Die Kunst der Täuschung - Tanja Kaiser - E-Book

Die Kunst der Täuschung E-Book

Tanja Kaiser

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Erotik
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2024
Beschreibung

Delias Leben ist ganz normal, bis sie auf Patrick trifft – einen Mann, der so gar nicht in ihr Beuteschema passt und doch ihre Welt auf den Kopf stellt. Patrick, mit seinem smarten Lächeln und seiner mysteriösen Aura, ist mehr als nur ein weiteres Rätsel in ihrem Leben; er ist ein Mentalist, ein Meister der menschlichen Psyche. Mit einer Mischung aus Magie und scharfer Beobachtungsgabe entlockt Patrick den Menschen um sich herum ihre tiefsten Geheimnisse und Wünsche. Er sieht, was Delia selbst nicht sieht: ihre Sehnsucht nach Veränderung, nach jemandem, der die Führung übernimmt. Bald findet sich Delia in einem Spiel wieder, in dem Patrick die Regeln bestimmt – ein Spiel, das sie aus ihrer Komfortzone lockt und sie zwingt, sich selbst neu zu entdecken. Doch während Delia in diesem verwirrenden Tanz aus Enthüllungen und Aufgaben immer mehr über sich selbst lernt, beginnt sie zu ahnen, dass auch Patrick ein Geheimnis verbirgt. Ein Geheimnis, das er hinter seinen mentalen Tricks und Illusionen versteckt.

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Kapitel 1:
Kapitel 2:
Kapitel 3:
Kapitel 4:
Kapitel 5:
Kapitel 6:
Kapitel 7:
Kapitel 8:
Kapitel 9:
Kapitel 10:
Kapitel 11:
Kapitel 12:
Kapitel 13:
Kapitel 14:
Kapitel 15:
Kapitel 16:
Kapitel 17:
Kapitel 18:
Kapitel 19:
Kapitel 20:
Kapitel 21:
Kapitel 22:
Kapitel 23:
Kapitel 24:
Nachwort:

Kapitel 1:

Was für ein Ärger.

Seit mehr als einer halben Stunde stöberte ich durch die endlosen Reihen von Kleidern, aber keins sagte mir so wirklich zu.

Mein Geschmack schien so weit ab vom Zeitgeschehen, dass meine Suche mehr als aussichtslos schien. Zu kurz, zu lang, und wer hatte überhaupt beschlossen, dass Ballonröcke plötzlich wieder modern waren?

Meine Nerven lagen blank. Wenn ich nicht noch an diesem Tag das perfekte Kleid finden würde, dann müsste ich vermutlich nackt zu der Veranstaltung gehen.

Sicher gab es Kleider in meinem Schrank, viele sogar, aber natürlich keins, was dem Anlass angemessen sein würde.

Monatelang hatte ich auf diesen einen Tag hingefiebert, nächtelang darüber nachgedacht, und alle meine Hoffnungen lagen auf dieser Veranstaltungen. Wenn alles gut lief, mein Auftritt perfekt sein würde, dann könnte ich schon in kürzester Zeit Teil einer völlig anderen Welt sein.

Mein Leben lang hatte ich hart gearbeitet, während der Rest der Welt gefeiert und getrunken hatte, und hatte auf jede Form von Privatleben praktisch gänzlich verzichtet.

Alles, um am Ende eine Einladung für eine solche Veranstaltung zu bekommen.

Sehr zum Leidwesen meines nun nicht mehr vorhandenen Freundes, und sehr zum Leidwesen meiner Eltern, die meine Sucht nach Erfolg eher kritisch sahen.

Warum sollte man sich in so jungen Jahren, so dermaßen anstrengen?

Ich selbst sah das anders, und wollte es bis spätestens Mitte Dreißig an die Spitze der hiesigen Geschäftsleute geschafft haben.

Es war mir wichtig, unabhängig zu sein, finanziell und auch sonst, und ich wollte zu den Menschen gehören, die anderen sagten, was sie zu tun hatten.

Dieser Tatsache war ich mir früh bewusst gewesen, und ich hatte alles diesem Ziel untergeordnet. Manchmal mit Trauer, manchmal mit schierer Wut, aus der ich die Energie gezogen hatte, auch dann noch die Zähne zusammenzubeißen, wenn aufgeben die deutlich leichtere Option von allen Möglichen zu sein schien.

Darin war ich gut, das hatten die letzten Jahre bewiesen, und jetzt, wo mein Eintritt in die Riege der jungen Wirtschaftsjunioren zum Greifen nah war, schien mir nur noch das perfekte Kleid zu fehlen.

Wie wichtig die Optik bei solchen Dingen war, hatte ich gelernt. Ein falsches Kleid, ein zu billiges paar Schuhe, all das konnte verhindern, dass man mich ernst nahm.

Frauen hatten es ohnehin schwer, auch wenn niemand das so wirklich gerne zugab, aber noch immer musste man als Frau weit mehr Leistung bringen, als ein Mann dafür benötigte.

Auch wegen dieser Tatsache hatte ich mehr als einmal die Zähne zusammengebissen, und über die Jahre einfach akzeptiert, dass ich nicht diejenige sein würde, die daran würde etwas ändern können.

Also spielte ich das Spiel, so wie es eben zu spielen war.

Noch immer wurden Frauen belächelt, schlechter bezahlt, oder ihnen wurden Fähigkeiten abgesprochen, und ich hatte mich schon immer darüber geärgert. Ich wollte mehr als das, vor allem aber wollte ich beweisen, dass ich ebenso erfolgreiche Entscheidungen treffen konnte, wie die Männer.

Und vor allem, dass ich dabei bestechend gut aussehen konnte.

Ich kramte weiter in den mehr oder minder schönen Kleidern auf dem Ständer vor mir, aber es wurde optisch nur noch schlimmer.

Ärgerlicherweise schien hier absolut nichts zu mir zu passen, und eigentlich sollte es mich nicht wundern. In den letzten Stunden hatte ich praktisch alle Boutiquen durchforstet, ohne auch nur annähernd etwas Angemessenes zu finden, und war am Ende hier gelandet.

Die Wahrscheinlichkeit, in einem Kaufhaus etwas zu finden, selbst wenn es schon eines der Teuereren war, ging allerdings ebenfalls gegen Null.

In die engere Wahl hatte ich ein sonnengelbes Kleid mit einfachem Schnitt und ein dunkelblaues Etuikleid genommen, aber wirklich überzeugt war ich nicht.

Schrill zu wirken, würde ein falsches Zeichen setzen, und auch zu viel Einfachheit, würden sicherlich nicht wirklich dafür sorgen, dass man gerade mich wahrnahm.

Mein Stil war nicht der obligatorische Hosenanzug, den die meisten Frauen in Führungspositionen trugen. Auch nicht die berühmte Jeans mit dem Blazer, der zu einer Art unausgesprochenem Dresscode für die meisten meiner Art geworden war.

Nichts davon war ich, nichts davon würde mir die Aufmerksamkeit geben, die ich so dringend benötigte.

Ich bevorzugte die Mode der fünfziger Jahre, immer schon, und eigentlich war das auch Teil meines Erfolges.

Im Gegensatz zu all den anderen Geschäftsfrauen fiel ich auf, aber nicht auf eine unangenehme Art. Röcke und Kleider mussten knielang sein, nicht kürzer, und ich legte großen Wert auf absolute Perfektion.

Wann immer ich Termine hatte, sorgte ich für einen grandiosen Auftritt, und nahm so manchen zweifelnden Mann damit den Wind aus den Segeln. In einer Welt, in der Männer Positionen wie meine belegten, musste man sich eben durchsetzen.

Wenn ich etwas gelernt oder vielleicht auch verstanden hatte, dann die Tatsache, dass man mit seinen eigenen Mitteln arbeiten musste.

Wo Männer in teuren Anzügen die Menschen einschüchterten, irritiere ich sie mit meiner makellosen Vintage-Optik.

Der Überraschungseffekt meines ungewöhnlichen Auftretens brachte mich jedes Mal aufs Neue zum Schmunzeln, immerhin erwarteten die Menschen einfach etwas Anderes, und egal wie oft ich es auch erlebt hatte: Jede neue Begegnung war ein Erlebnis. Ich genoss die Blicke auf meine kunstvoll drapierten Frisuren, die Fragen nach der ungewöhnlichen Kleidung und auch die Verwirrtheit meines Gegenübers.

