aber war die Exekutivgewalt auf ihre Statthalter übergegangen: in Bagdad auf den Sultan, in Kairo auf den Wesir.

Ein weiteres Ereignis veränderte die islamische Welt im 11. Jahrhundert von Grund auf: das Auftauchen der Türken. Seit ungefähr 1040 begannen diese Nomadenstämme aus Zentralasien, die bekannt waren für ihren kriegerischen Charakter und ihre überragenden Fähigkeiten als berittene Bogenschützen, in den Vorderen Orient einzudringen. Ein türkischer Stamm aus den russischen Steppen jenseits des Aralsees, die Seldschuken, führte diese Wanderbewegung an. Diese Furcht einflößenden Krieger traten zum sunnitischen Islam über und sicherten dem Kalifen der Abbasiden unverbrüchliche Treue zu. Kurzerhand lösten sie die mittlerweile sesshaft gewordene arabische und persische Aristokratie im Iran und im Irak ab. Als 1055 der seldschukische Stammesfürst Tughrul Beg zum Sultan von Bagdad ernannt wurde, war er damit faktisch im Besitz der Oberherrschaft über den sunnitischen Islam, ein Amt, das die Angehörigen seiner Dynastie als Erbrecht über ein Jahrhundert lang beibehielten. Das Auftreten der seldschukischen Türken bescherte der abbasidischen Welt einen neuen, vitalen Aufschwung. Ihre energische Rastlosigkeit und kriegerische Wildheit verschaffte ihnen immense Gebietsgewinne. Im Süden wurden die Fatimiden zurückgedrängt, Damaskus und Jerusalem zurückerobert und beachtliche Siege gegen die Byzantiner in Kleinasien davongetragen; später gründete eine seldschukische Splittergruppe ein eigenes unabhängiges Sultanat in Anatolien.

Seit 1090 hatten die Seldschuken die sunnitisch-muslimische Welt grundlegend verändert. Tughrul Begs fähiger, ehrgeiziger Enkel Malik Schah war Sultan und teilte sich mit seinem Bruder Tutusch relativ unangefochten die Herrschaft über Mesopotamien und den größten Teil der Levante. Dieses neue türkische Reich, das Große Seldschukische Sultanat von Bagdad, gründete auf rücksichtslosem Despotismus und einer unerbittlichen Gegnerschaft zu den Schiiten, die als gefährliche, ketzerische Feinde galten, gegen die alle Sunniten vereint auftreten müssten. Als Malik Schah 1092 starb, brach sein mächtiges Reich allerdings rasch im Bürgerkriegschaos zusammen. Seine beiden jungen Söhne kämpften um das Amt des Sultans und stritten um die Herrschaft über den Iran und den Irak; in Syrien versuchte Tutusch an die Macht zu kommen. Als er im Jahr 1095 ebenfalls starb, stritten auch seine Söhne Ridwan und Duqaq um das Erbe, einer riss Aleppo, der andere Damaskus an sich. Im schiitischen Ägypten war die Lage nicht besser. Auch hier hatte der plötzliche Tod des Fatimiden-Kalifen und seines Wesirs 1094 und 1095 zu einem abrupten Wechsel geführt, der im Aufstieg eines neuen Wesirs armenischer Herkunft, al-Afdal, gipfelte. In ebendem Jahr, als die Kreuzzüge begannen, war also der sunnitische Islam in einem Zustand stürmischer Unordnung, und der neue Kalif im fatimidischen Ägypten trat gerade erst seine Herrschaft an. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Christinnen und Christen im Abendland von alldem Kenntnis hatten; diese Ereignisse können also nicht als Auslöser für den »heiligen Krieg« gelten. Der Beginn des ersten Kreuzzugs erfolgte allerdings zu einem für die Christen bemerkenswert günstigen Zeitpunkt.13