Wo andere Frauen Kostüme trugen, tat ich es nicht, und ich vermied jedes Kliesche der Masse.

Anders zu wirken, außergewöhnlich zu sein, hatte ich mir nicht nur auf die Fahne geschrieben, ich hatte es zur Kunstform erhoben.

Haare, Make-up, Schmuck und Schuhe, all das musste perfekt miteinander harmonieren, und nur wenige Frauen, die ich kannte, trieben es ähnlich krank wie ich auf die Spitze.

Perfektionistin zu sein, auf jede nur erdenkliche Weise, das hatte ich zu meinem obersten Gebot gemacht. Sicher konnte ich mit Wissen punkten, vielleicht sogar mit Geschäftssinn und Können, aber die Perfektion war es, die am Ende immer der ausschlaggebende Punkt war.

Und deshalb war dieses Kleid der springende Punkt, der jetzt noch einzufangen war.

Ich hielt erneut das blaue Kleid vor meinen Körper und betrachtete es im Spiegel, als ich die Stimme hinter mir hörte. Weich und warm, fast zu weiblich, um einem Mann zu gehören, aber eindeutig doch männlich.

„Dieses nicht.“

Mein Kopf wand sich fast automatisch und ich nahm den Mann wahr, aber alles, was ich tatsächlich sah, war die perfekte Reihe weißer Zähne.

Selten hatte ich einen Mann mit so gepflegten Zähnen gesehen, und irgendwie wirkte es irritierend. Sofort musste ich an eine Zahnpasta-Werbung denken, was mir an jeder anderen Stelle ein Lächeln hervorgerufen hätte.

Aber nicht jetzt, wo ich gerade mehr als genug mit mir selbst beschäftigt war.

Ich selbst legte auch auf solche Dinge Wert, aber Männer im Allgemeinen nicht. Nur wenige kümmerten sich wirklich um sich, die meisten machten sich nichts aus solchen Dingen, aber dieser hier schien anders zu sein.

Auch ansonsten war er gepflegt, auf eine nicht übertriebene Art, und die winzigen Falten um seine Augen zogen mich sofort in ihren Bann. Zu alt für mich, vielleicht auch nicht.

Meine Einschätzung lag bei etwa vierzig, doch der blonde Strubbelkopf sprach eigentlich dagegen. Männer in dieser Altersklasse trugen etwas anderes. Vielleicht doch eher dreißig?

„Nicht?“

Mir fehlten in Anbetracht der Aussichten die Worte, und ich sah erneut in den Spiegel. Eigentlich war das Kleid gar nicht so schlecht. Vielleicht etwas langweilig, aber mit den richtigen Schuhen...

Wenn man so dringend wie ich auf der Suche war, dann konnte man nicht wählerisch sein. Für Onlinebestellungen fehlte mir die Zeit, und für Zurücksendungen ebenfalls.

„Nein. Probieren sie das hier.“

Der Mann griff wie selbstverständlich zwischen den Wust aus Kleidern, und zog ein bordeauxfarbenes Spitzenkleid hervor, als sei es eine Selbstverständlichkeit.

Völlig perplex griff ich danach, nicht sicher, was mir all das sagen sollte. Welcher Mann kannte sich schon so gut in einem Laden aus? Arbeitete er hier? Männer in Modegeschäften waren schwul, so zumindest meine Einschätzung, und ein wenig enttäuschte mich diese Aussicht.

Erklären würde es den perfekten Mann sicherlich, immerhin würde ein schwuler Mann auf seine Optik vielleicht mehr achten, aber es wäre eine Schande für die Frauen dieser Welt.

Das Kleid war schön, keine Frage, aber die Farbe war so gar nicht mein Geschmack. Wer immerzu rote Lippen trug, der Griff automatisch nicht nach dunkelroter Kleidung.

Ein fester Bestandteil meines Lebens war seit Jahren kirschroter Lippenstift, ohne ihn fühlte ich mich nackt und fremd, und dunkelrot war nun wirklich keine passende Farbe für meinen heißgeliebten Begleiter.

Auch was das betraf, setzte ich auf Perfektion, und daher fanden nur Farben ihren Weg in meinen Kleiderschrank, die perfekt mit mir und meinen Lippen harmonierten.

„Ich glaube nicht, dass diese Farbe mir steht.“

Mein Blick fiel erneut auf die Reihe weißer Zähne, und ich bemühte mich etwas mehr von ihm wahrzunehmen.

Dunkelblonde Locken, ein wenig heller an den Spitzen, und eigentlich etwas zu lang. Freundliche Augen, blau, soweit ich es beurteilen konnte, und ein ebenso freundliches Gesicht, mit dem erschlagenden Lächeln. Ja, vielleicht schwul.

Ein schöner Mann, keine Frage.

Ungewöhnlich, auf eine angenehme Art, aber so gar nicht mein Geschmack. Ich mochte rauere Männer, Männer mit Narben und einer anderen Ausstrahlung.

Für mich schien er zu glatt, zu perfekt, und vor allem zu positiv. Menschen mit so positiver Ausstrahlung waren mir pauschal suspekt, denn in meinen Augen war die Welt nicht so.

Es gab keinen Grund, sie schön zu reden, wo doch die Defizite der Gesellschaft so offensichtlich waren.

Sicher war er einer von der Sorte, die in allem etwas Gutes fanden, die sich über Kleinigkeiten freuten, und die am Ende jeden Tages, mit einem Lächeln in den Schlaf fielen.

Ich selbst war nicht so, manche würden es desillusioniert nennen, ich nannte es realistisch.

Die Welt war ein dunkler Ort, auch wenn Menschen wie er einem etwas Anderes weismachen wollten.

Einfach lächerlich.

Er trug eine Jeans und ein Hemd, aber darüber eine Anzugweste, was dem ganzen einen leicht edlen Anstrich gab. Auch diese Kombination war eher ungewöhnlich, aber es stand ihm wirklich nicht schlecht.

Die Ärmel des Hemdes hatte er nach oben gekrempelt, den Blick auf seine nackten Unterarme frei, was mich augenblicklich erschaudern ließ.

Nackte Unterarme waren mein Bermuda-Dreieck. Andere sahen sich Hintern an, Bauchmuskeln oder Oberarme, bei mir waren es Unterarme. Die Sehnen und Muskeln, die man dort sah, waren für mich am interessantesten. Wirklich erklären konnte ich meine Vorliebe nicht, aber Unterarme sprachen mich einfach an. Wann immer ich diese Art von Unterarmen sah, haftete mein Blick sofort darauf.

„Probieren sie es.“

Er hob den Arm und ich spannte mich an. Nicht bewegen, bleib genau so. Ich sah die Sehne auf seinem Unterarm und versuchte das Bild festzuhalten, schließlich gab es nur sehr selten diese Momente. Momente, in denen ein so perfekter Arm zum Greifen nah war.

Wortlos hielt ich das Kleid vor meinen Körper und sah, wie sehr der rote Lippenstift sich mit dem Kleid stach. Nein, diese Farbe war definitiv nicht für mich gemacht. Auch wenn er es sicher gut meinte, ein Kleid in dieser Farbe würde nie in Frage kommen.

„Es passt nicht zum Lippenstift.“

Wie dumm ich doch war. Was für ein unnötiger Satz. Lippenstift konnte man ändern, und jemand der mich nicht kannte, würde sicher nicht verstehen, wie wichtig genau diese Lippenstiftfarbe für mich war.

Das knallige Rot war meine Neonleuchte, mein Garant dafür, aufzufallen. Niemand trug heute noch im Alltag eine so auffällige Farbe, und es garantierte mir die Blicke aller Menschen. Zusammen mit meiner sonstigen Kleidung nahm man mich wahr, man beschäftigte sich mit mir, und auf keinen Fall würde ich davon abweichen. Nicht mal für einen Mann mit so wunderbaren Unterarmen.

„Nein, tut es nicht. Aber es gibt Lippenstifte.“

Der Mann legte den Kopf schief, auf eine sehr niedliche Art, und von einer Sekunde auf die andere wirkte er um Jahre jünger. Fast kindlich, trotz der winzigen Falten um seine Augen, und ich fragte mich sofort, wie sich seine Haare anfühlen würden. Sicher waren sie weich und leicht, und in meinem Geist fühlte ich die Locken zwischen meinen Händen.

Eigentlich war selbst die Frisur so gar nicht mein Geschmack, einfach zu lang und viel zu unordentlich, aber aus irgendwelchen Gründen, passte sie zu ihm. Er schien keiner dieser sortierten Menschen, und die Masse an blonden Locken unterstrichen dies.

„Ich trage niemals eine andere Farbe.“

Erst jetzt wurde mir klar, wie seltsam unser Gespräch verlief.

In dem riesigen Laden unterhielten sich zwei völlig fremde Menschen über die Farbe eines Kleides, während um uns herum der Schlussverkauf tobte. Der moderne Laden, das helle Licht, und die völlig langweilige Fahrstuhlmusik, all das hatte ich für Minuten ausgeblendet. Selbst das schreiende Kind im Kinderwagen an der Kasse, hatte ich einfach abgeschaltet. Was für ein erstaunlicher Moment, in einer so unpassenden Situation.

„Sollten sie aber. Sie sind keine Frau für rote Lippen.“

Ich schnappte nach Luft und wollte mich verteidigen, aber so wirklich fiel mir nichts Schlagfertiges ein. Nie vorher hatte mir jemand gesagt, ich sollte Rot besser lassen, und nie vorher, hatte ich mir darüber Gedanken gemacht, welche Frauen Rot würden tragen können.

„Ach, und woher wissen sie das? Welche Frauen sind den für rote Lippen gemacht?“

Ich legte das Kleid über meinen Arm und verschränkte diese, mehr unterbewusst als bewusst. Ich schätzte es nicht, wenn man mich angriff, und Meinungen zu meinem Lippenstift, waren eindeutig ein Angriff.

„Andere. Die, die um jeden Preis auffallen müssen. Das haben sie nicht nötig.“

War das jetzt ein Kompliment? Ich war hin und her gerissen, zwischen Wut und dem Impuls geschmeichelt zu sein, entschied mich aber nach Sekunden für geschmeichelt sein.

Wenn ein Mann wie er glaubte, ich hätte es nicht nötig, dann war es vermutlich ein Kompliment.

„Ich mag meine rote Lippen.“

„Ich habe nicht gesagt, dass ich sie nicht mag. Sie haben es nur nicht nötig.“

Unentschlossen trat ich von einem Bein auf das andere, und bereute endgültig, in viel zu hohen Schuhen auf Shoppingtour gegangen zu sein. Für so einen Ausflug sollte man flache Schuhe tragen, und keinesfalls die zehn Zentimeter Absätze, die aktuell meine Füße zierten.

Hohe Schuhe waren mein Untergang. Es führte kein Weg an ihnen vorbei, auch wenn ich eigentlich schon mehr als genug davon besaß. Auch sie gehörten zu meinem Sicherheitsnetz, meiner Uniform, wie ich es manchmal nannte. Mein Auftreten gab mir Sicherheit, und es irritierte meine Mitmenschen, was mir in den meisten Fällen einen Vorteil verschaffte. Irritation war das Zauberworte, ich entsprach nicht den Erwartungen, und oft schmunzelte ich insgeheim über die Reaktionen meines Gegenübers.

„Arbeiten sie hier?“

Ich beschloss, das Gespräch auf ein weniger heikles Thema zu lenken, und hoffte, er würde verneinen. Dann würde ich ihn wegschicken können, und würde mit mir und den roten Lippen wieder im Reinen sein. Er war niedlich, keine Frage, aber er stand mir und dem Plan im Weg.

Was ich brauchte, war ein Kleid, kein Flirt auf einem Flur, und schon gar keinen Mann, der mich in Frage stellte.

„Manche behaupten das, andere sagen was Anderes.“

Er schob die Hände in die Hosentaschen und die Weste klaffte über seiner Brust auf.

Das Dreieck unter seinem Hals sprang mich fast an, und ich gab mir jede Mühe nicht zu starren. Die oberen Knöpfe seines Hemdes standen offen, und ließen einen winzigen Blick auf seinen Hals und die darunter liegende Brust erhaschen.

Es war lange her, dass ich in den Genuss eines solchen Anblicks gekommen war, und ich ärgerte mich über die unpassende Situation. Zu einer anderen Zeit hätte ich es genießen können, vielleicht sogar ein wenig geflirtet, aber dafür würde keine Zeit bleiben.

Lässig, würden die jungen Leute heute wohl sagen. Lässig, auf eine unaufgeregte Art. Nichts an ihm wirkte aufgesetzt oder unpassend, und ich fragte mich, ob er sich darüber bewusst war. Ich selbst hatte Jahre benötigt, um meinen Stil so sehr zu verinnerlichen, dass Menschen ihn als natürlich empfanden.

Jahre, bis ich selbstbewusst genug geworden war, um mich meiner selbst nicht mehr zu schämen.

Leider musste ich zugeben, dass es mir gefiel. Nicht gerne, aber es war so. Irgendetwas an ihm war aufregend, irgendetwas an ihm gefiel mir. Auch wenn er ansonsten meilenweit weg von meinem bevorzugten Männerbild entfernt war.

„Ich werd das Kleid probieren, danke. Aber ich brauche keine weitere Hilfe.“

Ein wenig tat es mir leid, aber sicher war es besser so. Ein Verkäufer in einem Klamottenladen, war auf der Liste der möglichen Partner, nicht mal am Ende existent.

„Ich habe nicht geholfen. Sie werden das Kleid nehmen.“

Mit einem Zwinkern nickte er dem Kleid entgegen, als sei mein Kauf bereits allein durch seine Willenskraft beschlossen.

Er strahlte noch immer wie ein Honigkuchenpferd und mir klappte die Kinnlade nach unten. Ganz schon dreist, aber irgendwie auch witzig.

Menschen, die mir die Stirn boten, gab es nur wenige, und wenn es sie gab, waren sie anders.

„Sagt wer? Sie?“

„Ja, ich. Sie werden kein Besseres finden, und ich will es so.“

„Will“, war das Einzige, was ich tatsächlich hörte. Er hatte weder „möchte“ noch irgendetwas anderes gesagt, er hatte es mir praktisch befohlen.

Auf eine nette, aber sehr resolute Art.

Frech, schoss es mir durch den Kopf. Frech, und auf eine charmante Art dreist. Normalerweise sprachen Menschen nicht so mit mir, sie reagierten eingeschüchtert oder devot auf meine Art, aber bei diesem hier war das nicht der Fall.

Nicht, dass es mir ernsthaft imponierte, aber zumindest schien er nicht der Typ, der sich sofort einschüchtern ließ. Nur selten traf ich solche Menschen, eigentlich viel zu selten, und ein winzig kleiner Teil von mir, fand genau diese Reibung interessant.

Dass mir ein Fremder widersprach, geschah nur sehr selten, und dann auch meistens mit Folgen. Ich ertrug solche Dinge nur sehr schlecht, eigentlich gar nicht, und es brachte mich sehr schnell an den Rande meiner nervlichen Kapazitäten.

Jetzt gerade allerdings, fand ich es interessant, und ich beschloss ihn auf die Probe zu stellen. Wie weit würde er gehen?

Ich tappte in Richtung der Umkleidekabinen und nahm leise die Schritte hinter mir wahr. Er folgte mir, obwohl ich ihn um etwas anderes gebeten hatte. Auch das war ungewohnt, normalerweise taten die Menschen, was auch immer ich ihnen sagte, und trotzdem verschwendete ich keinen Gedanken daran, ihn von all dem abzuhalten.

Der keine Teufel in mir klatschte erfreut in die Hände, er witterte ein Spiel, und auch ich unterdrückte mir ein Grinsen.

Das perfekte Kleid. Eindeutig.

Wenn es je das perfekte Kleid gegeben hatte, dann dieses. Mal abgesehen von dem Schnitt, umschmeichelte es meinen Körper wie eine zweite Haut.

Wie ich es auch sonst bevorzugte, verdeckte es alles und doch nichts, und es entsprach meinen Vorlieben bis ins Detail.

Halblange Ärmel, durchsichtig und aus feiner Spitze, gepaart mit einem Ausschnitt, der genau das richtige Maß an Verführung hielt.

Ich mochte Kleidung, die Raum für Phantasie ließ, und verabscheute all die viel zu kurzen und knappen Sachen, die jede Vorfreude im Keim erstickten. Wer wollte schon wissen, was in dem Paket war, lange bevor man es auspackte?