Der Vordere Orient am Ende des 11. Jahrhunderts

Die chronische Zwietracht innerhalb der islamischen Welt am Ende des 11. Jahrhunderts sollte den Verlauf der Kreuzzüge entscheidend beeinflussen, ebenso wie die kulturelle, ethnische und politische Beschaffenheit des Vorderen Orients. Streng genommen kann man diese Region – das Schlachtfeld des Krieges um das Heilige Land – nicht als muslimische Welt bezeichnen. Die relativ ausgeprägte Toleranz im Umgang mit Andersgläubigen, wie sie für die frühen arabisch-islamischen Eroberungen typisch war, bedeutete, dass noch Jahrhunderte später in der Levante verhältnismäßig viele einheimische christliche – von Griechen und Armeniern bis zu Syrern und Kopten – sowie jüdische Bevölkerungsgruppen lebten. Nach wie vor durchstreiften beduinische Nomaden den Orient – Arabisch sprechende Muslime, die kaum feste Bündnisse unterhielten. Über diesem seit Langem bestehenden Siedlungsmuster gab es die kleine muslimische Herrschaftselite, die sich aus Arabern, einigen Persern und den neu hinzugekommenen Türken zusammensetzte. Der Vordere Orient war kaum mehr als ein nur lose zusammengefügter Flickenteppich aus verschiedenartigen gesellschaftlichen und religiösen Gruppen, also alles andere als eine in sich geschlossene islamische Festung.

Mit Blick auf die wichtigsten Schaltstellen der muslimischen Welt war die Levante außerdem eher Provinz – ungeachtet der politischen und geistigen Bedeutung, die einzelnen Städten wie Jerusalem und Damaskus zugeschrieben wurde. Für die sunnitischen Seldschuken und die schiitischen Fatimiden waren die eigentlichen Zentren der regierenden Macht, des Wohlstands und der kulturellen Identität Mesopotamien und Ägypten. Die Levante war der Grenzbereich zwischen diesen beiden Einflusssphären, eine Welt, um die zwar immer wieder gestritten wurde, die aber zumeist dennoch als zweitrangig eingestuft wurde. Selbst während der Regierungszeit des Sultans Malik Schah wurde kein entschlossener Versuch unternommen, Syrien in das Sultanat zu integrieren, und der Großteil des Gebiets verblieb in der Hand machthungriger, relativ unabhängiger Stammesfürsten.

Als daher die Heere der lateinischen Kreuzfahrer dort ankamen, um Kriege zu führen, die eigentlich Grenzkriege waren, drangen sie nicht in das Kernland des Islam ein. Sie kämpften vielmehr um die Herrschaft über einen Landstrich, der in mancherlei Hinsicht auch eine muslimische Grenze war. Hier lebte eine Mischbevölkerung aus Christen, Juden und Muslimen, die sich im Lauf der Jahrhunderte an die Erfahrung gewöhnt hatte, von fremden Mächten – seien es nun Byzantiner, Perser, Araber oder Türken – erobert zu werden.

Islamische Kriegsführung und Dschihad

Am Ende des 11. Jahrhunderts befanden sich Strategie und Taktik der muslimischen Kriegsführung in einem Übergangsstadium. Die Hauptstütze jeglicher türkischen Streitmacht waren berittene Krieger auf schnellen Pferden, leicht bewaffnet mit einem gefährlichen Kompositbogen, mit dem sie einen Hagel von Pfeilen aus dem Sattel abschießen konnten. Teilweise waren sie auch mit einer leichten Lanze, einem einschneidigen Schwert, einer Axt oder einem Dolch ausgerüstet. Der Vorteil dieser Truppen lag in ihrer Schnelligkeit und Wendigkeit, wenn es darum ging, einen Gegner zu überwältigen.

Die Türken machten traditionell von zwei Taktiken Gebrauch: der Einkreisung – bei der der Feind von einer wirbelnden Masse berittener Krieger in schneller Bewegung umringt und mit Pfeilhageln beschossen wurde, und dem Scheinrückzug – der Technik, sich mitten in der Schlacht scheinbar zur Flucht umzuwenden, um den Gegner zu kopfloser Verfolgung zu veranlassen; in der augenblicklich entstehenden allgemeinen Verwirrung löste sich die Formation des Gegners auf, und er wurde für eine unvermittelte Gegenattacke verwundbar. Diesen Kampfstil bevorzugten noch die Seldschuken Kleinasiens; die Türken in Syrien und Palästina dagegen hatten ein größeres Repertoire persischer und arabischer Militärstrategien übernommen, die sich an den Einsatz schwerer bewaffneter Lanzenreiter und größerer Infanterieeinheiten, aber auch an die Erfordernisse eines Belagerungskriegs anpassten. Die bei Weitem verbreitetsten Formen der Kriegsführung waren Überfälle, Scharmützel und vernichtende interne Auseinandersetzungen aufgrund relativ geringfügiger Streitigkeiten um Macht, Land und Besitz.14 Theoretisch konnten muslimische Truppen dazu aufgerufen werden, sich für eine höhere Sache einzusetzen – etwa für einen »heiligen Krieg«.

Die Idee des »heiligen Krieges« hat von Anfang an zum Islam gehört. Mohammed selbst hatte im Zusammenhang mit der Unterwerfung Mekkas mehrere Feldzüge angeführt, und die rasante muslimische Expansion im 7. und 8. Jahrhundert wurde durch die ausdrückliche Verpflichtung der Gläubigen vorangetrieben, die Herrschaft des Islam auszudehnen. Glaube und Gewalt waren daher im Islam unmittelbarer und natürlicher verbunden als im lateinischen Christentum, das sich erst allmählich an diese Idee gewöhnte.

Die muslimischen Gelehrten forschten im Koran und im Hadith, den »Überlieferungen«, wie die Sammlung der Aussprüche Mohammeds genannt wurde, um die Rolle des Krieges im Islam herauszuarbeiten. Diese Texte enthalten zahlreiche Belege dafür, dass der Prophet den »Kampf auf dem Weg Gottes« befürwortete. In der Frühzeit des Islam diskutierte man die Frage, was zu diesem Kampf oder Dschihad« (wörtlich: Anstrengung) eigentlich gehört – und die Auseinandersetzung dauert bis heute an. Einige Gruppierungen, wie die muslimischen Mystiker, die Sufis, waren der Auffassung, dass der »größere Dschihad« der innere Widerstand gegen Sünde und Irrtum sei. Im ausgehenden 8. Jahrhundert hatten sunnitische Rechtsgelehrte allerdings damit begonnen, eine offizielle Theorie zu der Vorstellung zu entwickeln, die teilweise als »kleinerer Dschihad« bezeichnet wird: »zu den Waffen zu greifen«, um einen Krieg »nach außen«, gegen die Ungläubigen auszutragen. Zur Begründung dieser Lehre zitierten sie Texte aus den heiligen Schriften, so etwa Verse aus der neunten Sure: »Bekämpft die Polytheisten vollständig, so wie sie euch vollständig bekämpfen«, oder aus dem Hadith den Ausspruch Mohammeds: »Ein Morgen oder ein Abend bei einem Feldzug auf dem Weg Gottes ist besser als die Welt und all ihre Güter, und wer von euch tot auf dem Schlachtfeld zurückbleibt, ist besser dran, als wenn er 60 Jahre gebetet hätte.«

Rechtswissenschaftliche Abhandlungen aus dieser frühen Zeit erklärten den Dschihad zu einer Verpflichtung, die allen kampftauglichen Muslimen oblag, wobei dies weniger als eine individuelle denn als eine gemeinschaftliche Pflicht galt und die Verantwortung für den Kriegszug letztlich beim Kalifen lag. Unter Verweis auf Aussprüche aus dem Hadith – etwa »Die Tore des Paradieses sind unter den Schatten der Schwerter« – garantierten die Gelehrten auch, dass jedem, der im Dschihad kämpfte, der Einzug ins Paradies sicher war. Sie postulierten eine förmliche Teilung der Welt in zwei Bereiche: Dar al-Islam, das »Haus des Friedens« (der Bereich, in dem muslimisches Recht und Gesetz gelten), und Dar al-harb, das »Haus des Krieges« (der Rest der Welt). Eigentliches Ziel des Dschihad war erklärtermaßen der unerbittliche »heilige Krieg« im Dar al-harb, so lange, bis die gesamte Menschheit sich zum Islam bekannt oder sich der muslimischen Herrschaft unterworfen hatte. Dauerhafte Friedensverträge mit nichtmuslimischen Feinden waren ausgeschlossen, und eine zeitlich begrenzte Waffenruhe durfte nicht länger als zehn Jahre dauern.

Im Lauf der Jahrhunderte schwand der in dieser klassischen Theorie des Dschihad enthaltene Impuls zur Expansion allmählich. Die arabischen Stämme wurden zum Teil sesshaft und begannen, mit Nichtmuslimen wie den Byzantinern Handel zu treiben. Noch immer gab es »heilige Kriege« gegen Christen, doch sie wurden seltener; oft wurden sie ohne Zustimmung des Kalifen von Emiren betrieben und angeführt. Im 11. Jahrhundert waren dann die Herrscher im sunnitischen Bagdad viel eher daran interessiert, den Dschihad zur Wahrung islamischer Rechtgläubigkeit einzusetzen, indem sie gegen »häretische« Schiiten kämpften, als »heilige Kriege« gegen das Christentum zu führen. Die Vorstellung, dass der Islam sich in einen unabsehbaren Kampf verstricken sollte, um seine Grenzen vorzuschieben und Ungläubige zu unterwerfen, fand wenig Anklang; das Gleiche galt für die Idee eines Zusammenschlusses aller Muslime zur Verteidigung des islamischen Glaubens und seiner Territorien. Als die christlichen Kreuzzüge einsetzten, schlummerte der ideologische Impuls zu einem Glaubenskrieg auf der muslimischen Seite also, doch die Rahmenbedingungen dafür waren vorhanden.15