Die Frauen, die meine Vorbilder waren, spielten mit ihren Reizen, aber zeigten sie nicht offensiv. Man spielte mit der Vorstellung von etwas, mit der Illusion von dem, was sein könnte, aber man band es niemandem auf die Nase.

All das war dieses Kleid. Ein Versprechen, eine Möglichkeit, aber nichts Greifbares.

Die überirdisch schönen Frauen der Filme aus den 40er- und 50er-Jahren, die ich schon vor einem Jahrzehnt zu meinen Stilikonen erkoren hatte, hätten ebenfalls dieses Kleid gewählt. Grund genug, es auch für mich nicht völlig abzuschreiben.

Ich trat aus der Kabine und sah ihn erneut, er stand noch immer in weniger als einem Meter Entfernung vor dem Spiegel und sah mich an.

In seinem Blick suchte ich nach einer Reaktion, irgendeinem Hinweis ob er es ebenso wundervoll fand wie ich, aber nichts davon war der Fall.

„Gut?“

Unsicher trat ich vor den Außenspiegel und sah auf die Spitze, die mir genauso undurchsichtig schien wie er.

„Natürlich.“

„Klingt nicht überzeugend.“

Ein wenig ärgerte ich mich über seine Reaktion, ich hatte deutlich mehr erwartet. Normalweise wären Männer vielleicht begeistert gewesen, hätte mir Komplimente gemacht, aber er schien sich einfach nur bestätigt zu fühlen.

„Ich wusste, wie es aussieht. Aber der Lippenstift ist immer noch grauenhaft.“

Unbewusst rieb ich mit dem Handrücken über meine Lippen, ein völlig sinnloses Unterfangen, in Zeiten, in denen Lippenstift 24-Stunden und länger hielt.

„Was für einen soll ich sonst tragen?“

Ein Leben ohne Lippenstift war sinnlos, dem war ich mir sicher. Seit Jahren hatte ich nie das Haus ohne ihn verlassen, und sicher würde ich es auch in Zukunft nicht tun. Kleid hin oder her, darauf würde ich nicht verzichten.

„Lassen sie es bleiben. Sie brauchen ihn nicht.“

„Aber es ist eine Abendveranstaltung!“

Der Gedanke, zwischen all den vielen Menschen ohne ihn zu sein, versetzte mich sofort in Panik. Am Ende würde man mich nicht mal erkennen, und auf einen so wichtigen Teil meiner „Uniform“ zu verzichten, schien mir unmöglich. Mit dem Lippenstift verband ich meine Selbstsicherheit, mein Alleinstellungsmerkmal, und ohne ihn würde ich nur ein Schatten meiner selbst sein.

Mein ungeschminktes Ich ertrug ich nur schwerlich, meistens erkannte ich mich nicht mal selbst, und auf keinen Fall würde ich irgendjemand anderen dieses blasse Ich zeigen.

„Ist es nicht. Wir gehen nur essen.“

Er nahm eine Hand aus der Hosentasche und fuhr sich durch die blonden Locken.

„Was?“

So wirklich ergaben seine Worte keinen Sinn, und vor allem sprachen wir anscheinend aneinander vorbei.

„Was sie mit dem Kleid machen, ist mir eigentlich ziemlich egal, aber sie werden es tragen, wenn wir beide Essen gehen, und ich erwarte dann keinen Lippenstift.“

Wieder fehlten mir die Worte, und ich spürte wie das Blut in meinen Kopf schoss. Eine ähnlich freche Anmache hatte ich nie gehört, auch wenn mich seine Art ein wenig beeindruckte. Nicht mal anständig zu fragen und stattdessen zu befehlen, das konnte er mit jeder anderen Frau versuchen, aber sicher nicht mit mir!

„Sicher nicht. Das kommt nicht in Frage!“

So gut er vielleicht aussah, so nett er vielleicht gewirkt hatte, auf keinen Fall würde ich mit ihm ausgehen.

Ein Verkäufer kam nicht Frage, ein Mann der so wenig meinen Vorstellungen entsprach, erst recht nicht. Sinnlose Dates hatte ich in der Vergangenheit genug gehabt, immer auf der Suche nach etwas, dass mich vielleicht würde fesseln können. Aber nie war das der Fall gewesen, und irgendwann hatte ich mir selbst eine einzige Regel aufgestellt: Date keinen Mann, von dem du nicht restlos überzeugt bist.

Keine Versuche mehr mit Männern, die nicht in mein Leben und zu meiner Arbeit passten, keine Männer mehr, bei denen nur ein Bruchteil meiner Liste vorhanden zu sein schien.

„Ich hab sie nicht nach ihrer Meinung gefragt. Samstag Abend um sieben, und zwar ohne Lippenstift.“

Blanke Wut. Mehr war da nicht. Nie, aber wirklich nie, hatte jemand so dreist über meinen Kopf hinweg entschieden. Das Gefühl von Unsicherheit gefiel mir nicht, ich hatte es vor Jahren aus meiner Gefühlswelt gestrichen, und sicher würde ich ihm keine Chance geben, von mir Besitz zu ergreifen.

Entscheidungen langen alleine in meiner Hand, niemals in der von anderen, und schon gar nicht in der Hand von Menschen, die ich überhaupt nicht kannte!

„Nein! Ich kenne sie ja nicht mal!“

Ich stampfte dämlich mit dem Fuß auf und ballte die Hände zu Fäusten. Niemand ging so mit mir um, und schon gar kein Mann. Vielleicht hätte ich sogar ja gesagt, wenn er mich auf andere Art gefragt hätte, aber vermutlich nicht mal das.

„Stimmt. Ich bin Patrick, mir gehört dieser Laden.“

Er drehte sich auf dem Absatz und verschwand zwischen den vielen Aufstellern und den Menschen.

Ich blieb alleine zurück, mit einer völlig verwirrenden Masse an Empfindungen, und suchte krampfhaft nach einer Erklärung für all das. Aber alles was ich fand, war das Vibrieren in meinem inneren, dass ich über Jahre nicht mehr wahrgenommen hatte.

Kapitel 2:

Nackt. Anders konnte ich mein aktuelles Gefühl nicht beschreiben.

Ohne meinen roten Lippenstift, nur mit dem neuen Kleid, und in fast gediegen hohen Schuhen, fühlte ich mich einfach nur nackt.

Ich stöckelte, den schwarzen Mantel um meinen Körper geschlungen, über das Kopfsteinpflaster der Einkaufspassage, und konnte mir noch immer nicht wirklich erklären, was mich bei all dem Ritt.

Sicher war Patrick dreist gewesen, dreist und unfassbar selbstsicher, aber verdient hatte er das hier sicher nicht.

Tagelang hatte ich über all das nachgedacht, immer wieder auf das Kleid an meinem Schrank gesehen, und am Ende beschlossen, es einfach drauf ankommen zu lassen.

Einen Mann wie ihn traf man nicht oft, und ein wenig hatte er mich beeindruckt.

Wo die meisten Männer sich mit Romantik und Süßholzraspelei behalfen, hatte er einfach deutlich seine Forderungen gestellt. Ganz so, wie ich es sonst tat.

Ob ein Mann, der war wie ich selbst, tatsächlich das Richtige für mich war, das zweifelte ich allerdings an. Zwei Dickköpfe, die aufeinandertrafen, waren selten eine gute Kombination.

Die Neugier und der kleine Teufel hatten mir allerdings keine Ruhe gelassen, mich gequält, und am Ende über jede Art von gesundem Menschenverstand gesiegt.

Mein Treffen mit den Wirtschaftsjunioren war erst in der nächsten Woche, Zeit genug das Kleid noch einmal in die Reinigung zu bringen, und somit genug Zeit, es an diesem Samstag tatsächlich auszuführen.

Schon seit Ewigkeiten hatte ich keine Verabredung gehabt, dieser Teil meines Lebens fand einfach nicht statt, und irgendwie hatte es mir keine Ruhe gelassen, genau daran etwas zu ändern.

Was sprach auch dagegen? Ich war taff genug, um ihm jeden Zahn zu ziehen, und eigentlich ging es ja auch nur um ein Essen. Eine Verabredung würde mir guttun, vielleicht gefiel es mir ja sogar, und wenn es nicht so war, konnte ich jederzeit gehen.

Ein wenig unsicher war ich, schon alleine deshalb, weil es nicht mal einen Ort gab, an dem wir verabredet waren, aber anmerken lassen wollte ich es mir auf keinen Fall.