Der Islam und das christliche Europa am Vorabend der Kreuzzüge

Es bleibt die Grundsatzfrage: Provozierte die muslimische Welt die Kreuzzüge, oder handelte es sich bei diesen lateinischen »heiligen Kriegen« um einen Akt der Aggression? Entscheidend für die Beantwortung dieser Frage ist die Einschätzung, wie stark der Islam den christlichen Westen im 11. Jahrhundert bedrohte. In gewisser Weise bedrängten die Muslime die Grenzen Europas tatsächlich. Im Osten war Kleinasien schon seit Generationen Schauplatz von Auseinandersetzungen zwischen dem Islam und dem Byzantinischen Reich, und muslimische Truppen hatten wiederholt versucht, Konstantinopel, die größte Metropole der Christenheit, zu erobern. Im Südwesten beherrschten Muslime nach wie vor ausgedehnte Gebiete auf der Iberischen Halbinsel, es war nicht auszuschließen, dass sie eines Tages weiter nach Norden, über die Pyrenäen hinaus vorstoßen würden. Doch Europa war am Vorabend der Kreuzzüge keineswegs in einen akuten Überlebenskampf verstrickt. Es drohte kein zusammenhängender, gesamtmediterraner Angriff, denn die iberischen Mauren und die Türken Kleinasiens teilten zwar ein gemeinsames religiöses Erbe, hatten sich aber noch nie im Dienst eines gemeinsamen Zieles zusammengeschlossen.

Nach der ersten Welle islamischer Expansion war die Beziehung zwischen benachbarten christlichen und muslimischen Ländern vielmehr bemerkenswert unspektakulär gewesen; sie war, wie bei potenziellen Rivalen üblich, geprägt von Phasen des Konflikts und Phasen der Koexistenz. Es gibt kaum, um nicht zu sagen keinerlei Hinweise darauf, dass diese beiden Weltreligionen sich in einen unumgänglichen, ständigen »Kampf der Kulturen« verrannt hätten. Islam und Byzanz entwickelten vielmehr seit dem 10. Jahrhundert einen zeitweise durch Streitigkeiten belasteten Respekt voreinander, aber ihr Verhältnis war nicht konflikthaltiger als das zwischen den Griechen und deren slawischen oder lateinischen Nachbarn im Westen.

Das heißt nicht, dass auf der Welt eitel Frieden und Harmonie geherrscht hätten. Die Byzantiner nutzten nur zu gern jedes Zeichen muslimischer Schwäche aus. So stießen griechische Truppen 969, während das Reich der Abbasiden auseinanderfiel, ostwärts vor, nahmen einen großen Teil Kleinasiens wieder ein und eroberten die strategisch wichtige syrische Stadt Antiochia. Mit dem Vorrücken der seldschukischen Türken sahen sich dann die Byzantiner neuem militärischen Druck ausgesetzt. 1071 vernichteten die Seldschuken ein kaiserliches Heer in der Schlacht von Manzikert (im östlichen Teil Kleinasiens), und obwohl Historikerinnen und Historiker dieses Ereignis nicht länger als einen verheerenden Rückschlag für die Griechen ansehen, bedeutete die Schlacht doch eine schmerzhafte Niederlage und den Auftakt für beträchtliche türkische Gebietseroberungen in Anatolien. Fünfzehn Jahre später eroberten die Seldschuken auch Antiochia zurück.

Gleichzeitig hatten die Christen auf der Iberischen Halbinsel begonnen, Territorium von den Mauren zurückzuerobern, 1085 errangen die Lateiner dort einen hochsymbolischen Sieg, indem sie Toledo, die alte christliche Hauptstadt Spaniens, wieder einnahmen. Allerdings hatte die Ausweitung des lateinischen Gebiets Richtung Süden offenbar politische und wirtschaftliche Gründe, war also nicht religiös-ideologisch motiviert. Der Konflikt auf der Iberischen Halbinsel bekam nach 1086 neue Nahrung, als eine fanatische islamische Sekte, die Almoraviden, von Nordafrika aus vordrang und die noch bestehende Macht der einheimischen Mauren verdrängte. Dieses neue Regime belebte auch den muslimischen Widerstand neu und errang gegen die Christen im Norden zahlreiche militärische Siege. Trotzdem kann die Angriffspolitik der Almoraviden nicht als Auslöser der Kreuzzüge bezeichnet werden, denn die lateinischen »heiligen Kriege«, die Ende des 11. Jahrhunderts angestoßen wurden, zielten direkt auf die Levante und nicht auf die Iberische Halbinsel.