Ich ging daher einfach davon aus, dass wir uns am gleichen Platz wie bei unserem letzten Treffen sehen würden, und machte mich auf alles gefasst.

Selten peinlich kam ich mir vor, als ich mich endlich über das unsägliche Kopfsteinpflaster bis hin zu dem riesigen Laden vorgekämpft hatte.

Oft schon hatte ich hier eingekauft, hunderte von Malen war ich durch die Gänge gestreift, auf der Suche nach dem passenden Kleidungsstück. Im Gegensatz zu den meisten Geschäften gab es hier Dinge, die man sonst nirgendwo fand.

Nicht alles gefiel mir, aber immerhin gab es hier Sachen jenseits der Katalogware, und immer mal wieder hatte ich hier echte Lieblingsteile gefunden.

Auch wenn Kaufhäuser nicht meine bevorzugte Einkaufsmöglichkeit waren, hatte es mich immer mal wieder hierher verschlagen, und wenn er wirklich der Besitzer des Ladens war, sprach das eindeutig für ihn.

Er hatte Geschmack, so viel stand fest, und auch darauf legte ich wert.

Ob dieser Laden jemals wieder etwas für mich sein würde, dass würde dieser Abend entscheiden. Sollte der Abend ein Desaster werden, so würde ich ganz sicher nie wieder hier einkaufen. Und auch wenn es gut laufen würde, so würde ich vermutlich hier nicht mehr einkaufen, aus lauter Angst Patrick über den Weg zu laufen.

Gut laufen, das hatte ich mir genauestens überlegt. Gut laufen, würde in diesem Fall bedeuten, dass ich einen netten Abend, und gegebenenfalls eine nette Nacht haben würde, und zwar ohne Patrick danach jemals mehr wieder zu sehen.

Noch immer war er weit weg von dem, was ich wollte, und ich bildete mir ein, seine Hartnäckigkeit im Bezug auf mich einzig und alleine zu belohnen.

Er hatte mir die Stirn geboten, ganz anders als die anderen Männer es taten, und ich musste zugeben, es beeindruckte mich noch immer.

Nie vorher hatte jemand so neutral, so ausgeglichen und selbstsicher auf mich gewirkt. Er hatte sich nicht von mir einschüchtern lassen, selbst nicht als ich unfreundlich geworden war, und war einfach das Risiko eingegangen.

Ich selbst ging selten Risiken ein. Ich wägte ab, prüfte, und entschied dann. Nie wäre ich auf die Idee gekommen, einem Mann ein solches Angebot zu machen. Viel zu groß wäre meine Angst gewesen, dass ich am Ende alleine dastehen würde.

Frechheit siegte, auch diesem Fall, aber das hieß noch lange nicht, dass ich bereit war, mehr zuzulassen.

Eigentlich war er mir ganz recht gekommen, er und die Einladung. Auch wenn es vielleicht etwas ungewöhnlich gelaufen war, so war es zumindest eine Möglichkeit zum Stressabbau.

Und Stress hatte ich mehr als genug.

Bis zu dem Moment, an dem ich das dunkelrote Kleid übergestreift hatte, hatte ich in dieser Woche schon mehr als sechzig Stunden gearbeitet. Papiere über Papiere hatte ich durchgeackert, und mir stand der Kopf tatsächlich nach etwas Abwechslung.

Und die würde dieser Mann mir jetzt bieten, ob er wollte oder nicht.

Sicher würde er nur ein halbwegs akzeptabler Zeitvertreib sein, aber immerhin war er einer. Meine Regel jedenfalls, hatte ich für heute Abend außer Kraft gesetzt.

Patrick war anscheinend zumindest kein Verkäufer, sondern ein Ladenbesitzer, was ihn auf der Rangliste meiner möglichen Begleiter deutlich nach oben schießen ließ.

Trotzdem war er nicht, was ich eigentlich suchte, und daher ganz sicher nur ein Zeitvertreib.

Wie auch immer, er war nun mal eine Möglichkeit, und diese würde ich nutzen.

Sekundenlang hatte ich vor dem Spiegel über Lippenstift nachgedacht, es aber dann doch gelassen. Wenn er ihn nicht wollte, dann würde ich ihn heute Abend auch nicht wollen.

Tatsächlich hatte ich eine passende Farbe zu dem Kleid gefunden, ein ungewohnt dunkler Farbton für mich, aber getragen hatte ich ihn bisher noch nicht.

Trotzdem trug ich ihn mit mir, nur zur Sicherheit, und falls es nötig sein würde, würde ich in Sekundenschnelle zu mir selbst zurückkehren können.

Ich trat in den Verkaufsraum und Wärme umfing mich. Noch immer war der Schlussverkauf in vollem Gange, und ich sah mich zwischen all den Menschen um.

Patrick sah ich nicht, nicht mal einen anderen Verkäufer, auch keine Verkäuferin, und ich kämpfte mich durch die Reihen bis hin zu den Kassen.

Die unterschiedlichsten Menschen tummelten sich in den Gängen, und eigentlich war ich mir bei der Hälfte davon sicher, dass sie sich die hohen Preise kaum würden leisten können. Besondere Mode kostete Geld, eine Tatsache, die ich schon vor Jahren verinnerlicht hatte, und dieser Laden war sehr besonders.

Warum genau hatte er mich gerade hierher bestellt? Wo doch die Läden noch mindestens eine Stunde geöffnet haben würden? Musste er nicht bleiben, bis die Türen sich ein letztes Mal schlossen?

Kurz war ich in Versuchung, einfach an der langen Reihe von Wartenden vorbei zu einer der Kassen zu huschen, aber irgendwie schien es mir unhöflich.

Warten in der Schlange kam auch nicht in Frage, denn schließlich würde ich nichts zu zahlen haben.

Erneut sah ich mich um, und entdeckte am Ende des Raums eine schlanke Frau, die Berge von Pullovern auf Regale stapelte.

Was sollte ich ihr sagen? Wo ich doch nicht mal den Nachnamen meines abendlichen Begleiters kannte?

Ich stapfte in ihre Richtung, und sah, wie sie mich schon von weitem wahrnahm. Vermutlich glaubte sie, ich hätte eine Frage, oder würde etwas suchen, und fast zeitgleich mit meinem Eintreffen, setzte sie ihr freundlichstes Lächeln auf.

„Kann ich ihnen helfen?“

„Ich suche Patrick, wir sind verabredet.“

Was für ein Stuss. Sicher würde sie nicht mal im Traum wissen, von wem ich sprach.

„Wen?“

Die Verkäuferin, deren Haare einen unangenehmen grünlichen Unterton hatten, sah mich fragend und fast ratlos an.

Einen solchen Grünton erreichte man nur, wenn man blondierte Haare mit Braun überfärbte, und ich war in Versuchung, ihr einen guten Ratschlag dazu zu geben.

Derartige Fehler waren mir schon immer ein Dorn im Auge, und eigentliche hübsche Frauen wie sie, die durften sich solche Dinge einfach nicht erlauben.

„Ihren Chef. Patrick.“

Schlagartig wurde mir klar, dass ich nicht mal wusste, ob er wirklich ihr Chef war. Vielleicht hatte der Mann mir nur einen Bären aufgebunden, und dieser Laden gehörte in Wirklichkeit jemand völlig anderem.

„Hr. Skolak?“

Die Dame ließ die Hände von den Pullovern und sah mich fast ungläubig an. Entgegen meiner Vermutung schien sie zu wissen, über wen wir sprachen, aber es schien sie eindeutig zu irritieren.

„Wenn das sein Nachname ist, dann ja.“

In mir spürte ich das leicht genervte Gefühl, dass ich nur allzugut kannte. Immer wenn etwas zu lange dauerte, Leute für meinen Geschmack zu begriffsstutzig waren, oder einfach auf dem Schlauch standen, verbreitete es sich wie Flüssigkeit in meinem Körper.

Es gab kaum etwas, dass mir unangenehmer war als dieses Gefühl, und meist ging mit ihm eine ungewollte Unfreundlichkeit einher.

„Ich glaube, er ist in seinem Büro. Haben sie ein Vorstellungsgespräch?“

Die junge Frau sah an mir herab und auf die Pumps an meinen Füßen. Vorstellungsgespräch, ja, vielleicht war das nicht mal der falsche Ausdruck. Ich stellte mich hier vor, damit er zumindest für die heutige Nacht, einen Job an seiner Seite gab.

Ich unterdrückte ein Grinsen und verschränkte stattdessen die Arme vor dem Körper, und meinem Unwillen Nachdruck zu verleihen.

Für Smalltalk war nun wirklich keine Zeit, und Zeit im Allgemeinen sollte man nicht verschwenden.

„Nein, wir sind verabredet. Können sie ihn rufen?“

Meine Stimme klang unfreundlich, das fiel selbst mir auf, und ein wenig tat mir die Frau mit den grünen Haaren leid. Sicher war ihr Job stressig, und an einem Samstagabend noch immer zu arbeiten, das schien selbst mir etwas gemein.

„Ich kann ihn anrufen, aber dafür müssen wir an die Information.“

Ich hörte den mir so fremden Namen, und kurz darauf sah ich den blonden Lockenkopf in greifbarer Nähe. Kaum hatte die Dame den Hörer an ihr Ohr gehalten, sah ich ihn durch eine der Türen kommen.

Unfassbar, wie stark seine Wirkung auf mein Unterbewusstsein war, denn sofort stellten sich die kleinen Haare in meinem Nacken auf. Aufregend, das war nicht annähernd das, was ich empfand, aber traf es noch am ehesten.

Strahlend und mit fast unangenehmer Leichtigkeit kam er auf mich zu, nur um mich dann wie einen alten Freund in die Arme zu schließen.

„Wie schön, dass sie da sind!“

Selten hatte ich mich so unwohl gefühlt, so fehl am Platz, und so beobachtet. Mit großen Augen sah die grüne Dame mich an, als sei ich ein seltenes Tier oder ein Geist, während drei weitere Damen sich redlich bemühten, mich nicht noch auffallender anzustarren.

Sie sahen mich an, aus den Augenwinkeln, wie sie glaubten, aber selbst Patrick musste es auffallen.

Wortlos und noch immer starrend, ließ die Dame den Hörer auf die Station sinken, während ich mich aus Patricks Umarmung wand.

„Ja, danke.“

„Ich hatte schon befürchtet, sie würden nicht kommen, aber gehofft hatte ich etwas Anderes.“

Ebenso wie die Angestellten glotzte nun auch ich blöd, denn all das war mehr als merkwürdig. So freundlich und liebenswürdig er auch wirkte, so unpassend schien mir sein Verhalten. Hatte er mir nicht BEFOHLEN, genau jetzt an diesem Ort zu sein?

Oder hatte nur ich es als Befehl empfunden, und er hatte es eigentlich witzig gemeint?

„Jetzt bin ich hier, wie geht es jetzt weiter?“

Bloß weg. Flucht war mein einziger Gedanke, und ich blickte erneut in die Reihe von noch immer schockgefroren Gestalten.

Keine von ihnen schien zu glauben, was sie sah, und auch mir fiel es schwer, die Situation in einen geordneten Kontext zu bringen.

Was war das für ein Mann? Ein Verrückter? Ein einfach nur zu netter Typ?

Hatte ich bei all dem etwas völlig falsch verstanden, oder diesen Mann komplett falsch eingeschätzt?

„Wir gehen essen. Mädels, ihr müsst jetzt leider ohne mich auskommen, wir sehen uns am Montag!“

Er hob die Hand und winkte dämlich, was aber keine der Frauen zu stören schien. Zwei von ihnen hoben ebenso mechanisch die Hände, und einer der Damen schienen fast die Augen aus dem Kopf zu fallen.

Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ich eine solche Situation als witzig empfunden, vielleicht sogar darüber gelacht, aber jetzt gerade fand ich sie bedenklich. Was war das Problem? Ich, oder er? Was brachte die Verkäuferinnen in diesen Schockzustand, und warum schien es so ungewöhnlich?

Menschen hatten Privatleben, selbst ich irgendwie, und er vermutlich auch. Den Augen der Damen nach zu urteilen jedoch keines, in dem es Frauen wie mich je gegeben hatte.

Am Arm zog er mich weg, aber ich drehte mich ein letztes Mal um, um der Dame mit den grünen Haaren einen letzten Tipp zu geben.

„Ketschup und Tomatenmark!“

Die Frau sah erst mich und dann ihre Kolleginnen fragend an, und ich brüllte den Rest meiner Antwort durch den Verkaufsraum, während Patrick noch immer an meinem Arm zog.

„Wegen dem Grünstich!“ Ich zeigte auf meine Haare und dann auf sie, und das Letzte, was ich sah, war ein schwaches, etwas unsicheres Lächeln auf ihrem Gesicht.

Kapitel 3:

Nein, schlecht sah er nun wirklich nicht aus.

So unauffällig wie möglich sah ich auf Patrick und sein strahlendes Lächeln, während dieser unerträglich freundlich ein Glas Rotwein bestellte.

Wie konnte ein erwachsener Mann so unfassbar freundlich sein? Ohne dabei völlig lächerlich zu wirken?

Es gab diesen schmalen Grat zwischen Höflichkeit und zu viel Freundlichkeit, und sein Verhalten bewegte sich irgendwo im hinteren Bereich von viel, viel, viel zu viel Freundlichkeit. Es tat fast weh, ihm zuzusehen.

Nach dem ersten Schock über die Reaktionen in dem Laden hatte ich beschlossen, das Beste aus dem Abend zu machen, und mir zu einem anderen Zeitpunkt sorgen zu machen.

Was auch immer der Grund dafür gewesen war, ich würde es jetzt nicht klären können, aber zumindest eine gute Zeit haben können.

Wie schon bei unserem letzten Zusammentreffen, trug er auch heute eine Weste. Schwarz, mit fast unsichtbaren grauen Nadelstreifen, dazu ein graues Hemd und die verführerischen hochgekrempelten Ärmel. Einen besseren Zeitvertreib konnte ich mir aktuell nicht vorstellen, und vor lauter Euphorie bestellte auch ich Wein, obwohl ich diesen eigentlich gar nicht mochte.

Alkohol im Allgemeinen war nichts für mich, schon gar nicht nach der langen Zeit aus Eskapaden mit dem letzten Objekt der Begierde, aber heute würde ich eine Ausnahme machen.

Alkohol machte mir Angst, aus tausend und einem Grund.

Am meisten fürchtete ich mich vor Kontrollverlust, was eigentlich lächerlich war, denn mein Innerstes sehnte sich danach.

Ich wolle die Kontrolle verlieren, aber nicht auf diese Art, und schon gar nicht mit jemandem, der aus den gleichen Gründen die eigene Kontrolle verlor.

Mit meinem Objekt der Begierde, dem Mann, den es jetzt nicht mehr in meinem Leben gab, da hatte ich es versucht. Hatte mich betrunken, in der Hoffnung eben so wie er die Kontrolle zu verlieren, und einige wenige Male hatte es auch funktioniert. Es hatte sich gut angefühlt, aber nicht so befreiend, wie ich es mir erhofft hatte, und das Chaos, was jedes Mal danach stattfand, lehrte mich, es nicht mehr zu versuchen.

„Warum bin ich hier?“

Ich sah auf die blauen Augen und das gewinnende Lachen, und hoffte, er würde weiterhin so freundlich bleiben. Aber bitte nicht so ekelhaft überfreundlich.

„Warum? Weil ich es so wollte?“

„Ja, aber warum?“

Natürlich hatte er es gewollt, es mir befohlen, aber das beantwortete nicht die Frage nach dem „Warum“.

„Mir war danach. Mir gefällt das Kleid.“

Das Lächeln überdeckte den Sinn der Worte, und zwar vollkommen. Aber natürlich verstand ich den Inhalt trotzdem. Ihm gefiel das Kleid, nicht ich. Er hatte kein Wort über mich verloren.

„Und ich nicht?“

Ich war verletzt, war solche Worte nicht gewohnt. Man machte meinen Kleidern vielleicht Komplimente, aber immer auch mir. Mir und den roten Lippen, mir und meiner Figur, oder zumindest mir und den hohen Schuhen.

„Ein schönes Kleid braucht jemand, der es mit Würde trägt.“

Kein Wort über mich. Stille Wut stieg in mir auf, und irgendwie erkannte ich ihn wieder. Den Mann, der mir gesagt hatte, ich dürfte an diesem Abend keinen Lippenstift tragen. Der Typ, der sich hinter dieser Fassade aus Freundlichkeit zu verstecken schien.