Was also war es, das den Krieg zwischen Christen und Muslimen im Heiligen Land entfachte? In gewisser Hinsicht waren die Kreuzzüge eine Reaktion auf einen Akt islamischer Aggression, nämlich auf die Eroberung Jerusalems durch die Muslime, doch dieses Ereignis hatte 683 stattgefunden, konnte also kaum als akute Angriffshandlung gewertet werden. Zu Beginn des 11. Jahrhunderts war die Kirche vom Heiligen Grab, die nach christlichem Glauben am Ort von Christi Kreuzigung und Auferstehung errichtet worden war, teilweise von dem unberechenbaren Fatimidenkalifen Hakim zerstört worden. Seine anschließenden Verfolgungsmaßnahmen gegen die örtliche christliche Bevölkerung hielten mehr als ein Jahrzehnt an und fanden erst ein Ende, als er sich selbst zum Gott erklärte und seine Aggressionen gegen seine eigenen muslimischen Untertanen wandte. 1027 erreichten die Spannungen einen neuen Höhepunkt, als Muslime angeblich Steine auf das Gelände des Heiligen Grabes warfen. Später berichteten lateinische Christinnen und Christen, die versuchten, Pilgerreisen in die Levante zu unternehmen – es waren nach wie vor viele Pilgerinnen und Pilger unterwegs –, von Schwierigkeiten, die heiligen Orte zu besuchen, und dass Christinnen und Christen der Ostkirche im muslimischen Palästina unterdrückt würden.

Zwei arabische Zeugnisse bieten wichtige, allerdings widersprüchliche Einsichten zu diesen Fragen. Ibn al-Arabi, ein muslimischer Pilger aus Spanien, der 1092 ins Heilige Land aufbrach, beschrieb Jerusalem als blühendes Zentrum religiöser Verehrung für Muslime, Christen und Juden gleichermaßen, notierte, dass es Christinnen und Christen gestattet war, ihre Kirchen in gutem Zustand zu erhalten, und es findet sich bei ihm keinerlei Hinweis darauf, dass Pilgerinnen und Pilger, seien es nun Griechen oder Lateiner, behindert oder misshandelt worden wären. Im Unterschied dazu schrieb der Chronist al-Azimi aus Aleppo Mitte des 12. Jahrhunderts: »Die Leute in den Häfen Syriens verboten den fränkischen und byzantinischen Pilgern, nach Jerusalem weiterzureisen. Die Überlebenden berichteten das in ihre Heimat. Daher bereiteten sie sich auf eine militärische Invasion vor.« Offensichtlich glaubte zumindest al-Azimi, dass muslimische Übergriffe der Grund für die Kreuzzüge waren.16

Ausgehend von dem, was an Zeugnissen auf uns gekommen ist, könnte man die Frage also in beide Richtungen entscheiden. 1095 befanden sich Muslime und Christen bereits seit Jahrhunderten im Kriegszustand; auch wenn das schon lange zurücklag, hatte der Islam ohne Zweifel christliches Gebiet erobert, darunter Jerusalem; und Christinnen und Christen, die im Heiligen Land lebten oder es besuchten, wurden möglicherweise Opfer von Verfolgungen. Andererseits gab es im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Aufbruch zum ersten Kreuzzug keinerlei ersichtlichen Hinweis, dass ein gigantischer, nationenübergreifender Krieg unmittelbar bevorstand oder nicht mehr zu vermeiden war. Weder war der Islam im Begriff, eine größere Offensive gegen den Westen zu unternehmen, noch planten muslimische Herrscher des Vorderen Orients ethnische Säuberungen, und sie unterwarfen auch keine religiöse Minderheit anhaltender Verfolgung. Möglicherweise gab es zwischen christlichen und muslimischen Nachbarn Phasen, in denen von einem friedlichen Nebeneinander kaum mehr die Rede sein konnte, vielleicht gab es auch vereinzelt Ausbrüche von Intoleranz in der Levante, aber darin unterschied sich die Situation nicht von den damals auch andernorts herrschenden politischen, militärischen und sozialen Auseinandersetzungen.