„Also geht es hier um das Kleid, nicht um mich?“

„In erster Linie um das Kleid, und darum, das es mir gefällt. Aber ich benötige auch eine Begleitung, alleine Essen zu gehen, ist äußerst deprimierend.“

Er schlug die Hände auf dem Tisch ineinander, und ich überlegte krampfhaft wie ich möglichst schnell aus dieser Situation würde fliehen können. Der Mann war verrückt, eindeutig, und ganz sicher würde ich nicht mit ihm essen.

Was sollte das alles? Brauchte er nur eine hübsche Halterung für das Kleid, damit er damit angeben konnte?

Vielleicht gab es Frauen, die Männer wie ihn mochten, aber ich gehörte eindeutig nicht dazu. So dringend brauchte ich nun auch keine Ablenkung, dass ich einen Abend mit einem Wahnsinnigen zubringen würde.

In anderen Situationen hätte es mir vielleicht geschmeichelt, wenn ein Mann mit mir angab und sich mit mir schmückte, aber nicht auf diese Art. Aus seinem Mund hörte es sich an, als sei ich eine Puppe, die mit einem perfekten Kleid einfach nur auf diesen Stuhl drapiert worden war.

Glücklicherweise hatte er mich nicht mal nach meinem Namen gefragt, und so würde ich verschwinden können, und zwar auf nimmer Wiedersehen.

„Sie sind nicht gerade sehr charmant, Patrick.“

Er zog die Augenbraue nach oben, aber sein Lächeln blieb unverändert.

„Nicht? Vielleicht erwarten sie auch einfach zu viel? Sind sie verärgert, weil ich nicht so bin, wie die Männer, die sie sonst so treffen?“

Erwischt. Er hatte mich ertappt, und ich fühlte mich auch so. Natürlich kannte ich andere Reaktionen von Männern, Reaktionen, die er eindeutig nicht hervorbrachte.

„Nein, ich bin nicht verärgert, und ich erwarte auch nicht zu viel. Aber ich will nicht nur eine Puppe für ein Kleid sein.“

Ich versuchte, das Zittern in meiner Stimme zu überspielen, aber fand selbst, dass es mir nicht gut gelang. Nie vorher hatte mir jemand ähnlich deutlich so etwas gesagt, und damit auch noch richtig gelegen.

„Ach, kommen sie. Sehen sie es als Spiel, mehr haben sie doch auch nicht von diesem Abend erwartet. Sie sind doch nicht hier, weil sie auf die große Liebe hoffen. Lassen sie mir doch den Spaß.“

Verdammt. Warum durchschaute mich dieser Mann nur so gut? Und warum nahm er mir jeden Wind aus den Segeln?

In meinem Berufsleben war ich schon ein Freund sehr klarer Worte, keine Frage, aber bei einem Date doch nicht. Man spielte das Spiel, so wie es alle taten, und vor allem stieß man niemanden vor den Kopf. Selbst dann nicht, wenn im Grunde beide Parteien wussten, worauf es hinauslaufen würde.

Oder war ich hier gerade falsch unterwegs, und sah einfach nicht, wie einfach er es mir im Grunde machte?

Wenn alles so klar auf der Hand lag, würde ich mir keinesfalls Gedanken darüber machen müssen, wie ich aus dieser Sache wieder herauskam. Wir würden morgen freundlich auseinandergehen, und es würde keine unangenehmen Kurznachrichten oder Telefonate danach geben.

„Spaß? Was daran ist Spaß?“

„Ich fand das Kleid schon im Laden ganz wunderbar, und ich hoffte auf eine passende Trägerin, um es einen Abend lang bewundern zu können. Und wie ich schon sagte: Alleine Essen zu gehen ist nicht sehr erhebend.“

Kurz überlegte ich, einfach aufzustehen und zu gehen. Einfach gehen und all das möglichst schnell zu vergessen. Andererseits hatte er ja irgendwie recht, ich war nicht hier wegen der großen Liebe, ich wollte Zerstreuung. Jetzt, wo die Dinge doch so klar zwischen uns waren, was störte mich dann eigentlich daran?

Eigentlich war ich eine Freundin sehr klarer Worte, immerhin wussten dann beide Parteien, was sie vom anderen erwarten konnten, warum also störte es mich jetzt gerade?

Natürlich konnte man flunkern, sich gegenseitig etwas vormachen, aber war das wirklich nötig?

Sicherlich konnte er mir erzählen, was sich für mich gut anfühlte, aber würde es nicht am Ende auf das Gleiche herauskommen? Offensichtlich waren unsere Erwartungen an diesen Abend sehr ähnlich, warum also nicht die Karten offen auf den Tisch legen?

Ich unterdrückte den Fluchtreflex und beschloss, dass ich die Dinge abwarten würde. Vielleicht, sehr wahrscheinlich sogar, war das hier gar nicht die schlechteste Herangehensweise.

Der Kellner kam mit den Getränken, und ich stieß das riesige Glas gegen seins.

„Auf sie, und auf einen besonderen Abend.“

Wortlos nippte ich an dem roten Wein und fand ihn gar nicht mal so schlecht.

Ja, er hatte irgendwie den Nagel auf den Kopf getroffen, und auch wenn ich mich kurzfristig schlecht gefühlt hatte, so sollte ich doch eigentlich froh darum sein.

Er wollte Zerstreuung, ich wollte es ebenso, und wenn ihm das Kleid wichtig war, so konnte ich damit leben. Er würde nach diesem Abend sicher keine Forderungen stellen, würde mir nicht auf den Geist gehen, und ich musste kein gebrochenes Herz befürchten.

„Sie haben mich nicht mal nach meinem Namen gefragt.“

„Hab ich nicht? Vermutlich weil er unwichtig ist.“

„Wirklich? Aber sie haben mir ihren doch auch gesagt.“

„Weil sie mich danach gefragt haben, zumindest irgendwie. Aber ich habe sie nicht gefragt.“

Ich nahm erneut einen Schluck aus meinem Glas und dachte über seine Worte nach. Sicher war es allgemein üblich, solche Eckdaten auszutauschen, wenn man sich kennenlernte. Aber spielte es eine Rolle, wenn man ohnehin wusste, dass man sich danach nicht mehr wiedersehen würde?

Irgendwo tief in mir verletzte mich auch das, nicht mal einen Namen wert zu sein, tat irgendwie weh, aber wenn auch das Teil seiner Ideologie war, würde ich auch darüber hinweg kommen müssen.

„Also wollen sie ihn nicht wissen?“

„Nein.“

Was für eine merkwürdige, völlig bescheuerte Situation. Alles was er sagte, ergab auf absurde Weise Sinn. Oder auch nicht, je nachdem welchen Standpunkt man vertrat.

Seine freundliche und sympathische Art passte absolut nicht zu seinen Worten, aber sie sorgte auch dafür, dass ich mich nicht so richtig über ihn aufregen konnte.

Wer ständig lächelte, freundlich dreinschaute, dem konnte man nur schwerlich sauer sein.

Selbst als ich meine Bestellung aufgegeben hatte, fehlten mir noch immer sämtliche Worte. Was, und vor allem worüber, sollten wir sprechen? Wollte er überhaupt, dass ich sprach? Oder sollte ich einfach nur dasitzen und anwesend sein?

Das erste Mal in meinem Leben war ich ernsthaft verunsichert. Normalweise waren es die Männer, die unsicher mir gegenüber saßen, und die Situation war völlig neu für mich.

„Geht es ihnen gut?“

Er sah nicht beunruhigt aus, und ich zuckte mit den Schultern. Ging es mir gut?

„Ich weiß nicht. Ich finde es ... Etwas merkwürdig?“

„Ist das so? Oder sind sie das Spiel nur einfach anders gewöhnt?“

Er faltete die weiße Servierte auf seinem Schoß auseinander, und ich sah, wie der Kellner mit unseren Tellern näher kam. Hatte ich wirklich so lange geschwiegen?

Mit selbst war es nur wie wenige Minuten vorgekommen, aber es musste sehr viel länger gewesen sein. War ich so in meinen Gedanken versunken gewesen? Und warum hatte er es sich nicht anmerken lassen?

„Vielleicht. Nehmen sie es mir nicht übel, aber von einem Date hatte ich etwas anderes erwartet.“

„Also entspreche ich nicht ihren Erwartungen?“

Nein. Nein, nein, nein! Nein, er entsprach nun wirklich nicht meinen Erwartungen. Ich hatte Erwartungen gehabt, wenn auch nur wenige, aber er hatte keine Einzige davon erfüllt. Ich hatte Smalltalk erwartet, vielleicht auch etwas Hochstapelei seinerseits, weil das etwas war, was Männer bei solchen Dates eigentlich taten.

„Ich hatte keine. Aber Dates laufen eigentlich anders.“

Lügen war nicht meine Stärke. Viele andere Dinge schon, aber Lügen nicht.

Ich glaubte mir selbst kein Wort, und er vermutlich auch nicht.

„Tun sie das? Weil Menschen Theater spielen, und jeder seine Rolle kennt? Wäre es ihnen lieber, wenn ich ihnen etwas vorspielen würde, und der Abend am Ende doch auf die gleiche Weise enden würde?“

Ja. Ja, das wäre mir lieber. Eindeutig. Weil ich dann meine Rolle kennen würde, und besser mit all dem zurechtkommen würde.

Ich würde die unantastbare Schönheit mimen, meine Beine gekonnt übereinanderschlagen, und dabei einen winzigen Blick auf die Nahtstrümpfe zulassen. Ich würde kokett mit meinem Haaren spielen, dabei den Blick des Mannes gegenüber genießen, und würde ihn am Ende erlauben, mich zu berühren.

Alles Dinge, die ich tausend Mal schon durchgespielt hatte, und mit denen ich immer zum Ziel gekommen war. Nur er machte mir einen Strich durch die Rechnung.

„Es gibt eben Spielregeln, und die gilt es einzuhalten.“

Ich stocherte lustlos in meinen Nudeln, obwohl diese wirklich fantastisch aussahen. Mir war der Appetit vergangen, denn all das schien so gar nicht nach meiner Vorstellung zu laufen.

Sein Verhalten machte alles kaputt, zumindest für mich, und irgendwie nahm es ihm allen Reiz.

War es nicht das, was man brauchte? Der Reiz, dieses Spiel so zu spielen, dass keiner der Beteiligten sich am Ende benutzt vorkam?

Bei mir war das aktuell nicht der Fall, den ich kam mir vor wie eine Barbie mit einem Kleid, und nicht wie eine begehrenswerte Frau.

„Sicher gibt es die. Aber es gibt auch viele Spiele, und jedes hat seine eigenen Regeln. Vielleicht versuchen sie mal ein anderes?“

„Eins, bei dem ich die Regeln nicht kenne? Nein, Danke.“

Ich stopfte mir äußerst undamenhaft eine Gabel voll Nudeln in dem Mund und begann zu kauen. Essen konnte manchmal trösten, und Trost konnte ich gerade gebrauchen.

„Es gibt eigentlich nur eine Regel, und die bin ich. Ganz einfach.“

Der Klumpen in meinem Hals brachte mich zum Husten, und ich merkte, wie sich Tränen in meinen Augen sammelten. Nicht weil ich heulen musste, eher aus purer Pein, weil es sich anfühlte, als würde ich gleich ersticken.

Ich schwemmte den Brocken mit einem gehörigen Schluck Wein hinunter, und sah, wie Patrick in aller Seelenruhe weiter an seinem Steak säbelte.

Hatte er das wirklich gesagt? Dass er die einzige Regel war?

Für wen hielt er sich? Christian Grey?

Aktuell hatte ich keine Ahnung, was dieser Typ da für einen merkwürdigen Film am Laufen hatte, aber ich war mir sicher, dass ich die Hauptrolle neben ihm nicht haben wollte.

„Und was bringt sie auf den schmalen Pfad, dass ich gerade ihnen Vertrauen sollte? Wo ich sie doch kaum kenne?“

„Müssen sie nicht. Davon sind wir noch weit entfernt.“

Ich verstand nur Bahnhof, und anscheinend hatte er auch nicht vor, mich aufzuklären.

„Aber wenn sie die Regeln aufstellen, und ich sie befolgen soll, dann wäre das doch die Grundvoraussetzung?“

Nicht, dass ich irgendeine Ahnung hatte, was für ein Spiel das genau sein sollte, aber war das nicht grundsätzlich so, dass man einander vertrauen sollte?

„Nein, absolut nicht. Sie haben ihren freien Willen. Niemand zwingt sie, zu tun, was ich ihnen sage. Sie hätten weder zu dieser Verabredung kommen müssen, noch hätten sie auf Lippenstift verzichten müssen. Es war ihr freier Wille, und sie können jederzeit gehen.“

Fasziniert sah ich auf Patrick, der noch immer die Ruhe selbst war. Nie hatte ich jemanden getroffen, der so dermaßen in sich ruhte.

Auch bei allem was er gesagt hatte, lag er natürlich richtig. All das war mein freier Wille gewesen, meine Entscheidung, und nichts davon Zwang.

Gab es eine Möglichkeit für mich, tatsächlich einen Abend lang ein anderes Spiel zu spielen? Eins, dessen Regeln ich erst wissen würde, wenn das Spiel schon längst im Gang war? Oder war es das schon längst, und ich bildete mir lediglich ein, den Startknopf noch nicht gedrückt zu haben?

Wortlos aß ich zu Ende, noch immer nicht darüber einig, ob ich all das wirklich wollen würde.

Etwas Ähnliches hatte ich noch nie erlebt, und irgendwie war es aufregend, aber so richtig vorstellen konnte ich es mir nicht. Ich war nicht der Typ, der Befehle befolgte, auch nicht der Typ, der sich auf unbekanntes Gebiet begab, aber es reizte mich schon.

„Was muss ich tun?“

Ich knautschte die Servierte zwischen meinen Händen und sah ihn erwartungsvoll an.

„Seien sie eine angemessene Begleitung. Verhalten sie sich so, wie sie es auch sonst tun würden. Mehr verlange ich aktuell nicht.“

Ja, das klang einfach. Das würde ich hinbekommen.

„Wirklich? Das klingt zu einfach.“

„Ist es nicht. Denn ich verhalte mich ja nicht so, wie sie es vielleicht gewohnt sind.“

Ach ja? Das würden wir noch sehen. Auf meinem Gebiet, in meinem Theaterstück, da kannte ich mich immerhin aus. Und kaum ein Mann war dabei jemals schadenfrei davon gekommen. Ob er der Erste sein würde, das würde sich noch zeigen.

Das Gespräch war einfacher geworden. Viel einfacher. Mit der Erlaubnis oder dem Befehl, mich zu verhalten, wie ich es immer tat, war die Mauer zwischen uns deutlich kleiner geworden. Eigentlich fühlte es sich nicht mal schlecht an, und ich bewegte mich, wie ich es immer tat.

Es hatte sich nicht mal wie ein Befehl angefühlt, eher wie ein Freifahrtschein, und auch wenn er vielleicht meine Bälle nicht so offensiv zurückspielte, so gab es mir doch ein gutes Gefühl.

Freundlich und offen beantwortete er alle meine Fragen, und das Gespräch kam sein mehr als einer halben Stunde nicht zum Stehen.

Wir sprachen über den Laden, sogar über meine Arbeit, und er tat zumindest, als sei er interessiert an meinem Leben. Ob dem wirklich so war, das zweifelte ich stark an, denn immerhin hatte er mich noch immer nicht nach meinem Namen gefragt.

„Ziehen sie die Schuhe aus.“

Ich stockte in meinem Redeschwall, und glaubte, mich eindeutig verhört zu haben.

„Was?“

„Die Schuhe. Ziehen sie sie aus.“

Ich sah neben dem Tisch auf meine schwarzen Pumps und dann auf ihn, aber sein Blick sah nicht so aus, als hätte er einen Scherz gemacht.

„Wieso?“

„Keine Fragen. Tun sie es.“

Er lächelte, als sei das Lächeln festgetackert in seinem Gesicht, und das erste Mal fragte ich mich, ob er überhaupt einen anderen Gesichtsausdruck hatte. Es gab ja diese Menschen, die aus unerfindlichen Gründen ihre Mine einfach nicht änderten. Sie spiegelten nicht ihr Gegenüber, sie zeigten keine Reaktionen, und irgendwie war es bei ihm genauso. Es gab nur dieses freundliche, fast weiche Lächeln und nichts sonst.

„Nein!“

„Doch. Sie ziehen jetzt die Schuhe aus, und dann legen sie die Füße auf meinen Stuhl.“